269 8 Zusammenfassung Als das Amt Marl 1957 beschloss, für den seit langem beabsichtigten Rathaus-Neubau einen beschränkten Wettbewerb mit internationaler Beteiligung auszuschreiben, brach es mit den üblichen Gepflogenheiten, indem es gerade nicht, wie bis dahin besonders bei kommunalen Verwaltungsgebäuden die Regel, bloß die lokal oder regional tätigen Architekten einlud, von denen man sich sonst durch ihre Vertrautheit mit regionalen Besonderheiten eine stärkere Betonung der städtischen Eigenständigkeit erhoffte. Vor dem Hintergrund der Geschichte Marls in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint diese Entscheidung allerdings nur konsequent. Im Zuge der um 1900 im Marler Gebiet einsetzenden Industrialisierung erlebten die Gemeinden des Amtes Marl einen Strukturwandel, der vor allem die Gemeinde Marl von einer ländlichen Siedlung zu einer von Bergbau und Chemie geprägten Mittelstadt veränderte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen Einwohnerzahl und Steueraufkommen stürmisch weiter, bis sich 1958 erste Anzeichen der Kohlekrise bemerkbar machten und die Zuwachsraten auf ein geringeres Maß zurückführten. Diese Entwicklung begleitend, existierte seit Anfang der zwanziger Jahre eine – allerdings weitgehend nachholende – Stadtplanung, der bei allen Unterschieden in Ansatz und Ausprägung ein konstantes Konzept zugrunde lag: Es sollte eine „ Industriestadt im Grünen“ entstehen, wobei Marl in Abgrenzung zum alten, als chaotisch empfundenen Ruhrgebiet als Ort der planbaren, besseren und noch gestaltbaren Zukunft begriffen wurde. Darüber hinaus sollte der städtebauliche Zusammenschluss der Ortsteile eine städtische Einheit, also die Integration der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, bewirken, so dass Stadtplanung zur Identitätsstiftung eingesetzt wurde. Ein Wettbewerb ohne lokale Begrenzung lag so in einer Stadt nahe, die ohnehin nicht über eine größere Architektenschaft verfügte; die Ausweitung auf einige Teilnehmer aus dem Ausland sorgte zudem für eine gesteigerte Aufmerksamkeit nicht nur in der Fachwelt und ließ Marl als weltoffen erscheinen. Auch dass es sich bis auf wenige Ausnahmen um überaus renommierte Büros handelte, spiegelt nicht nur den Anspruch und das Selbstverständnis der Auftraggeber, es trug vielmehr zur Werbung für die Stadt bei. Schließlich entsprach die Beschränkung sowohl der Jury als auch des Teilnehmerkreises auf Architekten, die als der Moderne verpflichtet galten, dem Selbstbild einer Kommune ohne bedeutende Vergangenheit. In Marl versuchte man gerade nicht, in einer Art kollektiver Regression durch eine erfundene Tradition oder übertriebene Dorfromantik ein Gegengewicht zur Industrialisierung zu schaffen, vielmehr wandte man sich bewusst der Zukunft zu. 270 Von dem neuen Rathaus erwarteten die Befürworter des später umstrittenen Neubaus, dass es die noch junge Demokratie festige und den Anspruch Marls als baldige kreisfreie Großstadt unterstreiche. Darüber hinaus sollte es als Zeichen für die Einheit der Bürgerschaft und als Brennpunkt eines einheitlichen Marler Selbstverständnisses die Unterschiede und Interessengegensätze innerhalb der vor allem von neu Zugezogenen geprägten Marler Bürgerschaft verschleifen, so die fast zwanghafte, bis in die Zeit der ersten Stadtplanung und des Amtshausumbaus zurückreichende Betonung der städtischen Gemeinschaft weiterführend. Gerade die Veranstaltungen wie Grundsteinlegung, Richtfeste und Einweihungen dienten als Gelegenheiten zur Werbung für dieses