Das Neue Museum Vom Juwel der Museumsinsel zum Kuckucksei der Denkmalpfleger und Museologen Ein Rückblick Als 1830 das Museum Schinkels an der Nordseite des Lustgartens seine Tore öffnete, war es für die immer stärker wachsenden Berliner Sammlungen bereits zu klein. Also wurden 1834 einige hinter dem Museum gelegene Grundstücke gekauft, um Platz für weitere Museumsgebäude zur Verfügung zu haben, und der Kronprinz Friedrich Wilhelm schuf als durchaus nicht untalentierter Architekt höchstselbst Entwürfe für eine Bebauung der späteren Museumsinsel. Nachdem er 1840 als Friedrich Wilhelm IV. den preußischen Thron bestiegen hatte, gab er Order an den Generaldirektor der königlichen Museen, die Planungen für ein neues Museum zu konkretisieren. Mit dem Entwurf des Gebäudes wurde Friedrich August Stüler beauftragt, der für das Projekt Fassaden von höchster Ästhetik und eleganter Schlichtheit ersann. Stülers Leitmotiv lautete: „Ein Gebäude, das zur Aufnahme von Kunstwerken bestimmt ist, muss in sich selbst ein Kunstwerk sein.“ Grundsteinlegung war 1843, nachdem 2344 Pfähle als Gründung in den morastigen Boden gerammt worden waren. 1847 war das Äußere des Baues vollendet und man begann mit dem Innenausbau, der durch die 1848er Revolution unterbrochen wurde und wegen der extrem umfangreichen künstlerischen Ausgestaltung teils bis 1859 und im Treppenhaus noch darüber hinaus andauerte. Die verschiedenen Sammlungsbereiche wurden jeweils mit der Fertigstellung ihrer Räume eröffnet. Großartiger Auftakt, monumentaler Mittelpunkt und verbindendes Element des Museumsrundganges war das riesige Treppenhaus, das einen Entwurf Schinkels für den Festsaal König Ottos I. auf der Athener Akropolis rezipierte. Für die Ausmalung hatte man den Münchner Hofmaler Wilhelm Kaulbach gewinnen können, der seine Entwürfe in den Jahren 1847–1866 umsetzte. Der gigantische Wandbildzyklus zeigte die Entwicklung der Menschheitsgeschichte anhand von sechs Wendepunkten der Weltgeschichte und gehörte zu den besten Leistungen des 19. Jahrhunderts. Der nördliche Hof des Museums stand gestalterisch in engem Zusammenhang mit Räumen im nördlichen Gebäudeflügel und einem dreischiffigen Zugang unter dem nördlichen Treppenlauf des Haupttreppenhauses. Diese Raumfolge vermittelte dem Besucher den Eindruck eines ägyptischen Tempels, den er vom Propylon über den offenen Säulenhof (das Peristyl) und das 1 Hypostyl bis zu den drei kapellenartigen Cellae durchschreiten konnte. Raumarchitektur, Bemalung der Wände, Decken und Säulen und nicht zuletzt die ägyptischen Kunstwerke selbst waren hier zu einer festen Einheit verschmolzen. Für das Neue Museum setzte Stüler die neuesten technischen Erkenntnisse um: aus leichten, hohlen Ziegeln gemauerten Gewölbe, Bogensehnenträger mit Spannschrauben und den Eisenkunstguss. Sämtliche Eisenkonstruktionen lieferte die Firma Borsig. Als weitere Innovation kam eine reiche Ausmalung der Sammlungsräume als historischer Kommentar zu den ausgestellten Objekten hinzu. Dies war der erste Museumsbau überhaupt, dessen innere Ausgestaltung derart konsequent darauf angelegt war, die Exponate mittels wissenschaftlich fundierter, illustrierender Wandgemälde zu erklären und in einen Kontext zu stellen, der dem ursprünglichen nahe kam. Mit den Kopien der Erechtheions-Korenhalle im Treppenhaus und dem Tempel von Karnak im Ägyptischen Hof nahm Stüler sogar die Idee des späteren Architekturmuseums vorweg, das hier freilich noch ohne Originale auskommen musste. Stülers zukunftsweisende Leistung, sein erstes Hauptwerk, brachte ihm den Auftrag zum Bau des Nationalmuseums in Stockholm ein, das wohlerhalten ist. Das Neue Museum wurde vom Ägyptischen und vom Ethnographischen Museum bezogen, der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlung, der Sammlung der Gipsabgüsse, dem Kupferstichkabinett und der Kunstkammer. Gemälde- und Skulpturensammlung und