Das Rathaus in Marl : zur Bedeutung der Architektur für die

Werbung
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Zusammenfassung
Als das Amt Marl 1957 beschloss, für den seit langem beabsichtigten
Rathaus-Neubau einen beschränkten Wettbewerb mit internationaler
Beteiligung auszuschreiben, brach es mit den üblichen Gepflogenheiten,
indem es gerade nicht, wie bis dahin besonders bei kommunalen Verwaltungsgebäuden die Regel, bloß die lokal oder regional tätigen Architekten einlud, von denen man sich sonst durch ihre Vertrautheit mit
regionalen Besonderheiten eine stärkere Betonung der städtischen
Eigenständigkeit erhoffte. Vor dem Hintergrund der Geschichte Marls in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint diese Entscheidung
allerdings nur konsequent.
Im Zuge der um 1900 im Marler Gebiet einsetzenden Industrialisierung erlebten die Gemeinden des Amtes Marl einen Strukturwandel, der
vor allem die Gemeinde Marl von einer ländlichen Siedlung zu einer von
Bergbau und Chemie geprägten Mittelstadt veränderte. Auch nach dem
Zweiten Weltkrieg wuchsen Einwohnerzahl und Steueraufkommen
stürmisch weiter, bis sich 1958 erste Anzeichen der Kohlekrise bemerkbar machten und die Zuwachsraten auf ein geringeres Maß zurückführten. Diese Entwicklung begleitend, existierte seit Anfang der zwanziger
Jahre eine –
allerdings weitgehend nachholende –
Stadtplanung, der bei
allen Unterschieden in Ansatz und Ausprägung ein konstantes Konzept
zugrunde lag: Es sollte eine „
Industriestadt im Grünen“
entstehen, wobei
Marl in Abgrenzung zum alten, als chaotisch empfundenen Ruhrgebiet
als Ort der planbaren, besseren und noch gestaltbaren Zukunft begriffen
wurde. Darüber hinaus sollte der städtebauliche Zusammenschluss der
Ortsteile eine städtische Einheit, also die Integration der verschiedenen
Bevölkerungsgruppen, bewirken, so dass Stadtplanung zur Identitätsstiftung eingesetzt wurde.
Ein Wettbewerb ohne lokale Begrenzung lag so in einer Stadt nahe,
die ohnehin nicht über eine größere Architektenschaft verfügte; die
Ausweitung auf einige Teilnehmer aus dem Ausland sorgte zudem für
eine gesteigerte Aufmerksamkeit nicht nur in der Fachwelt und ließ Marl
als weltoffen erscheinen. Auch dass es sich bis auf wenige Ausnahmen
um überaus renommierte Büros handelte, spiegelt nicht nur den Anspruch und das Selbstverständnis der Auftraggeber, es trug vielmehr
zur Werbung für die Stadt bei. Schließlich entsprach die Beschränkung
sowohl der Jury als auch des Teilnehmerkreises auf Architekten, die als
der Moderne verpflichtet galten, dem Selbstbild einer Kommune ohne
bedeutende Vergangenheit. In Marl versuchte man gerade nicht, in
einer Art kollektiver Regression durch eine erfundene Tradition oder
übertriebene Dorfromantik ein Gegengewicht zur Industrialisierung zu
schaffen, vielmehr wandte man sich bewusst der Zukunft zu.
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Von dem neuen Rathaus erwarteten die Befürworter des später
umstrittenen Neubaus, dass es die noch junge Demokratie festige und
den Anspruch Marls als baldige kreisfreie Großstadt unterstreiche.
Darüber hinaus sollte es als Zeichen für die Einheit der Bürgerschaft
und als Brennpunkt eines einheitlichen Marler Selbstverständnisses die
Unterschiede und Interessengegensätze innerhalb der vor allem von
neu Zugezogenen geprägten Marler Bürgerschaft verschleifen, so die
fast zwanghafte, bis in die Zeit der ersten Stadtplanung und des Amtshausumbaus zurückreichende Betonung der städtischen Gemeinschaft
weiterführend. Gerade die Veranstaltungen wie Grundsteinlegung,
Richtfeste und Einweihungen dienten als Gelegenheiten zur Werbung
für dieses Konzept, zumal sie mit ihren rituellen Elementen besonders
eindringlich wirken konnten.
