Aus der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität zu Köln Leiter: Privatdozent Dr. med. C. Albus Abteilung für Medizinische Psychologie Komm. Leitung: Dr. rer. medic. R. Weber Bindung und Alexithymie bei Patienten mit Alkoholkrankheit Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln vorgelegt von Daniela Chiofalo aus Velbert Promoviert am 14. Mai 2014 Gedruckt mit Genehmigung der Medizinischen Fakultät zu Köln, 2014 Die dieser Arbeit zugrunde liegenden Daten wurden in Kooperation mit einem psychiatrischen Landeskrankenhaus in Deutschland unter der Leitung von Universitätsprofessor Dr. rer. biol. hum. V. Tschuschke an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität zu Köln erhoben. In diesem Projekt war ich als Doktorandin tätig. An der Datenerhebung waren als Doktoranden neben mir beteiligt: J. Siekmann, S. Nolte, M. Szynaka, K. A. Heinemann, R. Deckers, S. Kühne, S. Gawlik. Die Oberärzte derer psychiatrischen Landesklinik, an der die Studie stattfand, waren an der Datenerhebung beteiligt und haben die Durchführung der verschiedenen Tests überwacht und geleitet. Danksagung Ich danke Herrn Professor Dr. Tschuschke, der die Studie wohlwollend begleitete und meine Arbeit in allen Phasen der Erstellung kompetent, inspirierend, ausdauernd und geduldig betreute. Danken möchte ich allen Mitdoktoranden, insbesondere meiner Freundin Jutta Siekmann, geb. Köster sowie den Oberärzten der psychiatrischen Landesklinik, an der die Studie stattfand. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Studie initiiert, koordiniert und abgeschlossen werden konnte. Des Weiteren danke ich Dr. Holger-Harald Migdal für die Überarbeitung der Dissertationsschrift sowie für die stetige Ermutigung. Weiterhin danke ich meiner Familie sowie meinen Freunden für Ihre stetige Anteilnahme. Zuletzt möchte ich mich noch bei den Patientinnen und Patienten bedanken, die an der Studie teilnahmen und dazu bereit waren, über sich und ihr Erleben Auskunft zu geben. gewidmet Oma Olga Faoro postum Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 1 1.1 Sucht 1 1.1.1 Definition 1 1.1.2 Suchtmittel 3 1.1.3 Alkoholismus 4 1.1.3.1 Definition 4 1.1.3.2 Typologie des Trinkverhaltens 6 1.1.3.3 Ätiologie 8 1.1.3.3.1 Soziokulturelle Einflüsse 8 1.1.3.3.2 Psychoanalytische Aspekte 10 1.1.3.3.3 Psychodynamische Aspekte 11 1.1.3.3.4 Verhaltenspsychologische Theorien 12 1.1.3.3.5 Psychopathogenese 13 1.2 Konzept der Bindungstheorie 16 1.2.1 Bindungsstile 17 1.2.2 Psychopathologie und die klinische Relevanz der Erfassung von 19 Bindungsmustern 1.2.3 Epidemiologie 21 1.2.4 Methoden der klinischen Bindungsforschung 21 1.2.4.1 Adult Attachment Interview von Main und Goldwyn (1985-1996) 23 1.2.4.2 Attachment Style Measure von Hazan und Shaver (1987) 25 1.2.4.3 Adult Attachment Scale von Collins und Read (1990) 26 1.2.4.4 Relationship Questionnaire von Bartholomew und Horowitz (1991) 28 1.3 Alexithymie 30 1.3.1 Definition und Phänomenologie 30 1.3.2 Ätiologie der Alexithymie 31 1.3.2.1 Neurobiologische Konzepte 31 1.3.2.2 Psychodynamisch-psychoanalytische Konzepte 32 1.3.3 Prävalenz der Alexithymie in der Normalpopulation 33 1.3.4 Anwendungsgebiete der Alexithymieforschung 34 1.3.5 Ausgewählte Krankheitsbildung und ihre Beziehung zur Alexithymie 34 1.3.6 Messverfahren der Alexithymie 36 1.4 Die Bedeutung von Bindungstil und Alexithymie für die Entstehung von 38 Alkoholismus 1.4.1 Alkoholismus und Bindung 38 1.4.2 Alkoholismus und Alexithymie 39 1.4.3 Bindung und Alexithymie 40 2. Ziele der Arbeit 41 2.1 Allgemeine Ziele der Studie und Fragestellung 41 2.2 Hypothesen und Fragestellungen 45 2.2.1 Hypothese 1 45 2.2.2 Hypothese 2 45 2.2.3 Fragestellung 1 45 2.2.4 Fragestellung 2 45 2.2.5 Fragestellung 3 45 3. Methodik 46 3.1 Studiendesign 46 3.2 Ein- und Ausschlusskriterien 46 3.2.1 Einschlusskriterien 46 3.2.2 Ausschlusskriterien 46 3.3 Datenerhebung 46 3.4 Messinstrumente 47 3.4.1 Aufnahmebogen Therapeut 48 3.4.2 Aufnahmebogen Patient 49 3.4.3 Adult Attachment Scale (AAS) 49 3.4.4 Toronto-Alexithymie-Skala-26 (TAS-26) 50 3.4.5 Abschlussfragebogen Therapeut 51 3.4.6 Abschlussfragebogen Patient 51 3.4.7 Tests bei Entlassung 51 3.5 Statistische Auswertung 4. Ergebnisse 4.1 Stichprobenbeschreibung 51 52 52 4.1.1 Soziodemographische Daten 52 4.1.2 Verteilungsmuster psychiatrischer Haupt- und Nebendiagnosen 53 4.2 Personengebundene Störvariablen 57 4.3 Ergebnisse der Adult Attachment Scale (AAS) 60 4.4 Ergebnisse der Toronto-Alexithymie-Skala-26 (TAS-26) 63 4.4.1 Alexithymie und Sucht 64 4.4.2 Alexithymie und Bindung 66 4.5 Überprüfung der Hypothesen und Fragestellungen 68 4.5.1 Überprüfung der Hypothese 1 68 4.5.2 Überprüfung der Hypothese 2 68 4.5.3 Überprüfung der Fragestellung 1 68 4.5.4 Überprüfung der Fragestellung 2 69 4.5.5 Überprüfung der Fragestellung 3 69 5. Diskussion 71 5.1 Personengebundene Störfaktoren 71 5.2 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse der Adult Attachment Scale 75 (AAS) 5.3 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse der Toronto-Alexithymie- 75 Skala-26 (TAS-26) in Bezug auf Suchterkrankung, insbesondere Alkoholismus 5.4 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse der Toronto-Alexithymie- 78 Skala-26 (TAS-26) in Bezug auf Bindung, gemessen mit der Adult Attachment Scale (AAS) 5.5 Methodische Einschränkungen 80 6. Zusammenfassung 81 7. Literaturverzeichnis 82 8. Anhang 99 8.1 Adult Attachment Scale (AAS) 99 8.2 Toronto-Alexithymie-Scala-26 (TAS-26) 102 8.3 Aufnahmebogen Therapeut 104 8.4 Aufnahmebogen Patient 108 9. Lebenslauf 111 1. Einleitung 1.1 Sucht 1.1.1 Definition „Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen des Individuums." (Wanke, in: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.). Süchtiges Verhalten, 1985, S. 20). Ähnlich definiert die WHO Sucht als einen unwiderstehlichen Drang, ein Suchtmittel einzunehmen, um entweder ein Gefühl des Wohlbefindens zu erzielen oder um Missempfindungen auszuschalten. Bei der Begriffsbestimmung muss darauf geachtet werden, dass Sucht oft als Missbrauch und als Abhängigkeit verstanden wird, im Wesentlichen aber die Abhängigkeit betrifft. Dabei sind die Übergänge von (freiem) Genießen, das heißt unproblematischer Konsum über Gewöhnung, Missbrauch, gefährlichem Konsum und schädlichem Konsum zur Abhängigkeit fließend. „Grundsätzlich kann jedes Verhalten des Menschen, vor allem, wenn es bereits zur Gewohnheit wurde, süchtig „entgleisen“.