Erwachsenwerden als Rebellion * Behandlung als Halt

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Erwachsenwerden als Rebellion –
Behandlung als Halt
Regionales Symposium 2017
1.-2. Juni 2017
Erwachsenwerden ist schon schwer – Erwachsenbleiben noch
viel mehr
Marcel Beckers
Psychiatrische Tagesklinik Barmen,
Ev. Stiftung Tannenhof
Erwachsenwerden im 21. Jahrhundert
• Pluralität der Lebenswelten
• Hohes Maß an Wahlfreiheit, aber auch hohe Anforderung
an Flexibilität
• Zunehmende Komplexität von Arbeitsaufgaben
• Partielle Auflösung traditioneller Strukturen & Bindungen in
Familie & Gesellschaft
• Gefahr, sich im Explorationsprozess von Lebenswegen zu verlieren
Zentrale Entwicklungsaufgaben der
Adoleszenzphase
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Autonomie von den Eltern
Auszug aus dem Elternhaus
Übergang in die Berufstätigkeit
Etablierung stabiler Partnerschaften
(evtl.) Übergang in die Elternschaft
Emerging Adulthood
(Arnett, 2004)
• Ausdehnung der Spätadoleszenz als eigenständige
Entwicklungsphase
• Phase zwischen 18 & 25, bis hin zu 30 Jahren
• Soziographische Normen haben sich nach hinten verschoben:
für Wohnsituation, für Ausbildungsstand/Berufstätigkeit,
für Familienstand
• Genereller Trend zum späteren Auszug & zu längerer emotionaler
& finanzieller Abhängigkeit
• Die Identitätssuche bzw. Identitätskrise hat sich nach hinten
verlagert
• Nur 25% der jungen Leute zwischen 18 & Ende 20 betrachten sich
als erwachsen
• Die Eltern sehen das genau so
Psychosoziales Entwicklungsmodell
nach Erikson
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Phase 5: Entwicklung eines Identitätsgefühls (versus Rollendiffusion)
Alter: bis 18 Jahre
Selbstdefinition im Verhältnis zu anderen
Wer bin ich? Wer werde ich, wer will ich sein?
Autonomie vom Elternhaus
Ungelöste Aufgaben behindern den Entwicklungsfortschritt in
späteren Stadien
Entwicklungskluft
• Früherer Beginn der körperlichen Reifung
• Retardierung erwachsenspezifischer Aufgaben wie
Etablierung eines eigenen Haushalts, Einstieg in den Beruf,
Entwicklung fester Partnerschaften
Weiterentwicklungen
von Eriksons Phasenmodell
• 2 Dimensionen der Identitätsentwicklung:
Exploration & Commitment
Exploration
Commitment
(„fun & flexibility“)
= Verpflichtung für einen
bestimmten Identitätsentwurf
= Erkundung, Ausprobieren
Neuere Forschung zur Phase
der Identitätsentwicklung
Achieved
Identity
( E – C)
Moratorium
(E – c)
Foreclosure
(e – C)
Diffuse
Identität
(e – c)
Forschungsergebnisse
• Prozesshafte Suchbewegungen sind Teil einer gesunden
Identitätsentwicklung
• Entpathologisierung der verlängerten Adoleszenz
• bei Längsschnitt Studien:
Progression zweimal so wahrscheinlich wie Regression
• Problematisch: „ruminative Exploration“
• Patienten mit diffuser Identität brauchen für Commitment viel
Unterstützung
Zusammenhang Identität und Bindung
(Studie Seiffge-Krenke, 2006)
• Junge Leute, die zeitgerecht ausziehen, sind überwiegend
sicher gebunden
• Exploration von sicherer Basis aus
• Zulassen von Konflikten, Aushandeln von mehr Autonomie
• Bei der Gruppe von „Nesthockern“ ist das Familienklima
konfliktarm
• Dies betrifft auch die Gruppe der Spätauszieher & Rückkehrer, die
von eigenen Müttern als psychisch labil eingeschätzt werden
• Unangemessen hohe & lange Unterstützung durch Eltern in
Jugendzeit unterdrückt die selbständige Exploration
Entwicklungsprozess in der Spätadoleszenz
Trennung
Umgestaltung
(Abschied & Trauer)
(Fähigkeit, Bestehendes zu
attackieren,
Schuld- & Schamgefühle
aushalten)
Neuschöpfung
(Vergangenes &
Gegenwärtiges zum
neuen Lebensentwurf
verbinden)
Wie wird Individuation ermöglicht ?
