Individuelle Erinnerung und gewerkschaftliche Identität. Ein Proj

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Archiv der sozialen Demokratie
Dr. Stefan Müller
Tel.: (0228) 883-8072
Fax: (0228) 883-9204
[email protected]
Godesberger Alle 149
53175 Bonn
29. April 2014
Abschlussbericht an die Hans-Böckler-Stiftung zum Projekt
„Individuelle Erinnerung und gewerkschaftliche Identität. Ein Projekt zur
Erhebung, Sicherung und medialen Aufbereitung gewerkschaftlicher
Zeitzeugeninterviews“
Projekt-Nr S-2011-468-5
Friedrich-Ebert-Stiftung e.V. Vorsitzender:
MP a.D. Kurt Beck
www.fes.de
Geschäftsführendes
Vorstandsmitglied:
Dr. Roland Schmidt
Godesberger Allee 149
53175 Bonn
 53170 Bonn
Telefon +49 228 883-0
Telefax +49 228 883-9207
Hiroshimastraße 17
10785 Berlin
 10874 Berlin
Telefon +49 30 26935-6
Telefax +49 30 26935-9244
SEB AG, Bonn
Konto 1010606200 (BLZ 38010111)
IBAN DE17380101111010606200
BIC ESSEDE5F380
Ziele
Vom 15. März 2012 bis zum 14. März 2014 führte das Archiv der sozialen Demokratie
(AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung ein erinnerungsgeschichtliches Projekt mit ehemals führenden
Gewerkschafterinnen
und
Gewerkschaftern
des
DGB
und
der
DGB-
Mitgliedsgewerkschaften durch. Ausgangspunkt des Projektes war die Feststellung, dass Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter einen wesentlichen Anteil am Aufbau demokratischer
Strukturen und sozialer Sicherungssysteme in Betrieben, Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland hatten, die gewerkschaftlichen Akteure jedoch gemessen an ihrer gesellschaftlichen Bedeutung in der Geschichtsschreibung und im kulturellen Gedächtnis der
Bundesrepublik unterrepräsentiert sind. Eine erinnerungsgeschichtliche Erforschung gewerkschaftlicher Akteure steht vor der Herausforderung, dass diese Gruppe signifikant weniger
Selbstzeugnisse wie Autobiografien oder andere Ego-Dokumente hinterlassen hat als vergleichbare Akteure anderer gesellschaftlicher Teileliten. Ihre Erfahrungen sind jedoch konstitutiv für die Rekonstruktion der Nachkriegsgeschichte und insbesondere für die Geschichte
der Arbeiterbewegung, der Arbeitswelten und Arbeitsbeziehungen. So bildete die Quellenlage
als eine der Ursachen für die mangelnde historiografische Repräsentation gewerkschaftlicher
Führungskräfte den Hintergrund dieses Forschungsprojekts, in dem durch videografisch gesicherte Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern
Quellenmaterial zu Herkunft, Selbstbild und Deutungsmustern produziert wurde.
Vorrangiges Anliegen des konkreten Projekts war es, aufgrund des hohen Alters der
Akteure, die mündlichen Überlieferungen von Vertreterinnen und Vertretern zu sichern, die
noch in den 1980er und 1990er Jahren in verantwortlichen Positionen waren, also etwa der
Jahrgänge 1920 bis 1940 angehören. Zielrichtung der mit dem Projekt vorgenommenen Quellenproduktion und Quellensicherung war dabei eine doppelte: Das Interviewprojekt sollte
Erinnerungen von Protagonistinnen und Protagonisten der deutschen Zeitgeschichte nicht nur
für die Geschichtswissenschaft, sondern auch für die historisch-politische Bildung sichern.
Zudem betrat das AdsD mit einem zeitgeschichtlichen Forschungsprojekt zur inneren
Demokratisierung Deutschlands nach 1945 methodisches und inhaltliches Neuland, da Zeitzeugenprojekte bisher ihren Schwerpunkt auf die Geschichte des Nationalsozialismus, des
Kriegs und der Shoah gelegt haben.
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Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Im März 2012 nahm das Projekt unter der Leitung von Anja Kruke mit dem Koordinator Johannes Platz (Kooperationsprojekt Jüngere und jüngste Gewerkschaftsgesichte), der zuständigen Projektmitarbeiterin Anne Klein (Vollzeit) sowie Christian Testorf als wissenschaftliche
Hilfskraft (10 h/Woche) die Arbeit auf. Ab Oktober 2013 führten Sebastian Scharte als Projektmitarbeiter und Stefan Müller als Koordinator die Arbeiten fort. Zeitweise wirkten Tina
Braun, Daniel Führer, Bettina Kuhlmann, Tobias Tenhaef und Annabel Walz als Praktikantinnen und Praktikanten am Projekt mit.
