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BRECHT
LEXIKON
Herausgegeben von
Ana Kugli und
Michael Opitz
Bertolt Brecht, geb. 10. Februar 1898 in Augsburg;
gest. 14. August 1956 in Berlin
BRECHT LEXIKON
Herausgegeben
von Ana Kugli
und Michael Opitz
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Inhalt
Vorwort VII
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren IX
Siglenliste IX
Artikel von A bis Z 1
Chronik von Leben und Werk 274
Zitierte Literatur 278
Auswahlbibliographie 287
Bildquellen 289
Bibliografische Information Der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist
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unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-476-02091-8
ISBN 978-3-476-00123-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00123-8
© 2006 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünlich erschienen bei J. B. Metzler’sche
Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
in Stuttgart 2006
www.metzlerverlag.de
[email protected]
Vorwort
Bertolt Brecht hat 1928 durch Die Dreigroschenoper Weltruhm erlangt und mit der Inszenierung
seines Stückes Mutter Courage und ihre Kinder
1949 im zerstörten Berlin Theatergeschichte geschrieben. Aber ihm blieb nach seiner Rückkehr
aus dem Exil 1948 nicht mehr viel Zeit, seine Vorstellungen eines dialektischen Theaters durch
Inszenierungen auf der Bühne des Berliner Ensembles zu veranschaulichen, und zunehmend
skeptischer verfolgte er bis zu seinem Tod 1956
auch die gesellschaftliche Entwicklung in der
DDR, wovon die Buckower Elegien zeugen.
Die Konturen seines Lebens und Werks zeichnen in diesem Lexikon, das 350 Stichwörter enthält, nahezu 40 meist jüngere Literaturwissenschaftler/innen nach. Das Gesamtwerk des Autors
vermag es nicht zu dokumentieren, aber es stellt
die Theaterstücke, Gedichte und Gedichtsammlungen, die Romane, Erzählungen und Journale
ebenso vor wie die Drehbücher und die theoretischen Schriften. Studierenden und Lernenden wie
auch Lehrenden vermittelt das Lexikon, das auch
Interpretationen anbietet, wichtige und weiterführende Anregungen. Gleichzeitig wäre es der
Wunsch der Herausgeberin und des Herausgebers, dass man durch die Lektüre einzelner Einträge angeregt wird, weiterzublättern und Entdeckungen zu machen. Denn nicht nur das Werk
des Schriftstellers wird in diesem Buch dargestellt,
sondern auch Brechts Lebensstationen, sein Familien-, Freundes- und Fördererkreis, und seine Lebensgewohnheiten werden nachgezeichnet, seine
Zusammenarbeit vor allem mit Musikern (Paul
Dessau, Hanns Eisler, Kurt Weill u. a.), Schauspielern (Helene Weigel, Ernst Busch, Charles Laughton, Theo Lingen u. a.) und Regisseuren aufgezeigt.
Brecht war im Laufe seines Lebens fünf verschiedenen Regierungsformen ausgesetzt. Das
Wort hat er keiner von ihnen geredet. Zu sehr hat
der Lernende die Notwendigkeit des Zweifelns
propagiert und sich so vorschnellen politischen
Vereinnahmungsversuchen widersetzt. In diesem
Zusammenhang scheint es angebracht, mit Nachdruck an den Brief zu erinnern, den Brecht an den
Freund und Verleger Peter Suhrkamp kurz nach
dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 schrieb.
Er liest sich wie ein politisches Credo ersten Ran-
ges angesichts eines die Gemüter aufwühlenden
politischen Ereignisses, wie ein umfassender Erklärungsversuch seiner künstlerischen Arbeit inmitten des überwunden geglaubten Alten (dem
Faschismus) und des noch nicht sichtbaren
Neuen, dem Sozialismus: »Lieber Suhrkamp, machen wir uns nichts vor: Nicht nur im Westen,
auch hier im Osten Deutschlands sind ›die Kräfte‹
wieder am Werk. Ich habe an diesem tragischen
17. Juni beobachtet, wie der Bürgersteig auf die
Straße das ›Deutschlandlied‹ warf und die Arbeiter es mit der ›Internationale‹ niederstimmten.
Aber sie kamen, verwirrt und hilflos, nicht durch
damit.« (GBA 30, 184) »Der 17. Juni hat die ganze
Existenz verfremdet«, hielt Brecht im Journal fest
(GBA 27, 346).
Sein Werk ist nach seinem Tod millionenfach
verbreitet und gelesen worden. Mit seinen Liedern
und Gesängen war er populär wie kein zweiter
deutscher Autor des 20. Jahrhunderts. Dass sein
Werk zum selbstverständlichen Bildungskanon
gehört, steht außer Frage. Ob er deshalb schon ein
Klassiker sein muss, gleichrangig neben Lessing,
Goethe, Schiller, Büchner, bleibt – mit ungewissem Ausgang – zu erörtern.
Zumindest in einem Punkt kommt ihm unabweisbare Aktualität zu. Der Friedensappell des
englischen Dramatikerkollegen Harold Pinter anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Oktober 2005 unter dem Titel Kunst,
Wahrheit und Politik, ist, darin vergleichbar mit
dem gegenwärtigen Aktionsradius des Brechtschen Werks, von der breiten Öffentlichkeit unbeachtet geblieben, mit peinlich berührtem Schweigen übergangen oder in ihrer Tragweite einfach
nicht begriffen. Die Bilder gleichen sich – ein halbes Jahrhundert später – auf erschreckende Weise:
1952 äußerte der Warner Brecht angesichts der
amerikanischen Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki in einer Grußadresse an den Wiener Kongress der Völker für den Frieden: »Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre
Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast
noch geringer. Die Beschreibungen, die der New
Yorker von den Greueln der Atombombe erhielt,
schreckten ihn anscheinend nur wenig. Der Hamburger ist umringt von Ruinen, und doch zögert
VIII
er, die Hand gegen einen neuen Krieg zu erheben.
Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre
scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht
uns nicht naß, sagen viele.« (GBA 23, 215) Gewiss
wäre dies ein Grund, sich Brecht erneut zu vergegenwärtigen, es gibt unzählige andere (Ästhetik
des Widerspruchs, Bilddialektik (vgl. u. a. Liturgie
vom Hauch), Offenheit des Werks), sich mit diesem Lexikon zu beschäftigen.
Das Lexikon war eine Idee von Bernd Lutz. Es
wäre nicht zustande gekommen, wenn Sabine
Matthes nicht immer wieder freundlich, aber
dennoch mit Nachdruck über die Einhaltung von
Terminen gewacht hätte. Ihnen beiden und dem
Metzler Verlag sind wir für die stets kollegiale und
verständnisvolle Zusammenarbeit zu Dank verpflichtet. Ganz besonders soll den Mitarbeitern
des Bertolt-Brecht-Archivs und seinem Leiter
Erdmut Wizisla gedankt werden, der in der konzeptionellen Phase wichtige Hinweise für die Erarbeitung des Lexikons gab. Schließlich soll ausdrücklich die aufopferungsvolle Arbeit von Helgrid Streidt, Bibliothekarin des Brecht-Archivs,
gelobt werden. Die Hinweise, die sie dem Herausgeber und Mitarbeiter/innen gab, gingen vielfach
über das Selbstverständliche hinaus und waren
äußerst hilfreich.
Vorwort
Die Herausgeberin
Ana Kugli, geb. 1975, Studium der Literaturwissenschaft, Neueren und Neuesten Geschichte und
Soziologie an der Universität Karlsruhe. Von 1998
bis 2003 freie Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle
Bertolt Brecht, Karlsruhe. 2004 Promotion über
das Verhältnis der Geschlechter im Werk Bertolt
Brechts. Veröffentlichungen zum Werk Brechts
und Heinar Kipphardts. Seit 2004 wissenschaftliche Autorin und freie Journalistin.
Der Herausgeber
Michael Opitz, geb. 1953, Promotion über Walter
Benjamin 1983, danach wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut der HumboldtUniversität zu Berlin. Zahlreiche Buch- und Aufsatzpublikationen zu Walter Benjamin, Thomas
Bernhard, Franz Hessel und zur neueren deutschen Literatur. Lebt heute als freier Publizist in
Berlin.
Im Januar 2006
Ana Kugli / Michael Opitz
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
KA
MA
KAA
GB
SB
CB
MB
PD
WD
MD
AE
DE
AF
LH
JH
SI
RJ
EK
SK
RK
Katrin Arnold
Michael Arnold
Karolina Artemova
Gesine Bey
Stephen Brockmann
Christine Bühler
Maria Büttner
Peter Deeg
Walter Delabar
Michael Duchardt
Anna Elsner
Dominik Erdmann
Anya Feddersen
Lotta Heinz
Jürgen Hillesheim
Sabine Immken
Roland Jost
Eva Kaufmann
Sebastian Kirsch
Romina Kirstein
AK
K-DK
DK
SL
JL
BL
MM
HPN
EN
MO
CO-W
SP
SPN
JP
PS
US
PSH
AT
RW
Ana Kugli
Klaus-Dieter Krabiel
Denise Kratzmeier
Sonja Lawin
Joachim Lucchesi
Bernd Lutz
Mirjam Meuser
Hans Peter Neureuter
Esbjörn Nyström
Michael Opitz
Carola Opitz-Wiemers
Steve Peukert
Sophie Plagemann
Jens Pohlmann
Peter Scherff
Ute Schmidt
Pedram Shahyar
Aglaja Thiesen
Ralf Witzler
Siglenliste
BBA
BHB
DLA
Bertolt-Brecht-Archiv. Akademie der
Künste zu Berlin (angegeben wird die
Archiv-Signatur).