“ (Tretter, 2000). Daher ist es ebenso notwendig wie schwierig, die Grenze vom unproblematischen zum pathologischen Konsum (z.B. mit Leberzirrhose als Folgeerscheinung bei Alkoholkonsum) festzulegen. Im klinischen Alltag mit den Patienten ist die folgende nicht-systematische Unterscheidung sinnvoll: Unter dem Begriff Missbrauch versteht man nach DSM-IV den nicht- bestimmungsgemäßen, das heißt einen qualitativ oder quantitativ abweichenden Gebrauch einer Substanz. Dabei stellt das Auftreten von Störungen oder Schäden keine Bedingung dar. Beim risikoreichen Konsum hingegen wird von der Wahrscheinlichkeit einer Störung bzw. eines Schadens ausgegangen, so wie beispielsweise der Alkoholkonsum mit anschließender Autofahrt an sich kein Schaden oder keine Störung darstellt, aber ein Risiko, verkehrsauffällig zu werden mit der Wahrscheinlichkeit einer Störung oder eines Schadens. Der schädliche Gebrauch einer Substanz bedeutet Konsum mit nachweisbaren Schäden als Folge. Als Oberbegriff kann Konsum mit negativen Folgen verwendet werden, der sowohl Störungen als auch Schäden mit einbezieht. Es können verschiedene Formen der Abhängigkeit sowie Mischformen unterschieden werden. Neben der gebräuchlichsten Unterscheidung zwischen physischer (körperlicher) und 1 psychischer (seelischer) Abhängigkeit gibt es im Unterschied dazu gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen mit fortgesetztem Konsum bestimmter Substanzen, bei denen jedoch die typischen Merkmale physischer beziehungsweise psychischer Abhängigkeit fehlen. Die physische Abhängigkeit ist unter anderem gekennzeichnet durch die Entwicklung einer körperlichen Toleranz bezüglich der konsumierten Substanz, das Auftreten eines substanzspezifischen Entzugssyndroms bei Aussetzen der Substanzzufuhr beziehungsweise die Einnahme der Substanz, um Entzugssymptome zu lindern oder zu vermeiden. Demgegenüber sind Merkmale der psychischen Abhängigkeit ein starkes, gelegentlich übermächtiges Verlangen, eine Substanz zu konsumieren, welches meist nur schwer zu bezwingen ist, um sich positive Empfindungen zu verschaffen oder unangenehme zu vermeiden, unabhängig davon, ob diese durch biologische oder psychosoziale Faktoren bestimmt sind. Weitere Aspekte, die psychische Abhängigkeit beschreiben sind die verminderte Kontrollfähigkeit über Beginn, Beendigung und Menge des Substanzgebrauchs einschließlich erfolgloser Versuche, diesen zu verringern. Alltagsaktivitäten werden auf die Möglichkeit beziehungsweise Gelegenheit zum Substanzkonsum angepasst und soziale beziehungsweise berufliche Interessen werden vernachlässigt. Der Substanzkonsum wird schließlich fortgesetzt trotz des Wissens über dessen schädlichen Folgen und wiederholter negativer Konsequenzen. Diese Kriterien sowohl der physischen als auch psychischen Abhängigkeit werden sowohl im ICD-10-System als auch im DSM-IV-System berücksichtigt. 2 Tab. 1.1: Diagnostische Kriterien für Substanzabhängigkeit nach ICD-10 und DSM-IV Abhängigkeitskriterien nach ICD-10 Abhängigkeitskriterien nach DSM-IV Ein stärkerer Wunsch oder Zwang eine Substanz zu konsumieren Ein anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren Eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Substanzkonsums Eine Substanz wird häufiger in großen Mengen und länger als beabsichtigt eingenommen Die Entzugssymptome, die sich durch eine der folgenden Kriterien äußern: a) Charakteristisches Entzugssyndrom b) Die gleiche oder eine sehr ähnliche Substanz wird eingenommen, um Entzugssymptome zu vermeiden Ein körperliches Entzugssyndrom Ein Nachweis einer Toleranz. Um die ursprüngliche Wirkung zu erzielen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich Die Toleranzentwicklung ist definiert durch eine der folgenden Kriterien: a) Dem Verlangen nach ausgeprägter Dosiserhöhung, um einen erwünschten Effekt herbeizuführen b) Eine deutlich vermindert Wirkung bei fortgesetzter Einnahme derselben Dosis Eine fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen und Interessen zugunsten des Substanzkonsums Wichtige soziale, berufliche oder freizeitliche Aktivitäten werden aufgrund des Substanzmissbrauchs eingeschränkt oder aufgegeben Ein anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (körperlich, psychisch, sozial) Der fortgesetzte Missbrauch trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen oder psychischen Problems, welches wahrscheinlich durch den Substanzmissbrauch verursacht oder verstärkt wurde Viel Zeit für Aktivitäten, um das Suchtmittel zu beschafften, zu sich zu nehmen oder sich von den Wirkungen zu erholen ____________________________________________________________________________________________________________________ Mindestens 3 der 6 Kriterien müssen innerhalb eines Zeitraumes von 12 Monaten gegeben sein. Mindestens 3 der 7 Kriterien müssen innerhalb eines Zeitraumes von 12 Monaten gegeben sein. 1.1.2 Suchtmittel Grundsätzlich können stoffgebundene und nichtstoffgebundene Süchte unterschieden werden. (Tretter, 2000). Zu letzteren gehören beispielsweise die Arbeitssucht, Spielsucht, Kleptomanie oder Kaufsucht. Sie verändern das Bewusstsein, das Erleben und die Gefühle des Betroffenen. Ein rauschähnlicher Zustand kann durch Bildung von Endorphinen entstehen, ohne dass Drogen zugeführt werden müssen. 3 Die Charakteristika der Abhängigkeit werden in hohem Maße von dem Suchtmittel und dessen pharmakologischen Eigenschaften bestimmt, insbesondere der Suchtpotenz, die der jeweiligen Stoffgruppe zukommt. Die WHO unterscheidet verschiedene stoffgebundene Suchtmittel nach deren Wirkungsweise (Tabelle 1.2). Tab. 1.2: Stoffgebundene Suchtmittel, die unter Umständen zur Abhängigkeit führen, in Anlehnung an die WHO Suchtmittel Wirkung Morphin-Typ beruhigend Barbiturat-Alkohol-Tranquilizer-Typ beruhigend, angstlösend, schlaffördernd, verspannungslösend Kokain-Typ stimulierend, leistungssteigernd Cannabis-Typ euphorisierend Amphetamin-Typ aufputschend Halluzinogen-Typ Veränderung von Sinneswahrnehmungen 1.1.3 Alkoholismus 1.1.3.1 Definition Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit lassen sich unter dem Begriff Alkoholismus zusammenfassen (Tretter, 2000). Alkoholismus wird aufgefasst als eine primäre und chronische Krankheit, bei der genetische, psychosoziale und umgebungsbedingte Faktoren seine Entwicklung und seine Ausprägungsform beeinflussen (Zilker, 2004). In Anlehnung an die in Kapitel 1.1.1 genannten ICD-10 bzw. DSM-IV-Kriterien für Sucht sind Kennzeichen der Alkoholkrankheit Kontrollverlust für das Trinken, Zentrieren des Denkens und Handelns auf die Droge Alkohol, Konsum trotz nachteiliger Folgen, Denkverzerrung und vor allem Leugnung als Teil der Krankheit. Beim Vorhandensein von Entzugssymptomen kann von körperlicher Abhängigkeit ausgegangen werden, der unwiderstehliche Drang nach Alkohol kann als psychische Abhängigkeit begriffen werden. Die Übereinstimmung zwischen den