Der Ausschreibung entsprechend versuchten die Wettbewerbsteilnehmer –
mit der Ausnahme allenfalls von Ferdinand Kramer –
, dem
Rathaus eine besondere Würde zu verleihen, indem etwa das erste
Obergeschoss als Repräsentationsbereich hervorgehoben wurde, Wasserbassins und Vorplätze das Gebäude isolieren oder ungewöhnliche
Konstruktionen den Bau auszeichnen. Letztlich betrifft dies nur Teilaspekte, während man für die grundsätzliche Anlage auf die Standardlösung im Verwaltungsbau zurückgriff: Ein aufwendig gestaltetes Einzelgebäude mit dem Ratssaal begleitet eine Hochhausscheibe für die
Normalbüros, der meist ein Flachbau für die Bereiche mit hohem Publikumsverkehr beigegeben wurde. Bei den übrigen, von diesem Schema
abweichenden Projekten wird die gesuchte Distinktion ebenfalls nur
unvollkommen erreicht, da auch sie die Struktur von anderen Bauaufgaben übernehmen und frühere Entwürfe variieren. Es ist zwar eine Tendenz zu markanten Formen erkennbar, doch wird die oft aufwendige
Konstruktion nur bei Bernhard Pfau und van den Broek und Bakema als
Ausdrucksmittel genutzt. Die Öffnung der Sitzungssäle durch Glaswände, in der späteren Diskussion um Parlamentsbauten als Zeichen
von Transparenz und öffentlicher Kontrolle der demokratischen Herrschaft geltend, spielt hier keine Rolle.
Trotz aller Bemühungen blieb das grundlegende Problem des Rathausbaus in der Nachkriegszeit ungelöst. Einerseits stand im Bereich
der Architektur die funktionalistische Entwurfshaltung, gerade bei
diesem Wettbewerb, nicht mehr in Frage, denn sie galt als Zeichen für
die Abkehr vom Historismus und –
im Sinne des Antitotalitarismus –
für
die Überwindung des Dritten Reichs und des Kommunismus. Außerdem
versprach die prononcierte Zweckrationalität eine ebenso effiziente
Verwaltung, passte zu einer rational begründeten demokratischen Herrschaftsform und erlaubte kostengünstige Bauten. Da sie jedoch gleichzeitig die Rathäuser, die ihrer Hauptaufgabe gemäß als Gehäuse der
kommunalen Verwaltung begriffen wurden, anderen Bürobauten an-
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glich, fehlte ihnen das von der Seite der Auftraggeber gewünschte
Besondere, das den Vorrang der Politik gegenüber anderen Gesellschaftsbereichen und das Eigentümliche des jeweiligen Ortes gekennzeichnet hätte. Andererseits waren im Bereich des Politischen die
Kommunen schon lange in vielfältige Abhängigkeiten geraten, und
gerade dort bestand der Primat der Politik noch weniger als etwa auf
Landes- oder Bundesebene, so dass die behauptete Eigenständigkeit
tatsächlich allenfalls beschränkt existierte. Die weithin propagierte
Vorstellung von einem Rathaus, das sich vor allen anderen Gebäuden
der Stadt auszeichne und für die jeweilige Stadt typisch sei, fand sich so
von zwei Seiten unter Druck: Ihr widersprachen sowohl das vorherrschende Verständnis von Architektur als auch die realen politischen
Bedingungen; weder Form noch Inhalt stimmten so mit ihr überein.
Damit ließ sich die Frage, wie ein Rathaus gestaltet werden solle, nicht
befriedigend beantworten, denn jede, selbst eine formal gelungene
Lösung musste spätestens an der Diskrepanz zwischen den hochgeschraubten Vorstellungen und den politischen Verhältnissen scheitern.