• In traditionellen Gesellschaften durch feste Rituale &
Initiationsriten
• In (Spät-)modernen Gesellschaften Vervielfältigung der Optionen,
Flexibilität & Beschleunigung
• Aber: Verschleierung der Generationsgrenzen durch juvenile
Erwachsene
• Hemmend: Trennungs- & Verlustängste der Eltern
Risikofaktoren für
Entwicklungsverzögerungen
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•
Psychische Störungen eines Elternteils
Schwere körperliche Erkrankung eines Elternteils
Chronische elterliche Disharmonie
Berufsbedingte Abwesenheit der Mutter bei Scheidung
Niedrige Schulbildung der Mutter
Zunahme psychischer Störungen bei
Jugendlichen (15-24 Jahre)
• Anstieg depressiver Erkrankungen
• Anstieg Substanzmissbrauch
• Anstieg Kriminalität
Geschlechtsunterschiede und
transgenerationale Prozesse
• Weibl. Jugendliche leiden häufiger unter internalisierenden
Störungen wie Depression, Angststörungen & Essstörungen
• Männl. Jugendliche leiden häufiger unter externalisierenden
Störungen wie Hyperaktivität, aggressives & sozial unangepasstes
Verhalten
• Stabilität von Störungen zeigte sich in prospektiven Studien
(60-75% Symptompersistenz)
• Weibl. Jugendliche, deren Mütter an Depressionen leiden, haben
ein hohes Risiko, selbst depressiv zu werden
• 20% derjenigen, die missbraucht oder vernachlässigt wurden,
werden später selbst zu Tätern
• Störungen wie Enuresis & Dunkelangst verschwinden im
Entwicklungsverlauf
Psychiatrische Diagnosen ?
• Die Zuverlässigkeit psychologischer & psychiatrischer
Diagnosen ist schwankend
• Oft gibt es ein gleichzeitiges Auftreten von
progressiven & regressiven Entwicklungen
• Zurückhaltung bei der Diagnosenstellung ist geboten
Wer braucht eigentlich Therapie ?
• Enge Interaktion zwischen familiären Störungen & Symptomen
• Diskrepanzen in der Einschätzung der Art & der Schwere der
Störung
• zwischen jugendlichen Patienten, Eltern & Therapeuten
• Mütter neigen dazu, die Schwere der Störung zu überschätzen,
Väter geben sich sorgloser & zuversichtlicher
• Weniger Diskrepanz bei verhaltensauffälligen Störungen:
Essstörung, Enuresis, Stehlen, sozialer Rückzug
• Große Diskrepanz bei Einschätzung internalisierender
Verhaltensweisen. Jugendliche stellen sich als ängstlicher &
depressiver im Vergleich zu ihren Eltern dar
Behandlungsmotivation von Adoleszenten
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•
Frage des Leidensdruck (kritische Lebensereignisse)
Einstellung gegenüber psychisch Kranken
Angst vor Stigmatisierung
Jugendliche möchten oft keine erneute Abhängigkeit zu
Erwachsenen
• Bei weiblichen Jugendlichen steigt mit dem Alter die Bereitschaft
zur Psychotherapie an, bei männlichen Jugendlichen nicht
Besonderheiten in der Behandlung von
jungen Erwachsenen I
• Tiefes Misstrauen gegenüber Erwachsenen, insbesondere solchen,
die sich um ihre Probleme kümmern sollen
• Fehlende Krankheitseinsicht & Behandlungsmotivation
• Oft kein Leidensdruck; Weigerung, Probleme & Konflikte
mitzuteilen
• Adoleszente teilen sich oft mehr durch Handlungen als durch Worte
mit
• Agieren muss als progressives Phänomen akzeptiert werden, ohne
zu erwarten, dass es zur Selbsterkenntnis führt
• Wichtig ist es, nicht nur die aktuelle Symptomatik zu erfassen &
sich auf krisenhafte Zustände auszurichten, sondern man muss
auch den besonderen Entwicklungsaufgaben & Bedürfnissen
Rechnung tragen
Besonderheiten in der Behandlung von
jungen Erwachsenen II
• Hilfreich ist es, eine strukturelle Diagnostik durchzuführen
• Besonders das Erleben & Gestalten von Beziehungen ist in
den Focus zu rücken
• Wichtig: Förderung von Affektwahrnehmung & Affektdifferenzierung
• Wiederholung der Beziehungserfahrungen mit den Eltern in
der therapeutischen Übertragung
• Zurückweisung der negativen Übertragung, indem der
Behandler/Betreuer sich als „anderes Objekt“ zur Verfügung
stellt, z.B. durch gemeinsame Aktivitäten
Besonderheiten in der Behandlung von
jungen Erwachsenen III
• Starkes Pendeln zwischen regressiven Versorgungswünschen &
Autonomiebestrebungen
• Regressive Wünsche müssen erkannt und benannt & werden, mit