beiden Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV hinsichtlich der Definition des schädlichen Gebrauchs beziehungsweise Missbrauchs von Alkohol ist deutlich geringer als 4 die Übereinstimmung hinsichtlich der Definition für Abhängigkeit (Küfner & Kraus, 2002) (Tabellen 1.1 und 1.3). Tab. 1.3: Diagnostische Kriterien für einen schädlichen Substanzgebrauch nach ICD-10 und DSM-IV Diagnostische Kriterien eines schädlichen Gebrauchs einer Diagnostische Kriterien eines Missbrauchs einer Substanz Substanz (ICD 1x.1) nach DSM-IV nach ICD-10 Nachweis, dass der Substanzgebrauch verantwortlich ist für die körperlichen oder psychischen Schäden Art des Substanzkonsums, die zu einer Gesundheitsschädigung oder eine psychischen Störung führt, die gekennzeichnet ist durch das Auftreten von a) Wiederholtem Alkoholkonsum, der zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen bei Arbeit, Haushalt oder Schule (gehäufte Abwesenheit, verminderte Leistungsfähigkeit, Vernachlässigung wesentlicher Interessen) führt b) Wiederholtem Alkoholkonsum in Situationen, die mit besonderen Gefahren bei Alkoholkonsum verbunden sind (z.B. Autofahren, Arbeit an laufenden Maschinen) c) Wiederholte Problemen mit Polizei und Gesetz wegen durch Alkoholkonsum verursachter Vergehen Fortgesetzter Alkoholkonsum trotz wiederholter sozialer oder interpersoneller Probleme, die durch den Alkoholkonsum verursacht werden Die Art der Schädigung kann klar festgestellt und bezeichnet werden Das Gebrauchsmuster besteht seit mindestens einem Monat oder trat wiederholt in den letzten 12 Monaten auf Die Diagnose sollte gestellt werden, wenn in den letzten 12 Monaten Konsumverhalten zu einer dieser Folgen geführt hat Auf die Störungen treffen Kriterien für andere Störungen bedingt durch dieselbe Substanz nicht zu Die Kriterien der Abhängigkeit sind noch nicht erfüllt Obwohl die Übergänge von normalem Gebrauch, Missbrauch, gefährlichem Konsum, schädlichem Konsum und Abhängigkeit wie bei allen anderen Suchtmitteln fließend sind, legt die WHO bei einem täglichen Alkoholkonsum von 20 g für Frauen und 30 g für Männer den Grenzwert für einen gesundheitsschädlichen Konsum fest. Beim Überschreiten dieser Trinkmenge oder bei zweimal monatlichem Exzess-Trinken bei Frauen von 65 g Alkohol und bei Männern von 100 g Alkohol wird nach Jahren eine Häufung von somatischen, psychischen und sozialen Problemen beobachtet, wobei erwähnt werden muss, dass das erwähnte Unbedenklichkeitsniveau in den letzten Jahrzehnten mehrfach nach unten korrigiert worden ist. Auf die Alkoholanamnese bezogen sind in der Fachliteratur folgende 5 Trinkeinheiten üblich: 10 g Alkohol entsprechen 0,002 l Korn, 0,1 l Wein, 0,1 l Sekt respektive 0,25 l Bier. Nach Bühringer et al. (2000) werden vier Konsumentengruppen über die Menge des konsumierten Alkohols in den letzten zwölf Monaten definiert: Abstinenz, risikoarmer Konsum (Männer > 0 g bis 30 g, Frauen > 0 g bis 20 g), riskanter Konsum (Männer > 30 g bis 60 g, Frauen > 20 g bis 40 g), gefährlicher Konsum (Männer > 60 g bis 120 g, Frauen > 40 g bis 80 g) und Hochkonsum (Männer > 120 g, Frauen > 80 g). 1.1.3.2 Typologie des Trinkverhaltens Die gebräuchlichste Typologie wurde schon 1960 von Jellinek vorgeschlagen (Tabelle 1.4), basierend auf der Befragung von 2000 Anonymen Alkoholikern. Diese Einteilung trifft vorwiegend für das männliche Geschlecht zu, bedeutet eine Vereinfachung und ist nicht zeitstabil und wird deshalb zumindest in der Wissenschaft nicht mehr verwendet, ist aber dennoch hilfreich zur Unterscheidung verschiedener Formen des Alkoholismus. Klinisch relevant sind der Gamma-Typ (süchtiger Trinker), der Delta-Typ (Spiegeltrinker) und der Epsilon-Trinker (episodischer Trinker; Dipsomanie) (Tabelle 1.4). Tab. 1.4: Typologie nach Jellinek (1960) α – Typ β – Typ Problem, Konflikt- und Erleichterungstrinken Gelegenheitstrinker Süchtiger Trinker Gewohnheitstrinker Periodischer Trinker Psychische Abhängigkeit Weder psychische noch physische Abhängigkeit Zuerst psychische, dann physische Abhängigkeit Physische Abhängigkeit Psychische Abhängigkeit Missbrauch Missbrauch Abhängigkeit Abhängigkeit Missbrauch Kaum Mengenkontrollverlust, kein Kontrollverlust, kein undiszipliniertes Trinken Fähigkeit zur Abstinenz Stammtischtrinker (sozial eingebettet), kein Kontrollverlust Gehäuft Kontrollverluste, Phasen der Abstinenz Rauscharmer, kontinuierlicher Alkoholkonsum, kein Kontrollverlust, keine Abstinenz, oft in Regionen, in denen aus sozioökonomischen Gründen häufig Alkohol zur Verfügung steht Kontrollverlust, Fähigkeit zur Abstinenz 𝛄 – Typ 𝜹 – Typ 𝜺 – Typ Die Typologien nach Cloninger (1981) (Tabelle 1.5) oder von Babor (1992) (Tabelle 1.6) sind neuere Einteilungen. In der Typologie nach Cloninger werden genetische Aspekte mit den drei Persönlichkeitsmerkmalen des „novelty seeking“ (Suche nach Neuigkeiten), „harm avoidance“ (Schadensvermeidung) und der „reward dependence“ (Belohnungsabhängigkeit) 6 kombiniert. Durch Clusteranalysen auf der Basis klinisch-empirischer Studien wurde die Typologie nach Babor gewonnen. Die beiden Typologien stimmen insofern überein, als dass es Alkoholismustypen mit frühem (Typ II bzw. Typ B) und spätem Beginn (Typ I bzw. Typ A) gibt sowie bezüglich der Prognose: je früher der Alkoholismus auftritt, umso ungünstiger ist der Verlauf (Schmidt et al., 2003). Tab. 1.5: Typologie nach Cloninger (1981) Typ 1 Typ 2 Eher von Umweltfaktoren abhängig Eher von hereditären Faktoren abhängig Später Beginn (meist nach dem 25. Lebensjahr) Früher Beginn (meist vor dem 25. Lebensjahr) Bei beiden Geschlechtern vorkommend Auf das männliche Geschlecht begrenzt Eher milder Verlauf des Alkoholabusus Eher schwerer Verlauf des Alkoholabusus Hohes „reward dependence“ Niedriges „reward dependence“ Hohes „harm avoidance“ Niedriges „harm avoidance“ Niedriges „sensation seeking“ Hohes „sensation seeking“ Tab. 1.6: Typologie nach Babor (1992) Typ A Typ B Später Beginn (30. – 40- Lebensjahr) Früher Beginn (vor dem 21. Lebensjahr) Wenige Risikofaktoren in der Kindheit Vermehrte Risikofaktoren in der Kindheit Geringer Grad der Abhängigkeit Starke Ausprägung der Abhängigkeit, Missbrauch auch von anderen Substanzen Wenige körperliche und soziale Konsequenzen Konsequenzen des Alkoholkonsums nach kürzerer Zeit Geringe psychiatrische Komorbidität Hohe psychiatrische Komorbidität Geringe Belastetheit im familiären und beruflichen Umfeld Hohe Belastungsfaktoren im familiären und beruflichen Umfeld Gute therapeutische Prognose Schlechte therapeutische Prognose 7 1.1.3.3 Ätiologie Die Entstehung einer alkoholtypischen Persönlichkeitsstruktur scheint multifaktoriell zu sein. Daher steht heute eine Vielzahl von Erklärungsmodellen