3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa 2. Etomidat, Clonidin Imidazolderivate wie Etomidat und Clonidin führen zwar auch zu einer geringeren Cortisolsynthese. Ursache ist aber nicht eine Hemmung der ACTH-Sekretion, sondern eine imidazoltypische Wirkung in der NNR selbst („peripherer Angriffspunkt“). Diese Substanzen vermindern dosisabhängig – Etomidat deutlich stärker als Clonidin – die Aktivität der 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (11β-HSD; früher: 11β-Hydroxylase), eines Enzyms, das an der Synthese von Gluko- und Mineralokortikoiden beteiligt ist. Infolgedessen sinkt die Cortisolkonzentration im Plasma ab. Allerdings wird kompensatorisch vermehrt ACTH ausgeschüttet, ebenso bleibt die ACTH-Sekretion weiterhin durch operative Reize stimulierbar. Da die Enzymhemmung außerdem reversibel ist – das gilt auch bei Etomidat! –, bleibt der Cortisolspiegel meist im unteren Normalbereich. Was die Mineralokortikoide betrifft, so ist die Hemmung von 11β-HSD gänzlich ohne Relevanz, denn hier werden zum Ausgleich vermehrt Vorstufen von Aldosteron synthetisiert, die ebenfalls Mineralokorti­ koidwirkungen haben. Notabene: Bei der Verminderung des Cortisolplasmaspiegels durch Etomidat und Clonidin handelt es sich um einen direkten pharmakologischen Effekt, der allen Imidazol(in)en eigen ist. Etomidat. Bei Etomidat muß, was die klinische Bedeutung der Cortisolsuppression angeht, zwischen einer einmaligen Gabe zur Narkoseeinleitung und einer Langzeitanwendung zur Analgosedierung von Intensiv­ patienten unterschieden werden. Zu berücksichtigen ist außerdem, daß eine potentielle Gefahr im Sinne einer inadäquaten Streßreaktion in beiden Fällen weniger von Etomidat allein ausgeht als vielmehr von der bei Narkose oder Analgosedierung unausweichlichen Kombination mit weiteren Substanzen, was dann zu einem Mischbild aus zentraler und peripherer Hemmung der Cortisolsynthese führt. Aus den verfügbaren Untersuchungen über die Streßantwort des Organismus und das Outcome der Patienten unter derartigen Bedingungen läßt sich für die Praxis folgendes festhalten: 1. Die einmalige oder wiederholte Gabe von Etomidat zur Narkoseeinleitung ist unproblematisch. Das gilt auch für Patienten mit einer NNR-Insuffizienz, wenn perioperativ Glukokortikoide adäquat substituiert werden (s. Kap. 6.9.2). 2. Bei einer Langzeitanwendung von Etomidat, z. B. zur Hirndrucksenkung, können negative Auswirkungen der Cortisolhemmung auf den Krankheitsverlauf nicht sicher ausgeschlossen werden. Deshalb sind hier wiederholte Messungen des Cortisolspiegels und ggf. eine Cortisolsubstitution notwendig. 3.4 Lokalanästhetika Lokalanästhetika sind Substanzen, die bei topischer Anwendung eine reversible, regional begrenzte Blockade der neuralen Erregungsleitung ermöglichen. Wirkorte sind das Rückenmark und die Spinalganglien (z. B. Spinal-, Epiduralanästhesie), periphere Nerven oder Nervenbündel (z. B. Einzelnervenblockade, Plexusanästhesie) oder die Nervenendigungen (z. B. Infiltrations-, Oberflächenanästhesie; intravenöse Regionalanästhesie). Es können sämtliche Qualitäten im Innervationsgebiet gemischter Nerven ausgeschaltet werden (Sensibilität, Motorik, vegetative Funktionen) oder mit Einschränkung auch nur bestimmte (z. B. Sympathikusblockade, Epiduralanalgesie). Andere Regionen oder Funktionen des Organismus sind i. d. R. nicht betroffen; das Bewußtsein bleibt erhalten. Nomenklatur Lokal­ anästhesie: im engeren Sinn Infiltrations- oder Oberflächenanästhesie; im weiteren Sinn jede nichtsystemische Anwendung von Lokalanästhetika Regional­ anästhesie: im engeren Sinn eine Anästhesie, die sich aus einer gezielten Blockade eines oder mehrerer Nerven ergibt; im weiteren Sinn jede nichtsystemische Anwendung von Lokalanästhetika Topische ­Anästhesie: Synonym für Lokal- oder Regional­ anästhesie Periphere Ner­ venblockade: Injektion eines Lokalanästhetikums an periphere Nerven oder Nervenbündel Zentrale Ner­ venblockade: rückenmarknahe Injektion eines Lokalanästhetikums Grenzdosis: in der Fachliteratur empfohlene Höchstdosis eines Lokalanästhetikums Afferenz: von der Peripherie ins ZNS leitende Nervenbahn (zentripetal) Efferenz: vom ZNS in die Peripherie leitende Nervenbahn (zentrifugal) Perikaryon: Zellkörper, Zelleib Dendrit: zum Perikaryon hin leitender Nervenzellfortsatz (zellulipetal) Axon: vom Perikaryon weg leitender Nervenzellfortsatz (zellulifugal) Neurit: veraltet für Axon Ganglion: Schaltstelle für die Signalübertragung von einem Neuron auf das nächste Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 140 3.4 Lokalanästhetika Lokalanästhetika (LA) sind aromatische Amine (Abb. 47) und reagieren in wäßriger Lösung meist schwach basisch. Sie gehören zu den amphiphilen Stoffen, d. h., sie sind einerseits lipophil, was auf den ungesättigten aromatischen Ring zurückzuführen ist, und andererseits hydrophil, was durch die protonierbare Aminogruppe (sekundäres oder tertiäres Amin)27 bedingt ist. Ring und Aminogruppe sind über eine kurze aliphatische Zwischenkette (2–3 C-Atome) miteinander verbunden. Je nachdem, ob die Zwischenkette eine Esterbindung (–COO–) oder eine (Carbon-)Amidbindung (–NHCO–) enthält, spricht man von Aminoestern oder Aminoamiden (Säureamide). Die Länge der Kette beeinflußt die Affinität zu den Strukturen am Wirkort (d. h. die Potenz des LA), die Substitution von Kettengliedern die Lipidlöslichkeit und die Bindung an Proteine. Die physikochemischen Eigenschaften der Lokalanästhetika werden jedoch hauptsächlich von Strukturveränderungen am aromatischen Ring und an der Aminogruppe bestimmt. Amid-LA zeigen gegenüber Ester-LA eindeutige Vorteile, was das Verhältnis von Wirkung zu Nebenwirkungen angeht, so daß in der Anästhesiologie heute so gut wie ausschließlich nur noch jene verwendet werden.28 Im einzelnen handelt es sich um folgende Substanzen: • Lidocain (Xylocain®®), • Prilocain (Xylonest ), ® • Mepivacain (Scandicain ®), • Bupivacain (Carbostesin )®und S(–)-Bupivacain bzw. Levobupivacain (Chirocain ), • Ropivacain (Naropin®). Außer Lidocain enthalten sie sämtlich mindestens ein asymmetrisches C-Atom, was stereoisomere Molekülpaare, Razemate, entstehen läßt. Aus dem Razemat von Ropivacain ist die S(–)-Form isoliert worden. Ropivacain war das erste Lokalanästhetikum, dessen Handelspräparat Naropin® nur aus einem Enantiomer, S(–)-Ropivacain, besteht. Das entsprechende Pendant von Bupivacain, S(–)-Bupivacain, ist zwar als Levobupivacain (Chirocain®) inzwischen für den deutschen Markt zugelassen, wird aber (noch?) nur wenig eingesetzt. Injektionspräparate. Für die Herstellung von Injektionspräparaten wird die schwache LA-Base mit HCl versetzt, woraufhin gut wasserlösliche Hydrochloridsalze entstehen. Die meisten der kommerziellen Injektionslösungen enthalten das Lokalanästhetikum als Hydrochlorid. Ihr pH-Wert liegt im sauren Bereich und beträgt 3–5. Nach der Injektion ins Gewebe bildet sich unter dem Einfluß von HCO3– die freie, d. h. nichtionisierte Base (s. Abschn. 3.4.3). Nur sie kann in den Nerv eindringen. 27 28 Sekundäre Amine haben 2, tertiäre 3 Nichtwasserstoffsubstituenten am Stickstoffatom. Alle Lokalanästhetika mit 2 „i“ sind Amide. substituierter aromatischer Ring R1 C R3 A R2 Zwischenkette bei O Ester-LA Zwischen- (protonierbare) kette sekundäre oder tertiäre Aminogruppe Zwischenkette bei O Amid-LA NH C N R4 hydrophil lipophil CH3 Lidocain NHCOCH2 N C2H5 C2H5 CH3 CH3 Prilocain O H NHCOCH N C3H7 CH3 CH3 Mepivacain NHCO N CH3 CH3 CH3 NHCO * Bupivacain N CH3 CH3 C4H9 H NHCO * Ropivacain CH3 *optisches Asymmetriezentrum N C3H7 Abb. 47 Grundstruktur der Lokalanästhetika und einige Strukturformeln 3.4.2 Pharmakodynamik ■■ Anatomie des Nervs Ein typischer peripherer Nerv besteht aus Fasern, die, zu Bündeln zusammengefaßt, in einer gemeinsamen bindegewebigen Nervenscheide verlaufen (Abb. 48). Abhängig von der Lage der Bündel werden Kern- und Mantelfasern unterschieden, was praktische Bedeutung für den Ablauf einer Nervenblockade hat (s. Abschn. 3.4.3). Hüllstrukturen. Die kleinsten funktionellen Einheiten eines Nervs, die Nervenfasern29, werden vom Endoneurium umhüllt, die Faserbündel vom Perineurium. Zwischen den 29 Eine Nervenfaser entsteht als Fortsatz oder Aussprossung einer Nervenzelle. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 3.4.1 Chemische Struktur 141 3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa einzelnen Faserbündeln befindet sich ein lockeres fettreiches Gewebe, das Epineurium. Den äußeren Abschluß des gesamten Nervs bildet die schon erwähnte Nervenscheide (Abb. 48). Nervenfasern. Mit dem Lichtmikroskop lassen sich in einem gemischten Nerv Fasern verschiedener Dicke erkennen. Außerdem werden Zellen sichtbar, die die Fasern umgeben. Es handelt sich um die sog. Schwann-Zellen (Abb. 48). Ihre primäre Aufgabe ist die Ernährung der von ihnen eingehüllten Nervenfaser (Stofftransport), sie beeinflussen aber auch ganz wesentlich den Erregungsablauf entlang der Nervenfaser (s. u.). Es lassen sich 2 Typen von Schwann-Zellen unterscheiden. Bei dem einen ist die Umhüllung lamellenartig – man bezeichnet das als Markoder Myelinscheide und die betreffenden Nervenfasern als markhaltig oder myelinisiert; bei dem anderen Typ fehlt die lamelläre Schichtung, und die Hülle weist Lücken auf – hier spricht man von marklosen oder nichtmyelinisierten Fasern. Diese morphologischen Unterschiede sind nicht nur für die verschiedenen Funktionen von Nerven wichtig, sie spielen auch für die Nervenblockade mit Lokalanästhetika eine große Rolle (Tab. 59). Zellmembran. Die Nervenzellmembran (Neurolemm) besteht wie jede biologische Membran aus einer Lipiddoppelschicht, die von Kanalproteinen durchsetzt ist und in die Funktionsproteine eingebettet sind (Einzelheiten s. Kap. 1.3.2). ■■ Physiologie der Nervenleitung Abb. 48a,b Aufbau eines peripheren Nervs. a Nerv im Querschnitt, b markhaltige Nervenfaser im Längsschnitt Die zwischen Nervenzelle und Extrazellulärraum bestehende Differenz der Ionenkonzentrationen (Gradient) erzeugt ein elektrochemisches Ruhemembranpotential von ca. –80 mV („innen gegen außen“). Das Ruhepotential ist das Ergebnis einer nahezu selektiven Permeabilität der Membran für Kaliumionen. Die Na+-Kanäle sind in dieser Phase weitestgehend geschlossen. Der für die Natrium- und Kaliumionen unterschiedliche Konzentrationsgradient wird durch den aktiven, energieverbrauchenden Transport von Na+ nach extrazellulär und K+ nach intrazellulär aufrechterhalten (ATP-abhängige „Na+/ K+-Pumpe“). Bei Erregung der Zelle steigt das Ruhepotential an, bis es bei Überschreiten eines Schwellenwerts (ca. –50 mV) schlagartig zu einer massiven Zunahme der Na+-Leitfähigkeit und damit zu einem Na+-Einstrom in die Zelle kommt („Depolarisation“; Abb. 49). Hierdurch kehrt sich das Potential kurzfristig auf ca. +30 mV um („Overshoot“), und es entsteht ein Aktionspotential (AP). Tabelle 59 Einteilung der Nervenfasern Nervenfasertyp myelinisiert Durchmesser1 (µm) Leitungsgeschwindigkeit (m/s) Empfindlichkeit gegen LA2 Vermittelte Funktion A 1 • α +++ 12–20 60–120 + Motorik, Lageempfindung • β ++ 5–12 30–70 ++ Berührung, Vibration • γ + 3–6 15–30 ++ Muskeltonus • δ + 1–4 12–25 +++ Schmerz und Temperatur B (+) <3 3–15 ++++ präganglionärer Sympathikus C – <1 0,5–2,0 ++++ Schmerz und Temperatur, postganglionärer Sympathikus, Parasympathikus einschließlich Myelinscheide, wenn vorhanden; 2 Lokalanästhetika Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 142 3.4 Lokalanästhetika Im Ruhezustand der Membran ist der Na+-Kanal geschlossen. Das ist höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß einige der ins Kanalinnere weisenden Aminosäuregruppen positiv geladen sind, was den Na+-Durchtritt erheblich erschwert. Ändert sich nun die Spannung, also das Ruhepotential, so ändert sich auch die Konformation des Kanalproteins. Dadurch, daß die geladenen Gruppen aus dem Lumen ins Proteininnere zurückgezogen werden, wird die Passage für Na+ frei. Die Leitfähigkeit des Na+-Kanals ist also spannungs- oder potentialabhängig. Ein genügend starker Spannungsimpuls überführt ihn in den offenen Zustand, der darauf folgende schnelle Na+Einstrom löst die Depolarisation aus, bis die mit dem K+-Ausstrom einsetzende Spannungsänderung (Repolarisation) ihn dann vorübergehend inaktiviert. In dieser kurzen Phase kann er nicht aktiviert werden, die Membran ist also gegen eine erneute Erregung refraktär. Das hat zur Folge, daß sich eine Erregung immer nur in eine Richtung ausbreiten kann. Um wieder geöffnet werden zu können, muß der Na+-Kanal erst in den Ruhezustand übergehen. Die Zustandsformen des Na+-Kanals bilden damit sozusagen einen unidirektionalen Kreislauf. Natrium- und Kaliumkanäle. Die in die Nervenzellmembran eingebetteten Na+- und K+-Kanäle schaffen die Voraussetzung für die transmembranale Bewegung der entsprechenden Ionen. Die Kanäle sind selektiv permeabel, sie lassen fast nur das eine oder das andere Ion hindurch. Ruhepotential und Kaliumkanal. Das Ruhepotential (ca. –80 mV) entspricht annähernd dem Kaliumgleichgewichtspotential (ca. –90 mV). Es entsteht folglich in erster Linie durch die im Extra- und Intrazellulärraum unterschiedliche K+-Konzentration ([K+] innen hoch, außen niedrig) und die in der Ruhephase nahezu selektive Permeabilität der Membran für Kaliumionen (die K+-Kanäle sind also während der Ruhephase zu einem gewissen Teil geöffnet, so daß K+ durch die Zellmembran diffundieren kann). Die leichte Abweichung vom Kaliumgleich­ Die selektive Leitfähigkeit (Konduktion) des K+-Kanals ist nochmals um einiges höher als die des Na+-Kanals. Dies überrascht insofern, als Na+ als kleineres und chemisch ähnliches Ion eigentlich den K+-Kanal sollte passieren können. Daß dies nicht so ist, liegt möglicherweise darin begründet, daß beide Ionen in wäßriger Lösung hydratisiert, d. h. an Wassermoleküle „gekoppelt“, sind, wobei die Hydrathülle von Na+ größer ist als die von K+. Das führt dazu, daß Na+ schlechter durch den K+-Kanal paßt als umgekehrt K+ durch den Na+-Kanal; die Hydrathülle scheint also für die Spezifität der Ionenkanäle verantwortlich zu sein. Membranpotential (mV) Overshoot 0 –50 –100 + + + Schwellenpotential Ruhepotential 0,5 0 Na+ – – – – 1,0 K+ + + + + Zeit (ms) 1,5 + + + Na+ K+ Extrazellulärraum Membran + + + + – – – – – – – Na+ K+ Depolarisation Repolarisation Abb. 49 Erregungsablauf am Nerv – – – K+ Na+ ATP ADP Na+/K+- Pumpe Axoplasma Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Der Natriumkanal existiert in 3 Zuständen (Abb. 50): • geschlossen (Ruhezustand), • offen (→ Depolarisation) oder • inaktiviert. Dieser Ablauf gehorcht dem „Alles-oder-nichts-Gesetz“. Bei Erreichen der kritischen Schwelle wird immer ein Aktionspotential ausgelöst, das in etwa der Darstellung in Abb. 49 entspricht. Durch den anschließenden passiven K+-Ausstrom fällt das Potential wieder auf den Ausgangswert ab („Repolarisation“). Dabei werden die Na+-Kanäle inaktiviert. Die Depolarisationswelle breitet sich auf die benachbarten Membranabschnitte aus und leitet so das Aktionspotential entlang der gesamten Nervenfaser fort. Die Leitungsgeschwindigkeit hängt von der Faserdicke und vom Grad der Myelinisierung ab. Myelin dient als elektrischer Isolator. Im Myelin findet nämlich kein Ionenaustausch statt. Bei markhaltigen Nervenfasern ist dieser auf die sog. Ranvier-Schnürringe beschränkt, die frei von Myelin sind. Da die Erregung die myelinumhüllten Abschnitte gewissermaßen überspringt, spricht man von einer „saltatorischen Erregungsleitung“ – im Gegensatz zur kontinuierlichen Erregungsleitung bei mark­ losen Fasern. Durch die saltatorische Erregung wird die Leitungsgeschwindigkeit erheblich beschleunigt. Hierbei gilt: Je größer der Abstand zwischen den Schnürringen ist, desto schneller leitet die Faser. 30 143 3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa Abb. 50 Zustandsformen des Natriumkanals gewichtspotential erklärt sich daraus, daß die Membran in geringem Maße auch für Natriumionen durchlässig ist, was aufgrund der entgegengesetzten Na+-Verteilung ([Na+] außen hoch, innen niedrig) das Ruhepotential in der Summe etwas höher ausfallen läßt. Im Gleichgewichtszustand ist der Nettostrom aller Ionen zwischen Extra- und Intrazellulärraum jedoch null; es herrscht somit Elektroneutralität innerhalb der Kompartimente. Triebkraft für den Aufbau der elektrochemischen Potentialdifferenz, d. h. des Ruhepotentials, sind dann lediglich die extra- und intrazellulär unterschiedlichen Ionenkonzentrationen. Sie werden durch aktive Transportsysteme (Ionenpumpen) und durch den sog. Gibbs-Donnan-Effekt aufrechterhalten. Der Gibbs-Donnan-Effekt beruht auf der ungleichen Verteilung geladener Makromoleküle. Da Makromoleküle die Zellmembran nicht oder nicht ohne weiteres durchqueren können, ist die Konzentration von Proteinanionen intrazellulär höher als extrazellulär. Das hat zur Folge, daß auch die Summe der Kationen- und Anionenkonzentrationen intrazellulär größer als extrazellulär ist. Calcium und Magnesium. Calcium- und Magnesiumionen beeinflussen die Membranerregbarkeit in zweierlei Hinsicht. Zum einen können die zweifach positiv geladenen Ionen Na+ den Zugang zum Kanal durch Abstoßung erschweren; zum anderen erniedrigen ihre Ladungen das Ruhepotential (stärkere Negativierung) und erschweren damit die Auslösung von Aktionspotentialen. ruhend (geschlossen) BH+ + B +H ■■ Wirkungsweise der Lokalanästhetika Die Wirkung von Lokalanästhetika am Nerv ist dosisbzw. konzentrationsabhängig. Mit steigender neuronaler LA-Konzentration wird die Membranerregbarkeit immer weiter vermindert, bis schließlich kein noch so starker Reiz ein Aktionspotential auslösen kann. Bevor jedoch die Bildung von Aktionspotentialen sistiert, nimmt deren Dauer zu, was bedeutet, daß die Refraktärzeit länger wird und sich die Frequenz aufeinanderfolgender Potentiale verringert. Die elektrophysiologische Grundlage der LAWirkung ist eine Hemmung des spannungsabhängigen Na+-Einstroms in die Zelle. Hierdurch wird das Ruhe­ potential stabilisiert, d. h., der für die Auslösung eines Aktionspotentials nötige Schwellenwert wird nur noch schwerlich und dann gar nicht mehr erreicht. Damit erlischt die Nervenleitung, ein ankommendes Aktions­ potential kann nicht mehr weitergeleitet werden. Über den Mechanismus, wie Lokalanästhetika die Na+-Leitfähigkeit der (Nerven-)Zellmembran blockieren, besteht noch Unklarheit. Es werden 2 Möglichkeiten diskutiert (Abb. 51): 1. der direkte Verschluß des Na+-Kanals an seiner inneren Öffnung und 2. die Kompression des Kanals durch ein Aufquellen der umgebenden flüssigen Lipidphase. ad 1. Nach der gegenwärtig dominierenden Vorstellung diffundieren Lokalanästhetika in ihrer ungeladenen Form aktiviert inaktiviert Lokalanästhetikum protonierte BH+ Form (geladen) B BH+ Na+-Kanal H++ B BH+ Abb. 51 Innere Blockade des Natriumkanals durch Lokalanästhetika BH+ B ungeladene Form (Base) Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 144 3.4 Lokalanästhetika Nicht mit letzter Sicherheit geklärt ist, wie die LA-Bindung an den Na+-Kanal zustande kommt, ob rezeptorspezifisch, was dann, wie beschrieben, die protonierte Form erfordern würde, oder unspezifisch, was aufgrund des Dipolcharakters der ungeladenen Form grundsätzlich auch möglich wäre. ad 2. Lokalanästhetika können sich aufgrund ihrer Amphiphilie in die Interphase von Membranen einlagern. Das könnte hier zu einer Art Quelleffekt führen, wodurch die Na+-Kanäle dann gewissermaßen von außen deformiert und verschlossen würden. Minimale Hemmkonzentration. Zur Beurteilung der dosisabhängigen Wirkungsstärke von Lokalanästhetika dient die minimale Hemmkonzentration (Cm). Sie ist definiert als diejenige LA-Konzentration, mit der bei einer Einwirkdauer von 10 Minuten die Impulsleitung in einem Nerv unterbrochen werden kann. Sie ist substanzspezifisch. Da sie für jedes Lokalanästhetikum in vitro ermittelt wird, ist der Wert nur eingeschränkt auf klinische Verhältnisse anwendbar. Hier können Lokalanästhetika nämlich nicht so nah an einen Nerv herangebracht werden wie in vitro. Folglich muß das Anästhetikum in vivo erst durch das umgebende Gewebe diffundieren, bevor es den Nerv erreicht. Auf dem Weg dahin wird es aber verdünnt, und außerdem wird ein Teil ins Blut resorbiert. Für die klinische Praxis bedeutet dies, daß für eine zuverlässige Nervenblockade Konzentrationen benötigt werden, die immer oberhalb, z. T. weit oberhalb der Cm der verwendeten Lokalanästhetika liegen. Die minimale Hemmkonzentration hängt u. a. ab von • der Lipophilie des Lokalanästhetikums,2+ • den Milieubedingungen (pH-Wert, Ca -Konzentration), • der Nervenfaserdicke und • der Nervenimpulsfrequenz. Die Cm ist umgekehrt proportional zur Lipophilie des Lokalanästhetikums und zum pH-Wert des Gewebes (s. Abschn. 3.4.3), ebenso zur Ca2+-Konzentration (s. o.) und Nervenimpulsfrequenz (s. u.), aber proportional zum Durchmesser der zu blockierenden Nervenfasern. Blockademorphologie. Für die Unterbrechung der Erregungsleitung in nichtmyelinisierten Fasern reicht es aus, wenn die LA-Konzentration (CLA) an einer Stelle der Faser über deren gesamten Durchmesser gleich der minimalen Hemmkonzentration ist oder besser noch diese überschreitet (CLA > Cm: „radialer Block“). Im Unterschied dazu muß bei myelinisierten Fasern die LA-Konzentration nicht nur radial im Bereich eines Schnürrings hoch genug sein; vielmehr muß hier über eine Distanz von mindestens drei aufeinanderfolgenden Schnürringen eine ausreichende Konzentration in der Faser erzielt werden (CLA > Cm: „longitudinaler Block“). Je stärker zudem die Myelinisierung ist, um so größer wird der Abstand zwischen den einzelnen Schnürringen. Damit verlängert sich die Strecke, über die ein Lokalanästhetikum wirksam werden muß; und dementsprechend erhöht sich die Dosis, die für eine Impulsblockade nötig ist, noch mehr. Merke: Die minimale Hemmkonzentration ist ein Maß für die dosisabhängige Wirkungsstärke der Lokalanästhetika; sie läßt Rückschlüsse auf deren Affinität oder Potenz zu. Blockadephysiologie. Die Affinität eines Lokalanästhetikums zum Na+-Kanal ist vom aktuellen Zustand des Kanals abhängig (offen – inaktiviert – geschlossen). Im offenen Zustand ist eine Bindung am leichtesten möglich, schlechter ist es im inaktivierten und bei weitem am schlechtesten im geschlossenen, weil hier der Zugang des Anästhetikums zu den Bindungsstellen im Kanal aus sterischen Gründen erheblich behindert wird (Theorie vom „modulierten Rezeptor“). Ein ruhender Nerv ist somit wesentlich weniger empfindlich gegen Lokalanästhetika als ein aktiver; für letzteren gilt, daß mit steigender Impulsrate auch seine LA-Empfindlichkeit zunimmt („use dependent block“). Diese Gesetzmäßigkeit schlägt sich unmittelbar in der benötigten LA-Konzentration nieder: 1. Für die Blockade eines ruhenden Nervs muß CLA > Cm sein („Ruhe- oder statischer Block“). 