das Antiquarium verblieben im Schinkelbau, der nun „Altes Museum“ genannt wurde. Während des Zweiten Weltkriegs trafen mehrere britische und amerikanische Bomben das Museum. Einige Säle waren zerstört, das Treppenhaus mit den Kaulbachschen Wandgemälden brannte aus. Die Ausstellungsobjekte waren zuvor, bis auf wenige Stücke ägyptischer Großplastik, ausgelagert worden. Beginn des Wiederaufbaus Zu DDR-Zeiten genoss das Neue Museum beim Wiederaufbau der Museumsinsel keine Priorität, sondern stand infolge des instabilen Baugrundes und den damit verbundenen technischen Schwierigkeiten an letzter Stelle. Stattdessen wurden zwischen 1958 bis 1987 immer wieder Teile der Ruine wegen bestehender Einsturzgefahr abgetragen. Dennoch waren viele Räume erhalten geblieben. Wegen der Bedeutung des Bauwerks, wegen der zum Teil noch umfangreich erhaltenen Substanz an Decken, Wänden und Böden der Erbauungszeit und auch zur Wiederherstellung des 2 Ensembles der Museumsinsel, beschloss die DDR-Regierung in den achtziger Jahren, das Neue Museum nach ähnlichen Prinzipien wie Schinkels Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, also weitgehend vollständig, zu rekonstruieren. Sogar der Bilderzyklus des Treppenhauses sollte wiedererstehen. 1986 wurde mit ersten Notsicherungsmaßnahmen begonnen und ein Jahr später unter dem gesamten Gebäude die für die statische Sicherheit notwendige Ersatzgründung begonnen. Nach der Wende wurden die Arbeiten weitergeführt und sind inzwischen längst abgeschlossen. Der Wettbewerb Im Jahre 1993 ersann die Leitung der inzwischen wiedervereinigten Museen um den damaligen Generaldirektor Wolf-Dieter Dube einen internationalen Realisierungswettbewerb, um Alternativen zur vollständigen Rekonstruktion der DDR-Planung zu finden. Zudem sollte ein am Ufer des Kupfergrabens zu errichtendes zentrales Eingangsgebäude das Neue Museum entlasten und als Verteiler für die Besucherströme dienen. Als Ergebnis des Wettbewerbs tauchte 1994 das Projekt der vollständigen Rekonstruktion des Neuen Museums erneut auf und errang sogar den zweiten Preis. Sein Autor war David Chipperfield. Die Begeisterung für das Museumsgebäude hatte den minimalistischen Architekten derart überwältigt, dass er als einziger Wettbewerbsteilnehmer davon absah, den Stülerbau einer entstellenden Modernisierung zu unterziehen und sich zu einer Rekonstruktion bekannte, „die in der vollständigen Wiederherstellung des Stülerschen Treppenhauses ihren Höhepunkt findet“, so Chipperfield damals. Keines der vorgelegten Konzepte fand bei der Jury umfassende Gnade, so dass die Architekten veranlasst wurden, ihre Konzepte zu überarbeiten. Da mit Giorgio Grassi, dem Gewinner des ersten Preises, keine Übereinstimmung erzielt werden konnte, wurden 1997 die ersten fünf Preisträger aufgefordert, im Rahmen eines Gutachterverfahrens ihre Vorstellungen zum Wiederaufbau zu formulieren. Danach schien zunächst Frank O. Gehry das Rennen zu machen, der von Generaldirektor Dube favorisiert wurde. Jedoch lief nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die empörte Fachwelt gegen Gehrys zwar interessante, für diesen Ort allerdings unpassende Vorschläge für den Erweiterungsbau Sturm. Sogar die Ablehnung der Aufnahme der Museumsinsel in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes war nun zu befürchteten. Zur großen Erleichterung der Denkmalpfleger wurden im November 1997 die traditionelleren Planungen David Chipperfields ausgewählt – wegen des Erweiterungsgebäudes. Für das Museum selbst offerierte Chipperfield nun unter dem Druck der Museumsleitung plötzlich das genaue Gegenteil seiner ursprünglichen Vorschläge. Äußerlich hielt er bei allen 3 Vereinfachungen zwar an Stülers Bau fest – im Inneren aber behandelte er das Bauwerk umso mehr wie seine Verfügungsmasse. Er wollte den Eingang versetzen, eine Zwischendecke einziehen und eine stilfremde Beton-Wendeltreppe