zur Suchtentstehung zur Verfügung, welche konzeptionell miteinander verknüpft sind. Es werden genetische und soziale Prädiktoren diskutiert sowie die Eigenwirkung des Alkohols selbst. Ein Erklärungsansatz für die Entstehung von Alkoholismus ist das so genannte biopsychosoziale Modell. Dabei wird eine Reihe von psychosozialen Bedingungen eher für die Initiierung des Konsums verantwortlich gemacht, also die Entscheidung eines jungen Menschen, einen mehr oder minder regelmäßigen Alkoholkonsum aufzunehmen, wohingegen für die Aufrechterhaltung des Konsums trotz aufkommender physischer oder sozialer Probleme bei immer exzessiver werdendem Trinkverhalten und für den Kontrollverlust bei nicht mehr steuerbarem Alkoholkonsum vorwiegend neurobiologische Faktoren prädisponierend sind. Ob ein Konsument abhängig wird oder nicht hängt dabei im Wesentlichen nicht von einzelnen protektiven bzw. Risikofaktoren ab, sondern ergibt sich aus der Summe der Risikofaktoren minus der Summe der Schutzfaktoren (Tretter, 2000). 1.1.3.3.1 Soziokulturelle Einflüsse Für die Untersuchung der Wirkung sozialer Statusaspekte bzw. kultureller Faktoren auf die Entstehung der Süchte ist eine Untergliederung in die Makroebene, Mesoebene und in die Mikroebene hilfreich (Tretter, 2000). Die Makroebene stellt dabei die umfassende Gesellschaft dar, wobei unterschiedliche Kulturen einen unterschiedlichen Einfluss auf die Prävalenz von Suchtkranken ausüben können. Die Mesoebene bezeichnet die Gemeinde bzw. Stadt oder Region. Beispielsweise wird das verhältnismäßige geringe Drogenproblem in München mit dem in Hamburg verglichen. Bei der Mikroebene ist von der Familie die Rede. Auf alle drei Ebenen wird im Folgenden eingegangen. Der Alkoholmissbrauch ist nicht gleichmäßig auf alle sozialen Schichten verteilt. So wird in der Personengruppe mit hohem soziökonomischen Status die gesundheitlich verträgliche Alkoholzufuhrmenge besonders häufig überschritten. Bei Frauen, die einer Personengruppe mit einem hohen sozioökonomischen Status zugehören zeigt sich, dass diese zu 30 % mehr als 10 g Alkohol täglich aufnehmen. Im Vergleich dazu beträgt der Prozentsatz der Frauen, die mehr als 10 g Alkohol täglich aufnehmen in der Gruppe mit niedrigem sozioökonomischen Status 9 %, in der mittleren Gruppe 14 %. Bei Männern finden sich ähnliche Prozentangaben (Burger & Mensink, 2003). Es gibt zwei Stereotypen der alkoholabhängigen Frau: einerseits die notbedürftige, arbeitslose Mutter oder im anderen Extremfall eine gestresste Managerin. 8 Der Großteil der Frauen mit Alkoholproblemen sind in der Mitte der beiden Extremen anzusiedeln: Lehrerinnen, Krankenschwestern, Verkäuferinnen etc. (Bracalenti, 2004). Bezüglich des familiären Hintergrunds zeigt sich einerseits, dass Alkoholkranke häufig aus Familien stammen, in denen sie von ihren Eltern vernachlässigt wurden (Broken-HomeSituation). Andererseits gibt es auch die Konstellation, dass Kinder von überprotektiven Eltern, die in guten sozialen Verhältnissen aufwachsen, zu Alkoholkranken werden und in jeder unangenehmen Situation von ihren Eltern aufgefangen werden. In einer Studie von Joyce et al. (1994) wurde festgestellt, dass Alkoholkranke in therapeutischen Einrichtungen signifikant häufiger einen überprotektiven Erziehungsstil der Eltern angaben als Männer ohne positive Alkoholismusanamnese einer Vergleichsstichprobe. Allerdings wurde von Probanden der Vergleichsstichprobe mit positiver Alkoholismusanamnese ein eher normaler Erziehungsstil beider Eltern angegeben, was die Frage aufkommen lässt, in wieweit sich beide Gruppen von Alkoholikern vergleichen lassen. Zu den Risikofamilien, aus denen Alkoholiker hervorgehen zählen neben Familien, in denen ein vorwiegend überprotektiver Erziehungsstil herrscht oder eine Vernachlässigung der Kinder festzustellen ist, Familien, die durch Alkoholund Drogenmissbrauch, Disharmonie und Strukturmangel gekennzeichnet sind. Adoptionsstudien zeigten, dass Menschen, die in ihrer früheren Kindheit lange in Heimen lebten, als Erwachsene ein erhöhtes Risiko aufweisen, alkoholabhängig zu werden (Cloninger, Bohman & Sigvardson, 1981), vermutlich durch soziale Isolation als Stressfaktor mit fehlender sozialer Integration und gesellschaftlicher Anerkennung als bedeutende Faktoren für die Entstehung von Abhängigkeiten (Heinz & Mann, 2001). Weitere Vulnerabilitätsfaktoren sind eine ungünstige Peergroup im jugendlichen Alter, in denen Gruppenprozesse zu vermehrtem Alkoholkonsum disponieren (Schmidt et al., 2003), sowie eine berufliche Tätigkeit mit leichtem Zugang zu Alkoholgetränken. Aus dem Sucht- und Drogenbericht des Bundesministeriums für Gesundheit von 2000 geht außerdem hervor, dass arbeitslose Jugendliche, die familiär und gesellschaftlich nicht integriert sind stark gefährdet sind, Alkohol in höheren Dosen aufzunehmen und somit alkoholabhängig zu werden und dass junge Aussiedler zu einem besonders riskantem Mischkonsum von Alkohol und Opiaten neigen. Einen wesentlichen Einfluss des sozialen Umfelds auf die Suchtentwicklung äußert sich in der Einwirkung der Co-Abhängigkeiten der Bezugspersonen, sei es in Familie, Arbeit oder Freizeit. Auch hier lassen sich mehrere Phasen unterscheiden: die Unterstützungsphase, die Kontrollphase, die Anklagephase gefolgt von der Resignationsphase. In allen Phasen reagiert der Abhängige mit verstärktem Konsum. Während in der Unterstützungsphase der Betroffene 9 geschützt und verstanden wird, sein Alkoholkonsum also als selbstverständlich gewertet wird, versucht der Co-Abhängige in der Kontrollphase den Abhängigen auszuspionieren, um eine gewisse Kontrolle über ihn zu erlangen. Während der Anklagephase wird ein Klagen über den Alkoholkonsums des Betroffenen ausgesprochen und Konflikte können auftreten. In der Resignationsphase zieht sich der Co-Abhängige zurück, der Co-Abhängige und der Betroffene distanzieren sich voneinander (Tretter, 2000). Früher unterschied man so genannte Abstinenzkulturen wie z.B. den Islam, wo der Konsum von Alkohol religiös sanktioniert ist, von Permissivkulturen und Ambivalenzkulturen. In Permissivkulturen wie beispielsweise mediterrane Länder, tritt aufgrund gemeinschaftlicher Trinksitten eher der pathologische Trinkertyp des Spiegeltrinkers und daraus resultierend eine Abstinenzunfähigkeit auf (Schmidt et al., 2003). Beispiele für Ambivalenzkulturen sind der amerikanische Puritanismus oder Skandinavien, wo aufgrund eines gesellschaftlich eng reglementierten Trinkstils der Exzess dann typischerweise mit Kontrollverlust einhergehen soll. Bei Indianern oder den australischen Aborigines ist der Umgang mit Alkohol nicht in die Riten und Normen der Kultur eingebunden. Daraus können besonders zerstörerische Auswirkungen des Alkoholkonsums resultieren (Schmidt et al., 2003). 