Methodik
Anfänglich wurden 65 Personen ermittelt, von denen auf Empfehlung des wissenschaftlichen
Beirats mit 33 Personen Interviews verabredet wurden. Bis August 2013 konnten schließlich
mit 31 Gewerkschafter/innen Interviews in einer Länge zwischen knapp zwei Stunden und
über fünf Stunden durchgeführt werden. Alle Interviewten wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs oder später, also erst in den 1960er Jahren, in den Gewerkschaften aktiv. Die
anfängliche Zielsetzung, die Geburtsjahrgänge 1920 bis 1940 zu befragen, verschob sich aus
forschungspragmatischen Gründen auf die Jahrgänge 1928 bis 1948. Zwei Interviews kamen
nicht zustande, da ein Gesprächspartner zwischenzeitlich verstarb (Ernst Breit), mit einem
anderen aufgrund unterschiedlicher Perspektiven auf die Interviewführung und die Konzeption des Projektes (Dieter Wunder).
Das Projektteam verstand seine Aufgabe primär als Rekonstruktionsarbeit. Vor dem
Hintergrund des einsetzenden Alters war es notwendig, die Gespräche mit den Zeitzeugen
zunächst grundständig zu sichern. Das Interesse galt der subjektiven Erfahrung der Befragten,
die bereits zuvor oder im Kontakt mit dem Projektteam ihre Erinnerungen geordnet und strukturiert hatten. Dem Projekt lag ein Verständnis von Geschichte und biografischer Narration
zugrunde, das Zeitzeugenerzählungen als Gedächtnisrekonstruktionen betrachtet, die das
‚Gewesene‘ wiedergeben, dessen Darstellung jedoch immer von Fragen aus der Gegenwart
überformt wird. Das Gespräch wurde gerade in seinem zweiten Teil als dialogischer, kommunikativer Prozess betrachtet. Durch die Fragen der Interviewer wurden die Zeitzeuginnen und
Zeitzeugen angeregt, ihre eigenen Erinnerungen unter neuen Vorzeichen zu ‚rekonstruieren‘.
Die angesprochenen Aspekte sollten nicht fremdbestimmt erscheinen, sondern dem Interviewee selbst als interessant und aufschlussreich erscheinen, damit sie oder er einen persönlichen
Nutzen aus der Erfahrung ziehen konnte. Diese dialogisch generierte Quellensorte eröffnet
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neue Möglichkeiten für eine an dem Menschen, seiner Biografie, seinen Handlungen und seinem Wissen („Deutungsmustern“) interessierte Forschung, welche die subjektive Perspektive
auf Organisationen wie Gewerkschaften als vielschichtige, auch konflikthafte handlungs- und
wissensbasierte Kommunikationszusammenhänge in den Blick nimmt.
Die Interviews wurden zweiteilig geführt, allerdings aus forschungspraktischen Gründen jeweils am selben Tag. Einem biografisch-narrativen Teil, welches etwa die Hälfte der
Gesamtinterviewzeit ausmachte, folgte ein leitfragengestützter, zweiter Gesprächsteil. Das
biografisch-narrative Interview erlaubte es, die Möglichkeiten und Grenzen, die Formen und
Veränderungen der gewerkschaftlichen Repräsentation von Gruppeninteressen näher zu erkunden und im Rahmen individueller Biografien zu verorten. Ziele des biografisch-narrativen
Teils waren die freie Erzählung mit eigenen Schwerpunktsetzungen, ohne dass die Interviewer das Erzählte mit Bedeutung aufladen. Teils wurden ergänzende Fragen gestellt zu prägenden Erfahrungen in Kindheit und Jugend (Familie/Elternhaus/Freundschaften), zu ausschlaggebenden Erfahrungen für den politischen Lebensweg, zu alltagsrelevanten gesellschaftlichen Zäsuren oder Krisen, zur Charakterisierung des Sozialisationsmilieus, zur Bildungserfahrung und schließlich zum politisch-beruflichen Lebensweg als Gewerkschafter/in.