2. Für die Blockade eines aktiven Nervs kann CLA < Cm sein („frequenzabhängiger oder phasischer Block“). Die frequenzabhängige Blockade spielt auch eine wichtige Rolle für die Wirkung der Lokalanästhetika am Reizleitungssystem des Herzens (→ Arrhythmien; s. Abschn. 3.4.4). ▶▶ Für die Praxis: Schmerzimpulse, die über schnell leitende Fasern transportiert werden, lassen sich schon mit niedrigen Konzentrationen eines Lokalanästhetikums unterdrücken. Reihenfolge der Blockade. Die Wirkung der Lokalanästhetika erfaßt grundsätzlich alle Nervenfasertypen. Hierbei gilt, daß die LA-Empfindlichkeit mit zunehmender Faserdicke abnimmt. Bei Applikation eines ausreichend konzentrierten Lokalanästhetikums an einen gemischten peripheren Nerv ergibt sich somit eine charakteristische Blockadereihenfolge: 1. C-Fasern: Ausschaltung des dumpfen Schmerzes, Sympathikusblockade (postganglionär), Verlust der Temperaturempfindung; 2. Aδ-Fasern: Ausschaltung des spitzen Schmerzes, Verlust der Temperaturempfindung; 3. Aγ-Fasern: Verlust des Muskeltonus; 4. Aβ-Fasern: Verlust der Berührungsempfindung; Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. (Base) durch die Membran und dissoziieren dann in der Zelle, gefördert durch den hier etwas niedrigeren pHWert. Die Kationen (protonierte Form) sollen daraufhin von der intrazellulären Seite an das Innere der Na+-Kanäle binden und damit den Na+-Einstrom behindern bzw. verhindern. 145 3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa 5. Aα-Fasern: Verlust der gesamten Motorik und der Lage­empfindung (Propriozeption). Bei rückenmarknaher LA-Applikation ist der Blockadeablauf geringfügig anders. Im Rückenmark verlaufen nämlich nur präganglionäre Sympathikusfasern (B-Fasern). Obwohl als B-Fasern schwach myelinisiert, werden sie stets als erste blockiert, also noch vor den nichtmyelinisierten C-Fasern. Das beruht auf einer morphologischen Besonderheit, denn B-Fasern liegen in speziellen, sog. Remak-Bündeln zusammen, die vom Lokalanästhetikum gut penetriert werden können. Merke: Bei rückenmarknaher Nervenblockade findet die Sympathikolyse vor der Analgesie statt, bei peripherer dagegen laufen beide parallel ab. ▶▶ Für die Praxis: Die Tatsache, daß die einzelnen Nervenfasertypen verschiedene Cm haben und eine Analgesie schon bei Unterbrechung der Impulsleitung in nichtmyelinisierten C-Fasern und schwach myelinisierten Aδ-Fasern eintritt, läßt sich klinisch nutzen. Durch gering konzentrierte Lokalanästhetika kann im Idealfall eine selektive Analgesie ohne Verlust der Berührungsempfindung und Motorik erreicht werden („Differentialblock“ [Tab. 63], z. B. geburtshilfliche Epiduralanalgesie). Besondere Blockadephänomene. In der Klinik treten manchmal zwei besondere Blockadephänomene auf: der Differentialblock und der Wedensky-Block. Da die einzelnen Nervenfunktionen nicht gleichzeitig, sondern in einer typischen Reihenfolge ausgeschaltet werden, kann es vorkommen, daß ein Patient zwar im Versorgungsgebiet des betreffenden Nervs bereits keine Schmerzen mehr empfindet (Blockade der C- und Aδ-Fasern), er aber noch Berührungen und Lageveränderungen wahrnimmt und die Muskulatur anspannen kann (fehlende Blockade der Aβ- und Aα-Fasern). Dieses Phänomen bezeichnet man als Differentialblock. Der Mechanismus wird in einer (noch) nicht ausreichenden longitudinalen Blockade der stärker myelinisierten Fasern vermutet (weniger als 3 Schnürringe), so daß die Impulse über diesen Bereich „hinwegspringen“ können. In einer solchen Situation wird man entweder abwarten oder Lokalanästhetikum nachinjizieren. Das zweite Phänomen, der Wedensky-Block, äußert sich darin, daß nach Injektion des Lokalanästhetikums das betreffende Areal zwar schon unempfindlich gegen einzelne Nadelstiche ist, der Hautschnitt aber noch schmerzhaft ist und vom Patienten nicht toleriert wird. Die inkomplette analgetische Blockade kommt dadurch zustande, daß die Cm in dem Nerv gerade erst erreicht ist. Damit werden Einzelreize schon nicht mehr weitergegeben, bei kontinuierlicher Stimulation jedoch kann z. B. jeder 2. oder 3. Impuls die Schwelle überschreiten und dann fortgeleitet werden. Das führt zur Wahrnehmung von Schmerzen, wenn auch nur in abgeschwächter Form. Beim Wedensky-Block wird man ebenfalls zunächst abwarten, ob sich der gewünschte Blockadeerfolg nicht doch noch einstellt. Da eine Nachinjektion in dieser Situation meist nicht möglich ist, muß, falls eine Infiltration des Operationsgebiets mit Lokalanästhetikum durch den Chirurgen auch nicht in Frage kommt, auf eine Allgemeinanästhesie gewechselt werden. 3.4.3 Pharmakokinetik ■■ Physikochemische Eigenschaften von ­Lokalanästhetika Lokalanästhetika liegen in wäßriger Lösung als protonierte Form (Kation, BH+; quartäres Amin) und als ungeladene, freie Base (B; tertiäres Amin)30 vor. Beide stehen zueinander in einem Fließ- bzw. Dissoziationsgleichgewicht: Gl. 19: LA (Base) + H2O ↔ BH+ + OH– Das Gleichgewicht hängt vom pH-Wert der Lösung und vom pKS-Wert des betreffenden Lokalanästhetikums ab. Sind pKS-Wert und pH-Wert gleich, so ist das Verhältnis Kation zu Base 1 : 1. Nur der basische Anteil ist membrangängig, während der protonierte pharmakologisch aktiv ist und die biologische Wirkung vermittelt. Je niedriger der pKS-Wert eines Lokalanästhetikums ist, desto höher ist der Anteil an freier Base, und um so leichter wird folglich das Nervengewebe penetriert, d. h., um so kürzer ist die Anschlagzeit. Die intraneuronale Konzentration der aktiven Form bestimmt dagegen die Qualität der Erregungsunterbrechung (s. Abschn. 3.4.2). Da der pKS-Wert der meisten Lokalanästhetika zwischen 7,5 und 9,0 liegt, überwiegt bei physiologischem pH-Wert der Anteil der kationischen Form. Nimmt der pH-Wert extrazellulär ab (z. B. Azidose in entzündetem Gewebe), dann nimmt der Kationenanteil weiter zu, so daß noch weniger LABase in die Zellen gelangen kann. Dies erklärt die relative Unwirksamkeit von Lokalanästhetika, wenn sie in ein Entzündungsgebiet injiziert werden. Das bedeutet theoretisch zwar auch, daß eine intrazelluläre Azidose, die ja das Entstehen der protonierten Form begünstigt, die Wirksamkeit verbessern würde; sie kommt allerdings isoliert nicht vor. Lokalanästhetika unterscheiden sich z. T. recht deutlich in ihrer Lipidlöslichkeit (wiedergegeben durch den Fett/ Wasser-Verteilungskoeffizienten [Tab. 62]). Die Lipidlöslichkeit bestimmt ebenfalls ihre Membrangängigkeit und außerdem die Fixation an die Erfolgsstrukturen wie auch die Bindung an Gewebe- und Plasmaproteine. Da mit steigender Lipidlöslichkeit die Membranpassage verbessert wird und die Affinität zu den Wirkorten zunimmt, verringert sich die LA-Dosis bzw. -konzentration, die für eine Nervenblockade erforderlich ist. Die Lipidlöslichkeit ist also maßgebend für die Potenz eines Lokalanästhetikums (am größten ist sie bei Bupivacain, dann folgt Ropivacain). Darüber hinaus beschleunigt sich mit zunehmender Lipidlöslichkeit der Wirkungseintritt (zügigere Membranpassage), und die Wirkungsdauer verlängert sich (Fixation am Wirkort und verzögerte Freisetzung aus der Proteinbindung). Umgekehrt vermindert sich dadurch die Resorption in die Blutbahn. Daraus läßt sich ableiten, daß die stark lipophilen Lokalanästhetika zu einer lokalen Kumulation neigen. Das bedeutet aber keinesfalls, daß sie weniger toxisch wären als die schwach lipophilen. Genau 30 Prilocain als sekundäres Amin Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 146 das Gegenteil ist der Fall, was mit daran liegt, daß sie ihre toxischen Wirkungen schon bei deutlich niedrigeren Plasmaspiegeln als die schwach lipophilen entfalten (s. Abschn. 3.4.4). Aus chemischer Sicht sind der aromatische Ring und die aliphatische Zwischenkette von entscheidender Bedeutung für die Wirkungsdauer eines Lokalanästhetikums. Sie legen den Grad der Lipophilie fest und damit die Affinität zu lipophilen Strukturen. Die Metabolisierung wird hingegen wesentlich davon beeinflußt, ob eine Ester- oder einer Amidgruppe vorhanden ist. Ester-LA werden schneller als Amid-LA biotransformiert, denn sie werden durch Esterasen schon im Plasma und Gewebe abgebaut, während Amid-LA nur in der Leber metabolisiert werden können. Zusammengefaßt gilt: 1. Je niedriger der pKS -Wert und je höher die Lipidlöslichkeit eines Lokalanästhetikums ist, desto schneller setzt die Wirkung ein. 2. Je höher die Lipidlöslichkeit ist, desto länger hält die Wirkung an, und desto weniger Lokalanästhetikum gelangt in die Blutbahn. Wirkungsdauer. Für den klinischen Gebrauch ist es wichtig, die Lokalanästhetika auch nach ihrer Wirkungsdauer zu unterscheiden: • kurz (< 1 h): Procain (Prototyp der Ester-LA) • mittellang (1–3 h): Lidocain, Prilocain, Mepivacain • lang (> 3 h): Bupivacain, Ropivacain Zeitlicher Ablauf einer Nervenblockade. Nach der Injektion eines Lokalanästhetikums in unmittelbare Nähe eines Nervs (typisch für periphere Nervenblockaden) dringt dieses entsprechend dem Konzentrationsgefälle von außen in den Nerv ein. Demzufolge werden zuerst die äußeren Anteile des Nervs (Mantelfaserbündel) und dann die inneren (Kernfaserbündel) blockiert. Das bedeutet, daß die proximalen Areale (einer Extremität) stets vor den distalen anästhesiert werden. In derselben Reihenfolge läßt die Blockade auch wieder nach. Zunächst wird die Cm in den Mantelfasern unterschritten, danach in den Kernfasern. Praktische Bedeutung hat dies z. B. bei der Verwendung einer Blutsperre; hier kann ein „Tourniquetschmerz“ das erste Zeichen einer nachlassenden Anästhesie sein. Bei der intravenösen Regionalanästhesie passiert genau das Umgekehrte. Hier schreitet die Blockade von distal nach proximal fort, weil das Lokalanästhetikum die besser vaskularisierten Kernfaserbündel zuerst erreicht. Merke: Bei einer peripheren Nervenblockade breitet sich die Anästhesie typischerweise von proximal nach distal aus. Repetition von Lokalanästhetika. Wird bei abklingender Nervenblockade ein Lokalanästhetikum frühzeitig nachinjiziert, so trifft dieses auf noch partiell besetzte Bindungsstellen im Nerv und Gewebe. Das hat zur Folge, daß die Blockade schon mit einer geringen LA-Dosis (ca. ¼–⅓ der Initialdosis) wieder vervollständigt werden kann. Auf diese Weise läßt sich auch in der Anflutungsphase einer Lokalanästhesie eine (noch) nicht ausreichende Wirkung komplettieren oder der Wirkungseintritt beschleunigen („Augmentation“). Bei häufig wiederholter LA-Applikation (über Regionalanästhesiekatheter) kommt es zu einer Toleranzerhöhung, so daß die Repetitionsdosen allmählich gesteigert werden müssen. Der Grund hierfür ist nicht klar. Eine Hypothese geht von einer pharmakokinetischen Ursache aus. Danach sollen die sauren LA-Lösungen die Puffer­ kapazität des Gewebes mit der Zeit überfordern und eine lokale Azidose auslösen, was dann den Anteil an freier, permeabler LA-Base vermindern würde. Auch Veränderungen auf neurophysiologisch-pharmakodynamischer Ebene werden diskutiert. Ungeachtet dessen läßt sich der Eintritt einer Toleranzerhöhung durch kontinuierliche LA-Gabe verzögern und möglicherweise durch den Zusatz von Opioiden ganz verhindern. Einfluß von Dosis, Konzentration und Volumen auf die Blockade. Die Dosis (D) eines Lokalanästhetikums ist mit seiner Konzentration (c) und dem Volumen (V) der Injektionslösung durch folgende Beziehung verknüpft: Gl. 20: D=c∙V Eine Bewertung des separaten Einflusses einer dieser Größen auf die Nervenblockade ist nur begrenzt möglich, da sich mit der Änderung der zu untersuchenden Variablen zwangsläufig auch mindestens eine der beiden anderen ändern muß. Wenn man bei konstantem Lösungsvolumen die Konzentration erhöht (und damit auch die Dosis), verbessert sich die Blockadequalität, der Wirkungseintritt wird beschleunigt und die Wirkungsdauer verlängert. Vergrößert man jedoch das Lösungsvolumen (bei unveränderter Konzentration), dann wird vor allem die Ausbreitung des Anästhetikums vom Injektionsort weg gefördert. Merke: Dosis und Konzentration eines Lokalanästhetikums bestimmen mehr die Intensität oder Qualität einer Nervenblockade, das Injektionsvolumen bestimmt mehr die Blockadeausdehnung. ■■ Einfluß von Vasokonstriktoren Lokalanästhetika führen lokal (!) zu einer Vasodilatation, was ihre Aufnahme ins Blut begünstigt. Sie werden daher zuweilen gemeinsam mit Substanzen verabreicht, die eine lokale Vasokonstriktion auslösen sollen. Hierdurch soll der LA-Abtransport über das Blut verzögert und zugleich die LA-Konzentration am Wirkort erhöht werden. Davon verspricht man sich • eine Beschleunigung und Intensivierung der Nervenblockade, • eine Verlängerung der Anästhesie, • eine Verringerung der systemischen Nebenwirkungen, 147 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 3.4 Lokalanästhetika 3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa • bei der Infiltrationsanästhesie auch eine verminderte Blutungsneigung im Operationsgebiet und damit eine bessere Übersicht für den Operateur. Wie effektiv ein Vasokonstriktor in dieser Hinsicht sein kann, hängt • einerseits vom Grad der Vaskularisierung des Injektionsortes und • andererseits von den physikochemischen Eigenschaften des Lokalanästhetikums ab. Seine Wirkungen werden um so ausgeprägter sein, je schneller das Anästhetikum ins Blut aufgenommen wird, d. h., je höher die Durchblutung am Injektionsort ist und je weniger lipidlöslich das Anästhetikum ist. Bei dem sehr lipophilen Bupivacain z. B. gelingt es kaum, die Resorption nennenswert zu verzögern, weil Bupivacain schon primär in sehr hohem Maße an die Gewebestrukturen gebunden wird. Adrenalin. Als Vasokonstriktor wird heute nur noch Adrenalin (Suprarenin®) benutzt, entweder in einer Konzentration von 1 : 200.000 oder 1 : 100.000. Als Höchstdosis gelten 0,25 mg bei Erwachsenen. Bei absoluter oder relativer Überdosierung können systemische Nebenwirkungen wie • tachykarde Rhythmusstörungen, • krisenhafte Blutdruckanstiege oder • Myokardischämien auftreten; lokal kann es zu einer Gewebeischämie oder durch Konstriktion der Vasa nervorum zu einer neuralen Ischämie und damit zu einer (dauerhaften) Nervenschädigung kommen. Aus den potentiellen Nebenwirkungen ergeben sich für den Einsatz von Adrenalin bei Nervenblockaden folgende Kontraindikationen: • koronare Herzkrankheit, • arterielle Hypertonie, • Hyperthyreose, • Mikroangiopathien, z. B. bei Diabetes mellitus (→ Gefahr der Gangrän), • Injektion in Endstromgebiete, z. B. Akren (→ Gefahr der Gangrän), • Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva (→ Verstärkung der Adrenalinwirkung). Tabelle 60 Faktoren, die den Eintritt und die Dauer von Lokalanästhesien beeinflussen Wirkungseintritt Wirkungsdauer schnell Lipophilie des LA ↑ pKS -Wert des LA ↓ Dosis/Konzentration des LA ↑ Nerven(faser)dicke ↓ lang langsam Lipophilie des LA ↓ pKS -Wert des LA ↑ Dosis/Konzentration des LA ↓ Nerven(faser)dicke ↑ kurz LA = Lokalanästhetikum ▶▶ Empfehlung: Da Lokalanästhetika bei Nervenblockaden in nur verhältnismäßig gering vaskularisierte Gebiete injiziert werden und Substanzen zur Verfügung stehen, die eine ausreichend lange Wirkungsdauer und eine genügende kardiovaskuläre Sicherheit bieten, erscheint es ratsam, auf den Zusatz von Vasokonstriktoren ganz zu verzichten. ■■ Elimination Aminoester. Ester-LA sind instabile Verbindungen. Sie werden rasch hydrolytisch gespalten, und zwar durch gewebeständige Esterasen und im Plasma u. a. durch die nahezu ausschließlich hier zu findende Pseudocholinesterase (PChE).31 Demzufolge kann die Wirkung von Ester-LA bei atypischen Formen der PChE geringfügig verlängert sein. Bei der Hydrolyse entsteht ein für diese Gruppe charakteristischer Metabolit, 4-Aminobenzoesäure. Sie ist für die möglichen allergischen Reaktionen verantwortlich (s. Abschn. 3.4.4). Dies ist mit ein Grund, warum Ester-LA mittlerweile kaum noch verwendet werden. Aminoamide. Amid-LA sind gegenüber Esterasen deutlich stabiler als Ester-LA. Jene werden daher fast ausschließlich in der Leber metabolisiert, z. T. komplex in mehreren Schritten. Die Metabolisierungsgeschwindigkeit ist bei den einzelnen Substanzen unterschiedlich. Am höchsten ist sie bei Prilocain, was auf seine besondere chemische Struktur zurückzuführen ist. Als sekundäres Amin kann es nicht nur hepatisch, sondern auch pulmonal und renal metabolisiert werden. Als weitere Besonderheit entsteht beim Prilocainabbau der Methämoglobinbildner o-Toluidin (s. Abschn. 3.4.4). Im Unterschied zu den Ester-LA wird bei der Biotransformation der Amid-LA keine 4-Aminobenzoesäure gebildet, so daß Allergien auf Amid-LA selbst extrem selten sind (s. aber Abschn. 3.4.4). Der Anteil der unverändert renal ausgeschiedenen Substanz liegt bei allen hier besprochenen Lokalanästhetika unter 5 % und ist damit so gering, daß auch bei stark eingeschränkter Nierenfunktion nicht mit einer relevanten Kumulation gerechnet werden muß. Anders ist es bei Leberinsuffizienz. Hier können Lokalanästhetika kumulieren, was ihre Wirkung entsprechend verlängert. Dies gilt nicht nur bei primären Lebererkrankungen, sondern auch bei sekundären, z. B. bei einer Minderperfusion aufgrund einer Herzinsuffizienz. Lidocain unterliegt einem sehr ausgeprägten oxidativen Stoffwechsel (Phase-I-Reaktion; daher wird es auch als kontraindiziert bei einer akuten hepatischen Porphyrie angesehen!). Es wird normalerweise während einer einzigen Leberpassage 31 Die Tatsache, daß Lokalanästhetika durch die PChE abgebaut werden, kann zur Ermittlung der PChE-Aktivität genutzt werden (→ „Dibucainzahl“), z. B., wenn die Ursache einer abnorm verlängerten Succinylcholinwirkung abgeklärt werden soll (s. Kap. 5.5.2). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 148 3.4 Lokalanästhetika Nebenwirkungen von Lokalanästhetika können toxisch oder allergisch bedingt sein. Da Allergien auf Säureamide äußerst selten sind, gilt das Hauptaugenmerk den toxischen Effekten. Sie können aufgrund ihrer Dosisabhängigkeit grundsätzlich zwar jeden Patienten betreffen, doch sind sie bei sachgemäßer Handhabung der Lokal­ anästhetika in aller Regel vermeidbar. 0 ■■ Systemisch toxische Effekte Die „membranstabilisierende Wirkung“ der Lokalanästhetika beschränkt sich nicht auf Nervenzellen; sie kann prinzipiell an allen erregbaren Zellen im Organismus auftreten. Gelangen Lokalanästhetika in ausreichender Menge ins Blut, so können sie zu lebensbedrohlichen Organfunktionsstörungen führen. Im Vordergrund stehen dabei die Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem und das kardiovaskuläre System (Tab. 61). Damit sich toxische Nebenwirkungen entwickeln können, muß das betreffende Lokalanästhetikum eine bestimmte Plasmakonzentration überschreiten. Diese Schwellenkonzentration kann allerdings individuell sehr unterschiedlich sein. So wurden in Einzelfällen z. T. deutlich höhere Plasmaspiegel als die üblicherweise toxischen gemessen, ohne daß entsprechende Symptome auftraten, andererseits aber auch niedrigere, die mit ausgeprägten Nebenwirkungen einhergingen. Überhöhte Plasmaspiegel können durch • eine absolute Überdosierung (d. h. bei Überschreiten der empfohlenen Grenzdosis), • eine relative Überdosierung (bei beschleunigter LAResorption, z. B. in gut durchbluteten Geweben, oder bei erhöhter individueller Empfindlichkeit) • oder – am gefährlichsten! – durch eine versehentliche intravasale Injektion entstehen. Schweregrad und Verlauf toxischer Effekte werden nicht nur von der absoluten Höhe der Plasmakonzentration, sondern noch mehr von der Geschwindigkeit des Konzentrationsanstiegs bestimmt. Eine intravenöse Injektion eines Lokalanästhetikums hat verständlicherweise ein deutlich größeres Risiko als z. B. nur eine Gewebeinfiltration mit gleicher Dosis. Für die Resorption aus einem Gewebedepot sind die physikochemischen Eigenschaften des oder der verwendeten Lokalanästhetika und der Grad der Vaskularisierung des Applikationsortes maßgeblich. Auch die LA-Konzentration übt einen Einfluß aus; allerdings scheint dieser geringer zu sein. Wird bei unveränderter Dosis die Konzentration erhöht, dann steigt die Resorptionsrate leicht an. intraarterielle/-venöse Fehlinjektion Mundschleimhaut Interkostalblock Epiduralanästhesie Plexus brachialis subkutane Injektion relativer Plasmaspiegel 3.4.4 Allgemeine Nebenwirkungen AV 5 10 15 20 Zeit (min) 40 60 Abb. 52 Verlauf der Plasmaspiegel von Lokalanästhetika Merke: Je höher die Durchblutung am Applikationsort und je geringer die Lipophilie eines Lokalanästhetikums ist, um so stärker wird es resorbiert. Entsprechend den Durchblutungsverhältnissen nimmt die Resorptionsrate und damit die Plasmakonzentration eines Lokalanästhetikums wie folgt zu: intrathekal → subkutan → Plexus brachialis → epidural → kaudal → interkostal → interpleural → Schleimhäute (hier entspricht das Resorptionsverhalten bereits einer langsamen intravenösen Injektion!) (Abb. 52). Neben der Resorptionsrate fördern noch weitere Faktoren die toxische Variabilität: • der Hydratationszustand, • die Proteinbindung und • der Säure-Base-Status. Eine Dehydratation läßt das Verteilungsvolumen abnehmen und folglich die LA-Konzentration in Plasma und Gewebe zunehmen, ein Proteinmangel, besonders wenn er chronisch ist, den nichtproteingebundenen LA-Anteil im Gewebe ansteigen, wodurch ebenfalls das Nebenwirkungsrisiko erhöht wird. Die Toxizität wird außerdem verstärkt, wenn sich im Verlauf der Lokalanästhesie eine Azidose bildet, gleichgültig ob respiratorisch oder metabolisch; denn eine Azidose bewirkt, ebenso wie eine Hypoxie, eine intrazelluläre Zunahme des wirksamen, ­ionisierten LA-Anteils. Wenn die LA-Plasmakonzentration nur langsam ansteigt, wie es üblicherweise bei der Resorption aus einem Gewebedepot der Fall ist, und dabei toxische Spiegel erreicht werden, zeigt sich eine charakteristische Abfolge der Symptomatik. In diesen Fällen treten zentralnervöse Effekte i. d. R. vor kardiovaskulären auf, was daran liegt, daß die zerebrotoxische Schwellenkonzentration niedriger als die kardiotoxische ist. Demgegenüber kann der LA-Plasmaspiegel bei einer intravenösen Injektion so rasch zunehmen, daß sich zerebrale und kardiovaskuläre Symptome zeitgleich entwickeln. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. nahezu vollständig aus dem Blut extrahiert, was als diagnostisches Maß für die Leberdurchblutung/-funktion herangezogen werden kann (→ MEGX-Test; s. Kap. 1.3.6). 149 3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa Tabelle 61a Systemisch toxische Nebenwirkungen der Lokalanästhetika Plasma­ konzentration von oben nach unten zunehmend Grad zentralnervös kardiovaskulär I kortikale Hemmung → flüchtige Somnolenz ø II subkortikale Enthemmung zentrale Sympathikusstimulation • IIa → präkonvulsive • IIb → generalisierter Krampfanfall beginnende direkte kardiotoxische Wirkung III Hirnstammlähmung → Koma, Atemstillstand zentrale Sympathikolyse + direkte Wirkung an Herz und Gefäßen → Bradykardie, AV-Block, ventrikuläre Arrhythmie (besonders Bupivacain!), Blutdruckabfall3; Herzstillstand Warnzeichen1 → Herzfrequenz- und Blutdruckanstieg2 Unruhe, Schwindel, Euphorie; Übelkeit/Erbrechen; Muskelzittern; verwaschene Sprache, Nystagmus, Ohrensausen; Taubheit/Kribbeln von Zunge und perioraler Region, metallischer Geschmack; 2 Blutdruckanstieg auch durch LA-induzierte Vasokonstriktion; 3 durch Vasodilatation und negative Inotropie 1 Tabelle 61b Einteilung der toxischen Nebenwirkungen nach Schweregrad Schweregrad Symptomatik leicht Somnolenz oder Unruhe, präkonvulsive Warnzeichen mittel Konvulsionen schwer kardiotoxische Symptome, Koma → Apnoe, Herzstillstand Zentrales Nervensystem. So wie Lokalanästhetika in der Lage sind, in periphere Nerven einzudringen, sind sie auch imstande, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und ins Gehirn vorzudringen. Die hier hervorgerufenen Wirkungen sind ebenfalls konzentrations- bzw. dosisabhängig. Zunächst kommt es zu Symptomen, die auf eine Aktivitätszunahme hinweisen (Unruhe, Muskelzittern; Krampfanfälle). Dem liegt allerdings nicht eine direkte Steigerung der neuronalen Erregbarkeit zugrunde, sondern eine Dämpfung der Aktivität höherer Zentren – eine kortikale Suppression. Als Ausdruck dessen ist manchmal initial eine flüchtige Somnolenz beim Patienten zu beobachten. Die Blockierung inhibitorischer Kortexneurone führt dann aber schnell zu einer subkortikalen Enthemmung, und es resultiert eine Symptomatik, vergleichbar mit dem Exzitationsstadium bei Inhalationsanästhetika: der Patient wird unruhig, verliert seine Orientierung, seine Sprache wird verwaschen. Diese und weitere hinweisende Symptome gehen oft einem generalisierten Krampfanfall voraus. Als typisches Früh- und Warnzeichen gilt ein taubes Gefühl oder ein Kribbeln auf der Zunge und in der perioralen Region, zuweilen verbunden mit einem metallischen Geschmack. Bei weiter steigendem LAPlasmaspiegel folgt schließlich eine generalisierte ZNSDepression (und zusätzlich eine direkte kardiovaskuläre Depression; s. u.). Sie führt unbehandelt durch Atemlähmung (und Herzstillstand) zum Tod des Patienten. Generalisierte Krampfanfälle sind eine äußerst gefährliche Komplikation einer Regionalanästhesie, zum einen durch die expressive Symptomatik, die den Patienten direkt gefährdet, zum anderen durch den im Anfall erheblich gesteigerten zerebralen O2-Bedarf. Es droht eine hypoxische Hirnschädigung, falls die zerebrale Oxygenierung nicht adäquat verbessert werden kann (→ Beatmung mit 100 % O2). Der Grund dafür, daß Lokalanästhetika Krampfanfälle auslösen können, liegt jedoch nicht wie bei der Epilepsie in einer Aktivierung eines kortikalen Focus, sondern in der beschriebenen Enthemmung subkortikaler Regionen (vgl. Abschn. 3.3.8-B). Diese Krämpfe nehmen ihren Ausgang vom limbischen System, wahrscheinlich vom Corpus amygdaloideum (Mandelkern) und Hippokampus. Lokalanästhetika sind folglich bei Patienten mit Epilepsie nicht kontraindiziert, zumal sie in niedriger Dosierung sogar antikonvulsiv wirken und einen Status epilepticus durchbrechen können. Merke: Lokalanästhetika wirken in niedriger Dosierung antikonvulsiv, so daß ihre Anwendung bei Epilepsie nicht kontraindiziert ist, sofern die entsprechenden Grenzdosen eingehalten werden (s. Abschn. 3.4.5)! Kardiovaskuläres System. Während in der frühen Phase einer LA-Intoxikation die Zeichen einer zentralen HerzKreislauf-Stimulation beobachtet werden können (initial z. B. Tachykardie und Hypertension möglich), dominieren mit zunehmendem LA-Plasmaspiegel die direkten Auswirkungen des Lokalanästhetikums auf das Herz und die Gefäße. Sie bestehen in • Störungen der Reizbildung/-leitung (→ Arrhythmien), • Verminderung der Myokardkontraktilität (→ Herz­ insuffizienz) und • peripherer Vasodilatation (→ Blutdruckabfall). Am wichtigsten sind hiervon die kardialen Effekte. Deren pharmakologische Grundlage ist die Fähigkeit der Lokalanästhetika, an die Na+-Kanäle des Reizbildungs/-leitungssystems und Arbeitsmyokards zu binden und infolgedessen die Membranleitfähigkeit für Na+ herabzusetzen. Allerdings bestehen dabei große Unterschiede zwischen schwach und stark lipophilen Substanzen. Je nach dieser Eigenschaft wird die Bindung an den Na+-Kanal nämlich in verschiedenen Phasen des Aktionspotentials geknüpft (Abb. 53), und außerdem unterscheiden sich die Vertreter der beiden Gruppen in der Bindungsdauer: Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 150 3.4 Lokalanästhetika Das unterschiedliche Bindungsverhalten hat erhebliche Auswirkungen auf das Aktionspotential. Während Lokal­ anästhetika mit Phase-0-Bindung in erster Linie die Depolarisation verzögern (→ Bradykardie, aber kaum Verlängerung der AV-Überleitung), beeinflussen solche mit Phase-1/2-Bindung auch die Repolarisation (Phase 3), und zwar dann, wenn die Diastole zu kurz dafür wird, daß sie sich aus der Bindung lösen. Bei Bupivacain ist dies bereits ab einer Herzfrequenz von 40 (!) Schlägen pro Minute der Fall (bei Lidocain dagegen erst ab 240/min). Das bedeutet, daß Bupivacain und in geringerem Maße auch Ropivacain mit zunehmender Herzfrequenz in der Bindung kumulieren. Auf diese Weise entsteht eine frequenzabhängige Blockade der Na+-Kanäle, am stärksten ausgeprägt bei Bupivacain. Hiermit läßt sich die größere Kardiotoxizität dieser Substanzen erklären. Die in der Repolarisation anhaltende Blockade führt nämlich zu einer Verkürzung (!) der absoluten Refraktärzeit, was die Bildung polytoper ventrikulärer Extrasystolen, ventrikulärer Reentrytachykardien und von Kammerflimmern erleichtert. Die Neigung zu Reentryarrhythmien wird durch eine Hypokaliämie oder Azidose noch verstärkt (Verlängerung der (mV) +40 +20 0 1 –20 3 4 –60 0 Ionenströme: Na+ ( einwärts, auswärts) Ca2+ , K+ 0,2 geschlossen K+ 0,3 t (s) geschlossen Restitution der Ionengradienten geschlossen offen Bupivacain Ropivacain Bupivacain Ropivacain Wirkung der LA: 0,1 offen inaktiv inaktiv Lidocain, Prilocain, Mepivacain Na+-Kanal: K+ 1. Bupivacain hat von den Lokalanästhetika die höchste Affinität zum Na+-Kanal und damit die größte Kardiotoxizität, dann folgt Ropivacain. 2. Eine Tachykardie fördert die Bindung dieser beiden Substanzen an den Na+-Kanal und steigert so deren Toxizität. Interessant ist die Tatsache, daß die kardiotoxischen Effekte bei Bupivacain und Ropivacain stereospezifisch unterschiedlich ausgeprägt sind. So ist R(+)-Bupivacain 3–4mal stärker kardiotoxisch als S(–)-Bupivacain. Ähnliches gilt für Ropivacain, von dem deshalb auch nur das weniger toxische Enantiomer S(–)-Ropivacain im Handel ist. Bemerkenswert ist auch, daß von Lidocain die depolarisationsantagonistische Wirkung therapeutisch zur Behandlung ventrikulärer Arrhythmien genutzt werden kann. Das gilt sogar dann, wenn die Arrhythmie durch Bupivacain ausgelöst wurde, was den andersartigen Wirkungsmechanismus unterstreicht. Im Unterschied zu diesem verlängert Lidocain nämlich die Refraktärzeit. Hierdurch ist es einerseits selbst relativ frei von proarrhythmischen Effekten und kann andererseits ektope Automatien wie auch kreisende Erregungen wirksam unterdrücken. Lidocain wird wegen dieser Eigenschaften zu den Klasse-Ib-Antiarrhythmika gezählt (s. Kap. 6.3.17). Das gleiche antiarrhythmische Potential haben zwar auch Prilocain und Mepivacain, sie werden allerdings nicht zur Therapie eingesetzt. .UHLVODXIGHSUHVVLRQ –40 –80 Merke: %XSLYDFDLQ hEHUGRVLV)HKOLQMHNWLRQ 2 0 AP-Plateauphase und damit der Zeit, in der die LA-Bindung geknüpft werden kann). Von großer klinischer Bedeutung ist der Umstand, daß eine Reanimation bei bupivacaininduziertem Kammerflimmern deutlich erschwert ist, denn hier wird die Defibrillation durch die besonders intensive Bindung von Bupivacain an die Na+-Kanäle behindert (Abb. 54). Abb. 53 Phasen des Aktionspotentials am Arbeitsmyokard und Angriff der Lokalanästhetika +HU]IUHTXHQ] /$%LQGXQJDQGHQ1D.DQDO +\SRNDOLlPLH $]LGRVH %ORFNDGHLQWHQVLWlW 'DXHUGHVLQDNWLYHQ .DQDO]XVWDQGV 9(6YHQWULNXOlUH 5HHQWU\WDFK\NDUGLHQ .DPPHUIOLPPHUQ Abb. 54 Circulus vitiosus bei Bupivacain-Intoxikation Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 1. Bei den schwach lipophilen Lokalanästhetika Lidocain, Prilocain und Mepivacain findet die Bindung in der Phase 0 des Aktionspotentials (Aufstrichphase) statt, d. h. im offenen Zustand des Na+-Kanals. Sie lösen sich während der diastolischen Ruhephase (Phase 4) schnell wieder ab („fast in – fast out“). 2. Bei den stark lipophilen Lokalanästhetika Bupivacain und Ropivacain findet die Bindung dagegen in der Phase 1 und 2 (Abstrich- und Plateauphase) statt, d. h. im inaktiven Zustand des Na+-Kanals. Sie lösen sich, ebenfalls während der Diastole, mittelschnell (Ropivacain) oder langsam (Bupivacain: „fast in – slow out“). 