1.1.3.3.2 Psychoanalytische Aspekte Aus psychoanalytischer Sicht wird Sucht als Symptom einer dahinter liegenden Störung verstanden, welche aufgrund von psychostrukturell bedingten Dysregulationen von Affekten entsteht (Tretter, 2000). Erikson beispielsweise versteht Alkoholkonsum als Ausdruck der Regression auf orale Wünsche, Freud hingegen sieht im Suchtmittel den Ersatz für Masturbation, der Urform der Sucht. Das Suchtmittel Alkohol wird dabei als Objektersatz zu Beziehungen zu anderen Menschen gebraucht. Im Vordergrund stehen „Abhängigkeits-Autonomie-Konflikte“ (Heigl-Evers, 1985), die sich in Beziehungsstörungen mit der exzessiven Suche nach Anerkennung oder einer Abgrenzung gegenüber der Umwelt ausdrücken. Aufgrund dessen sind narzisstische Krisen häufig. Eine der Kurzformeln der Psychoanalyse der Sucht (Lürssen, 1976) lautet daher: der Süchtige ist narzisstisch gestört (Kohut, 1975). Bezogen auf das Instanzenmodell nach Freud stellt die Droge ein Hilfsmittel für das Ich dar, die verdrängten Bedürfnisse des Es gegenüber dem Über-Ich durchzusetzen. Oft ist das Ich dabei überfordert, die aktuellen psychischen Prozesse zu regulieren, da es Defizite in der Objekt- und Selbstrepräsentanz gibt. Dadurch entsteht die so genannte Affektintoleranz, das 10 heißt eine Reizüberflutung mit nicht identifizierbaren und schwer steuerbaren Unlustgefühlen, die sich sowohl aus der Überforderung des Ich als auch aus der unzureichenden Effektivität der gegebenenfalls angewandten Abwehrmechanismen wie Projektion, Externalisierung, Verleugnung oder Rationalisierung entwickeln. Zusätzlich kommt es durch Gefühle des Scheiterns und der Angst durch das Zusammenbrechen der Regulationssysteme zu einer Frustrationsintoleranz, die sich beispielsweise in inadäquat intensiven Enttäuschungsreaktionen äußern können. Im Rauscherleben werden positive Anteile des Selbst angeregt, wohingegen im nüchternen Zustand unangenehme Erfahrungen sowie verschärfte reale Beziehungsstörungen mit der Umwelt im Vordergrund stehen. Demzufolge wird dem Bedürfnis nach Berauschung zunehmend stattgegeben (Tretter, 2000). 1.1.3.3.3 Psychodynamische Aspekte 50 bis 70 % der Alkoholabhängigen erfüllen die Kriterien für eine schwere psychiatrische Störung (Kessler et al., 1997). Dabei wird von Schuckit et al. (1997) empfohlen, zwischen den durch Alkoholintoxikation oder –entzug induzierten Störungen und den vom Alkohol unabhängigen, aber mit Alkoholismus assoziierten Störungen andererseits zu unterscheiden. Anderenfalls würde die Prävalenz unabhängiger Störungen, zu denen Störungen der Ernährung, bipolare Störungen, Schizophrenien, Panikerkrankungen und Persönlichkeitsstörungen zählen, weit überschätzt werden. Die Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen bei Alkoholabhängigen variiert zwischen 30 und 80 %, wobei alle Persönlichkeitsstörungen wiedergefunden werden können (Bailly & Venisse, 1999). Am häufigsten findet sich dabei die schizoide Persönlichkeitsstörung, gefolgt von der abhängigen Persönlichkeitsstörung (Marchiori, Loschi, Marconi, & Pavan, 1999). Eine spezifische Persönlichkeitsstruktur bei Alkoholabhängigen konnte bisher jedoch noch nicht definiert werden (Gammeter, 2002). Während einer Intoxikation, eines Entzugs und kurz nach stationärer Aufnahme von alkoholabhängigen Patienten konnten jedoch pathologische Skalenwerte für diverse Persönlichkeitsmerkmale gefunden werden, von denen viele bei Abstinenz nicht mehr vorhanden sind und die sich auch nicht auf Alkoholismus zurückführen lassen. Eine Ausnahme stellt dabei das Persönlichkeitsmerkmal der Impulsivität dar, das bei 15 bis 20 % der Alkoholabhängigen mit antisozialer Persönlichkeitsstruktur auftritt, was wiederum ein hohes Risiko für Kriminalität und Gewalt darstellt (Hintz, Diehl, & Croissant, 2004; Joyce et al., 1994). Nach Kessler et al. (1997) beträgt die Prävalenz einer antisozialen Persönlichkeit bei alkoholabhängigen Frauen 5 %, bei alkoholabhängigen 11 Männern 15 %, was etwa einem 10mal höherem Anteil als in der Allgemeinbevölkerung entspricht. 1.1.3.3.4 Verhaltenspsychologische Theorien Die Entscheidung, nach erstmaligem Alkoholkonsum trotz auftretender Probleme wieder Alkohol zu konsumieren wird durch die Erwartungen eines belohnenden Effektes des Alkoholkonsums im Sinne der Spannungs-Reduktions-Hypothese (Conger, 1956), die kognitive Einstellung zur Verantwortung des eigenen Verhaltens und der späteren positiven oder negativen Verstärkung nach Alkoholkonsum beeinflusst. Außerdem scheint der Konsum von Alkohol eine Coping-Strategie für den alltäglichen Stress zu sein und eine Art Selbstheilungsversuch zu verkörpern. So kann er der Beruhigung innerer Konflikte und der Reduktion von Spannungen dienen, sexuelle und aggressive Triebspannung unter Kontrolle bringen, Gefühle von Trauer, Einsamkeit, Zorn und Bedrängnis sowie Angstsymptome unterdrücken. Besonders bei Adoleszenten wird Alkohol dazu benutzt um Minderwertigkeitsgefühle, Frustrationsempfindungen und Missempfindungen allgemeiner Art zu bekämpfen und um den gesellschaftlichen Kontakt zu erleichtern. Die Ursachen des Alkoholkonsums lassen sich als Suche nach Spannungsreduktion zusammenfassen. So postulierte Conger 1956 in der Spannungs-Reduktions-Hypothese, dass der Konsum von Alkohol in angstbesetzten Situationen zu einer Erleichterung führt und diese Erfahrung als negative Verstärkung für weiteren Konsum dient. Diese von Conger postulierte Hypothese knüpft eng an das lerntheoretische Modell der operanten Konditionierung an: Verhalten mit unmittelbarem positivem Effekt wird wiederholt, Verhalten mit unmittelbar negativen Effekten wird vermieden. Durch dieses Modell wird vor allen Dingen die Entwicklung des Gewohnheitstrinkens in Gesellschaft erklärt. Aber auch durch das Modell der klassischen Konditionierung können bestimmte Signale süchtiges Verlangen auslösen, wie etwas ein Bier bei einem bestimmten Gericht zu sich zu nehmen. Schließlich kann sich auch durch Lernen am Modell eine Sucht entwickeln, wenn beispielsweise Kinder den Alkoholkonsum ihrer Eltern nachahmen. Zuletzt sei noch auf das Grundmodell der modernen Verhaltensanalyse von Kanfer und Saslow (1965) eingegangen, welches SORKC-Modell genannt wird. Demnach beruht die Suchtentwicklung auf dem Zusammenspiel von situativen Bedingungen (S), organismischen Zuständen (O), Reaktionen (R), Kontingenzen (K), und Konsequenzen (C) (Abb.1.1). Bei einer Kontingenz der Konsequenzen des Verhaltens mit dem Verhalten kommt es zu einer Verstärkung (oder 12 einer Bestrafung) des Verhalten, wodurch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens verändert wird. Zuwendung Entspannung Kontingenz Situation Organismus Reaktion Consequenz (Alkoholkonsum) Abb. 1.1: Das SORKC-Modell der Sucht am Beispiel des Alkoholkonsums (Erläuterungen s. Text). 