in das Untergeschoß stellen. Das ging sogar unseren heutigen Denkmalpflegern zu weit. Vor diesem Hintergrund wird das Aufatmen der Fachwelt verständlich, als der Brite mit seinem dritten, im Februar 2000 veröffentlichten Entwurf, eine erneute Kehrtwende vollzog, denn seit August 1999 amtierte der neue Museumschef Peter-Klaus Schuster, der zwar auch zugunsten moderner Architektur Rekonstruktionen umgehen möchte, aber dennoch anfangs mehr Verständnis für die Museumsinsel aufbrachte als sein Vorgänger. Wenigstens verzichtete Chipperfield nun auf die störenden Einbauten im Treppenhaus. Statt des neuen Eingangs setzte er auf eine unterirdische Erschließungsstraße, die die Besucherströme wie der Verteiler des Louvre über die ganze Museumsinsel auffächern soll. Auf Anraten der Museumsleute galt aber für Chipperfield zugleich: „Der Wiederaufbau des Neuen Museums sollte der enthistorisierenden Totalrekonstruktion ebenso entgehen wie der Monumentalisierung seiner Zerstörung.“ Die für das klassizistische Gebäude so wichtige Symmetrie der Fassade zum Kupfergraben wird dafür bedenkenlos geopfert – stattdessen soll die Fassade des Nordwestflügels „sich in Konstruktion und Materialität von der historischen Substanz in gewisser Weise abheben, so dass dieser Teil als moderner Anbau wahrnehmbar ist“, so Chipperfield. Die von Granaten und 150 Jahren Berliner Wetter ruinierte restliche Außenfassade soll nun bleiben wie sie ist. „Alle noch anhaftenden Putzplacken bleiben dran“ wird ein Ingenieur vom Spiegel zitiert, „sie erhalten oben eine Zementkante, damit kein Wasser dahinter laufen kann. Technisch gesehen ist das Pfusch.“ Das Prunkstück des Museums, die Treppenhalle, soll ebenso der Konservierung der Kriegs- und Nachkriegsschäden anheimfallen (was inzwischen allen Ernstes „archaisierender Ruinenklassizismus“ genannt wird); auf den offenen Dachstuhl mit filigran ornamentiertem doppeltem Hängewerk, die Ausmalung und die bekrönende Korenhalle, verzichtet der Architekt ganz, stattdessen soll sich der einst wichtigste Raum zukünftig mit blankem Ziegelmauerwerk präsentieren – „das Detail wird eher vermieden.“ Ebenso soll es dem von Stüler mit unglaublicher Raffinesse gestalteten Ägyptischen Hof gehen (dessen Säulen erst 1987 abgerissen wurden!), der bereits einen Einbau aus Sichtbeton bekommen hat, denn: „die neuen Räume suchen in der zierlosen Reduktion auf übergeordnete Prinzipien des Stülerschen Entwurfs sowohl ihre Kontinuität als auch ihre moderne Identität“, so Chipperfield. In der romantischen Qualität des Hauses sieht Chipperfield allen Ernstes die Verpflichtung, „nicht den 4 scharfen Kontrast, sondern den kontinuierlichen Übergang von Alt zu Neu zu thematisieren“. Wie er das meint, lässt sich in den bereits fertig gestellten Räumen des Nordwestflügels und auch im Treppenhaus begutachten: mit weißem Marmormehl bestreuter Beton formt vom Boden bis zur Decke eine unterkühlte glatte Ödnis. Um die künstlerische und auch die geistige Kraft des Entwurfs nicht zu überfordern sind die Decken in gleichem Material gehalten. Statt der leichten und gefälligen Bogenbinder des 19. Jahrhunderts irritieren nun monströse Balken von nie gesehener Grobschlächtigkeit das Auge. Auch für die Stufen und Handläufe der Treppen hat sich der Architekt etwas ganz besonderes einfallen lassen: Terrazzo im Stil sozialen Wohnungsbaus der Sechziger Jahre. Das hat es im internationalen Museumsbau in dieser Form tatsächlich noch nie gegeben. In den erhaltenen Sälen sieht es mit dem Anspruch an die Ästhetik kaum besser aus: dort werden Fehlstellen in Wandgemälden und Farbfassungen nicht etwa restauriert, sondern lediglich in blässlichem Ton abstrakt angeglichen. Ramponierte Säulen behalten ebenfalls ihren desolaten Zustand bei. Da des Architekten Credo, „die Wunden zu schließen, ohne sie zu verdecken“ eben doch bedeutet, sie sichtbar zu lassen, monumentalisiert er die Zerstörung, handelt also entgegen seiner eigenen, oben beschriebenen Prämisse. Dabei hat er den Generaldirektor Schuster hinter sich, der bereits schwärmt: „Das Neue Museum wird in seiner uns heute so beeindruckenden Ruinenschönheit verbleiben.