Brecht Handbuch in fünf Bänden. Hg. v.
Jan Knopf.
Bd. 1: Stücke. Stuttgart Weimar 2001.
Bd. 2: Gedichte. Stuttgart Weimar
2001.
Bd. 3: Prosa, Filme, Drehbücher.
Stuttgart Weimar 2002.
Bd. 4: Schriften, Journale, Briefe.
Stuttgart Weimar 2003.
Deutsches Literatur Archiv
GBA
Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe.
Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner
Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin
Weimar Frankfurt/M. 1988–2000.
Stücke Brecht, Bertolt: Stücke I-XIV. Frankfurt/
M. 1961–1967.
WA
Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20
Bänden (Werkausgabe Edition Suhrkamp). Frankfurt/M. 1967.
ZGALI Zentrales Staatsarchiv für Literatur und
Kunst in Moskau: Bestand 631/14.
Alabama Song
Adorno, Theodor Wiesengrund (1903–
1969), deutscher Philosoph, Soziologe, Kunsttheoretiker und Komponist. Gilt als bedeutendster Vertreter der so genannten Frankfurter
Schule, die B. als Musterbeispiel einer Gruppierung lächerlicher »Tuis« (ä Der Tuiroman) betrachtete (vgl. GBA 27, 177). Begeisterter Rezensent von ä Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
und ä Die Dreigroschenoper. Ab 1942 persönliche
Begegnungen mit B. im kalifornischen Exil, wo er
im Juni 1943 für die ›Deutschen Stunden‹ eines
amerikanischen Radiosenders B.s Gedichte Das
Lied von der Stange und – wie vor ihm schon Paul
ä Dessau und Hanns ä Eisler – Deutschland vertonte (Zwei Propagandagedichte von Brecht).
Plante ein Vorwort zu Eislers größtenteils aus B.Vertonungen bestehendem Hollywooder Liederbuch, das er jedoch aus Furcht vor beruflichen
Nachteilen nicht schrieb, nachdem Eisler 1947 vor
die antikommunistischen McCarthy-Ausschüsse
zitiert worden war.
1963 formulierte Adorno unter dem Titel Engagement in Auseinandersetzung mit Jean-Paul
Sartres 1947 erschienenem Essay Qu’est-ce que la
littérature? (Was ist Literatur?) eine scharfe Kritik
an B.s Werk. Kunst könne dem »Weltlauf« Widerstand leisten, aber ausschließlich durch radikale
Autonomie. ›Engagierte‹ Kunst sei grundsätzlich
affirmativ, da sie sich mit der gesellschaftlichen
Realität schon allein dadurch gemein mache, dass
sie sich (wenngleich in der Absicht, zur Veränderung aufzurufen) überhaupt auf sie bezieht. Eines
verkappten Idealismus, wie er in dieser Argumentation zu erkennen ist, hat man Adorno – der
seine Analysen ausdrücklich in die Tradition des
dialektischen Materialismus (ä Dialektik) stellte –
häufig bezichtigt.
Berühmt wurde Adornos 1949 formuliertes,
1952 in Kulturkritik und Gesellschaft erstmals
publiziertes und 1966 von ihm selbst relativiertes
Diktum, es sei »barbarisch«, »nach Auschwitz ein
Gedicht zu schreiben«. Bereits ein Jahr früher
hatte B. ausgeführt: »Die Vorgänge in Auschwitz,
im Warschauer Ghetto, in Buchenwald vertrügen
zweifellos keine Beschreibung in literarischer
Form. Die Literatur war nicht vorbereitet auf und
hat keine Mittel entwickelt für solche Vorgänge.«
(GBA 23, 101)
AF
Alabama Song (GBA 11, 104). B. hat den 1925
entstandenen, englischsprachigen und mehrfach
1
vertonten Songtext in verschiedenen Zusammenhängen publiziert. 1926 in B.s Taschenpostille mit
einer eigenen Melodie als vierter von fünf Mahagonnygesängen erstmals veröffentlicht, wurde er
ein Jahr später in ä Bertolt Brechts Hauspostille
übernommen. Die Lektüre der Mahagonnygesänge
in der Hauspostille war für Kurt ä Weill im Frühjahr 1927 wiederum Anlass, eine Zusammenarbeit
mit B. zu beginnen. Als erstes gemeinsames Werk
entstand noch 1927 für das Festival Deutsche
Kammermusik Baden-Baden das Songspiel Mahagonny, in dem die fünf Mahagonny-Gesänge den
Handlungsverlauf bilden, wozu der Alabama Song
gehört. Auch für die gemeinsame Oper ä Aufstieg
und Fall der Stadt Mahagonny (1930) verwendeten
B. und Weill diesen Song. Schließlich benutzte B.
eine deutsche Fassung des Refrains in seinem
Stück ä Mann ist Mann.
Alle in englischer Sprache gefassten Songs der
Hauspostille stammen wahrscheinlich von B.s
Mitarbeiterin Elisabeth ä Hauptmann, die er im
November 1924 kennen lernte. Zum einen war sie
wegen ihrer umfassenden Englischkenntnisse für
diese Aufgabe prädestiniert, zum anderen hat sie
nach B.s Tod zugegeben, an diesem Song sowie
anderen englischsprachigen Gedichten »nicht
ganz unschuldig gewesen« zu sein (BHB 2, 147).
Die vermutete Autorschaft Hauptmanns wird dadurch bestärkt, dass die einzig vorhandene Textfassung nicht von B.s Hand stammt (vgl. BBA
451/84–85).
Franz S. Bruinier, der erste professionelle Komponist, mit dem B. seit November 1925 zusammenarbeitete, hat nach B. vermutlich als erster
den Alabama Song vertont. Im BBA befindet sich
ein von Bruinier stammender Klaviersatz ohne
Text und Gesangsstimme mit dem Titel The Moon
of Alabama / English Song, der vom 21. 11. 1925
datiert (vgl. Lucchesi/Shull 1988, 33 f.). Allerdings
hat B. bei den nachfolgenden Veröffentlichungen
des Songs in der Taschenpostille und der Hauspostille Bruiniers Namen nicht erwähnt.
1927 erzielte Lotte ä Lenya mit ihrer Gesangsinterpretation des Alabama Songs während der
Uraufführung des Songspiels Mahagonny einen
besonderen Erfolg. Rasch erlangte der Song durch
Rundfunk und Schallplatte große Verbreitung.
Weill regte in einem Brief vom 4. 8. 1927 seinen
Verlag, die Universal Edition Wien, an, dass der
Alabama Song für Gesang, Klavier und Geige bearbeitet werden solle, um ihn auch als Tanz- und
2
Salonmusik vermarkten zu können (Grosch 2002,
68). Er kam somit als erste populäre Einzelausgabe eines Songs von Weill bei der Universal Edition Wien heraus (vgl. Farneth 2000, 76). Der
Alabama Song wurde im Bereich der Popmusik
weithin bekannt durch »The Doors« und ihren
Sänger Jim Morrison. 1969 erschien der Song in
einer freien Bearbeitung des Originals auf der LP
The Doors zusammen mit der Moritat von Mackie
Messer aus ä Die Dreigroschenoper.
JL
Albers, Hans (1891–1960), Bühnen- und Filmschauspieler. Erste Ideen, Albers für die Hauptrolle in ä Die Dreigroschenoper zu gewinnen, gehen auf Planungen von Ernst Josef Aufricht und
Heinrich Neft am Berliner Admiralstheater im
Jahr 1932 zurück. B. begegnete Albers bei einem
Gastspiel am 2. 4. 1948 im Züricher Schauspielhaus erstmals persönlich. Seine Ausstrahlung und
mächtige Statur beeindruckten B.: »ein großer
eleganter Kerl mit vulgärem Charme, nicht ohne
Gewalttätigkeit«, notierte er im Journal. B. erwog,
mit Albers »ein Volksstück zu machen, Ulenspiegel etwa« (GBA 27, 266). Die Popularität, die Albers durch seine Filme und Filmsongs in den
1930er Jahren und frühen 1940er Jahren erreicht
hatte, wollte B. ausnutzen (vgl. ebd.). Ende Juli
1948 trafen B. und Albers eine Vereinbarung über
ein Engagement in der Dreigroschenoper. An den
Münchener Kammerspielen wurde die Dreigroschenoper am 27. 4. 1949 aufgeführt, Albers gab
den Macheath. Bei der Verfilmung der Dreigroschenoper von 1963 wählte Regisseur Wolfgang
Staudte in der Besetzung des Macheath mit Curd
Jürgens einen ähnlichen Typus als Darsteller und
orientierte sich damit an B.s Maßgaben.
RW
Alles wandelt sich (GBA 15, 117). Um 1944
entstandenes zehnzeiliges Gedicht, das zu den bekannteren B.s gehört und das Thema ä Wandel
behandelt. Die Raffinesse des Gedichts besteht
darin, dass B. in beiden Strophen gleiche Formulierungen verwendet, sie aber unterschiedlich anordnet und so eine inhaltliche Akzentverschiebung erreicht.
Zwei Phänomene werden in den Versen thematisiert: Zum einen die Unmöglichkeit, Vergangenes zu beeinflussen, wie in den Kompositionselementen »was geschehen, ist geschehen« und in
»das Wasser / Das du in den Wein gossest, kannst
du / Nicht mehr herausschütten« deutlich wird.
Albers, Hans
Zum anderen die fortwährend gegebene Chance,
Vergangenes abzuschließen und Gegenwart bzw.