Konzept, zumal sie mit ihren rituellen Elementen besonders eindringlich wirken konnten. Der Ausschreibung entsprechend versuchten die Wettbewerbsteilnehmer – mit der Ausnahme allenfalls von Ferdinand Kramer – , dem Rathaus eine besondere Würde zu verleihen, indem etwa das erste Obergeschoss als Repräsentationsbereich hervorgehoben wurde, Wasserbassins und Vorplätze das Gebäude isolieren oder ungewöhnliche Konstruktionen den Bau auszeichnen. Letztlich betrifft dies nur Teilaspekte, während man für die grundsätzliche Anlage auf die Standardlösung im Verwaltungsbau zurückgriff: Ein aufwendig gestaltetes Einzelgebäude mit dem Ratssaal begleitet eine Hochhausscheibe für die Normalbüros, der meist ein Flachbau für die Bereiche mit hohem Publikumsverkehr beigegeben wurde. Bei den übrigen, von diesem Schema abweichenden Projekten wird die gesuchte Distinktion ebenfalls nur unvollkommen erreicht, da auch sie die Struktur von anderen Bauaufgaben übernehmen und frühere Entwürfe variieren. Es ist zwar eine Tendenz zu markanten Formen erkennbar, doch wird die oft aufwendige Konstruktion nur bei Bernhard Pfau und van den Broek und Bakema als Ausdrucksmittel genutzt. Die Öffnung der Sitzungssäle durch Glaswände, in der späteren Diskussion um Parlamentsbauten als Zeichen von Transparenz und öffentlicher Kontrolle der demokratischen Herrschaft geltend, spielt hier keine Rolle. Trotz aller Bemühungen blieb das grundlegende Problem des Rathausbaus in der Nachkriegszeit ungelöst. Einerseits stand im Bereich der Architektur die funktionalistische Entwurfshaltung, gerade bei diesem Wettbewerb, nicht mehr in Frage, denn sie galt als Zeichen für die Abkehr vom Historismus und – im Sinne des Antitotalitarismus – für die Überwindung des Dritten Reichs und des Kommunismus. Außerdem versprach die prononcierte Zweckrationalität eine ebenso effiziente Verwaltung, passte zu einer rational begründeten demokratischen Herrschaftsform und erlaubte kostengünstige Bauten. Da sie jedoch gleichzeitig die Rathäuser, die ihrer Hauptaufgabe gemäß als Gehäuse der kommunalen Verwaltung begriffen wurden, anderen Bürobauten an- 271 glich, fehlte ihnen das von der Seite der Auftraggeber gewünschte Besondere, das den Vorrang der Politik gegenüber anderen Gesellschaftsbereichen und das Eigentümliche des jeweiligen Ortes gekennzeichnet hätte. Andererseits waren im Bereich des Politischen die Kommunen schon lange in vielfältige Abhängigkeiten geraten, und gerade dort bestand der Primat der Politik noch weniger als etwa auf Landes- oder Bundesebene, so dass die behauptete Eigenständigkeit tatsächlich allenfalls beschränkt existierte. Die weithin propagierte Vorstellung von einem Rathaus, das sich vor allen anderen Gebäuden der Stadt auszeichne und für die jeweilige Stadt typisch sei, fand sich so von zwei Seiten unter Druck: Ihr widersprachen sowohl das vorherrschende Verständnis von Architektur als auch die realen politischen Bedingungen; weder Form noch Inhalt stimmten so mit ihr überein. Damit ließ sich die Frage, wie ein Rathaus gestaltet werden solle, nicht befriedigend beantworten, denn jede, selbst eine formal gelungene Lösung musste spätestens an der Diskrepanz zwischen den hochgeschraubten Vorstellungen und den politischen Verhältnissen scheitern. Obwohl auch der schließlich verwirklichte Entwurf von van den Broek und Bakema in diesem Dilemma gefangen blieb, kam er den vielfältigen Anforderungen der Auftraggeber entgegen. In der Verteilung des Gesamtvolumens auf mehrere Baukörper wiederholte er die Marler