Obwohl auch der schließlich verwirklichte Entwurf von van den
Broek und Bakema in diesem Dilemma gefangen blieb, kam er den
vielfältigen Anforderungen der Auftraggeber entgegen. In der Verteilung
des Gesamtvolumens auf mehrere Baukörper wiederholte er die Marler
Stadtplanung im Kleinen und betonte den Ratstrakt gegenüber dem
Verwaltungskomplex, um den Ort des demokratischen Geschehens
hervorzuheben. Als Zeichen möglicher Teilhabe an der städtischen
Regierung ist der Sitzungsbereich an den Längsseiten weit geöffnet,
und die Vermeidung von Axialität und Symmetrie bedeutet den Verzicht
auf traditionelle Darstellungen von Herrschaft und Würde. Damit sich
das Rathaus dennoch von anderen Verwaltungsgebäuden, insbesondere jenen der Privatwirtschaft, abgrenzt, ist es durch aufwendige
Konstruktionen und die sorgfältige, elegante Gestaltung ausgezeichnet.
Diese beiden Elemente bewirken zudem die „
futuristische“
, der Zukunft
zugewandte Erscheinung des Gebäudes, zumal die herausgestellte
Erweiterbarkeit der Bürotürme ein weiteres wirtschaftliches Wachstum
verspricht. Gerade die Türme weisen die neuartige Bauweise deutlich
vor und stehen am Anfang einer neuen Technik, die allerdings zumeist
um ihrer selbst willen eingesetzt wurde und nur selten die ihr angemessene Form fand. Auf den Aspekt der Einheit schließlich spielt das
ungeteilte, mehrere unterschiedliche Räume überspannende Dach des
Sitzungstrakts an.
Immerhin wurde mit van den Broek und Bakema ein Büro beauftragt,
das nicht nur als höchst kompetent bei Großaufträgen und der Moderne
seit ihren Anfängen verpflichtet galt, sondern auch besonders die zeichenhafte Dimension der Architektur berücksichtigte: Über die angemessene Zweckerfüllung und die soziale Verpflichtung eines Bauwerks
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hinaus ging es mit dem von Bakema so oft bemühten Schlagwort um die
„
Funktion der Form“
, also um die eigene Wirkung, die die Gestaltung
des Gebäudes besitzt. Eben eine demokratisierende Wirkung von Architektur aber war in Marl gesucht. Beim Blick auf andere Projekte des
Büros erscheint der Zusammenhang zwischen Form und Wirkung allerdings recht willkürlich, wenn etwa die gleichen Hochhäuser als Rathaus,
Wohngebäude, Hotel oder Museum dienen. Da van den Broek und
Bakema weder erklären, wie sie das Wesentliche einer Bauaufgabe
erkennen, um dessen Ausdruck sie sich bemühen, noch den gemeinsamen Code benennen, der dieses Wesentliche dem Betrachter vermitteln könnte, lassen sich ihre Gestaltungsweisen nur schwer nachvollziehen.
Der zweite große internationale Rathaus-Wettbewerb der späten
fünfziger Jahre, den die Stadt Toronto ausschrieb, um den unbefriedigenden Vorschlägen der lokalen Architekten begegnen und um Aufsehen über Kanada hinaus zu erregen, zeigt ganz ähnliche Ergebnisse.
So erhält den ersten Preis ein Gebäude, das sich betont modern gibt,
eine markante, von den üblichen Büroquadern abweichende Form
besitzt und durch die ungewöhnliche und kostspielige Konstruktion die
gesuchte Einzigartigkeit demonstriert. Erneut wird der Zeichenhaftigkeit
ein besonderes Gewicht beigemessen: Die zentrale Stellung des Rates
im demokratischen Herrschaftssystem auf kommunaler Ebene findet
ihre Entsprechung in der Ausrichtung des Komplexes auf den Ratssaal
in der Mitte.