1.1.3.3.5 Psychopathogenese In dem Phasenmodell der Alkoholabhängigkeit nach Jellinek aus dem Jahre 1960 werden vier Phasen unterschieden: die voralkoholische Phase, die Anfangsphase, die kritische Phase und die chronische Phase. Die voralkoholische Phase ist geprägt durch Erleichterungstrinken, in der Anfangs- oder Prodromalphase treten Gedächtnisstörungen nach schweren Intoxikationen auf (sog. Filmrisse). Beginnender Kontrollverlust ist kennzeichnend für die kritische Phase und in der chronischen Phase wird morgendliches Trinken zur Vermeidung von physischen Entzugserscheinungen praktiziert. Schließlich kann es auch zum Toleranzverlust kommen, das heißt die Alkoholmengen werden verringert, weil sie nicht mehr vertragen werden. Die Symptomverläufe sind dabei fluktuierend mit wechselndem Schweregrad. Unterschiede bestehen hier vor allem beim Geschlecht: die Alkoholabhängigkeit bei Männern entwickelt sich meist früher als bei Frauen, vermutlich aufgrund sozialer Akzeptanzprozesse. Bei Frauen hingegen findet die Exposition mit Alkohol in der Regel später statt, jedoch kommt es zu einer früheren Ausbildung einer Abhängigkeit und Folgeschäden im Vergleich zu Männern. Dieses Modell beschreibt den typischen Verlauf der Alkoholkrankheit, wie er in den meisten Fällen zutreffend ist, insbesondere bei der von Jellinek als γ-Typ bezeichneten Kerngruppe, gibt jedoch keine Auskunft darüber, welche Faktoren als individuelle oder lebensgeschichtliche Risikofaktoren bei der Ausbildung der Alkoholkrankheit eine Rolle spielen können. Hierzu gibt es eine Fülle von Untersuchungen, durch die versucht wird, 13 protektive beziehungsweise prädisponierende Faktoren für die Entwicklung einer Alkoholkrankheit zu bestimmen. In einer Studie von Vaz-Serra, Canavarro und Ramalheira (1998) wurde die Qualität der emotionalen Beziehung in der Familie im Hinblick auf die Ausbildung einer Alkoholkrankheit untersucht. Dabei zeigte sich, dass es in den Elternhäusern von Alkoholkranken im Vergleich zu Elternhäusern von Nicht-Alkoholkranken eine höhere Präsenz sowohl an Ablehnung und Kritik als auch an Überprotektion gibt, welches sich in der Erziehung der eigenen Kinder fortsetzt. Ähnliche Ergebnisse fanden sich auch in einer Studie von Joyce et al. aus dem Jahre 1994. Untersucht wurde auch der Bindungsstil mittels der Adult Attachment Scale (Collins & Read, 1990). Dabei zeigte sich unter Alkoholkranken der ängstliche Bindungsstil als signifikant häufig. Den psychosozialen Bereich betreffend lassen sich weitere intervenierende Variablen für die Ausbildung eines Alkoholismus feststellen. Remschmidt fasste 2002 mögliche Risikogruppen von Kindern und Jugendlichen zusammen, auf die folgende Variablen zutrifft: 1. Vorhandensein bestimmter psychopathologischer Auffälligkeiten wie beispielsweise Depressionen, Angststörungen, hyperkinetisches Syndrom, Störungen des Sozialverhaltens, Dissozialität und Essstörungen, 2. Herkunft aus Alkoholikerfamilien oder aus anderweitig gestörten Familien, (Schuckit & Smith, 1996, 2000) 3. Überforderung mit den eigenen Entwicklungsaufgaben, 4. Arbeitslosigkeit (Henkel & Vogt, 1990), familiäre und gesellschaftliche Desintegration, 5. Fremdherkunft. Den letzten Punkt betreffend lässt sich im Sucht- und Drogenbericht 2000 des Bundesministeriums für Gesundheit entnehmen, dass junge Aussiedler zu einem besonders riskanten Mischkonsum von Alkohol und Opiaten neigen. In einer Arbeit von Bracalenti aus dem Jahre 2004 wird auf lebensgeschichtliche Risikofaktoren mit Fokus auf das weibliche Geschlecht eingegangen. Dabei stellt das weibliche Geschlecht per se mit häufigem sicherem Bindungsstil zunächst einmal einen protektiven Faktor dar (De Fronzo & Pawlak, 1993). Diverse Lebensereignisse und situative Begebenheiten können jedoch als Risikofaktoren dargestellt werden, wie beispielsweise während der Kindheit erfahrene physische Gewalt und sexueller Missbrauch (De Fronzo & Pawlak, 1993; Wilsnack, 1996). Unter alkoholkranken Frauen lässt sich ein hoher Prozentsatz an der während der Kindheit sexuell missbrauchten Frauen finden, was zu Störungen der Geschlechtsidentität und Angststörungen führt, eingeschlossen posttraumatische Belastungsstörungen (Wilsnack, 1996). Der Alkohol dient also als Instrument dazu, um a) eine Intimität zu ertragen, die zu traumatischen Erinnerungen führt, b) den Schmerz über das 14 Trauma zu heilen, c) durch das Trauma gestörte psychologische Funktionen zu reparieren, d) das Trauma durch den anästhetischen Effekt des Alkohols auszulöschen (Bracalenti, 2004). Als weitere Stressfaktoren gelten der Verlust oder das Nichtvorhandensein von signifikanten sozialen und psychologischen Rollen der Frau, wie der Verlust oder das Nichtvorhandensein von Arbeit, Mutterschaft, Partnerschaft (Forth-Finegan, 1991; Wilsnack, 1996). Die Unzufriedenheit über diesen nicht gewünschten Status, der aufgrund äußerer Begebenheiten oder innerer Konflikte akzeptiert werden muss, provoziert eine Vermehrung der Alkoholzufuhr. Somit wird durch den Alkoholkonsum versucht, über Unzufriedenheit, Langeweile und das Gefühl des Gefangenseins in einer ungewollten Rolle zu siegen (Wilsnack, 1996). Aber auch Schwangerschaft und Geburt stellen intensive, begeisternde, aber auch dramatische Erfahrungen dar und werden als Stressfaktoren gewertet (Bracalenti, 2004). Daher resultiert auch die Ko-Morbidität zwischen postpartaler Depression und Substanzabusus einschließlich Alkohol. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch individuelle Vulnerabilitätsfaktoren, beispielsweise Dissozialität, leichte Irritierbarkeit, Impulsivität, Stimulationssuche, verminderte Fähigkeit im Gravitationsaufschub, Defizite in sozial adaptiven Fähigkeiten. So können diese Vulnerabilitätsfaktoren in Kombination mit den oben erwähnten Risikofaktoren zum Problemtrinken beitragen (Weinberger & Bartholomew, 1996). Leider liegen fast keine Untersuchungen dazu vor, wie sich derartige Belastungen auf die neurobiologischen Korrelate abhängigen Verhaltens auswirken. 