Zukunft unmittelbar zu verändern, was die Sätze
»Alles wandelt sich« und »Neu beginnen / Kannst
du mit dem letzten Atemzug« betonen.
Während die erste Strophe von der Möglichkeit
des Wandels zuerst spricht und dann mit »Aber
was geschehen, ist geschehen« darauf verweist,
dass auf die Vergangenheit im Gegensatz dazu
kein Einfluss genommen werden kann, ist der
Aufbau der zweiten Strophe genau entgegengesetzt. Hier wird zunächst gesagt, dass die Vergangenheit nicht geändert werden kann, betont wird
dann aber die Möglichkeit des Wandels: »Aber/
Alles wandelt sich«, die erst mit dem Tod endet,
selbst im »letzten Atemzug« noch angegangen
werden kann. Die Akzentverschiebung zwischen
den beiden Strophen ergibt sich durch die verschiedene Anordnung der Sätze sowie durch die
Position des »Aber«, das in der ersten Strophe den
Aspekt der Vergangenheit, in der zweiten den des
Wandels betont.
In dem kurzen Gedichten finden sich Hinweise
auf zwei Quellen. Zum einen auf den römischen
Dichter Ovid, der im 15. Buch seiner Metamorphosen formulierte: »Ominia mutantur, nihil interit« (»Alles wandelt sich, nichts vergeht«; Ovidius Naso 1990, 564, V. 165). Das Bild des Wassers, das man in den Wein gießt und nicht mehr
herausschütten kann, ist eine Anspielung auf Lenins Gleichnis über Kompromisse in Der »Radikalismus«, die Kinderkrankheit des Kommunismus
(vgl. GBA 15, 383).
AK
Als ich in weissem Krankenzimmer der
Charité (GBA 15, 300): B. hat dieses Gedicht
wahrscheinlich im Mai 1956 im Anschluss an einen vierwöchigen stationären Krankenhausaufenthalt in der Berliner Charité geschrieben. Er
war dort vom 12. 4. bis zum 12. 5. wegen einer
Virusgrippe behandelt worden. Seinen Gesundheitszustand empfand er als nicht so »besorgniserregend«, arbeitete weiter, schrieb Briefe und
empfing Besucher. Vier Monate später, am 14. 8.,
ist er, Folge eines Herzversagens, »schmerzlos in
den Tod gegangen« (ärztlicher Abschlussbericht
vom 15. 8.; ä Tod B.s).
Das Gedicht besteht aus 9 reimlosen Zeilen,
nur ein Bleistiftmanuskript ist erhalten. Es gilt als
eines der persönlichsten Gedichte B. s. In seinem
Zentrum steht das Wort »Todesfurcht«, ein denk-
Aman, Marie Rose
würdiger Kontrast zu B.s Verlautbarungen über
sein Befinden gegenüber den Freunden.
B. hat sich mehrfach über »Todesfurcht« geäußert, meist im Zusammenhang mit den antiken,
lateinischen Denkern Lukrez und Epikur. So im
ä Buch der Wendungen in einem Notat Über die
Todesfurcht (GBA 18, 80): »Daß sie [die Menschen] den Tod so sehr fürchten, kommt von ihrem unablässigen Bemühen, festzuhalten, was sie
haben, weil es ihnen sonst weggerissen wird. [ ]
Wenn einem das Leben entrissen wird, bleibt man
aber nicht zurück. Es wäre wohl schlimm, ohne
Leben zu sein; aber man ist nicht mehr, wenn
man nicht mehr lebt«. Verwandt sind auch ä Die
Trophäen des Lukullus von 1939, in denen B. Lukrez »seine berühmten Verse« über die Todesfurcht
rezitieren lässt: »Nichts ist also der Tod, nichts
geht er, zum mindesten, uns an!« (GBA 19, 431;
vgl. auch GBA 14, 431 f.). B. hat diese Verse aus
Lukrez’ De rerum natura, Drittes Buch, 870–883
(1. Jh. a. Chr. n.) frei übersetzt. Für ihn war dabei
von Interesse, dass Lukrez – ähnlich Epikur – in
einer von politischen Unruhen und kriegerischen
Auseinandersetzungen zerrissenen Zeit, in welcher der Anblick des Todes zum Alltag gehörte,
jeglicher Panik zu entkleiden und ihm seine natürliche, naturgemäße Würde zurückzugeben. In
diesen zeitgeschichtlichen Zusammenhang gehört
auch der spürbare barocke Unterton als Reflex der
Mord- und Todesgräuel des Dreißigjährigen
Kriegs, der in Wortwahl und Akzentuierung B.s
Übertragung charakterisiert.
B. lenkt in seinem Gedicht den Blick auf den
Innenraum seines Krankenzimmers, die Todesfurcht ist bereits gewichen wie ein Alptraum, der
sich beim Erwachen verflüchtigt und von dem
nur noch eine vage Erinnerung bleibt. Er vernimmt von draußen den Morgengesang einer
Amsel und weiß, dass es ihm besser geht. In den
folgenden Versen vollzieht B. nun genau die
Wende, die auch in Lukrez’ Gedicht zu beobachten ist. Er entzieht dem Tod sein leibhaftiges Zentrum, der Tod ist nicht »sein« solipsistischer Tod
wie ein Eigentum oder ein Besitz (»da ja nichts /
Mir je fehlen kann«) und bewegt sich damit
durchaus im Umkreis jenes populären Diktums,
das regelmäßig beim Anblick eines Toten geäußert
wird: »Dem fehlt nichts mehr«. Insofern kommt
mit dem Tod auch nicht die Welt abhanden, auch
sie »fehlt« nicht plötzlich. Diesen Nachweis führt
B. mit der Unerbittlichkeit eines logischen Syllo-
3
gismus. Das Gegenteil ist der Fall. Der Tod
schließt alles Fehlen aus, alles ist gleichermaßen
»da« – »nach mir auch«. So der erkenntniskritische, an Lukrez orientierte Gedankengang B.s
über Todesfurcht, Fehlen und Dasein: »Jetzt / Gelang es mir, mich zu freuen / Alles Amselgesanges
nach mir auch.«
BL
Aman, Marie Rose (1901–1988), korrekte
Schreibweise Maria Rosa Amann, war die Tochter
eines Friseurs und Perückenmachers, der Am Kesselmarkt, in der Augsburger Innenstadt, sein Geschäft hatte und in unmittelbarer Nähe der Familie B. wohnte. B. lernte Aman 1916 kennen, freundete sich mit ihr an und holte sie öfters an der
Höheren Töchterschule der Englischen Fräulein
ab. Dem Präses der Schule gegenüber soll er, als er
sich für das häufige Abholen zu rechtfertigen
hatte, erklärt haben, er wolle Aman heiraten. Als
sie 1919 wegen der politischen Unruhen in Zusammenhang mit der Räterepublik vorübergehend die Stadt verlassen wollte, war B. ihr dabei
behilflich. Mindestens bis zum Spätsommer 1920
bestand eine Bekanntschaft, deren Intensität nicht
genau bestimmt werden kann. Selbst in den Tagebuchaufzeichnungen und Briefen an Caspar ä Neher formulierte B. das nie eindeutig. Außer Zweifel steht, dass B. vornehmlich sexuell an ihr interessiert war. Nicht zuletzt die Tatsache, dass er
auch Amans älterer Schwester Maria, die ihn allerdings abwies, zugetan war, spricht dafür. Aus
diesem Grund hatte B. bei den Eltern der Mädchen keinen guten Stand; er durfte das Geschäft
bald nicht mehr betreten, weshalb er sich mit Marie Rose im Hof traf. Zwar habe er sie gern,
schrieb er an Neher, aber Bemerkungen wie »sie
geht auf Verführung aus wie eine läufige Hündin.
Sie lag einem im Arm wie Scheladin (flüssig); sie
floß in die Falten. Ex. Schade, daß ich sie nicht
genommen habe, als ich noch nicht daran dachte.
Hättest Du? Auf einer Kinderbank in den Anlagen? ›Ich liebe dich so! Rockhoch! Bumsdich!‹
Brrr!« (GBA 28, 47) wären etwa in Bezug auf
Paula ä Banholzer, B.s erster großer Liebe, undenkbar. B. widmete Aman im Mai 1916, während der Frühzeit ihrer Bekanntschaft, das Gedicht Bonnie Mac Sorel freite. Bedeutung und eine
gewisse Bekanntheit erlangte sie jedoch ausschließlich durch das Gedicht ä Erinnerung an die
Marie A., das in der Forschung lange als Reminiszenz an die Beziehung zwischen B. und ihr ge-
4
lesen wurde; eine Sichtweise, der Aman selbst in
einem Fernsehinterview aus dem Jahr 1978 nicht
widersprach. Sie heiratete in bürgerlichen Kreisen
und blieb in Augsburg. Der aus ihrer Ehe hervorgegangene Sohn kam im Kriegsjahr 1944 ums Leben.
JH
American Guild for German Cultural Freedom. Exilorganisation, die die Aktivitäten von
deutschen Schreibenden, Schriftsteller/innen wie
Journalist/innen im Exil bündeln und ein kulturelles Gegengewicht zur NS-Diktatur bilden
sollte. Gegründet von Hubertus Prinz zu Löwenstein und dem Wiener Publizisten und Schriftsteller Richard A. Berman. Thomas ä Mann war Präsident der Organisation. Im April 1935 vom
Obersten Gericht des Staates New York genehmigt.
B. wurde die Organisation 1937 durch Lion
ä Feuchtwanger bekannt, der den 15. Internationalen PEN-Kongress in Paris besucht hatte, wo
über die American Guild berichtet worden war.