“ Diese Form von Vergeistigung kann wohl nur als Angriff auf den gesunden Menschenverstand empfunden werden. Bauherren, Architekt und Denkmalpfleger – augenscheinlich geblendet vom Glanze baren Ziegelmauerwerks – verkennen, dass das Besondere der Stülerschen Architektur nicht in den Proportionen und Volumina liegt, sondern in der Feinstruktur von Architektur und Dekor. Abstrahierungsversuche, wie sie in der Restaurierungspraxis der fünfziger Jahre gang und gäbe waren, werden dieses Bauwerk entstellen. Dass Stülers Bau zuallererst ein Denkmal des 19. Jahrhunderts und seiner Bildungsbeflissenheit ist, wird völlig übersehen. Da Chipperfield inzwischen eine solche Freude an der Vermeidung der Rekonstruktion gefunden hat, sei die Frage erlaubt, ob er es vielleicht lieber sähe, Kriegsverluste zu konservieren, als der Stadt durch Restaurieren und Rekonstruieren eine Perle der hohen Bau- und Gestaltungskunst zurückzugeben. Hat es der Architekt wirklich nötig, die Zerstörung des Gebäudes fortzuschreiben? Sein Ansatz einer Konservierung der Kriegsschäden ist neben allen ästhetischen Beweggründen allein deshalb falsch, weil das Museum kein Mahnmal gegen den Krieg sein soll und sein kann. 5 Ohnehin bleibt nahezu die gesamte Berliner Innenstadt ein Mahnmal der Zerstörung. Auch der Umstand, dass das Gebäude so lange als Ruine bestanden hat, rechtfertigt nicht die Unterlassung der Rekonstruktion. Das Neue Museum war ein Tempel der Kultur und der Baukunst – und sollte es wieder werden. Gerne auch mit David Chipperfield, aber mit einem anderen Konzept! Sollte am bisherigen Konzept festgehalten werden, wird sich bei den Besuchern der Museumsinsel bittere Enttäuschung breitmachen, denn nach den bisherigen Erfahrungen mit der Restaurierungspraxis auf der Berliner Museumsinsel – zu denken ist an die Alte Nationalgalerie und das Bode-Museum – hat sich bei der interessierten Öffentlichkeit eine hohe Erwartungshaltung eingestellt. Niemand, außer den Eingeweihten, wird ein derartig unerfreuliches Ergebnis erwartet haben. Vor dem Weiterführen der jetzigen Konzeption ist daher dringend zu warnen. Das Neue Museum soll für das kunstliebende Publikum hergerichtet werden und nicht nur für jene entrückten Zirkel, die von „historischen Schichten“ und „präsenter Ziegeloberfläche“ unter abgefallenem Putz träumen, von „zwangsläufig ruinenhaftem Zustand“ und einer „enormen Stärke des Baukörpers, die klarer zum Ausdruck kommt, als wenn das Neue Museum vollständig restauriert würde.“ Zwei Vergleiche Wien ist wohl die europäische Hauptstadt, die sich aufgrund ihrer historischen, politischen und architektonischen Entwicklung am ehesten für einen Vergleich mit Berlin anbietet. Wien wies nach 52 Bombenangriffen erhebliche Zerstörungen auf. Es waren weit weniger als in Berlin und dennoch teilen beide Städte ein paralleles Schicksal. Im Gegensatz zu Berlin ist Wien ein Beispiel für eine durch Rekonstruktionen von den Kriegsschäden geheilte Stadt, in der man auch zahlreiche Innenräume wieder hergestellt hat. In Hofburg, Oper, Burgtheater, Kunsthistorischem Museum und vielen weiteren öffentlichen Gebäuden sind die Schäden des Krieges vollständig behoben. Die Österreicher haben zugunsten der Schönheit ihrer Hauptstadt auf eine bedrückende und ständig mahnende Erinnerung an den Krieg verzichtet – und dies offenbar ohne nachteilige Auswirkungen, denn sie haben seither weder einen neuen Kaiser oder gar Führer hervorgebracht, noch einen Krieg begonnen. Gefällt auch den Touristen Wien vielleicht gerade deshalb, weil man nicht an jeder Ecke, wie in Berlin, mit den Folgen des Krieges konfrontiert wird? Eine politisch entspanntere und mehr auf Schönheit bedachte Einstellung sollte sich auch in der deutschen Hauptstadt durchsetzen, statt hier ständig nur in intellektuell verordneter Vergangenheitsbewältigung zu schwelgen. 