15 1.2 Konzept der Bindungstheorie „Attachment behaviour is held to characterize human beings from the cradle to the grave” (Bowlby, 1979, S. 129). Die Bindungstheorie wurde zunächst von dem englischen Psychiater und Psychoanalytiker Bowlby konzipiert und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Sie stellt ein umfassendes Modell zum Verständnis von menschlichen Bindungen und zur Bedeutung unseres Wohlbefindens dar (Schmidt & Strauß, 1996). Bindung („attachment“) wird als ein affektives Band zwischen Eltern und Kind definiert, welches die beiden über den Raum und Zeit hinweg verbindet. Dabei wird von der Hypothese ausgegangen, dass es ein eigenes phylogenetisch erworbenes so genanntes „Bindungssystem“ gibt, welches aktiviert wird, sobald sich ein Individuum von einer äußeren oder inneren Gefahr bedroht fühlt (Bowlby, 1975). Durch die Aktivierung dieses Systems wird dann Schutz bei einer „Bindungsperson“ gesucht (Köhler, 2002). Das Bindungssystem reguliert gewissermaßen das Verhalten des Individuums. Diese Bindungsrepräsentation wird auch als Inneres Arbeitsmodell („inner working model“) bezeichnet. Sie definiert das Selbst und enthält die Erwartungen über uns und andere, die wir in zwischenmenschliche und emotionale Begegnungen hineintragen und bildet sich in den Monaten nach der Geburt aus, wenn das Neugeborene in besonderer Weise auf Fürsorge angewiesen ist (Köhler, 2002). So ging Bowlby davon aus, dass psychische Störungen des Erwachsenenalters mit einer gestörten Bindung in der Kindheit verknüpft sind (Bowlby, 1973). Da die Bindungserfahrungen also eine grundlegende Auswirkung auf unsere psychische Entwicklung haben, könnten sie auch bei der Suchtentwicklung von Bedeutung sein. Die Qualität der Bindung wird von der Persönlichkeit bzw. den Bindungsrepräsentanzen der Pflegeperson in der Frühphase des Kindes bestimmt, nicht durch das Kind selbst (Köhler, 2002). Dabei resultieren unterschiedliche Bindungsstile in Abhängigkeit von der Regulierung unseres Erlebens und Verhaltens durch das innere Arbeitsmodell (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978; Bartholomew & Horowitz, 1991). Aus Studien lässt sich vermuten, dass ein bestimmter Bindungsstil innerhalb der ersten sechs Lebensjahre außerordentlich stabil sei (Main & Cassidy, 1988; Wartner et al., 1994). Bei näherer Betrachtung dieser Studien fällt jedoch auf, dass es sich bei den Probanden um Kinder aus mittelständigen Familien und stabilen Lebensverhältnissen handelte. Man könnte daher zur Annahme gelangen, dass dadurch eventuelle Umweltfaktoren, die das Bindungsverhalten gegebenenfalls beeinflussen könnten, nicht untersucht wurden. In Längsschnittstudien 16 untersuchte Risikokinder zeigten hingegen eine geringe Stabilität der Bindungsmuster (Crowell. Fraley, & Shaver, 1999). Die Stabilität kann also bei kritischen Lebensereignissen wie beispielsweise Trennung der Eltern, Geburt eines Geschwisterkindes (Thompson, 1992), oder aber auch bei Verbesserungen der aktuellen Lebenssituation wie beispielsweise Verbesserung der elterlichen Qualität (Belsky, 1991) verändert werden. Eine bestimmte Strategie zur Erlangung gefühlter Sicherheit, die auch als Bindungsstil bezeichnet wird, resultiert in Abhängigkeit von verinnerlichten Bindungserfahrungen (Steffanowski, 1999). 1.2.1 Bindungsstile Ainsworth et al. (1978) beschreiben bei Kleinkindern drei grobe Bindungsqualitäten nach einem bestimmten Beurteilungssystem. Diese wurden mit den Begriffen sicher (Klasse B), unsicher-vermeidend (Klasse A) und unsicher-ambivalent (Klasse C) bezeichnet. Diese Klassifikation erfolgte durch die von Ainsworth und Wittig (1969) entwickelte „Fremde Situation“. Dabei handelt es sich um eine standardisierte Situation, in der das Verhalten von Kindern im Alter zwischen 12 und 18 Monaten beobachtet wird und zwar bei zweimaliger kurzer Trennung von einem Elternteil und anschließender Wiedervereinigung. Von Main und Solomon (1986) wurde eine vierte Kategorie beschrieben: die unsicher-desorganisierte Bindung (Klasse D), die durch ein auffallendes Fehlen einer eindeutigen bindungsbezogenen Verhaltensstrategie gekennzeichnet ist. Dieses Merkmal wurde jedoch auch in den klassischen drei organisierten Bindungstypen B, A und C beobachtet. In späteren Arbeiten werden vier Bindungsmuster verwendet, welche bei Erwachsenen eine bessere Differenzierung erlauben. So beschreiben Bartholomew und Horowitz (1991) neben einem als sicher bezeichneten Bindungsstil drei unsichere Bindungsstile bei Erwachsenen. Diese drei Bindungsmuster tragen die Bezeichnung anklammernd, abweisend und ängstlichvermeidend. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Bindungsstil eines Individuums aus der Kombination von zwei kontinuierlichen Dimensionen resultiert. Diese Dimensionen werden von Bowlby (1973) wie folgt beschrieben: es wird angenommen, dass Kinder im Laufe der Entwicklung bestimmte Bindungserfahrungen internalisieren und diese Internalisierung nutzen, um zu beurteilen, ob „(a) eine Bindungsperson eine Person ist, die auf die Bitte um Unterstützung und Schutz reagiert oder nicht, und (b) ob die Person bei anderen Menschen Unterstützung hervorrufen kann“. So bezieht sich die erste Beurteilung auf das Bild eines Kindes vom anderen Menschen und die zweite auf das Selbstbild des Kindes. Beide Beurteilungen können entweder positiv oder negativ sein. Durch Dichotomisierung beider Variablen entsteht ein Schema, welches vier prototypische Bindungsstile beinhaltet und als 17 vierkategorisches Modell Eingang in die Bindungsforschung gefunden hat (Abb. 1.2). Collins und Read (1990) identifizierten empirisch eine dritte Dimension mit der Bezeichnung Vertrauen. Diese korrelierte erheblich mit beiden Dimensionen Angst vor Trennung und Nähe. Sie lässt sich als allgemeines Maß für die Bindungssicherheit interpretieren: „Sicher gebundene Menschen vertrauen anderen, suchen menschliche Nähe und haben wenig Verlustängste“ (Steffanowski et al., 2001). positives Anderenmodell positives negatives Selbstmodell Selbstmodell sicher (secure) anklammernd (preoccupied) abweisend (dismissing) ängstlichvermeidend (fearful) negatives Anderenmodell Abb. 1.2: Vierkategoriales Bindungsmodell nach Bartholomew & Horowitz (1991) Eine Person mit sicherem Bindungsstil hat demnach ein positives Selbstmodell mit einem internalisierten Gefühl des Selbstwertes, das nicht von dauernder externer Validierung abhängig ist und es werden zugleich andere Menschen positiv im inneren Arbeitsmodell abgebildet, das heißt sie werden für verfügbar und unterstützend gehalten, weshalb die Fähigkeit besteht, nahe Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. Die aktive Suche nach Nähe und Unterstützung erfolgt ohne sich dabei von den Erwartungen anderer abhängig zu machen und die eigene Autonomie zu opfern. Sichere Personen weisen ein hohes Ausmaß an Autonomie auf und sind vertraut mit Intimität (Buchheim & Strauß, 2002). Der anklammernde Bindungsstil hingegen wird charakterisiert durch ein negatives Selbstbild, das heißt, die Person sieht sich selbst nicht als liebenswert an, welches einem positivem Bild von anderen Menschen gegenübersteht. Personen mit anklammerndem Bindungsstil neigen demnach dazu, sich in der Hoffnung, Selbstbestätigung zu erlangen, übermäßig in engen Beziehungen zu engagieren. Zugleich wird die Tendenz beobachtet, andere zu idealisieren und sich von ihnen abhängig zu machen (Steffanowski, 2000). 