Ab Mai 1938 erhielt B. ein Stipendium der American Guild, das er dankend annahm, weil er im
ä Exil nur begrenzte Verdienstmöglichkeiten hatte
und auch an die ihm zustehenden Tantiemen früherer Stücke, etwa von ä Die Dreigroschenoper,
vom Ausland aus nicht zugreifen konnte (vgl.
GBA 29, 95). Das Stipendium wurde mehrfach
verlängert. Darüber hinaus versuchte B., an Wettbewerben teilzunehmen, die die American Guild
ausschrieb. So sandte er im September 1938 seinen unfertigen Roman ä Die Geschäfte des Herrn
Julius Caesar ein, der aufgrund formaler Unzulänglichkeiten aber nicht zum Wettbewerb zugelassen wurde (vgl. Hecht 1997, 553).
Die American Guild hatte ab Anfang 1937 erste
Stipendien vergeben, die Empfänger waren neben
B. u. a. Robert Musil, Joseph Roth, Ernst ä Bloch,
Egon Erwin Kisch, Anna ä Seghers oder Arnold
ä Zweig. Mann und Löwenstein zerstritten sich im
April 1940, zudem waren die finanziellen Möglichkeiten der Guild Ende 1940 erschöpft, so dass
die Organisation aufgelöst werden musste.
AK
An die Nachgeborenen (GBA 12, 85). Das Gedicht entstand zw. 1934 und 1938 im dänischem
Exil in Svendborg und wurde erstmals in Die neue
Weltbühne (Paris, 15. 6. 1939) gedruckt. Es gehört
zu den ä Svendborger Gedichten, B.s zweiter großer
American Guild for German Cultural Freedom
Sammlung von Exilgedichten, die im Juni 1939 in
Kopenhagen erschien.
Die verschiedenen Fassungen zeigen, dass es
sich ursprünglich aus drei selbstständigen Gedichten zusammensetzte, deren Entstehung verschiedenen Zeiten zugeordnet werden kann. Ein
handschriftlicher Entwurf von 1934 (Notizbuch)
belegt, dass der spätere 2. Teil »In die Städte kam
ich zu der Zeit der Unordnung« zuerst entstand.
Ein Typoskript von 1937 (ä Gedichte im Exil) wiederum belegt einen zweiteiligen Gedichtaufbau,
bestehend aus: »Ihr, die ihr auftauchen werdet«
und »Wirklich, ich lebe«.
Unter dem Titel Bitte an die Nachwelt um Nachsicht existiert außerdem eine frühe Fassung (um
1937), die dem 3. Teil »Ihr, die ihr auftauchen
werdet. . .« zugeordnet werden kann. Im für B.
ungewöhnlich persönlichen Sprachgestus heißt
es: »Ihr Nachgeborenen, wenn ihr lest, was ich
schrieb / Bedenkt auch, Freundliche, die Zeit, in
der ich schrieb«.
Während B. für den 1. Teil den Titel An die
Überlebenden vorgesehen hatte, waren der zweite
und dritte ohne Überschrift gedacht. Schließlich
erschien das Gedicht 1939 im ›Prager Satz‹ der
Gesammelten Werke (Malik-Verlag) mit dem Titel
An die Nachgeborenen in der fortan gängigen dreiteiligen Struktur und beschließt die Svendborger
Gedichte. Trotzdem der ›Prager Satz‹ im Januar
1939 vernichtet wurde – der Verleger Wieland
ä Herzfelde war bereits im Oktober 1938 ins Exil
geflüchtet –, konnte durch das engagierte Eingreifen Ruth ä Berlaus aus einem erhalten gebliebenen Umbruchexemplar eine Einzelausgabe in Kopenhagen erstellt werden.
Der dreiteilige Aufbau des Gedichts markiert
drei verschiedene Zeiten, in denen gesprochen
wird. Im Durchschreiten dieser Zeiten vom Präsens (1. Teil), über das Präteritum (2. Teil) zum
futurischen Präsens (3. Teil) spiegelt sich ein zentrales Thema B.s: das des Erinnerns und Gedenkens. Es ist ein reflektives prozessuales Verhalten,
dem sowohl das lyrische Ich als auch die Literatur
unterworfen ist.
Die oft zitierte Zeile: »Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten«, mit dem eines der bekanntesten
Gedichte B.s beginnt, ist symptomatisch für einen
Zeitbegriff, mit dem sich B. nicht nur im Kriegsjahr 1939 an andere Exilanten richtete, sondern
auch auf künftige Lesarten eingreifend wirken
und »Spuren« hinterlassen wollte. Autobiografi-
Antigonemodell 1948
sches Ich und lyrisches Ich greifen dabei ineinander und verweisen auf die Zeitlosigkeit einer
Klage über »finstere Zeiten«. Die separat gehaltene Eingangszeile erscheint wie ein Motto und
gibt den Ton im Gedicht an. Zugleich verweist sie
auf den 3. Teil und Abschluss des Gedichts: »Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht«. B.s Gedicht ist oft
als Elegie bezeichnet worden, die in der ä aristotelischen Poetik als eigenständige Gattung zwischen
Lyrik und Epik angesiedelt war. Doch während
das Gedicht ohne elegische Distichen auskommt,
ist es der unregelmäßige Rhythmus, mit dem B.
die Wirkung gezielt erreichen wollte. Im Nachtrag
zu seinem Aufsatz Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen von 1938/39 erklärte B. diese
Entscheidung innerhalb seiner Lyriktheorie: »Bei
unregelmäßigen Rhythmen bekamen die Gedanken eher die ihnen entsprechenden eigenen emotionellen Formen.« (GBA 22, 364)
Nicht nur das biblische Motiv der Sintflut hat
eine Vielzahl von Autoren angeregt, sich mit B.s
Gedicht auseinander zu setzen. Ein frühes Beispiel
ist Johannes R. ä Becher, der 1941 in seinem Gedicht Ist es noch erlaubt das Betrachten blühender
Bäume gerade da betont, wo der Schrecken den
Alltag diktiert. Auch Heiner ä Müller bezieht sich
nach B.s Tod 1956 im Gedicht Brecht darauf:
»Wirklich, er lebte in finsteren Zeiten. / Die Zeiten sind heller geworden. / Die Zeiten sind finstrer geworden.« (H. Müller 1998, 37) Ein Jahrzehnt später lieferte Hans Magnus Enzensberger
in weiterung aus dem Gedichtband blindenschrift
(1964) einen poetischen Kommentar, in dem angesichts nuklearer Bedrohung jegliches Hoffen auf
die »Nachgeborenen« getilgt ist.
CO-W
Ansprache des Bauern an seinen Ochsen
(GBA 12, 52). Dreizehnzeiliges Gedicht aus der
Abteilung IV der ä Svendborger Gedichte, für das
Margarete ä Steffin auf dem Manuskript als Entstehungsdatum den Juli 1938 notierte. Drei maschinengeschriebene Fassungen liegen vor, der
Untertitel des Gedichts ist erstmals in der dritten
Manuskriptfassung vermerkt. Da die GBA den
Erstdrucken der Texte folgt, findet sich in GBA 12
in Vers 11 die logisch nicht nachvollziehbare Formulierung »Schriftmacher«, was auf einen Druckfehler im Erstdruck zurückzuführen ist, in B.s
Originalen steht an dieser Stelle »Schrittmacher«
(vgl. BHB 2, 302).
Im Journal vom 16. 8. 1938 erwähnte B., er lese
5
altägyptische Bauernlieder, eine genauere Quellenangabe ist nicht auszumachen. Das Gedicht
gibt aber vor, inhaltlich einem »ägyptischen Bauernlied aus dem Jahre 1400 v. Chr.« zu folgen. Wie
der Titel festhält, handelt es sich um die Ansprache eines Bauern, der seinen Ochsen zur Arbeit
motivieren will. Auffallend ist dabei, welche außergewöhnliche Bezeichnungen für den Ochsen
angeführt werden: er wird als »O großer Ochse«
angesprochen und gilt dem Bauern als »göttlicher
Pflugzieher«, »Führender«, »teurer Ernährer«.
Unterwürfig bittet der Bauer den Ochsen, »gerade
zu pflügen« und das vorgelegte Futter zur Stärkung »zu verspeisen«. Gebückt habe er das Futter
geschnitten, bemerkt der Bauer, und mit viel
Mühe den Stall für den Ochsen errichtet, während er und seine Familie »im Nassen« liegen
müssen. Die devote Haltung des Bauern betont,
wie abhängig er von der Arbeit des Ochsen ist, der
mit dem Pflügen des Ackers zur Nahrungsgewinnung beiträgt. Das Husten des Ochsen führt allerdings zu einer unbeherrschten Äußerung des
Bauern, er befürchtet, der wohlgenährte und gut
umsorgte Ochse werde »Vor der Aussaat verrecken, du Hund?« Der drastische Abfall der Stilebene – vom ›göttlichen Pflugzieher‹ zum ›verreckenden Hund‹ – macht dabei deutlich, dass die
vorgebliche tiefe Ehrfurcht vor dem Ochsen eine
gespielte ist, die notwendig erscheint, um das Tier
zur Arbeit zu bewegen.