151 3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa Neben ihrer Wirkung auf die Reizbildung und Reizleitung beeinflussen Lokalanästhetika auch das Arbeitsmyokard und vermindern dessen Kontraktionsfähigkeit. Sie wirken alle am isolierten Papillarmuskel dosisabhängig negativ inotrop. Dieser Effekt kann jedoch in vivo durch eine zentrale Stimulation des Sympathikus überdeckt werden. Daher ist es möglich, daß unter dem Einfluß der schwach lipophilen Lokalanästhetika das Herzzeit­ volumen sogar zunimmt, nicht aber unter Bupivacain und Ropivacain, weil deren negative Inotropie dafür zu stark ausgeprägt ist. Bei ihrer Anwendung nimmt das Herzzeitvolumen schon frühzeitig ab, spätestens wenn das Konvulsionsstadium (Stadium IIb in Tab. 61a) erreicht wird. Eine weitere Nebenwirkung der Lokalanästhetika betrifft das Gefäßsystem. Lokalanästhetika verändern den Gefäßtonus, wobei sich dosisabhängig ein biphasischer Verlauf zeigt. Sie führen bei • niedrigen Plasmakonzentrationen zu einer (geringen) Vasokonstriktion, • bei hohen zu einer Vasodilatation. Nach üblicher Dosierung und korrekter Anwendung von Lokalanästhetika entstehen bei einer Regionalanästhesie als Folge der Resorption leicht vasokonstriktorisch wirksame Plasmaspiegel. Bei der Vasokonstriktion handelt es sich wahrscheinlich in erster Linie um einen indirekten Effekt, bedingt durch die zentrale Sympathikusstimulation; dagegen wird die Vasodilatation immer durch eine direkte Wirkung an der Gefäßmuskulatur ausgelöst. Eine generalisierte Vasodilatation entwickelt sich erst bei sehr hohen Plasmaspiegeln. Dagegen können bei regelgerecht durchgeführter Regionalanästhesie am Applikations- und Resorptionsort Konzentrationen entstehen, die zu einer lokal begrenzten Vasodilatation führen. Therapeutische Breite der Lokalanästhetika. Da die therapeutische Breite der Lokalanästhetika nur gering ist, ist es wichtig, auf die frühen zentralnervösen Zeichen einer Intoxikation zu achten. Dadurch, daß die zerebrotoxische Schwelle niedriger als die kardiotoxische ist, wird gewissermaßen ein therapeutisches Fenster geöffnet und die Möglichkeit geschaffen, durch geeignete Gegenmaßnahmen schwerwiegende Komplikationen zu vermeiden. Was den Abstand zwischen den Schwellenkonzentrationen angeht, so bestehen Unterschiede zwischen den schwach und den stark lipophilen Lokalanästhetika. Bei Lidocain beispielsweise ist die kardiotoxische Plasmakonzentration etwa 3,5mal so hoch wie die zerebrotoxische; bei Bupivacain (Razemat) ist dieser „Sicherheitsabstand“ am geringsten und beträgt nur ungefähr das 1,5fache (unter Bupivacain sind deshalb ventrikuläre Extrasystolen bereits bei subkonvulsiven Plasmaspiegeln möglich!). Außerdem gibt es Situationen, in denen die Grenze zwischen den Schwellen verschwimmt oder aufgehoben ist. Das ist vor allem • bei einer Sedierung, z. B. mit Benzodiazepinen, oder • bei einer akzidentellen intravasalen Injektion des Lokalanästhetikums der Fall. Benzodiazepine erhöhen zwar die Krampfschwelle des Gehirns, das bedeutet aber auch, daß mit dem Weg- fall von ZNS-Prodromi kardiotoxische Symptome ohne Vorankündigung auftreten. Das zerebrotoxische Stadium kann dann also direkt ins kardiotoxische übergehen. Die intravasale Injektion führt zu einer sehr schnellen Anflutung. Hierdurch können – bei ausreichender LA-Menge – beide Schwellenkonzentrationen so rasch überschritten werden, daß zerebrale und kardiovaskuläre Symptome gleichzeitig auftreten. Merke: 1. Bei Bupivacain (Razemat) ist der Abstand zwischen zerebro- und kardiotoxischer Schwelle schon primär nur gering. 2. Unabhängig vom verwendeten Lokalanästhetikum kann die typische Reihenfolge der Symptomatik unter Sedierung oder bei intravasaler Fehlinjektion aufgehoben sein. Prophylaxe und Therapie. Die Basismaßnahmen, die bei den ersten Anzeichen einer LA-Intoxikation ergriffen werden sollten, umfassen • die O2-Applikation, • die Aufforderung des Patienten zur Hyperventilation und • die Sedierung mit Benzodiazepinen (besonders Midazolam i.v.). Die Verbesserung der Oxygenierung ist eine rein unspezifische Maßnahme. Dagegen soll die Hyperventilation die zerebrale Durchblutung und damit die LA-Anflutung im Hirngewebe reduzieren und außerdem intrazellulär den ionisierten LA-Anteil durch die Alkalose vermindern. Ziel der Sedierung ist in erster Linie, die Krampfschwelle anzuheben. Das weitere Vorgehen ist vom Verlauf abhängig. Treten kardiovaskuläre Reaktionen hinzu, so werden sie symptomatisch behandelt. Bupivacaininduzierte ventrikuläre Arrhythmien sprechen z. T. auf Calciumantagonisten, β-Rezeptoren-Blocker oder Lidocain an (s. o.). Entscheidend ist hierbei, daß die Herzfrequenz gesenkt und so die Ruhephase verlängert wird, damit Bupivacain sich aus der Bindung lösen kann. Merke: 1. Das Risiko einer versehentlichen intravasalen Applikation von Lokalanästhetika kann durch sorgfältige Aspiration vor der Injektion (möglichst in 2 Ebenen) und anschließende fraktionierte Injektion minimiert werden. 2. Vor einer absoluten Überdosierung schützt i. d. R. das Einhalten der empfohlenen Grenzdosen. ■■ Direkte Neurotoxizität Die Frage, ob Lokalanästhetika direkt neurotoxisch wirken können, ist nicht zu beantworten. In vitro können sehr hoch konzentrierte LA-Lösungen zwar lokal zu irreversiblen Nervenschäden führen; aus der Klinik sind jedoch nur wenige Fälle dokumentiert. So finden sich vereinzelte Berichte über ein Kaudasyndrom nach Spinal- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 152 3.4 Lokalanästhetika ■■ Allergien Mit der Einführung der Amid-LA ist die Häufigkeit allergischer Reaktionen (Typ I, IgE-vermittelt) bis hin zum anaphylaktischen Schock erheblich zurückgegangen. Aber auch wenn Allergien auf die Amide selbst extrem selten sind, können doch einige der z. T. in den Lösungen enthaltenen Zusatzstoffe eine allergische Reaktion auslösen. In erster Linie ist hier das antimikrobielle Konservierungsmittel Methylparaben32 (p-Hydroxybenzoesäuremethylester) zu nennen. Es ist den Handelspräparaten zugesetzt, die für eine Mehrfachentnahme vorgesehen sind („Durchstechflaschen mit Gummistopfen“!). Methylparaben gehört zu den sog. Para-Stoffen, ebenso wie 4-Aminobenzoesäure, die bei der Metabolisierung der Ester-LA entsteht (s. Abschn. 3.4.3). Die chemische Verwandtschaft dieser Substanzen erklärt die Möglichkeit von Kreuzreaktionen („Paragruppen-Allergie“). Das bedeutet, daß bei bekannter Allergie gegen Ester-LA keine Lösungen verwendet werden dürfen, die Methylparaben o. ä. enthalten (umgekehrt natürlich genauso), also auch keine entsprechenden Zubereitungen von Amid-LA. Dagegen ist eine Kreuzallergie bei Ester-LA und nativen Amid-LA nicht bekannt, so daß Lösungen von Amid-LA ohne derartige Zusätze sehr wohl bei einer ParagruppenAllergie eingesetzt werden können. Merke: Lösungen von Amid-Lokalanästhetika, denen Methylparaben zugesetzt ist, dürfen bei Patienten mit ParagruppenAllergie nicht angewendet werden. ■■ Nebenwirkungen durch vasokonstriktorische ­Zusätze Vasokonstriktoren wie Adrenalin können außer systemischen Nebenwirkungen (s. Abschn. 3.4.3) eine Ischämie am Injektionsort hervorrufen und so im Einzelfall, d. h., wenn weitere Faktoren hinzukommen, eine Nervenschädigung begünstigen. Überdies ist zu berücksichtigen, daß adrenalinhaltige Lösungen das Antioxidans Natrium­ metabisulfit enthalten, das unspezifisch Histamin freisetzen können soll. ■■ Methämoglobinämie Im Unterschied zu den anderen Lokalanästhetika kann unter der Anwendung von Prilocain Methämoglobin (MetHb) gebildet werden. Methämoglobin entsteht durch Oxidation des Hämoglobineisens, was nicht durch Prilocain selbst, sondern durch seinen Metaboliten o-Toluidin verursacht wird. Eine relevante Methämoglobinämie tritt jedoch erst unter höheren Prilocaindosen auf. So läßt eine Dosis von 10 mg/kg den MetHb-Anteil am Gesamthämoglobingehalt des Bluts auf mehr als 10 % ansteigen. Dieser Anstieg entwickelt sich jedoch nur langsam, der maximale Plasmaspiegel wird erst nach etwa 4 Stunden erreicht, da Prilocain zuvor ja nicht nur resorbiert, sondern auch zu o-Toluidin umgewandelt werden muß. Eine Lippenzyanose ist schon bei einem MetHb-Gehalt von 4–5 % zu erkennen. Der Zeitpunkt ihres Auftretens kann somit herangezogen werden, um die Dynamik einer MetHb-Bildung abzuschätzen. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß MetHb von den klinisch gebräuchlichen Pulsoxymetern nicht erfaßt wird, d. h., sie zeigen in einem solchen Fall falsch niedrige oder falsch hohe Werte für O2Hb. Risikopatienten. Während eine MetHb-Konzentration im Bereich von 10 % normalerweise ungefährlich ist, verhält es sich anders, wenn Risikofaktoren wie • eine ausgeprägte Anämie (Hb < 10 g/dl), • ein eingeschränkter pulmonaler Gasaustausch oder • eine (fortgeschrittene) KHK vorhanden sind. Dann sollte Prilocain nicht angewendet werden. Dies gilt ebenso • für die geburtshilfliche Anästhesie und • bei Kindern während der ersten 5 Lebensmonate, denn in diesem Alter sind die MetHb-reduzierenden Enzym­systeme noch nicht ausgereift, so daß mit einem stärkeren und länger anhaltenden MetHb-Anstieg gerechnet werden müßte. Therapie. Durch Toloniumchlorid (Toluidinblau®; 3 mg/ kg i.v.) wird die Rückumwandlung von Methämoglobin in Hämoglobin beschleunigt.33 Toloniumchlorid gehört zu den sog. Redoxsystemen und kann in dieser Eigenschaft selbst eine MetHb-Bildung induzieren, die allerdings 8 % nicht überschreitet. Wichtiger ist, daß die intravenöse Injektion der Substanz zu schweren Kreislaufreaktionen führen kann (massiver Blutdruckanstieg oder -abfall, Asystolie, Kammerflimmern). Toloniumchlorid soll daher langsam, d. h. über 10–20 Minuten, unter EKG- und Blutdruckkontrolle injiziert werden. Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel. Bei diesem sehr seltenen angeborenen Enzymmangel wird nicht nur die Reduktion von Methämoglobin beeinträchtigt, hier kann auch eine hämolytische Anämie auftreten, nämlich wenn Medikamente mit oxidierender Wirkung zugeführt werden. Der Mangel an Glu­ cose-6-phosphat-Dehydrogenase führt zu einer verminderten 33 32 wirksam gegen grampositive Bakterien und gegen Pilze, weniger gegen gramnegative Bakterien Toluidinblau® ist mittlerweile in Deutschland das einzige für die Behandlung der Methämoglobinämie zugelassene Antidot. Andere Farbstoffe, wie z. B. Methylenblau, sind nicht mehr verfügbar. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. katheteranästhesien mit hochkonzentrierten, hyperbaren LA-Lösungen (Lidocain 5 %, Mepivacain 4 %). Auch wenn dies nicht ausreicht, um einen kausalen Zusammenhang herzustellen, wird doch empfohlen, zur Spinalanästhesie isobare Lösungen zu bevorzugen – zumindest bei repetitiver LA-Gabe (Katheter). 153 3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa Bildung von NADPH im Pentosephosphatzyklus. Daraus resultiert ein Defizit an reduziertem Glutathion in den Erythrozyten, so daß unter dem Einfluß oxidierender Substanzen einerseits MetHb akkumulieren kann und andererseits toxische Sauerstoffradikale entstehen können. Die Radikale schädigen die Erythrozytenmembran, was einen beschleunigten Erythrozytenabbau in der Milz zur Folge hat. ■■ Varia Lokalanästhetika wirken antitussiv. Das beschränkt sich nicht auf ihre oberflächliche Applikation (z. B. Aufsprühen auf die Trachealschleimhaut), sondern ist auch bei intravenöser Zufuhr nachzuweisen (z. B. Lidocain 1 mg/ kg). Sie unterdrücken den Hustenreflex peripher (Nerven­ endigungen in der Schleimhaut) und möglicherweise auch zentral (Hustenzentrum). Hiervon können Patienten profitieren, die in der Aufwachphase keinesfalls husten sollen (z. B. nach intraokularen Eingriffen). Außerdem haben Lokalanästhetika antibakterielle Eigenschaften, sie wirken bakteriostatisch. Andererseits beeinträchtigen sie die Funktion der Leukozyten, indem sie deren Migrationsund Phagozytosefähigkeit herabsetzen. 