6 Auch die Münchner Alte Pinakothek, der Prachtbau Leo von Klenzes, war von den Bomben des Krieges schwer getroffen, doch deren modernisierende Rekonstruktion auf die gleiche Stufe mit den Planungen für das Berliner Neuen Museum zu stellen hieße, ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte unbeachtet zu lassen. Das ergreifende Pathos, das dort aus Hans Döllgasts roh belassenem Treppenhaus spricht, resultiert aus dem Willen der von den Kriegsereignissen unmittelbar geprägten Generation zum geradlinigen Aufstieg durch zügigen Wiederaufbau und ist doch zugleich ein Zeugnis der Mittelknappheit jener Zeit – der Jahre 1952-57! Heutzutage, rund 60 Jahre nach Kriegsende, noch immer aus dem gleichen Gedankengut zu schöpfen, wäre lediglich eine hohle Geste der political correctness. Was ist zu tun? Die Nachhaltigkeit des bestehenden Restaurierungskonzeptes, das die Kriegs- und Wetterschäden im Innern wie Äußeren konserviert, ist mehr als zweifelhaft. Die Akzeptanz durch die Bevölkerung, die die vielen Millionen Euro für die Arbeiten aufzubringen hat, wird gering sein – ebenso die der Besucher aus aller Welt. Stattdessen sind Irritation und Empörung zu erwarten. Berlin braucht kein weiteres Mahnmal gegen den Krieg, sondern ein einzigartig schönes Beispiel für die Präsentation von Kunst und Kultur. Eine Kostenersparnis gegenüber einer Rekonstruktion, die auch in Zukunft Bestand haben wird, erbringt die momentane Konzeption ohnehin nicht. Eingedenk der Totalverluste klassizistischer Innenausstattungen beispielsweise bei den Münchner Museen oder aber beim Alten Museum Schinkels, kommt dem Neuen Museum durch seine wiederherstellbaren Räume in der Geschichte der deutschen Architektur eine Bedeutung allerersten Ranges zu. Es darf daher nicht zur Verfügungsmasse eines kleinen Zirkels von Museumsdirektoren, Denkmalpflegern und Architekten werden. Im Sinne der Bürger dieses Landes ist von den Verantwortlichen daher zu fordern, die begonnene Restaurierung sofort zu stoppen. Stattdessen ist ein Konzept mit dem Ziel zu entwickeln, das Neue Museum August Stülers äußerlich originalgetreu zu rekonstruieren. Ferner wären die weitgehend erhaltenen Räume restauratorisch zu erneuern, als besonders herausragende Schöpfung zusätzlich das einzigartige Treppenhaus. Die teilweise zerstörten Räume wären unter Beibehaltung ihrer Architekturgliederung durch den Wiedereinbau der zahlreich aus dem Schutt geborgen Ausstattungsfragmente zu ergänzen, ihre weitere Dekoration der ursprünglichen Fassung weitgehend anzunähern. Die vollständig zerstörten Säle sollten, 7 ebenfalls unter Berücksichtigung ihrer ursprünglichen Architekturgliederung, den erhaltenen in zwar modernen, aber harmonischen Formen angepasst werden – was Sichtbeton z.B. ausschließt. Nur durch sofortiges Umlenken ist zu verhindern, dass ein Juwel der Berliner Innenstadt dem Zeitgeist der modernen Architektur und dem momentan aktuellen Denkmalschutzverständnis geopfert wird. Die Bauherren haben die Chance, das Neue Museum wieder zu dem zu machen, was es einmal war – zu einer Inkunabel der europäischen Museumsbaukultur, zu einem Gesamtkunstwerk mit einer einzigartigen Ausstattung aus der Glanzzeit des Historismus. Jeder Leser dieser Zeilen sei dazu aufgefordert, gegenüber Bauherren, Architekten und Denkmalpflegern seinen Protest gegen die bisherigen Restaurierungsplanungen kundzutun. Solange der Wiederaufbau des Museums nicht abgeschlossen ist, ist noch Zeit für dessen Rettung. © Kristian Ludwig 1998 und 2006 für Eingaben an den Architekten: David Chipperfield Architects Gesellschaft von Architekten mbH Joachimstraße 11 10119 Berlin oder im Internet: www.davidchipperfield.com 8