Das Resultat der Bemühungen um ein neues Rathaus in Marl bleibt
zwiespältig, weil die damit verbundenen Ziele allenfalls in Teilen erreicht
wurden. Während das Gebäude in der Diskussion um die Auflösung des
Amtsverbands und die Eingliederung der kleinen Gemeinden in die
Stadt Marl im Rahmen der kommunalen Neuordnung in den 1970er
Jahren tatsächlich als Argument diente und die große Resonanz in der
Fachwelt, aber auch in der Tagespresse die gewünschte Werbung für
die Stadt bedeutete, lässt sich der Einfluss auf die Demokratisierungsbemühungen wohl kaum nachweisen. Auch als Zeichen der Zukunftszugewandtheit konnte das Rathaus nur einige Jahre fungieren, da
einerseits die Strukturkrise im Bergbau das Modell des ständigen Wirtschaftswachstums zerstörte und andererseits die zwangsläufig zeitgebundene Architektur bald nicht mehr als modern, sondern als Beispiel
für überkommene Technikversessenheit galt. Geradezu ins Gegenteil
verkehrt wurde das Ziel der Einheitsstiftung auf der politischen Ebene,
weil die Entscheidung über den Bau in die zeitliche Nähe der Kommunalwahl fiel, so dass die CDU-Opposition das von der SPD-Mehrheit
gebilligte Projekt angriff. Da es beide Seiten bei der Wiederholung ihrer
eigenen Argumente beließen –
zu hohe Kosten einerseits, Repräsenta-
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tion der Demokratie andererseits –
, entwickelte sich keine konstruktive
Diskussion.
Dennoch bleibt das Marler Rathaus jenseits der Zeugnisqualität als
Baudenkmal für die Gegenwart wichtig, weil es, selbst in einer Situation
entstanden, in der die zeitgenössische Architektur zunehmend als in
hohlem Schematismus gefangen kritisiert wurde, einen Weg aufzeigt,
wie eine moderne, durchaus dem Prinzip der Innovation verpflichtete
Architektur entstehen kann, ohne dass sich die ständige Neuerung auf
das Äußerliche und einen bloß modischen Wandel beschränkte. Der
Ansatz, neue Konstruktionen nicht lediglich anzuwenden, sondern für
die Gestaltung nutzbar zu machen, stellt zumindest einen Schritt in
diese Richtung dar, da die Koppelung von Inhalt und Form gewahrt
bleibt und die Forderungen der Reformbewegungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, wie Materialgerechtigkeit und Ablesbarkeit der
Konstruktion, umgesetzt werden. Indem sie sich um ein zeitgemäßes,
„
offeneres“
Gehäuse für wichtige Institutionen der Demokratie bemühen
und so die Demokratisierung der Gesellschaft zu befördern versuchen,
knüpfen van den Broek und Bakema an eines der bedeutenden sozialpolitischen Anliegen der Moderne der Zwischenkriegszeit an.
Allerdings erweist sich auch, dass die Auffassung des Architekten
als gesellschaftlichen Demiurgen nicht weit trägt, da die Prägekraft der
Architektur zumindest in diesem Falle nur gering erscheint. Entgegen
der Vorstellung, Architektur (allein) könne die sozialen und politischen
Verhältnisse verändern, stellt sie allenfalls einen Bereich unter anderen
dar, der auf die Gesellschaft einwirkt; nicht „
Steinhäuser machen Stein831
herzen“
, sondern ein vielfältiges Bündel von Faktoren. Aus diesem
Umstand resultiert die prekäre Stellung von Bauten für Einrichtungen
der Demokratie: Ein zu konfliktfreies, idealisiertes Bild schlägt schnell in
die Beschönigung der politischen Situation um; die gute Architektur wird
dann als Fassade genutzt. Dagegen führt die reine Widerspiegelung der
Zustände leicht dazu, dass die gegenwärtigen, zu verbessernden Verhältnisse zementiert werden; man verzichtet dann auf den utopischen
Gehalt der Architektur.
Angesichts dieses Zwiespalts und der ohnehin begrenzten Auswirkungen erscheint eine stärkere Bescheidenheit angezeigt: Von übertriebenen Vorstellungen der Redefähigkeit und Wirkungsmacht von Architektur muss man sich verabschieden. Dies bedeutet jedoch kein Plädoyer für Beliebigkeit oder eine Architektur um ihrer selbst willen, vielmehr eröffnet sich mit der Lösung von allzu simplen Kausalitäten die
Möglichkeit zu einer integrierten Betrachtung von Architektur und anderen gesellschaftlichen Faktoren.
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Bruno Taut: Die Auflösung der Städte oder Die Erde eine gute Wohnung, Hagen
1920, Taf. 1.
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