3.4.5 Klinische Anwendung der Lokalanästhetika ■■ Indikationen Die Hauptindikationen für Lokalanästhetika umfassen sämtliche Formen der Regionalanästhesie, sei es für chirurgische oder für akzessorische Eingriffe: • chirurgisch: –– periphere Nervenblockaden (→ kleinere Eingriffe an der oberen oder unteren Extremität) –– Plexus-brachialis-Anästhesien: axillär, interskalenär, vertikal infraklavikulär (→ einseitige Eingriffe an der oberen Extremität, an Schulter oder Klavikula) –– rückenmarknahe Anästhesien: spinal (intrathekal), epidural, kaudal (→ Eingriffe in der unteren Körperhälfte) –– intravenöse Regionalanästhesie34 (→ kleinere Eingriffe an Unterarm oder Unterschenkel) akzessorisch: • –– intrakutane35 oder bei Kleinkindern epikutane Anästhesie für die schmerzlose Anlage einer Venenkanüle am wachen Patienten –– subkutane Infiltration (z. B. für die ZVK-Anlage) –– Schleimhautanästhesie im Bereich der oberen Atemwege durch Aufsprühen, transkrikoidale Injektion36 oder Vernebeln37 des Lokalanästhetikums (→ endotracheale Intubation oder flexible Bronchoskopie beim wachen Patienten) Neben- bzw. spezielle Indikationen sind: • prophylaktische Hustendämpfung durch intravenöse Injektion von Lidocain (1 mg/kg) • (Prävention oder) Therapie von ventrikulären Arrhythmien (Lidocain 1 mg/kg i.v.) • Sympathikusblockaden bei neuropathischen Schmerzen ■■ Periphere Nervenblockaden Bei den peripheren Nervenblockaden ist die Blockadequalität und damit die Erfolgsrate dann am besten, wenn es gelingt, das Lokalanästhetikum exakt perineural zu applizieren. Um eine intraneurale Injektion, die unweigerlich zu einer i. d. R. irreversiblen Nervenschädigung führt, zu vermeiden, sollte die Injektionskanüle mit Hilfe der elektrischen Nervenstimulation oder der Sonographie positioniert werden. Mit beiden Methoden lassen sich Nerven exakt identifizieren, ohne daß ein direkter Kontakt der Kanülenspitze mit dem Nerv hergestellt werden muß. Das mechanische, nicht ganz ungefährliche Auslösen von Parästhesien ist damit überflüssig geworden. ■■ Rückenmarknahe Regionalanästhesien Bei den rückenmarknahen Regionalanästhesien wird das Anästhetikum in präformierte, von Nerven durchzogene Räume verabreicht. Gegenüber der epiduralen hat die intrathekale Injektion, also die Spinalanästhesie, deutliche methodische und kinetische Vorteile, weil das Anästhetikum im Liquorraum keine Diffusionsbarriere mehr überwinden muß, um zu den Nervenwurzeln zu gelangen. Hieraus resultieren ein geringerer Dosisbedarf, ein schnellerer Wirkungseintritt und eine bessere Blockadequalität bzw. höhere Erfolgsrate. Demgegenüber bietet die epidurale LA-Applikation über Katheter die Möglichkeit einer segmental begrenzten Anästhesie und mit gewisser Einschränkung auch einer selektiven Analgesie (s. Abschn. 3.4.2). ■■ Epikutane Lokalanästhesie Werden Lokalanästhetika in einer speziellen Zubereitung auf ein Hautareal aufgetragen, dann entwickelt sich hier nach einiger Zeit eine Anästhesie von Kutis und Subkutis bis in eine Tiefe von etwa 0,5 cm. Dies ermöglicht die schmerzlose Anlage einer Venenkanüle beim wachen 34 35 36 37 intravenöse Injektion eines Lokalanästhetikums in eine „blutleere“ Extremität, die mit Hilfe einer speziellen Druckmanschette vom Blutkreislauf getrennt wird „Quaddel“ Injektion von ca. 150 mg Lidocain in Form einer hochprozentigen Lösung (≥ 8 %) durch das Lig. cricothyreoideum Vernebeln einer ebenfalls hochprozentigen Lidocainlösung (z. B. mit speziellen Ultraschallgeräten) und Inhalation dieses Nebels über ca. 5 min Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 154 3.4 Lokalanästhetika Nach Auftragen der Creme auf die Haut muß eine Art Okklusivverband hergestellt werden. Zu diesem Zweck wird die Creme kommerziell als fertiges Pflaster angeboten. Das Pflaster muß für eine ausreichende Wirkung mindestens 60 Minuten vor einer Venenpunktion aufgeklebt werden. Es sollte dann kurz vor der Punktion entfernt werden (5–10 min), damit eine sonst mögliche, geringgradige LA-induzierte Venokonstriktion im Bereich der Punktionsstelle wieder abklingen kann. Die Analgesiedauer beträgt nach Entfernen des Pflasters und vorheriger einstündiger Applikation 20–30 Minuten, nach zweistündiger Applikation 30–60 Minuten. Die zweistündige Applikation verbessert überdies nochmals die Punktionsbedingungen aufgrund einer tiefer gehenden Analgesie (bis zu 0,5 cm Tiefe). Erst dann ist die Analgesie auch für chirurgische Zwecke ausreichend. Der Okklusivverband kann mehrere Stunden belassen werden, ohne daß die Wirkung verlorengeht. Maximale LA-Plasmaspiegel werden als Folge der protrahierten Resorption erst nach ca. 4 Stunden erreicht. Einschlägige Untersuchungen konnten jedoch keine toxischen Blutkonzentrationen nachweisen. Der Methämoglobinanteil (Prilocain) wird ebenfalls nicht signifikant erhöht. EMLA® ist deshalb auch für Neugeborene von der 37. SSW an zugelassen. Es sollte aber aus Sicherheitsgründen in den ersten 3 Lebensmonaten nur in reduzierter Dosis angewendet werden. Dosierungsempfehlung für EMLA®: 0,5 g (max. 1,0 g) auf • in den ersten 3. Lebensmonaten: einem Areal von 5 cm2 • vom 3. bis 2zum 12. Monat: bis zu 2,0 g auf einem Areal von 20 cm • ab 1 Jahr: bis zu 0,5 g/kg ■■ Substanzauswahl Nach den obigen Ausführungen sollten möglichst nur noch Amid-LA benutzt werden. Was die Wirkungsdauer angeht, so sind mittellang wirkende Substanzen oft völlig ausreichend; langwirkende werden nur bei periphe- ren und rückenmarknahen Nervenblockaden benötigt (Tab. 62). Lidocain ist das am besten untersuchte (Amid-)LA. Es wird bevorzugt zur Intrakutananästhesie, subkutanen Infiltration und Schleimhautanästhesie angewendet. Die wichtigste Nebenindikation ist die symptomatische Behandlung ventrikulärer Herzrhythmusstörungen. Nervenblockaden. Unter den mittellang wirkenden Substanzen wird Prilocain wegen seiner (etwas) niedrigeren Zerebro- und Kardiotoxizität meist gegenüber Mepi­ vacain bevorzugt. Prilocain gilt – trotz der Methämoglobinbildung – als das Lokalanästhetikum mit der größten therapeutischen Breite. Die langwirksamen rangieren in dieser Hinsicht hinten, unter ihnen liegt Ropivacain (S(–)-Enantiomer) aber klar vor Bupivacain (Razemat), das mit Abstand die geringste therapeutische Breite von allen Lokalanästhetika hat. Im Zusammenhang mit der Anwendung von 0,75%igem Bupivacain zur geburtshilflichen Epiduralanästhesie (Sectio caesarea) sind mehrere Todesfälle beschrieben, so daß diese Konzentration – zumindest in der Geburtshilfe – nicht eingesetzt werden sollte (ebenso sollte hier kein 1%iges Ropivacain verwendet werden). Die Gründe der offenbar erhöhten Empfindlichkeit von Schwangeren sind letztlich nicht klar. Hier mögen verschiedene Faktoren wie vermehrte Resorption aus dem Epiduralraum und verminderte Proteinbindung eine Rolle spielen. Ropivacain ist mittlerweile auch für die intrathekale Gabe zugelassen. Im Unterschied zu Bupivacain klingt die motorische Blockade allerdings schneller wieder ab. ■■ „Empfohlene Grenzdosis“ Angaben zu zulässigen Höchstdosen von Lokalanästhetika (Tab. 62) dürfen generell nur als grober Anhalt verstanden werden. Die systemische Toxizität unterliegt, wie oben erläutert wurde, großen Schwankungen, abhängig vom Grad der Vaskularisierung des Applikationsortes und von individuellen Faktoren. Aus pharmakokinetischer Sicht muß hinsichtlich der Toxizität eines Lokal­anästhetikums in erster Linie die Geschwindigkeit berücksichtigt werden, mit der die LA-Konzentration im Plasma ansteigt. Die sog. empfohlene Grenzdosis ist, wenn nicht anders spezifiziert, immer auf die subkutane Infiltration bezogen. Als absolute Grenzdosis bezeichnet sie die LA-Menge, die – so injiziert – beim gesunden Erwachsenen mit einem Körpergewicht von 70 kg keine toxischen Plasmaspiegel entstehen lassen sollte; für die relative Grenzdosis gilt das gleiche, mit dem einzigen Unterschied, daß sie pro kg Körpergewicht angegeben wird. Bei der Anwendung von Lokalanästhetika in Gebieten mit hoher Durchblutung und entsprechend schneller Resorption, wie z. B. in Schleimhäuten der Fall, sollten die Grenzdosen – als Faustregel – ungefähr halbiert werden. Merke: Für die Dosierung von Lokalanästhetika muß unbedingt die Durchblutung am Applikationsort berücksichtigt werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Kleinkind sowie die Durchführung kurzer, oberflächlicher Eingriffe (z. B. Exzisionen) in dem anästhesierten Bezirk. Allerdings ist die Aufnahme- und Transportkapazität der Haut für äußerlich aufgebrachte Substanzen nur sehr gering. Damit genügend Lokalanästhetikum das Stratum corneum penetrieren und zu den Zielorten, den Nervenendigungen in den tieferen Hautschichten, vordringen kann, muß der Anteil an freier LA-Base sehr hoch sein. Ein ausreichender Baseanteil wird nur in einer Öl-in-Wasser-Emulsion erreicht, deren pH-Wert deutlich höher als der pKS-Wert der zuzuführenden Substanz ist. Da aber der Schmelzpunkt der einzelnen Lokalanästhetika zu hoch ist, um eine solche Emulsion herzustellen, mischt man zwei miteinander, was den Schmelzpunkt entsprechend erniedrigt. Die so entstandene Öl-in-Wasser-Emulsion, als eutektische Mixtur bezeichnet, findet sich in der EMLA®-Creme wieder. Sie enthält eine Kombination aus 2,5%igem Lidocain und 2,5%igem Prilocain. Der Schmelzpunkt ist mit +18 °C niedrig genug, um eine bei Zimmertemperatur stabile Öl-in-Wasser-Emulsion zu erhalten, und der Baseanteil ist aufgrund des pH-Werts von 9 mit ca. 80 % hoch genug, um die nötige Penetrationsfähigkeit sicherzustellen. 155 3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa Tabelle 62 Physikalisch-pharmakologische Daten gebräuchlicher Lokalanästhetika Einführung Lidocain Prilocain Mepivacain Bupivacain Ropivacain 1948 1964 1957 1963 1997 Zubereitung alle als Hydrochlorid Molmasse1 234 220 246 288 274 pKS -Wert bei 25 °C 7,9 7,9 7,7 8,1 8,1 Fett/Wasser­Verteilungskoeffizient 2,9 0,9 0,8 27,5 6,7 Plasmaproteinbindungsrate2 64 % 55 % 78 % 96 % 95 % Plasma-HWZ 1,6 h 1,6 h 1,9 h 2,7 h 1,8 h Wirkungsdauer3 1–2 h 1–3 h 1–3 h 2–8 h 2–6 h • bezogen auf kg KG 6 (7)5 mg 8 mg 6 (7)5 mg 2 mg 3,5 mg • absolut (Erwachsene) 400 (500)5 mg 600 mg 400 (500)5 mg 150 mg 250 mg • intrakutan 0,5 ml 1 % (0,5 ml 1 %) (0,5 ml 1 %) ø ø • Infiltration ja ja ja (ø) (ø) • Schleimhaut Höchstdosis 200 mg bzw. 3 mg/kg! ø ø ø ø • epikutan ja nur EMLA® ø ø ø • periphere Nerven ja ja ja ja ja • spinal 1,5–2,0 ml 5 % (hyperbar) ø 1,5–2,0 ml 4 % (hyperbar) 2–4 ml 0,5 % (iso-6/hyperbar) 2–4 ml 0,5 % (isobar6) • epidural wenig ­gebräuchlich wenig ­gebräuchlich wenig ­gebräuchlich ja ja • intravenös7 ø bis 50 ml 0,5 % ø ø ø Maximale Dosen4 Anwendung 1 Die Molmasse (in Dalton) ist für die LA-Base angegeben. 2 Hauptbindungspartner der Lokalanästhetika im Plasma ist das saure α -Glykoprotein. 3 verfah1 rensabhängig (ebenso wie der Wirkungseintritt); 4 Die maximal empfohlene Dosis ist die LA-Menge, bei der – eine Resorption wie bei subkutaner Infiltration zugrunde gelegt – keine toxischen Nebenwirkungen zu erwarten sind. Sie ist bezogen auf einen 70 kg schweren, gesunden Patienten. Bei Anwendung in gut durchblutetem Gewebe (z.B. Schleimhäute) gilt etwa die Hälfte der angegebenen Mengen als Höchstdosis. 