Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 1924 Was Schalensteine bedeuten können Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini. -2- 1924 Was Schalensteine bedeuten können Christian Tarnuzzer in: Der Freie Rätier vom 27. Oktober 1924. Enthalten in der Sammlung: Tarnuzzer Christian: Gedichte, Aufsätze, Essays. Seite 406. Kantonsbibliothek Chur, Sign. Br. 520. Was alles die Schalensteine bedeuten können. (Korr.) Schalensteine nennt man mit näpfchenartigen Vertiefungen versehene Steine, die, aus der jüngeren Steinzeit stammend, von den Pfahlbauten im Norden der Alpen bis an die Ost- und Nordsee, und noch in weiteren Gebieten Europas in ziemlicher, bis grosser Zahl sich vorfinden. In der Schweiz sind sie von Genf und Wallis bis nach Graubünden verbreitet, wo zum Beispiel ein Schalen Stein bei Valendas erwähnt wird, und in den letzten Jahren durch Herrn Präsident G. Giovanoli von Soglio eine grössere Zahl im Bergell -3- bekannt geworden ist. Besonders häufig waren es grössere, in Feld und Wald oder auf aussichtsreichen Vorhöhen zerstreut liegende erratische Blöcke der Gebiete ehemaliger Vergletscherung, in welche Trümmer die zahlreichen, näpfchenartigen Vertiefungen angebracht wurden. Meist sind die letzteren von so kleinem Durchmesser, dass die menschliche Fingerspitze hinein passt, oder sie sind doppelt so gross und noch umfangreicher, auch etwa von Kreisen umgeben. Wohl die älteste Erklärung der Schalensteine Deutschlands ist die, dass auf ihnen den über und in der Erde hausenden Totengeistern, den Alben oder Elben, oder den in den Stein hausend gedachten Geistern der verstorbenen Ahnen geopfert worden sei. So haben die Schalensteine auch den Namen Elbensteine getragen, die in den Schalen dargebracht Opfer bestanden aus Milch, Brot und Käse, und sollten die Elben den Menschen günstiger Stimmen. Die Elben stellten in der Vorzeit die Ahnengeister dar, die Kultpflege genossen. Wir lesen diese Erklärung in Ludwig Reinhardts "Der Mensch zur Eiszeit in Europa", in welchem Buche eine ungewöhnliche Fülle von Einzeldarstellungen der verschiedensten Themata zusammengetragen erscheint. Über andere Bedeutungen der Schalensteine werden wir hier aber nicht unterrichtet. Und doch sind wohl schon damals andere Erklärungen vermutet oder gegeben worden. Die seitherige Forschung versenkte sich tiefer in die alte Ethnographie, und dehnte ihre Erhebungen auf neue Gegenden und Länder, ja auf Erdteile aus. Und nun liegt schon eine solche Fülle von Vermutungen, Deutungen und Darstellungen vor uns ausgebreitet, dass wir uns nur verwundern können, zu was allem die Schalensteine Verwendung gefunden haben. In dem soeben erschienenen Buche "Urethnographie der Schweiz", von Dr. L Rütimeyer, sind diese Forschungsresultate ausführlich und übersichtlich dargestellt, und sie überraschen vielfach durch ihre Neuheit und tiefen Sinn. Von seinem Register der Deutungen dürfte man jedoch eine wirtschaftliche Bedeutung der Schalensteine ausnehmen. Denn was heutige Indianer beim Eichelstampfen mit einem Mörser auf granitener Unterlage für Vertiefungen zustande bringen, liegt doch weltenweit entfernt von allen Deutungen, welche die Schalensteine gefunden haben. -4- Plausibel erscheint schon deren Aufgabe als Erinnerungszeichen für gewisse Geschehnisse (in der Bedeutung von Inschriften), auch als ideografische Zeichen zum Andenken fremder Völker, wie in China. Zeichensteine, z.B. in der Form eines Schiffes, wurden im Grabhügel La Tène am Neuenburger See und Hallstadt im Donautale gefunden. Am ehesten aber haben die Schalensteine religiös-symbolische Bedeutung