Stadtplanung im Kleinen und betonte den Ratstrakt gegenüber dem Verwaltungskomplex, um den Ort des demokratischen Geschehens hervorzuheben. Als Zeichen möglicher Teilhabe an der städtischen Regierung ist der Sitzungsbereich an den Längsseiten weit geöffnet, und die Vermeidung von Axialität und Symmetrie bedeutet den Verzicht auf traditionelle Darstellungen von Herrschaft und Würde. Damit sich das Rathaus dennoch von anderen Verwaltungsgebäuden, insbesondere jenen der Privatwirtschaft, abgrenzt, ist es durch aufwendige Konstruktionen und die sorgfältige, elegante Gestaltung ausgezeichnet. Diese beiden Elemente bewirken zudem die „ futuristische“ , der Zukunft zugewandte Erscheinung des Gebäudes, zumal die herausgestellte Erweiterbarkeit der Bürotürme ein weiteres wirtschaftliches Wachstum verspricht. Gerade die Türme weisen die neuartige Bauweise deutlich vor und stehen am Anfang einer neuen Technik, die allerdings zumeist um ihrer selbst willen eingesetzt wurde und nur selten die ihr angemessene Form fand. Auf den Aspekt der Einheit schließlich spielt das ungeteilte, mehrere unterschiedliche Räume überspannende Dach des Sitzungstrakts an. Immerhin wurde mit van den Broek und Bakema ein Büro beauftragt, das nicht nur als höchst kompetent bei Großaufträgen und der Moderne seit ihren Anfängen verpflichtet galt, sondern auch besonders die zeichenhafte Dimension der Architektur berücksichtigte: Über die angemessene Zweckerfüllung und die soziale Verpflichtung eines Bauwerks 272 hinaus ging es mit dem von Bakema so oft bemühten Schlagwort um die „ Funktion der Form“ , also um die eigene Wirkung, die die Gestaltung des Gebäudes besitzt. Eben eine demokratisierende Wirkung von Architektur aber war in Marl gesucht. Beim Blick auf andere Projekte des Büros erscheint der Zusammenhang zwischen Form und Wirkung allerdings recht willkürlich, wenn etwa die gleichen Hochhäuser als Rathaus, Wohngebäude, Hotel oder Museum dienen. Da van den Broek und Bakema weder erklären, wie sie das Wesentliche einer Bauaufgabe erkennen, um dessen Ausdruck sie sich bemühen, noch den gemeinsamen Code benennen, der dieses Wesentliche dem Betrachter vermitteln könnte, lassen sich ihre Gestaltungsweisen nur schwer nachvollziehen. Der zweite große internationale Rathaus-Wettbewerb der späten fünfziger Jahre, den die Stadt Toronto ausschrieb, um den unbefriedigenden Vorschlägen der lokalen Architekten begegnen und um Aufsehen über Kanada hinaus zu erregen, zeigt ganz ähnliche Ergebnisse. So erhält den ersten Preis ein Gebäude, das sich betont modern gibt, eine markante, von den üblichen Büroquadern abweichende Form besitzt und durch die ungewöhnliche und kostspielige Konstruktion die gesuchte Einzigartigkeit demonstriert. Erneut wird der Zeichenhaftigkeit ein besonderes Gewicht beigemessen: Die zentrale Stellung des Rates im demokratischen Herrschaftssystem auf kommunaler Ebene findet ihre Entsprechung in der Ausrichtung des Komplexes auf den Ratssaal in der Mitte. Das Resultat der Bemühungen um ein neues Rathaus in Marl bleibt zwiespältig, weil die damit verbundenen Ziele allenfalls in Teilen erreicht wurden. Während das Gebäude in der Diskussion um die Auflösung des Amtsverbands und die Eingliederung der kleinen Gemeinden in die Stadt Marl im Rahmen der kommunalen Neuordnung in den 1970er Jahren tatsächlich als Argument diente und die große Resonanz in der Fachwelt, aber auch in der Tagespresse die gewünschte Werbung für die Stadt bedeutete, lässt sich der Einfluss auf die Demokratisierungsbemühungen