5 mit Adrenalinzusatz; 6 „isobare“ LA können bei Körpertemperatur (37 °C) auch leicht hypobar (!) sein; 7 spezielles Verfahren! Intravenöse „Grenzdosis“. Als weitere Faustregel kann gelten, daß etwa 25 % der für eine subkutane Infiltration angegebenen Grenzdosis normalerweise intravenös vertragen werden, ohne daß Intoxikationszeichen auftreten. Das sind z. B. für Lidocain 100 mg, eine Dosis also, in der diese Substanz intravenös auch als Antiarrhythmikum eingesetzt wird. Merke: Die Grenzdosis für die Anwendung von Lokalanästhetika in oder auf Schleimhäuten beträgt ca. ½, für die intravenöse (Fehl-)Injektion ca. ¼ der subkutan zulässigen Höchstdosis. Anmerkung zur Spinalanästhesie. Für eine Spinalanästhesie werden aus den bereits dargelegten Gründen nur sehr niedrige Dosen benötigt (Tab. 62). Toxische LA-Plas- makonzentrationen können nicht auftreten, auch nicht bei versehentlicher intravasaler Injektion. Anmerkung zur Tumeszenz-Lokalanästhesie. Bei der Tumeszenz-Lokalanästhesie (TLA) handelt es sich um eine Sonderform der subkutanen Infiltrationsanästhesie mit z. T. extrem hohen Dosen von Lokalanästhetika (hierzulande meist Prilocain), denen – ebenfalls sehr hoch dosiert – Adrenalin beigemischt wird. Die TLA wird vor allem zur Fettabsaugung aus plastisch-kosmetischen Gründen eingesetzt; ihre Durchführung liegt ausschließlich in der Hand des Operateurs. Was die Dosierung der Lokalanästhetika und von Adrenalin angeht, so ist in beiden Fällen die Dosis oft um ein Vielfaches höher als die aus toxikologischer Sicht unbedenkliche Grenzdosis. Dem wird von den Verfechtern der TLA, den plastischen Chirurgen, entgegengehalten, daß durch die sehr niedri- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 156 3.4 Lokalanästhetika Todesfälle, die bislang im Zusammenhang mit der TLA bekannt wurden, ereigneten sich ausschließlich bei gleichzeitiger Sedierung des Patienten, also in einer Situation, in der sich keine präkonvulsive Warnsymptomatik entwickeln konnte. Diesen Zustand gilt es unter allen Umständen zu vermeiden. Unabhängig davon muß man damit rechnen, daß sich maximale LA-Plasmaspiegel (ebenso wie MetHb-Spiegel) erst mit erheblicher Verzögerung, d. h. im Laufe vieler Stunden, einstellen, was bei der Planung der Patientenüberwachung zu berücksichtigen ist. Merke: Am gefährlichsten ist die versehentliche intravasale Injek­ tion eines Lokalanästhetikums, insbesondere dann, wenn direkt in eine hirnversorgende Arterie injiziert wird (z. B. A. vertebralis bei interskalenärer Plexusanästhesie). Hier reichen selbst kleine bis kleinste LA-Mengen aus, um schwerste Nebenwirkungen hervorzurufen! ■■ Sedierung bei Regionalanästhesien Eine Sedierung aus Gründen des Patientenkomforts sollte bei Regionalanästhesien, bei denen LA-Dosen zum Einsatz kommen, die oberhalb der intravenös verträglichen Menge liegen, möglichst nicht frühzeitig vorgenommen werden. Am besten wartet man so lange ab, bis die maximalen LA-Plasmakonzentrationen erreicht sind, damit die präkonvulsiven Warnzeichen einer Intoxikation in der Anflutungsphase erhalten bleiben. Maximale Plasmaspiegel sind bei peripheren Nervenblockaden und bei Epiduralanästhesien i. d. R. nach 15–30 Minuten zu erwarten. ■■ Kombination von Lokalanästhetika Häufige Praxis bei Nervenblockaden ist es, ein schnell wirkendes Lokalanästhetikum mit einem lang wirkenden zu kombinieren (z. B. hyperbares Mepivacain mit Bupivacain bei Spinalanästhesien; Prilocain mit Bupivacain oder Ropivacain bei peripheren Nervenblockaden, besonders bei Plexusanästhesien). Hiermit verbindet man nicht nur die Hoffnung, daß sich das Wirkungsprofil der einzelnen Substanzen ergänzt (Beschleunigung des Wirkungseintritts, Verlängerung der Wirkungsdauer; Verbesserung der Blockadequalität), bei den peripheren Nervenblockaden verspricht man sich auch eine Verminderung der Toxizität, weil die Kombinationspartner in reduzierter Dosis zugeführt werden können. Klinische Vorteile dieses empirisch begründeten Vorgehens sind wissenschaftlich aber nicht zweifelsfrei belegt. Wenn dennoch eine Kombination angestrebt wird, so sollten aus pharmakokinetischer Sicht Substanzen bevorzugt werden, die sich möglichst wenig in ihrem pKS-Wert und dem pH-Wert ihrer Lösungen unterscheiden. Für periphere Nervenblockaden kommen danach Prilocain 1 % und Bupivacain 0,5 %, alternativ Ropivacain 0,75 %, in Frage. Hierbei sollte die schneller wirkende Substanz (Prilocain) immer als erste injiziert werden. Ist von vornherein eine beliebig lange Wirkungsdauer gewünscht oder kann die Eingriffsdauer nicht abgeschätzt werden, so empfiehlt sich die Verwendung eines Katheters. Tabelle 63 Konzentrationen von Lokalanästhetika für Nervenblockaden Sympathische Blockade Sensorische Blockade Motorische Blockade Kombination mit 10–15 μg Sufentanil1 0,5 % 1% 2% Bupivacain 0,125 % 0,25 % 0,5 % (0,75 %) 0,1 %2/3 Ropivacain 0,2 % 0,5 % 0,75 % (1 %) 0,15 %2/3 Lidocain Prilocain Mepivacain rückenmarknah; Sufentanil) 1 2 geburtshilfliche Epiduralanalgesie; 3 Spinalanästhesie für Sectio caesarea (10 ml Bupivacain 0,1 % oder Ropivacain 0,15 % + 10 μg Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ge Konzentration der Substanzen (LA < 0,1 %, Adrenalin 1 : 1 Mio.), den hohen Gewebedruck, der durch das große Volumen der Trägerlösung (3–6 l NaCl 0,9 %) zustande kommt und durch den die Kapillaren komprimiert werden sollen, und den vasokonstriktorischen Effekt von Adrenalin die Resorption deutlich verlangsamt werde und somit keine toxischen Plasmakonzentrationen entstehen könnten. Den Beweis dafür ist man jedoch bisher schuldig geblieben. Ein weiterer komplikationsträchtiger Faktor ist das große Lösungsvolumen. Hier besteht durch Resorption die Gefahr einer intravasalen Flüssigkeitsüberladung. Als Anästhesist zu einem Stand-by hinzugezogen, sollte man bei Eingriffen in TLA folgende Sicherheitsregeln beachten: • keine Sedierung des Patienten oder Kombination der TLA mit einer Allgemeinanästhesie, • äußerst restriktive intravasale Flüssigkeitszufuhr zur Vermeidung eines Lungenödems, • verlängerte postoperative Überwachung (bis zu 24 h), bei Verwendung von Prilocain intermittierende Messung des MetHb-Spiegels (in vitro, da durch Pulsoxymetrie nicht erfaßt!). 157 3 Anästhetika, Hypnotika und Sedativa ■■ Wechselwirkungen mit anderen Substanzen Einige Pharmaka wie die Opioide oder Clonidin können die analgetische Wirkung von Lokalanästhetika verstärken. Ihre Kombination mit einem Lokalanästhetikum läßt dessen Konzentration bei Nervenblockaden reduzieren, ein Effekt, den man sich besonders bei rückenmark­ nahen Anästhesien gern zunutze macht, nicht nur für die postoperative Schmerztherapie, sondern auch für operative Eingriffe und außerdem für die Geburtshilfe (hier als Epiduralanalgesie) (Tab. 63). Aus formellen Gründen ist allerdings anzumerken, daß lediglich Sufentanil und Morphin für solche Zwecke zugelassen sind, ­Sufentanil für die epidurale und Morphin für die epidurale wie auch intrathekale Anwendung (s. Kap. 4.3.6; zu Clonidin s. ­Abschn. 3.3.6). Auf der anderen Seite gibt es Stoffe, die die Wirkung von Lokalanästhetika abschwächen können. In erster Linie ist hier Ethylalkohol zu nennen. Sein Einfluß macht sich vor allem bei chronischem Abusus bemerkbar. Als Ursache werden Interaktionen auf pharmakodynamischer Ebene vermutet. ■■ Regionalanästhesie versus Allgemeinanästhesie Regionale Anästhesieverfahren treten bei entsprechender Lokalisation des operativen Eingriffs in Konkurrenz zur Allgemeinanästhesie und werden oft dann bevorzugt, wenn es sich um Patienten mit kardiovaskulären, pulmonalen oder endokrinen Erkrankungen oder um multimorbide Patienten handelt. Damit ist die Vorstellung verbunden, die perioperative Morbidität und Mortalität zu senken. Zweifelsohne darf solches bei peripheren Nervenblockaden erwartet werden; dagegen hat sich für die rückenmarknahen Anästhesien im Vergleich zur Allgemeinanästhesie auch in großangelegten Untersuchungen bisher kein derartiger Effekt zeigen lassen, so daß diese beiden Anästhesieformen statistisch als gleichwertig zu betrachten sind. Lediglich in einigen Untergruppen scheinen Patienten von einer rückenmarknahen Anästhesie zu profitieren (z. B. Hüftchirurgie, periphere Gefäßchirurgie). Auch wenn sonst keine statistisch signifikanten Unterschiede gefunden werden konnten, heißt das im Umkehrschluß nicht, daß der einzelne Patient nicht doch aus einer Spinal- oder Epiduralanästhesie einen Nutzen ziehen könnte (→ Abwägung der Umstände des Einzelfalls). Bei Operationen, die aufgrund von Dauer, Lokalisation, Lagerung o. ä. nicht mit einer rückenmarknahen Anästhesie allein durchzuführen sind, bietet sich eine Kombination mit der Allgemeinanästhesie vor allem dann an, wenn der rückenmarknahe Katheter auch für die postoperative Schmerztherapie genutzt werden soll. Dagegen ist eine Kombination dieser Verfahren nur für den operativen Eingriff im allgemeinen nicht nötig und damit wertlos – sie erhöht nur das Komplikationsrisiko. Eine Ausnahme bildet möglicherweise die segmentale thorakale Sympathikolyse mit Hilfe eines Epiduralkatheters. Bei Patienten mit KHK erhofft man sich davon eine verbesserte Durchblutung ischämiegefährdeter Myokardareale während einer Allgemeinanästhesie. Eine Verringerung der perioperativen Morbidität und Mortalität hat sich bislang allerdings nicht nachweisen lassen. ■■ Kontraindikationen für Lokalanästhesien Vor der Anwendung von Lokalanästhetika ist zu prüfen, ob Kontraindikationen bestehen. Diese können allgemeiner Art sein oder sich aus dem jeweiligen Verfahren ergeben. Absolute Kontraindikationen sind in jedem Fall • die Ablehnung des Verfahrens durch den Patienten oder dessen mangelnde Kooperation, • eine Infektion im Bereich des Applikationsortes, • eine Allergie gegen (Amid-)Lokalanästhetika. ▶▶ Einige Leitsätze zum Gebrauch von Lokalanästhetika: 1. Wegen des günstigen Wirkungs-Nebenwirkungs-Profils sollten nur noch Amid-LA benutzt werden. 2. Bei Verwendung von Mehrfachinjektionsflaschen (Durchstechflaschen) muß bedacht werden, daß diese „Para-Stoffe“ enthalten. Allergien auf Amid-LA selbst sind extrem selten. 3. Razemisches Bupivacain hat die höchste (Kardio-) Toxizität. Vorsicht ist besonders bei Patienten mit erhöhter Empfindlichkeit angebracht, wie Dehydratation, Eiweißmangel und Leberinsuffizienz. 4. Die schwersten toxischen Nebenwirkungen entstehen bei versehentlicher intravasaler Injektion eines Lokalanästhetikums. Das macht eine Aspirationskontrolle (möglichst in 2 Ebenen) und vor allem eine fraktionierte Applikation des Lokalanästhetikums unverzichtbar. 5. Unter einer Sedierung können die zentralnervösen Warnzeichen einer LA-Intoxikation völlig fehlen. Daher sollen Sedativa bei Regionalanästhesien mit LA-Dosen, die oberhalb der intravenös verträglichen Menge liegen, möglichst erst dann zugeführt werden, wenn der maximale LA-Plasmaspiegel schon erreicht ist; dagegen wird eine prophylaktische Sedierung unverzüglich bei Auftreten erster präkonvulsiver Prodromi erforderlich. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 158