besessen, sie waren Opferstätten oder Altäre, auf denen Geistern oder Ahnen Huldigungen dargebracht wurden. War es Blut, war es Milch oder sonstige Speise, was die Schüsselchen und Gruben der Opferstein füllte? Wir wissen es nicht. Aber an Kirchen Norddeutschlands, an denen sich Schalen von 2 bis 4 cm Durchmesser befinden, fand man nach Rütimeyer Fettspuren in den letzteren, und das aus ihnen heraus gekratzte Pulver hielt man für ein Heilmittel. Es ist sehr wahrscheinlich dass die Schalensteine auch als Weihebecken gedient haben. Eine gewisse Anordnung der zahlreichen Näpfchen auf diesen Steinen hat auch die Ansicht aufkommen lassen, dass sie Land- und Sternkarten in Verbindung mit einem Gestirn- oder Sonnenkultus darstellen könnten. Dazu muss Rütimeyer bemerken, dass man bis heute in ihnen noch kein bestehendes Sternbild zu sehen vermochte. Wohl aber könnten bestimmte Anordnungen eine symbolische, sexual-kultische Bedeutung gehabt haben. Damit dürfte hinsichtlich der Schalensteine ein Gebiet gewonnen sein, auf dem sie eine Wichtigkeit erlangten, die man nicht ahnen konnte. Volkserinnerungen, die in die urälteste Zeiten zurückreichen, haben die bezw. wissenschaftlichen Ableitungen möglich gemacht. Viele Schalensteine erscheinen in Verbindung mit symbolischer Erotik, oder bezeichnen auch ein Fruchtbarkeitsidol. Der grosse Stein "Die Liese" von Niederbronn im Elsass ist mit zahlreichen Schälchen versehen, in denen die Frauen, welche Kinder wünschen, Mineralwasser opferten, oder um des gleichen Verlangens willen an einer Gleitfläche des Steines abrutschten. Solche Gleit- und Rutschsteine für Knaben und Mädchen kennt Rütimeyer auch aus dem Wallis. Bei Herzogenbuchsee wurde von einem mächtigen Block abgerutscht, aus dessen Riss nach dem alten Volksglauben die Kinder kämen. Das Lötschental, wo sich soviel Altertümliches erhalten hat, beherbergte Rutsch- und Schalensteine. -5- Am "Chindlistein" im Aargau rutschte die Hebamme jeweils herab, und erhielt darauf von unsichtbarer Hand das Kindlein, das mit andern unter dem Stein, einem grossen erratischen Block, versteckt gewesen. Auch die Menhire in Frankreich (Bretagne), die gewaltigen, aufgerichteten Denksteine der Vorzeit, tragen Schalen mit Kreisen, von denen nach alten Glauben die Kinder kommen sollen. Der Besuch der Menhire von Frauen, Mädchen und Pärchen geht auf einen uralten Kult zurück. Auffallend ist, dass die Schalen und Gleitsteine in landschaftlich schöner und bevorzugter Gegend liegen. So ist es nach Rütimeyer in Genf, und endlich plaziert sind, wie hier beigefügt werden soll, auch die Schalensteine im Bergell. Hier muss die Verwunderung ausgesprochen werden, dass in Rütimeyers erst gegen Ende dieses Jahres erschienene "Urethnographie der Schweiz" von den Bergeller Schalensteinen mit keinem Wort die Rede ist, da er doch die bündnerische Ethnographie in vielen Richtungen berücksichtigt hat. Nachdem sodann nun ein Kurgast von Soglio vor circa zehn Jahren oberhalb des Dorfes einen untrüglichen Schalenstein entdeckt, verfolgte Herr Präsident G. Giovanoli in den nächsten Jahren die Sache weiter, und heute sind, dank seiner Bemühungen, um Soglio auf Montaccio und an anderen Lokalitäten über ein Dutzend Bergeller Schalensteine bekannt. Die Befunde wurden zum Teil schon publiziert, und im letzten Jahresbericht der Gesellschaft für Urgeschichte der Schweiz ist von den Entdeckungen Giovanolis gebührend Notiz genommen worden. In einer oder Ethnographie der Schweiz dürfte ihnen nicht eine der letzten Stellen im Abschnitt "Schalensteine" zukommen! Internet-Bearbeitung: K. J. Version 01/2013 --------