wohl kaum nachweisen. Auch als Zeichen der Zukunftszugewandtheit konnte das Rathaus nur einige Jahre fungieren, da einerseits die Strukturkrise im Bergbau das Modell des ständigen Wirtschaftswachstums zerstörte und andererseits die zwangsläufig zeitgebundene Architektur bald nicht mehr als modern, sondern als Beispiel für überkommene Technikversessenheit galt. Geradezu ins Gegenteil verkehrt wurde das Ziel der Einheitsstiftung auf der politischen Ebene, weil die Entscheidung über den Bau in die zeitliche Nähe der Kommunalwahl fiel, so dass die CDU-Opposition das von der SPD-Mehrheit gebilligte Projekt angriff. Da es beide Seiten bei der Wiederholung ihrer eigenen Argumente beließen – zu hohe Kosten einerseits, Repräsenta- 273 tion der Demokratie andererseits – , entwickelte sich keine konstruktive Diskussion. Dennoch bleibt das Marler Rathaus jenseits der Zeugnisqualität als Baudenkmal für die Gegenwart wichtig, weil es, selbst in einer Situation entstanden, in der die zeitgenössische Architektur zunehmend als in hohlem Schematismus gefangen kritisiert wurde, einen Weg aufzeigt, wie eine moderne, durchaus dem Prinzip der Innovation verpflichtete Architektur entstehen kann, ohne dass sich die ständige Neuerung auf das Äußerliche und einen bloß modischen Wandel beschränkte. Der Ansatz, neue Konstruktionen nicht lediglich anzuwenden, sondern für die Gestaltung nutzbar zu machen, stellt zumindest einen Schritt in diese Richtung dar, da die Koppelung von Inhalt und Form gewahrt bleibt und die Forderungen der Reformbewegungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, wie Materialgerechtigkeit und Ablesbarkeit der Konstruktion, umgesetzt werden. Indem sie sich um ein zeitgemäßes, „ offeneres“ Gehäuse für wichtige Institutionen der Demokratie bemühen und so die Demokratisierung der Gesellschaft zu befördern versuchen, knüpfen van den Broek und Bakema an eines der bedeutenden sozialpolitischen Anliegen der Moderne der Zwischenkriegszeit an. Allerdings erweist sich auch, dass die Auffassung des Architekten als gesellschaftlichen Demiurgen nicht weit trägt, da die Prägekraft der Architektur zumindest in diesem Falle nur gering erscheint. Entgegen der Vorstellung, Architektur (allein) könne die sozialen und politischen Verhältnisse verändern, stellt sie allenfalls einen Bereich unter anderen dar, der auf die Gesellschaft einwirkt; nicht „ Steinhäuser machen Stein831 herzen“ , sondern ein vielfältiges Bündel von Faktoren. Aus diesem Umstand resultiert die prekäre Stellung von Bauten für Einrichtungen der Demokratie: Ein zu konfliktfreies, idealisiertes Bild schlägt schnell in die Beschönigung der politischen Situation um; die gute Architektur wird dann als Fassade genutzt. Dagegen führt die reine Widerspiegelung der Zustände leicht dazu, dass die gegenwärtigen, zu verbessernden Verhältnisse zementiert werden; man verzichtet dann auf den utopischen Gehalt der Architektur. Angesichts dieses Zwiespalts und der ohnehin begrenzten Auswirkungen erscheint eine stärkere Bescheidenheit angezeigt: Von übertriebenen Vorstellungen der Redefähigkeit und Wirkungsmacht von Architektur muss man sich verabschieden. Dies bedeutet jedoch kein Plädoyer für Beliebigkeit oder eine Architektur um ihrer selbst willen, vielmehr eröffnet sich mit der Lösung von allzu simplen Kausalitäten die Möglichkeit zu einer integrierten Betrachtung von Architektur und anderen gesellschaftlichen Faktoren. 831 Bruno Taut: Die Auflösung der Städte oder Die Erde eine gute Wohnung, Hagen 1920, Taf. 1.