Gegenüber Walter ä Benjamin legte B. nahe, das
Gedicht als ein Gedicht über Stalin zu deuten, wobei Stalin die Rolle des Ochsen zukäme, der mit
seiner Kraft zu einer guten Ernte beiträgt, dafür
vom Bauern bzw. dem Volk gut genährt und umsorgt wird. Benjamin erinnerte sich in seiner Aufzeichnung, dass B. »gerade die positiven Momente in dem Gedicht [betonte]. Es sei in der Tat
eine Ehrung Stalins – der nach seiner Ansicht immense Verdienste habe. Aber er sei noch nicht
tot.« (Benjamin 1985, Bd. VI, 536) Das Gedicht
ist damit als Beispiel zu lesen, dass B. »Ehrung
und Schelte mit ein und denselben Worten formulieren konnte« (Knopf 1996, 177).
AK
Antigonemodell 1948 (GBA 25, 71), Ende
1947 entstandene (30. 11.–12. 12. 1947) und Anfang 1948 in Chur inszenierte Bearbeitung der Sophokleischen Tragödie Antigone (ä Die Antigone
des Sophokles). Die Proben begannen am 17. 1.
1948, die Uraufführung fand am 15. 2. 1948, die
6
Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde
deutsche Erstaufführung am 18. 11. 1951 auf der
Basis des die Inszenierung dokumentierenden
Modellbuchs (ä Modellbücher) am Stadttheater
Greiz statt. Das Antigonemodell geht auf ein Zusammentreffen B.s und Helene ä Weigels mit dem
Intendanten des Stadttheaters Chur, Hans Curjel,
in ä Zürich zurück, der B. Gelegenheit geben
wollte, sein Konzept des ä epischen Theaters anzuwenden. B. entschied sich für Sophokles, da das
Thema (»Absage an die Tyrannis und die Hinwendung zur Demokratie«, GBA 24, 349) »stofflich eine gewisse Aktualität« hatte und »formal interessante Aufgaben stellte« (GBA 25, 74). Das
Vorspiel, datiert April 1945, und der Prolog zur
Inszenierung 1951 verstärkten den Aktualitätsbezug. Das klassische Stück enthielt zudem Elemente des epischen Theaters (Chor, Masken, Botenbericht). Die Wahl der Fassung Hölderlins, die
B. auf Empfehlung Nehers vorgenommen hatte,
erwies sich so als glücklich: Hölderlins Sprache sei
von »erstaunlicher Radikalität« (GBA 27, 258). Sie
entsprach in vielem B.s Überlegungen in ä Über
reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen: Teile
der Chöre klängen wie »Rätsel, die Lösungen verlangen« (GBA 24, 351). B. nahm umfangreiche
Veränderungen an Hölderlins Fassung vor und
kommentierte seine Arbeit ausführlich. Das daraus entstandene Modellbuch (Berlin 1949)
wurde von Neher und B. gezeichnet, von Ruth
ä Berlau redigiert und mit zahlreichen Szenenfotos sowie Zeichnungen versehen. Es enthielt zudem zahlreiche Erläuterungen zu einzelnen Szenen und Lösungen, mit denen künftige Inszenierungen verpflichtet werden sollten, ohne die Freiheit der Schauspieler einzuengen (vgl. GBA 25,
76). Der Verrat Polyneikes’ bei Sophokles wird bei
B. zur Desertation, die schließlich als Widerstandsakt gegen die Gewaltherrschaft Kreons dargestellt wird. B. stellt die willkürliche Gewaltherrschaft von Menschen über Menschen in den Vordergrund. Allerdings hat B. den sozialen Ort des
Dramas bei der Arbeit zunehmend als Nachteil
gesehen, da hier nicht die »bedeutendsten«
»Kämpfer des deutschen Widerstands« (GBA 25,
74) gezeigt werden könnten.
WD
ausgelieferten Hefte beschlagnahmt und eingestampft, der Herausgeber wegen ›Verbreitung unzüchtiger Schriften‹ angeklagt. 1927 nahm B. das
Gedicht mit vom Erstdruck geringen Abweichungen in ä Bertolt Brechts Hauspostille auf.
B. bezieht sich auf einen Münchener Mordfall,
der Aufsehen erregte: Der 16-jährige Joseph Apfelböck, in zerrütteten Familienverhältnissen aufgewachsen, erschoss am 29. 7. 1919 seine Eltern
und blieb mit den Leichen einige Wochen in der
Wohnung. Nur auf den ersten Blick skizziert B. in
Manier des Bänkelsangs eine historische Mordtat.
Durch deutliche Fiktionalisierung weist er darauf
hin, dass es nicht um den wirklichen Apfelböck
und sein Schicksal geht. Die Ballade verweilt auch
nicht bei der Tat an sich, sondern beschreibt in
distanziert-neutralem Duktus die Zeit, die der
junge Täter mit den Leichen in der Wohnung verbringt. B. verurteilt Apfelböck nicht, auch keinerlei Entsetzen oder eine Deutung des Geschehens
ist erkennbar. Damit wird das Groteske der Szenerie zur Provokation: Die Leser verlangen nach einem Verdikt, der Autor hingegen suggeriert mit
den Darstellungsmitteln seiner Sprache, dass die
Tat auf die bürgerliche Gesellschaft, deren christliche Wertevorstellungen und sozialen Verhältnisse, zurückfällt. Insofern ist das Geschehen in
seiner Außergewöhnlichkeit ›normal‹ und die
Sprache, die die bürgerliche Sentimentalität parodiert, die einzig angemessene. Apfelböcks individuelle Sozialisation, die B. aus Zeitungsberichten kannte, aber außer Acht ließ, wäre daher
überflüssig. Denn um Darstellung und Analyse
der Gesellschaft geht es, nicht um das Geschick
eines Einzelnen.
Neben Anlehnungen an biblische Topoi – Apfelböck erscheint im »milden Lichte« der Unschuld (Math 6, 28–30) – ist die Ballade geprägt
vom Werk Frank ä Wedekinds und noch stärker
von Friedrich ä Nietzsche. Zu dessen Geschichte
vom »tollen Menschen« aus der Fröhlichen Wissenschaft gibt es im Gedicht, noch deutlicher in
der zu dessen Umfeld gehörenden Erzählung Die
Erleuchtung, eindeutige Parallelen (vgl. Hillesheim 2001a).
JH
Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde
(GBA 11, 42). Die Ballade entstand im August
1919 und wurde 1921 in der dadaistischen Anthologie Das Bordell erstmals veröffentlicht. Wenige
Wochen nach Erscheinen wurden die noch nicht
Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. Am
16. 6. 1953 begannen Bauarbeiter in der Ost-Berliner Stalinallee mit einem Streik, da der Ministerrat trotz des geplanten ›Neuen Kurses‹ die zuvor
beschlossene Erhöhung der Arbeitsnorm um zehn
Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB)
Prozent bei gleichzeitiger Herabsetzung der
Löhne nicht zurücknahm. Obwohl die SED die
Normenerhöhung noch am selben Tag korrigierte, weitete sich der Streik zu einem Volksaufstand aus, der auf über 370 Städte und Ortschaften übergriff. Sowjetische Truppen schlugen
schließlich am 17. Juni die Zentren des Aufstands
gewaltsam nieder.
»Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet« (GBA 27, 346), schrieb B. später in sein Journal. Er war sicher, dass in Ost-Deutschland nach
wie vor faschistische Kräfte aktiv waren und diese
mit Unterstützung aus dem Westen den Umsturz
der DDR geplant hatten – diese Sichtweise auf die
Ereignisse des 17. Juni wurde auch von der SED
vertreten, die den Aufstand als ›faschistische Provokation‹ anprangerte. B.s Sorge vor einem
Putschversuch, der den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu verhindern suchte, ist vor
dem Hintergrund seiner Exilerfahrungen zu werten. Die Maßnahmen der Sowjets befürwortete B.
und wandte sich in einem kurzen Brief an den
Ersten Sekretär der SED, Walter Ulbricht. In diesem bat er um eine »große Aussprache mit den
Massen« (GBA 30, 178), bekräftigte aber auch
seine Unterstützung für die SED.
Dieses Schreiben, das in der SED-Parteizeitung
Neues Deutschland mit nur einem Satz zitiert
wurde -»Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem
Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken« (ebd.) – und damit B.s kritische Stellungnahme wie eine unterwürfige Solidaritätsbekundung erscheinen ließ, hat dem Stückeschreiber in
der Bundesrepublik spürbar geschadet. B.s Name
verschwand für nahezu zwei Jahre von den westdeutschen Spielplänen (ä Rezeption in der Bundesrepublik).
Die missverständlich zitierte Aussage empörte
B. (vgl. GBA 30, 549). Er verteidigte dennoch, wie
etwa in einem Brief an Peter ä Suhrkamp am 1. 7.
1953, das Vorgehen der SED, die zwar »Fehler begangen [hat], die für eine sozialistische Partei sehr
schwerwiegend sind« (ebd., 184), im Falle des 17.
Juni aber eingreifen musste, da sie »von faschistischem und kriegstreiberischem Gesindel angegriffen wurde« (ebd., 185). Seine Sicht auf die Geschehnisse formulierte er auch in den kurzen Texten Zum 17. Juni und Dringlichkeit einer großen
Aussprache, letzterer wurde am 23. 6. 1953 im
Neuen Deutschland veröffentlicht. B. formulierte
7
darin seine Hoffnung, dass »die Arbeiter, die in
berechtigter Unzufriedenheit demonstriert haben,
nicht mit den Provokateuren auf eine Stufe gestellt werden, damit die so dringliche große Aussprache über die allseitig gemachten Fehler nicht
von vornherein unmöglich gemacht wird« (GBA
23, 250). Im Sommer 1953 entstand außerdem
das Gedicht Die Lösung, das der Regierung den
Vorschlag unterbreitet, das Volk aufzulösen und
ein neues zu wählen, wenn es mit dem jetzigen
unzufrieden sei – und erinnerte damit die Herrschenden mit Sarkasmus an ihre Befugnisse und
Grenzen.