Hinweis auf Therapie als Arbeitsbeziehung, als Erprobung im Leben
• Autonomiewünschen & -erfordernissen muss Rechnung getragen
werden, indem begrenzte Therapieerfolge akzeptiert werden
• Lotsenfunktion des Behandlers: sich anbieten mit Vorstellungen &
Konzepten, dem jungen Erwachsenen die Entscheidung über seinen
Weg lassen
Erfassen des Strukturniveaus
• Definition:
Struktur ist eine Ordnung des Psychischen &
im Sinne des Selbst dient Struktur als
Organisator des Erlebens & Verhaltens
(Resch, 2004)
Strukturelemente des Selbst
im Kinder- & Jugendalter
(Arbeitskreis Operationalisierte psychodynamische Diagnostik = OPD)
Selbst- & Affektsteuerung
• Umgang mit negativen Affekten
• Fähigkeit zur Stressbewältigung & Selbsttröstung
• Fähigkeit zur Selbstwertregulation
• Konfliktbewältigung
• Impulssteuerung
Strukturelemente des Selbst
im Kinder- & Jugendalter
(Arbeitskreis Operationalisierte psychodynamische Diagnostik = OPD)
Selbst- & Objektwahrnehmung
• Fähigkeit, sich in eigenen Eigenschaften &
Fähigkeiten zu
erkennen & zu beschreiben
• Fähigkeit, sich von anderen Personen
abgegrenzt zu erleben
• Fähigkeit, sich in andere einzufühlen & deren
Perspektive zu übernehmen
• Fähigkeit, selbstreflexiv eine
Identitätsgewissheit herzustellen
Strukturelemente des Selbst
im Kinder- & Jugendalter
(Arbeitskreis Operationalisierte psychodynamische Diagnostik = OPD)
Kommunikation
• Fähigkeit zur angemessenen Kontaktaufnahme
• Fähigkeit zur Nähe-Distanz-Regulierung
• Fähigkeit zur Entschlüsselung fremder Affekte
• Fähigkeit, sich anderen emotional mitzuteilen
Komplexe Traumafolgestörungen & ihre
Behandlung in der Adoleszenz
• Kindheitsbelastungen sind für gravierende Verhaltensprobleme
bei Kindern & Jugendlichen verantwortlich & führen (auch im
Erwachsenenalter) zu psychiatrischen Störungen
• Exemplarisch: die Studie Felitti (1998)
• Adverse Childhood Experience (ACE), z.B. physische & sexuelle
Gewalt, Verlust eines Elternteils, Alkoholismus/Drogengebrauch
im Elternhaus
• 4 oder mehr belastende ACE’s sind langfristig mit erheblichen
Gesundheitsproblemen verbunden
• z.B. Depressionen, Suizidversuche, Nikotin-, Alkohol- &
Drogenabusus
• Aber auch: kardiale Erkrankungen, Lungenerkrankung, Diabetes
Auswirkungen
• Traumatische Belastungen beeinflussen wichtige Beziehungen &
Bindungen
• Insbesondere dann, wenn einmalige akute Traumatisierungen nicht
erkannt werden
• Gestörte Entwicklung der Affekte, der Stressregulation, der
Gedächtnisentwicklung & der Selbst- & Fremdwahrnehmung
• Bei eingeschränkter Affekt- & Impulsregulation Gefahr von
Risikoverhalten, von süchtigem & delinquentem Verhalten
• In der Behandlung besteht die Gefahr der Reaktivierung von
Bindungstraumatisierungen
Therapeutische Ansätze bei PTBS von
Adoleszenten
• Therapie im Hier & Jetzt
• Behandler als aktive, begleitende Person
• Behandler macht ein neues, anderes Beziehungsangebot, zeigt sich
authentisch
• Arbeit an kognitiven Fähigkeiten (Wahrnehmung, Konzentration)
• Stabilisierung z.B. durch imaginative Übungen
• Skillsübungen (DBT)
• Aktivierung von Ressourcen
• Traumaexposition
Fallbeispiel Kevin X, 22 Jahre alt
Symptome: Freud- & Antriebslosigkeit, Selbstzweifel, Waschzwang,
Kontrollzwänge, Autoaggressionen, innere Stimme
Belastungsfaktoren: Mutter Angsterkrankung, vermutlich Suizid,
Vater Alkoholismus, Trennung der Eltern mit 10, Vernachlässigung
durch Vater, nach Tod der Mutter Umzug in fremdes Bundeland
zum Bruder
Strukturelles Niveau:
• Defizite in der Selbstwertregulation & der Konfliktbewältigung,
mangelhaftes Identitätsgefühl,
• Defizite in der Fähigkeit zur Nähe-Distanz-Regulierung, in der
Fähigkeit, sich anderen emotional mitzuteilen & fremde Affekte zu
entschlüsseln.
• SKID II: Selbstunsicherheit, Zwanghaftigkeit, aber auch
Größenfantasien
Fallbeispiel Kevin X, 22 Jahre alt
Therapie:
• Anleitung zur Öffnung in Gruppentherapie
• Affektwahrnehmung & -differenzierung
• Befremden von Schuld- & Schamgefühlen, von
Selbstentwertungsmustern
• Angstbewältigungstraining, Focus soziale Kompetenz
• Soziotherapie: Anbindung Wi4U, Jumps
Vielen Dank!
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