Anknüpfend an diese persönlichen Erinnerungen wurden im zweiten Gesprächsteil die subjektiv konstatierten „critical points“ der Erfahrungsgeschichte anhand eines Interviewleitfadens mit dem Fokus auf Prozesse der Professionalisierung, der Generationalität und der intergenerationellen Weitergabe von Wissensformen und Deutungsmustern sowie der Funktion
und des Funktionswandels von Gewerkschaften in der Geschichte der Bundesrepublik vertieft. Auch wurden die Interviewees ausdrücklich nach dem Stellenwert von Gewerkschaft in
ihrem Leben und nach ihrer eigenen Bestimmung von Identität befragt.
In der überwiegenden Mehrzahl der Interviews funktionierte diese Herangehensweise.
Lediglich die Interviews mit Franziska Wiethold und Franz Steinkühler verliefen nicht nach
diesem Muster (F. Wiethold strebte schon frühzeitig ein gemeinsames Gespräch an, sodass
der narrative Teil sehr kurz ist; F. Steinkühler zeigte sich etwas desinteressiert).
Umsetzung und Durchführung
Zwischen März und Juli 2012 wurde das methodische Konzept der Befragung ausgearbeitet
und es wurden potentielle Gesprächspartnerinnen und -partner eruiert. Die Interviewphase
begann im Juli 2012 mit der Kontaktaufnahme und fortlaufenden Begleitung der zu Interviewenden in Vorgesprächen, weil die Projektbeteiligten Wert darauf legten, alle 31 Personen
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kommunikativ im Laufe des Prozesses auf die Interviewsituation vorzubereiten. Im Anschluss
führte das Projektteam zwischen August 2012 und August 2013 insgesamt 31 Gespräche
durch, bei denen die meisten der Interviewten zu Hause besucht wurden, um einen der persönlichen Erzählsituation und der Erinnerungsarbeit förderlichen Rahmen zu schaffen. In Ausnahmefällen fanden die Aufzeichnungen auch in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung in
Bonn und Berlin oder in Gewerkschaftshäusern statt. Die Aufnahme der Gespräche erfolgte
mit professionellen audiovisuellen Mitteln, um eine hochwertige und fernsehtaugliche Fassung bereitstellen zu können. Die Gesprächsführung übernahm Anne Klein, Christian Testorf
ergänzte Fragen in etwa der Hälfte der Gespräche. Die Interviews wurden entsprechend einer
Empfehlung des wissenschaftlichen Beirats nicht geschnitten oder verändert. Allerdings wurde während längerer Interviewpausen die Kamera ausgeschaltet, da alles andere wenig praktikabel gewesen wäre. Insofern sind „spontane“ Unterbrechungen oder Störungen der Interviews im Korpus enthalten, nicht aber „geplante“ Arbeitspausen. Die Gesprächssituation
wurde in Form von Feldnotizen protokolliert, die jedoch aufgrund ihres sehr persönlichen
Charakters auch im Sinne einer Metadatenerfassung der Interviewsituation nicht weiter genutzt wurden.
Von September 2013 bis März 2014 fanden schließlich die Transkription und die archivfachliche Verzeichnung der Interviews sowie die Produktion der Website statt.
Archivarische Sicherung
Die Interviews sind im AdsD mehrfach physisch gesichert und wurden in der Archivdatenbank FAUST mit einer kurzen und allgemein gehaltenen Inhaltsangaben mit Time-Code sowie den im Gespräch genannten Personen verzeichnet (s. Anhang). Zudem wurden die erstellten Transkriptionen der Interviews in FAUST hinterlegt. Im Lesesaal der FES können die
videografierten Interviews sowie die Transkripte eingesehen werden. Die Einträge im Findmittel
(FAUST)
sind
zudem
über
den
i-Server
über
das
Internet
einsehbar
(http://www.fes.de/lnk/133).
Die Frage der Langzeitarchivierung des elektronischen Quellenmaterials ist dagegen
noch in der Diskussion und konnte im Rahmen des Projektes nicht gelöst werden. Entsprechende Grundsatzentscheidungen des AdsD über die archivfachliche Behandlung elektronischer Daten sind derzeit Bestandteil eines Qualitätsmanagementprozesses.