AK
Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB): Als 1985
die Arbeit an der neuen Großen kommentierten
Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke
Brechts (GBA), einer Gemeinschaftsausgabe der
Verlage Suhrkamp (BRD) und Aufbau (DDR), begonnen wurde, zeichnete sich für Jan Knopf
(Karlsruhe), einen der vier Herausgeber, rasch die
Notwendigkeit ab, vor Ort eine Arbeitsstelle einzurichten, um den vielfältigen, mit der Texterstellung einer solchen Ausgabe verbundenen Aufgaben (ständiger Arbeitsplatz für die Mitarbeiter/innen, Archivierung der textkritisch relevanten Materialien, Sammlung zentraler Sekundärliteratur
und quellenkundlichen Materials usw.) zu genügen (ä Druckgeschichte). Als Träger für den Betrieb (Sach- und Personalkosten) der ABB konnten die Stadt Karlsruhe, die Universität Karlsruhe
und die Badische Beamtenbank gewonnen werden – ab Januar 1994 übernahmen das Land und
die Universität die alleinige Trägerschaft. Die ABB
nahm ihre Arbeit im Februar 1989 mit mehreren
Mitarbeiter/innen auf. Zum 100. Geburtstag B.s
wurde die Ausgabe im Februar 1998 abgeschlossen.
In einem zweiten Schritt trieben Jan Knopf und
die ABB ab Mai 1999 das Konzept und die Realisierung der vollkommen neu konzipierten zweiten Auflage des ä Brecht-Handbuchs voran. Die
Personalkosten wurden zunächst von der Thyssen-Stiftung, dann von der Universität und
schließlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragen. Das neue Brecht-Handbuch
in fünf Bänden wurde zur Überraschung der
Fachwelt im September 2003 trotz aller zu verzeichnenden gravierenden Rückschläge in knapp
vier Jahren fertiggestellt (vgl. Nachwort von Jan
Knopf zum fünften Band des Brecht-Handbuchs).
8
Heute ist die ABB u. a. mit der Erstellung von
13 Bänden der SuhrkampBasisBibliothek zum
Werk B.s befasst und kann auf reichhaltiges eigenes Archivmaterial zurückgreifen. Sie verfügt über
eine Spezialbibliothek mit 1200 Bänden, darunter
die bisherigen Ausgaben Gesammelter Werke B.s,
Erstausgaben, wesentliche Sekundärliteratur und
zahlreiche Nachschlagewerke, und vor allem eine
umfangreiche Dokumentensammlung, die im
Zuge der Kommentararbeit zu Lyrik und Kurzprosa von der GBA zusammengetragen wurde.
Sämtliche Materialien, die Werner Hecht und
seine Mitarbeiter am Berliner Brecht-Zentrum
der DDR für die Arbeit an den Bänden 21 bis 27
der GBA und an der monumentalen Brecht-Chronik verwendet haben, befinden sich seit 2000 im
Bestand der ABB. Sie hat sich damit zu einer
wichtigen internationalen Anlaufstelle der B.-Forschung entwickelt.
BL
Aristoteles, aristotelisch. Auf die Poetik (Peri
poietikes) des griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.) werden die Regeln für die
konventionelle, streng gebaute und geschlossene
Form des Dramas zurückgeführt, welcher B. sein
ä episches Theater entgegensetzte. Zu diesen Regeln, die z. T. erst in dogmatisierender Verfälschung von Aristoteles’ Aussagen entstanden sind,
zählen die klassischen drei ›Einheiten‹: die der
Handlung (Durchführung nur eines Grundmotivs ohne Nebenhandlungen), des Ortes (kein
Wechsel des Schauplatzes) und der Zeit (Ablauf
innerhalb von 24 Stunden).
Insbesondere Aristoteles’ Ausführungen zur
Tragödie wurden in Deutschland, u. a. über ihre
Interpretation durch G. E. Lessing, folgenreich.
Die Tragödie soll nach Aristoteles »eleos« (Mitleid) und »phobos« (Furcht, Schauder) erregen
und dadurch eine »katharsis« (Reinigung) der
Seele von diesen Affekten bewirken. Lessing deutete die »katharsis« als Transformation der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten um. Da
die Einfühlung in den Protagonisten eine Voraussetzung für das Empfinden von Mitleid darstellt,
ist es bei einer solchen Dramatik wichtig, dass
sich das Publikum mit der Hauptfigur identifiziert.
In Aristoteles’ Poetik finden sich weiterhin die
Bestimmung des Dramas als Kunstform, in der
nicht berichtet, sondern gehandelt wird (griech.
drama = Handlung, Geschehen), sowie die Erklä-
Aristoteles, aristotelisch
rung der »mimesis« (Nachahmung) zum obersten
Prinzip aller Kunstgattungen. Wenn B. die so genannte aristotelische Dramatik kritisiert, zielt er
damit v. a. auf die Ausprägung, welche die Konzepte von Einfühlung und Mimesis im Naturalismus gefunden haben. Dessen »Suggestionsund Illusionstechnik« mache »eine kritische Haltung des Publikums gegenüber den abgebildeten
Vorgängen unmöglich« (GBA 26, 437). Eine solche Haltung wollte B. jedoch in seinem epischen
Theater erreichen, das sich explizit nicht an den
drei Einheiten des Aristoteles orientierte und den
Zuschauer nicht über Einfühlung in das Geschehen auf der Bühne verwickeln wollte, sondern
ihm die Rolle des distanzierten, die Situation beurteilenden Betrachters zuwies.
Das Verhältnis von B. zu Aristoteles stellt sich
allerdings »erheblich differenzierter« dar, »als es
die plakative Gegenüberstellung von aristotelischer und nicht-aristotelischer Dramatik [ ]
vermuten läßt« (Flashar 1974, 35). Inhaltliche Anknüpfungspunkte an Aristoteles’ Poetik sind etwa
in B.s ä Kleinem Organon für das Theater nachzuweisen. Wie Aristoteles vertritt B. hier die Ansicht,
dass die fiktive Geschichte nicht der Logik oder
Wahrscheinlichkeit verpflichtet sei, beharrt darauf, dass das ›Vergnügen‹ die eigentliche Funktion der Kunst sei, und beruft sich auf die Fabel
als Kern des Theaterstücks. Entgegen Aristoteles
geht nach B. die Fabel aber nicht aus dem unveränderlichen Charakter der Figur hervor, sondern
wird durch die sozialen Umstände begründet, die
die Figur zu widersprüchlichen Verhaltensweisen
nötigen.
AF
Atombombe ä Einstein, ä Leben
des Galilei
Auden, Wysten Hugh ä The Duchess
of Malfi
Auf dem Rain 7. Geburtshaus B.s, typisches
Handwerkerhaus der Augsburger Altstadt, heutige
Adresse Auf dem Rain 7. Die ä Eltern wohnten seit
ihrer Hochzeit im Mai 1897 in diesem Haus, dessen Kern bis ins 16. Jh. zurückzuverfolgen ist. Um
1700 war es von Grund auf neu gebaut worden.
Während die wohlhabenden Kaufleute und Großhändler in der Oberstadt wohnten, lebten im tiefer gelegenen Lechviertel seit dem Hohen Mittelalter einfachere Handwerker wie Gerber, Färber
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
9
Etage ein Museum eingerichtet, das 1985, an B.s
87. Geburtstag, eröffnet wurde. Im September
1996 wurde es geschlossen, das Haus mit großem
finanziellen Aufwand und Unterstützung des
Bundesministeriums des Inneren restauriert, die
Ausstellung zu Leben und Werk B.s grundlegend
neu gestaltet und um das Erdgeschoss erweitert.
Am 10. 2. 1998, dem 100. Geburtstag B.s, wurde
das ›Brechthaus‹ im Rang einer nationalen Gedenkstätte wiedereröffnet.
JH
Geburtshaus Brechts: Auf dem Rain 7
und Bader, die die Wasserkraft der vielen verzweigten, teilweise künstlich angelegten Lechkanäle zur Ausübung ihres Berufs benötigten. Auch
jeweils vor und hinter B.s Geburtshaus verläuft
ein solcher Kanal; im Erdgeschoss befand sich
eine Feilenhauerei, deren Hammer durch ein
Wasserrad angetrieben wurde. Ihr Betreiber
wohnte mit seiner Familie im Erdgeschoss, das
erste Stockwerk, in dem B. geboren wurde, teilte
sich dessen Familie mit zwei Kleiderhändlerinnen.
Unter dem Dach wohnten ein Feilenhauer, der im
Betrieb im Erdgeschoss angestellt war, und ein Tapezierer. Die Enge, die in dem recht kleinen, kellerlosen Haus herrschte, und der durch die Feilenhauerei verursachte Lärm veranlassten B.s Vater,
sich alsbald nach einer neuen Wohnung umzusehen. Schon am 18. 9. 1898, B. war gerade ein
halbes Jahr alt, zog die Familie in das nicht weit
entfernte Haus Bei den sieben Kindeln, in dem
am 29. 6. 1900 B.s Bruder Walter geboren wurde.
Angeregt durch eine private Initiative wurde
1960 erstmals eine Gedenktafel an B.s Geburtshaus angebracht. 1981 wurde es von der Stadt
Augsburg erworben, restauriert und in der ersten
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
(GBA 2, 333). Opernlibretto, von B. in Zusammenarbeit mit Kurt ä Weill verfasst und von Weill
zur Oper vertont.
Das Libretto entstand hauptsächlich im Herbst
1927; eine maschinenschriftliche Fassung vom
Frühjahr 1928 ist erhalten (GBA Registerbd, 683).
Die Kompositionsarbeit Weills war im Frühjahr
1929 abgeschlossen. Anfang 1929 wurde der ursprüngliche Titel Mahagonny zu Aufstieg und Fall
der Stadt Mahagonny erweitert. Im Herbst 1929
revidierten Weill und B. die von Theaterleitern
beanstandete Bordellszene (ä Terzinen über die
Liebe). Der Erstdruck des Librettos stammt vom
November 1929 (Universal-Edition; diese Fassung
fehlt in GBA). Die Leipziger Uraufführung der
Oper am 9. 3. 1930 endete beinahe im Tumult,
nachdem Gruppen im Umkreis der NSDAP eine
Störaktion durchgeführt hatten. Der Vorfall hatte
nicht nur für die Verbreitung des Werks, sondern
auch für die Textgestalt Folgen. Die Umarbeitung
vom März 1930 fand in einer Neuauflage vom
Juni 1930 (Universal-Edition; nicht in GBA) ihren
Niederschlag. Ein Druck mit weiteren Änderungen erfolgte im Dezember 1930 in der ä VersucheReihe B.s (Kiepenheuer Verlag; vgl. GBA 2, 333).
Während die früheren Drucke in einem Musikverlag als »Textbücher« erschienen waren, stellte
der Druck in der Versuche-Reihe eine reine Leseausgabe dar (zur Text- und Druckgeschichte vgl.
Nyström 2005).
B.s Begriff »Mahagonny« dürfte auf einen 1922
erschienenen Schlagertext von O. A. Alberts
Komm nach Mahagonne zurückgehen. Der Plan
einer Oper auf das Thema Mahagonny ist bei B.
seit 1924 belegt. Eine Anzahl von Mahagonny-Gesängen und -Songs entstanden 1924/25; die meisten wurden 1927 in ä Bertolt Brechts Hauspostille
veröffentlicht. Nachdem B. im Frühjahr 1927
Weill kennen gelernt hatte, arbeitete Weill auf der
10
Grundlage der Mahagonny-Gesänge ein sog.
»Songspiel« unter dem Titel Mahagonny aus. Das
»Songspiel« wurde im Juli 1927 beim Baden-Badener Musikfest uraufgeführt. Gegenüber dem
kurzen Songspieltext (GBA 2, 323) stellt das ab
Herbst 1927 verfasste Opernlibretto eine fast völlig neue Dichtung dar. Allerdings ging gleichzeitig
eine große Anzahl früherer B.-Gedichte (ä Gegen
Verführung, Tahiti u. a.) ins Opernlibretto ein.
Das Opernlibretto spielt in einem frei erfundenen
›Amerika‹ und handelt von einer Stadt, die von
drei Verbrechern gegründet wird, unter ihnen die
Witwe Leokadja Begbick, die die Geschäftsidee
formuliert: die Stadt Mahagonny »soll sein wie
ein Netz« und zahlungswillige Männer einfangen.
Unter vielen anderen kommen auch vier Holzfäller, unter ihnen Jim Mahoney (Name im Erstdruck; im Versuche-Druck: Paul Ackermann) nach
Mahagonny. Jim ist mit der ruhevollen Atmosphäre in Mahagonny unzufrieden und revoltiert.
Unter dem Eindruck eines Hurrikans, der bald
auftaucht und die Stadt zu zerstören droht, schafft
er den neuen Leitspruch: »Du darfst!«; ein ungehemmtes Sich-Ausleben soll von nun an das Leben in Mahagonny prägen. Doch der Hurrikan
macht einen Bogen um Mahagonny, förmliche
Exzesse in Essen, Lieben, Boxen und Saufen beginnen trotzdem. Am Ende dieser Exzesse sind
zwei von Jims Freunden ums Leben gekommen.
Er selbst wird wegen des schlimmsten Verbrechens in Mahagonny, des Unvermögens zu bezahlen, verhaftet und von der Richterin Begbick zum
Tode verurteilt. Nach der Hinrichtung Jims geht
die Stadt in Flammen unter.
Die B.-Forschung sieht das Libretto als ein
Übergangswerk im Schaffen B. s. Viele Motive seiner Jugenddichtung, z. B. Amerika, Rauchen,
ä Boxen, Sex, Alkohol, werden hier kritisch beleuchtet. Wenn die Kapitalismuskritik sich auch
deutlich hervorhebt, sind die Ausgangspunkte
dieser nicht eindeutig; häufig werden dem Text
Fatalismus und mangelnde Konstruktivität vorgeworfen. Sprachlich spannt das Libretto einen Bogen vom sehr naiven Englisch im ä Alabama Song
bis zur gehobenen Poesie im Kraniche-Duett.
Im Erstdruck ist Aufstieg und Fall der Stadt
Mahagonny in 21 Szenen eingeteilt, die jeweils
relativ selbstständige Einzelbilder darstellen, oft
mit einführenden Projektionstexten. Außerdem
ist eine Einteilung in drei Akte vorhanden (die
im Versuche-Druck, GBA 2, 333, dagegen fehlt).
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Weill schrieb eine durchkomponierte Oper für
acht größere Solopartien, Chor und Orchester;
er strebte eine Neukonzeption der Nummernoper an und sah die Szenen als »abgeschlossene
musikalische Formen« (Weill 2000, 105). Stilistisch mischte Weill seinen »Song-Stil« mit
einem, wie er ihn selbst nannte, »vollkommen reinen, durchaus verantwortungsbewussten Stil«
(Weill 2002, 194), der neobarocke Elemente enthält.
Weill und B. verfassten 1930 jeder für sich
Werkkommentare mit kennzeichnenden Unterschieden in der Bewertung der Operngattung.
EN
Augsburg. B.s Geburtstadt, als Umfeld seiner
Sozialisation, aber auch in Form von Verwandten,
Freunden und Bekannten, hinterließ im Werk
umfangreiche und tiefgreifende Spuren. Neben
den oft wahrgenommenen, meist singulär gesehenen Anspielungen und Bezugnahmen, z. B. in
ä Baal und manchem frühen Gedicht, wurde zunehmend erkannt, dass dem Augsburger Hintergrund in einigen Werken geradezu strukturbildende Bedeutung zukommt, etwa in der ä Legende
vom toten Soldaten, der ä Ballade vom Liebestod,
ä Erinnerung an die Marie A., ä Trommeln in der
Nacht, den Einaktern aus dem Jahr 1919. Auch in
der späteren Dichtung sind mehr oder weniger
bedeutsame Reminiszenzen an Augsburg allenthalben und in verschiedenen Variationen präsent,
keineswegs nur in der Erzählung ä Der Augsburger
Kreidekreis und den ä Flüchtlingsgesprächen.
Nach B.s frühzeitigem Entschluss, unbedingt
Schriftsteller zu werden, wurde ihm die Stadt am
Lech für seine Ambitionen rasch zu klein. Deshalb
orientierte er sich – über eine kurze, von Unterbrechungen geprägte Phase in ä München, während der er immer wieder Tage und Wochen in
Augsburg verbrachte – nach ä Berlin. Anfang September 1924 zog B. endgültig in die Hauptstadt.
In der Zeit bis zur Emigration kehrte B. häufig
nach Augsburg zurück, wo für ihn in der väterlichen Wohnung ein Zimmer bereit stand. Nach
dem Exil besuchte er die Heimatstadt noch zwei
Mal: 1949 und 1950, jeweils im September; seine
Äußerungen über Augsburg indessen sind in ihrer
Wertung ambivalent.
Trotz einer Vielzahl von Schwierigkeiten während der Zeit des ›Kalten Krieges‹ – so wurde erst
1966 eine Straße nach B. benannt – bemühten
Augsburger Tageszeitungen
sich Augsburger Privatleute, aber auch Institutionen frühzeitig um das Werk B.s und dessen Andenken. Seit Ende der 1940er Jahre inszeniert das
Stadttheater in beinahe steter Regelmäßigkeit
Stücke B. s. Die Augsburger Tagespresse bot sich
immer bereitwillig als Forum zur Auseinandersetzung mit ihm an. Seit 1991 existiert die ä Bertolt
Brecht-Forschungs- und Gedenkstätte mit der
zweitgrößten B.-Sammlung der Welt, zum 100.
Geburtstag wurde das Geburtshaus kostenintensiv
saniert und die dort gezeigte Dauerausstellung
neu konzipiert. Seit 1995 vergibt die Stadt im Turnus von drei Jahren den ä Bert-Brecht-Preis.
Hinzu kommen nach wie vor umfangreiche private Initiativen, auf sie zurückgehend z. B. das
ä Dreigroschenheft, das seit 1994 viermal jährlich
erscheint.
JH
Augsburger Tageszeitungen. Vom 8. 8. 1914
bis zum 20. 2. 1916 erschienen in den Augsburger
Neuesten Nachrichten, der München-Augsburger
Abendzeitung und deren Beilagen 39 Beiträge B.s,
die er meist mit dem Pseudonym Berthold Eugen
zeichnete. Nach Einstellung der von ihm und Fritz
Gehweyer herausgegebenen ä Schülerzeitschrift
Die Ernte im Februar 1914 waren dies für den
16-jährigen die ersten Möglichkeiten, wieder zu
veröffentlichen – und dies in angesehenen Tageszeitungen.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab es in
der Presse einen erhöhten Bedarf an dichterischen
Beiträgen, die geprägt waren vom so genannten
Augusterlebnis, vom nationalen Hochgefühl, das
nach Kriegsausbruch die Nation zu einen schien.