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Website
Das Projekt erstellte eine Website, die insbesondere für den Einsatz in der historischpolitischen Bildungsarbeit gedacht ist. Auf der Website www.zeitzeugen.fes.de werden aus
jedem Interview drei mehrminütige Sequenzen (somit insgesamt 93 Videosequenzen) präsentiert. Die ausschnittweise präsentierten O-Töne bilden zum einen für die jeweilige Person
zentrale Themenaspekte ab, zum anderen spiegeln die Interviewsequenzen in ihrer Gesamtheit
die Fragestellung und Anlage des Projektes hinsichtlich Biografie und Politik, Selbsterzählung und gesellschaftspolitischer Deutung der interviewten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Die Auswahl der Sequenzen erfolgte nach zehn inhaltlich-analytischen Kriterien, die in ihrer Breite die Fragestellung des Projektes abdecken. Dazu zählen einmal fünf
Kriterien, die sich weitgehend auf den Lebenslauf beziehen und dem narrativ-biografischen
Interviewteil entstammen (*Herkunft/Familie, *Bildung/Ausbildung, *Arbeits- und Berufserfahrung, *Gewerkschaftseintritt, *gewerkschaftliche Aufgaben und Konflikte). Die zweiten
fünf Kriterien bilden Reflexionen der Gesprächspartner über gesellschaftliche und gewerkschaftliche Prozesse ab und sind überwiegend dem leitfadengestütztem Gesprächsteil entnommen (*Gewerkschaft als Beruf, *Wandel der Arbeitswelt, *Politik/Parteien/Gesellschaft,
*Frauen/Gender/Migration, *Funktionswandel der Gewerkschaften). Weitere Auswahlkriterien waren der audiovisuelle Eindruck der Szene sowie eben der mögliche Wert der Sequenzen für die historische und gewerkschaftliche Bildungsarbeit.
Das Konzept der Website besteht darin, mit möglichst wenigen Unterseiten auf die Interviewsequenzen zugreifen zu können. Von der Startseite aus gelangt man direkt auf das audiovisuelle Material, das sich in Form von Schubladen öffnen und schließen lässt, sodass die
Startseite nicht verlassen werden muss. Von den Videosequenzen aus erhält man Zugriff auf
die Transskripte der Sequenzen, die Kurzbiografien der Interviewees, auf inhaltliche verwandte Interviews sowie das (erweiterungsfähige) Glossar mit derzeit 20 Begriffen. Die
Website verfügt über eine Filterfunktion, mit der nach Gewerkschaftszugehörigkeit und nach
den zehn aufgeführten thematischen Komplexen in den Interviews gesucht werden kann.
Transfer
Für die Publizität des Projektes und den Transfer in die wissenschaftliche und gewerkschaftliche Öffentlichkeit wurde zum Ende des Projektes eine wissenschaftliche Tagung sowie zur
Würdigung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ein historisch-politisches Podiumsgespräch
veranstaltet (s. Tagungsprogramm im Anhang)
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Auf der Tagung wurden in zwei Panels neben dem Projekt des AdsD die Befunde
dreier jüngerer geschichtswissenschaftlicher Zeitzeugen- bzw. Quellensicherungsprojekte
sowie ein älteres, aus dem politischen Geschehen der Wiedervereinigung heraus entstandenes
Interviewprojekt präsentiert. In zwei weiteren Panels wurde mit einem gewerkschaftlichen
Praktiker sowie zwei Wissenschaftlerinnen und
einem Wissenschaftler die Bedeutung von
Erinnerung und Zeitzeugenschaft sowie von Biografien und Oral History für die historischpolitische Bildungsarbeit debattiert. Für die weitere Sichtbarkeit im wissenschaftlichen Feld
wird ein Tagungsbericht erstellt, der auf der geschichtswissenschaftlichen Plattform H-Sozund-Kult veröffentlicht wird. Die Bewerbung der Website in den Gewerkschaften, vor allem
in deren Bildungsabteilungen, wird Stefan Müller in den kommenden Monaten übernehmen.
Ein erster Termin mit Schulleitern der IG Metall wurde hierfür schon gefunden.
Ausblick
Mittlerweile wurde seitens der Hans-Böckler-Stiftung das vom AdsD beantragte Vorhaben
„Gewerkschafter/-innen als Akteure der Zeitgeschichte“ bewilligt, mit dem das AdsD an das
abgeschlossene erinnerungsgeschichtliche Projekt anknüpfen und dieses in zeithistorischer,
gewerkschaftlicher und archivarischer Hinsicht fortsetzen und weiter entwickeln kann. Die
im abgeschlossenen Projekt entstandene Fülle an zeitgeschichtlichen Quellen – in Verbindung
mit dem neuen Projekt – lässt uns vermuten, dass die erinnerungsgeschichtliche Forschung
und Quellensicherung noch auf Weiteres einen Schwerpunkt des AdsD darstellen wird. Die
nachhaltige Wirkung des abgeschlossenen Projekts „Individuelle Erinnerung und gewerkschaftliche Identität“ ist damit gesichert.
Bonn, 29. April 2014 / Dr. Stefan Müller
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