Auch die Beiträge B.s erwecken auf den ersten
Blick den Eindruck, sich in diesen Rahmen zu fügen: Sie scheinen geprägt von nationalem Pathos
und richten sich thematisch nach den Forderungen des Tages: besungen werden heldenhafte Taten deutscher Soldaten, die Tapferkeit des Volkes,
die Größe des Kaisers.
Bereits Ende der 1960er Jahre wurde die Authentizität dieses Nationalismus bezweifelt, der
Verdacht gehegt, B. habe ihn lediglich vorgegeben,
inszeniert, um eigene kleine Werke erstmals in einem größeren Medium veröffentlicht zu sehen.
Betrachtet man die Texte genauer und vergleicht
sie mit der Vielzahl anderer aus dieser Zeit, bestätigt sich dieser Befund: Gleich im ersten dieser
Beiträge, in Turmwacht, stellt B. durch die poetologische Formulierung »wie ich mir aus einem
11
Roman gemerkt habe« (GBA 13, 7) Distanz zum
Inhalt her, der in Anführungszeichen gesetzt wird
(vgl. BHB 3, 25). Des Weiteren parodiert B. den
Predigtduktus, den er im eigenen Religionsunterricht kennen gelernt hatte. Und während z. B. andere Autoren die Besatzung des Kriegsschiffes
Emden als heldenhaft und vorbildlich feiern,
zeichnet B. ein Bild von Untergang und Verwesung (vgl. GBA 13, 79 f.). Die stets als biografisch
gedeutete Melancholie des Gedichtes Soldatengrab
(ebd., 89), in dem B. angeblich einen gefallenen
Freund betrauert, ist schon deshalb nicht authentisch, weil zur Entstehungszeit noch keiner seiner
ihm näher stehenden Kameraden umgekommen
war. Hier spricht ein lyrisches Ich, kein unmittelbar Betroffener. In den Augsburger Kriegsbriefen
imitiert B. sehr überlegt die Deutschen Kriegsbriefe, ein damals verbreitetes Genre, in dem über
die Front berichtet wurde. Noch weitere dieser
Texte, die ambivalent sind, gleichzeitig vom nationalistischen Standpunkt, aber auch als dessen Parodie gelesen werden können, belegen, dass es B.
schon sehr früh mehr um literarisches Raffinement, Dichtung, Fiktion als um Gesinnung ging.
Er nahm die Gelegenheit wahr, instrumentalisierte die Zeitungen, bot ihnen das, was opportun
war, um sich als Autor ins Gespräch zu bringen.
Was bedeutende Dichter, allen voran Thomas
ä Mann, nicht vermochten, schaffte offenbar der
Gymnasiast: Distanz zum politischen Geschehen,
das beinahe alles und jeden mitriss, zu bewahren.
Nach Februar 1916 erschienen in Zeitungen
nur noch sporadisch Texte B.s, bis von Oktober
1919 bis Januar 1921 abermals mehr als zwanzig
Beiträge – überwiegend Kritiken von Augsburger
Theaterinszenierungen – gedruckt wurden; diesmal in der USPD-Zeitung Volkswille. B.s prononciert antibürgerlicher Gestus, den er inzwischen
pflegte, hat an seiner Identifizierung mit den politischen Zielen des Volkswillen bisher keine Zweifel
aufkommen lassen. Ein genauerer Blick erweist
indessen auch hier, dass B. jegliche politische Programmatik fern lag, die Kritiken nichts enthalten,
was nicht von B. selbst aus erklärbar wäre. Er provoziert, spielt virtuos mit dem Genre der Theaterkritik, geriert sich als Routinier und nimmt in
witziger Weise gelegentlich eine Metaebene ein,
indem er den Leser direkt anspricht: »Sie, da können Sie ihm nichts nachweisen!« (GBA 21, 76)
Eine Kritik verfasste er gar in Versform (ebd.,
12
44 f.). Diese mangelnde Ernsthaftigkeit relativiert
die These, B. habe seinem Kritiker-Vorbild Alfred
ä Kerr gleichkommen wollen (Mittenzwei 1987,
Bd. 1, 126); eher handelt es sich um parodierende
Nachahmung.
B. benutzte damit ein zweites Mal die Presse als
Medium, um sich als Autor zu inszenieren, diesmal sogar als Theaterkritiker. Dem entspricht
seine Position der Rätebewegung gegenüber: Eine
gewisse Faszination von den aufregenden politischen Ereignissen, bis zu einem gewissen Maße
spielerische Identifikation, gleichzeitig jedoch
Nüchternheit, Distanz, die es B. gestattete, die
Vorgänge in erster Linie hinsichtlich ihrer ästhetischen Verwertbarkeit zu betrachten.
JH
Aus dem Lesebuch für Städtebewohner
(GBA 11, 155). Die zur sog. ›Städtelyrik‹ gehörende Abfolge von zehn Gedichten entstand
1926/27 und enthält die für diesen Gedichttyp B.s
bekannte radikale Analyse des modernen Lebens
in der Großstadt, womit er formal und inhaltlich
an die Großstadtlyrik anknüpfte, die seit dem Naturalismus vor allem von expressionistischen
Dichtern (Georg Heym, Jakob van Hoddis, Blass)
geschrieben wurde.
Ursprünglich plante B. die Aufnahme der Gedichte in ä Bertolt Brechts Hauspostille (Tagebuch
Elisabeth ä Hauptmann, 8. 6. 1926), doch erfolgte
inzwischen 1926–28 bereits der Vorabdruck einzelner Gedichte und schließlich 1930 der Erstdruck einer Teilsammlung (Nr. 2, 3, 7, 8, 9) in den
ä Versuchen (Heft 2). Die Gedichte 7 und 8 wurden unter dem Titel Aus einem Lesebuch für Städtebewohner (in B.s Nummerierung 1, 2) 1927
publiziert, im gleichen Zeitraum entstanden auch
die übrigen Gedichte. 1938 wurden alle Gedichte
für den 4. Band der Gesammelten Werke im Malik-Verlag neu zusammengestellt. Um 1928
schrieb B. auch ä Proletarische Anekdoten aus dem
Lesebuch für Städtebewohner, die – wie die Oper
ä Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny – den
›Einzug der Menschheit in die großen Städte‹ veranschaulichen sollten. In den Jahren von 1927–33
zeichnete sich B.s Arbeitsweise – in lyrischen Formen und in der dramatischen Produktion – durch
ein besonderes soziales Engagement aus.
Erste Versuche, die Strategien des Großstadtlebens sowie die ›große Stadt als Dschungel‹ zu beschreiben, gehen bis ins Jahr 1921 zurück (ä Kipling-Lektüre), doch schafft erst B.s Umzug von
Aus dem Lesebuch für Städtebewohner
München nach Berlin (1924) die realen Voraussetzungen, um jenes ›kalte Ich‹ als anonyme Figuration im Gedicht zu setzen, das die Instanz des
lyrischen Sprechens erzeugt. B. experimentierte
seit 1926/27 mit diesem ›neusachlichen Gedichttyp‹, um Möglichkeiten zu schaffen, die Meinungen der Masse Mensch einzufangen. Sprachlich
explizit ist dieser Suchvorgang in der Sprachformel: »Verwisch die Spuren!« (im Teil 1 fünfmal
wiederholt), die als Motto den Gestus im Lesebuch
für Städtebewohner bestimmt.
Mit dem Begriff Lesebuch nannte B. bereits im
Titel seine Zielsetzung: die Sammlung sollte eine
Fibel der Großstadterfahrungen sein. In appellativen Sprachgesten: »Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof / Gehe am Morgen in
die Stadt mit zugeknöpfter Jacke / Suche dir
Quartier und wenn dein Kamerad anklopft: /
Öffne, o öffne die Tür nicht / Sondern / Verwisch
die Spuren!« (GBA 11, 157), aber auch Monologen werden Anweisungen für einen Verhaltenskodex gegeben. Auffällig ist, dass einzelne Teile mit
einem in Parenthese gestellten Nachsatz versehen
sind, die eine andere, moralisierende Sicht auf das
Gesagte eröffnen: »(Das wurde mir gesagt,)«
(ebd.), »(So sprechen wir mit unsern Vätern.)«
(ebd., 159).
Im Gedicht wird die Anonymität des Großstadtdaseins zur zentralen These. Die dabei eingenommene Position der Distanz nimmt auch die
Generation der Eltern nicht aus, sodass das Erkaltetsein der in verschiedenen Rollen sprechenden Figur verstärkt wird. »Wenn du deinen Eltern
begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo /
Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke,
erkenne sie nicht« (ebd., 157).
Außerdem spricht B. zentrale Themen des
Großstadtlebens wie Prostitution, Obdachlosigkeit und Hunger an, die aus der Ich-Perspektive
(4, 5) die negativen Auswirkungen auf den Einzelnen reflektieren (»Ich bin ein Dreck.«; ebd., 160).
Mit der Kreatur Mensch als Brutstätte von
»Schwäche, Verrat und Verkommenheit« (ebd.)
wird ein »Geschlecht von morgen« charakterisiert, das ›unvermeidlich‹ (ebd., 162) scheint, da:
»Bald schon kein Dreck mehr, sondern / Der harte
Mörtel, aus dem / Die Städte gebaut sind.« (ebd.)
Teil 9 des Gedichts trägt eine gesonderte Überschrift und beinhaltet Vier Aufforderungen an einen Mann von verschiedener Seite zu verschiedenen
Zeiten. Neben der im gesamten Gedicht herr-
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