18 Eine Person mit abweisendem Bindungsstil erwartet von anderen Menschen Zurückweisung, hat von sich selbst jedoch eine hohe Meinung. Nähe wird daher aus Angst vor Zurückweisung unter Betonung der eigenen Unabhängigkeit vermieden (Steffanowski, 2000). Bindungen werden verleugnet und es wird begrüßt, weder von anderen abhängig zu sein, noch dass andere abhängig von der abweisenden Person sind. Der ängstlich-vermeidende Prototyp hat sowohl ein negatives Selbstbild als auch ein negatives Bild von anderen. Er fühlt sich unwohl bei Nähe zu anderen Personen, ist geprägt durch sehr starkes Misstrauen und vermeidet engere Beziehungen aus Angst vor Zurückweisung. Von allen vier Typen ist er derjenige, der das geringste Selbstvertrauen besitzt. Daher erweckt eine solche Person einen unsicheren und ängstlichen Eindruck (Steffanowski, 2000). 1.2.2 Psychopathologie und die klinische Relevanz der Erfassung von Bindungsmustern Zu den Zielen der Bindungstheorie gehören die Beschreibung der Bedingungen, die den Aufbau enger emotionaler Beziehungen fördern oder einschränken und die Verdeutlichung der Konsequenzen, die Unterbrechungen, Beeinträchtigungen oder Störungen solcher Bindungen für die Entwicklung von emotionalen oder Persönlichkeitsstörungen im Lebenslauf haben. Die Bindungstheorie ist jedoch nicht als monokausales Modell zu verstehen, das Bindungsorganisation als alleinigen Risikofaktor für Psychopathologie darstellt. Vielmehr zeigen die Ergebnisse der Entwicklungspsychopathologie, dass nur eine Häufung von Risikofaktoren eine Vorhersage von Fehlanpassung und psychischer Störung zulässt. Eine sichere Bindungsorganisation ist im Sinne der Entwicklungspsychopathologie als ein zentraler Schutzfaktor zu betrachten, eine unsichere Bindungsorganisation als ein Vulnerabilitätsfaktor. Bindungssicherheit und –unsicherheit sind jedoch nicht mit seelischer Gesundheit bzw. Psychopathologie gleichzusetzen (vgl. Zimmermann, 2002). Dabei spielt Bindungssicherheit eine große Rolle bei der Ausbildung von Kompetenzen im Umgang mit emotionaler Belastung. Das heißt, dass Bindungssicherheit eine gute Prämisse darstellt, um Risikofaktoren oder Belastungen erfolgreich zu bewältigen. Aus folgenden Gründen ist die Relevanz der Bindungsorganisation gegeben: • „Der Bindungsaufbau ist eine Entwicklungsthematik der frühen Kindheit, die bereits früh die Bewältigung nachfolgender Entwicklungsthematiken beeinflusst. • Bindungserfahrungen sind Erfahrungen der sozialen Regulation negativer Gefühle und bilden die Grundlage für individuelle Strategien im Umgang mit emotionaler Belastung. 19 • Innere Arbeitsmodelle (IAM) entwickeln sich als Selbststeuerungssystem auf der Basis von Bindungs- und Beziehungserfahrungen und beeinflussen Motivation, Kognition, Emotion und Verhalten. • IAM tragen zur „Wahl“ bestimmter Entwicklungspfade bei, da mit zunehmendem Alter die Auswahl von Umwelten und Beziehungen autonomer wird und sich das Individuum Umwelten sucht, die zu ihm „passen“.“ (Zimmermann, 2002) Wie oben erwähnt zeigen sich im Hinblick auf die Vorhersage einer bestimmten psychischen Störung Multifinalität, das heißt viele verschiedene Störungsbilder resultieren aufgrund eines einzelnen bestimmten Risikofaktors und Multikausalität, das heißt ein bestimmtes Störungsbild wird durch verschiedene Risikofaktoren verursacht. Die Bindungstheorie könnte gewissermaßen eine Basis für die häufig untereinander komorbid vorliegenden Persönlichkeitsstörungen darstellen (Pilkonis, 1997; West & Sheldon-Keller, 1994). In klinischen Populationen ist eine Häufung von Patienten mit unsicherem Bindungsstil festzustellen. So wurde beispielsweise in einer Studie von Rosenstein und Horowitz (1996) festgestellt, dass ein unsicherer Bindungsstil signifikant häufig vertreten ist bei Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens, affektiven Störungen und Suchterkrankungen, sowie auch bei diversen Persönlichkeitsstörungen. Eine repräsentative US-Stichprobe aus dem Jahr 1997 von Mickelson, Kessler und Shaver zeigte, dass alle Psychopathologien außer Substanzabusus und Schizophrenien (diese wurden nicht untersucht) negativ mit dem sicheren Bindungsstil korrelieren und positiv sowohl mit dem unsicher-vermeidenden und unsicher-ängstlichem Bindungsstil korrelieren. Längsschnittstudien zeigten direkte Vorhersagen von aggressivem, dissozialem Verhalten aufgrund von unsicherer Bindungsqualität (Allen, Hauser, & BormanSpurell, 1996; Suess, Grossmann, & Sroufe, 1992), wie dies auch in Querschnittsuntersuchungen gezeigt wurde (Allen, Moore, Kuperminc, & Bell, 1998). Außerdem konnten dissoziative Störungen im Jugendalter aufgrund von früher Bindungsdesorganisation und unverarbeiteten Traumata (Ogawa, Sroufe, Weinfield, Carlson, & Egeland, 1997) sowie Angststörungen im Jugendalter aufgrund unsicher-ambivalenter Bindung (Warren, Huston, Egeland, & Sroufe, 1997) nachgewiesen werden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Bindungsstruktur umso seltener auftritt und sich umso häufiger Desorganisation bzw. nicht eindeutig klassifizierbare Bindungsstrukturen finden, je schwerwiegender die Störung ist (Goldberg, 1997). Einige Autoren sehen in der Bindungstheorie eine Hilfe zum besseren Verständnis verschiedener klinischer Störungsbilder. Zusätzlich zu den oben genannten Störungsbildern sind auch Diagnosen wie Agoraphobie (Liotti, 1991), psychosomatische Störungen (Strauss & 20 Schmidt, 1997), vor allem aber Persönlichkeitsstörungen (Fonagy et al., 1995; Henry, 1997; Horowitz, Milbrath & Stinson, 1997; Livesley, Schroeder, & Jackson, 1990; Mestel, 2001) im Zusammenhang mit Bindungsstilen untersucht worden. Die Untersuchungsergebnisse zeigen jedoch auch auf, dass auch Personen mit sicherem Bindungsstil psychische Erkrankungen und Störungsbilder aufweisen können. Hier wird nochmals deutlich, dass die Psychopathogenese nicht monokausal erklärt werden kann. Zudem liegen bisher gerade zur prädiktiven Validität der Bindungsstile in Bezug auf Therapieerfolge sehr heterogene Untersuchungsergebnisse vor. Dies könnte teilweise auch in der mangelnden Vergleichbarkeit aufgrund zahlreicher unterschiedlicher Kriterien (z.B. Bindungsmethodik, Diagnosen, Art der Behandlung) begründet sein. So zeigte sich beispielsweise bei Fonagy et al. (1995), dass vor allem die distanziert gebundenen Patienten gute Therapieerfolge erzielten, während sich bei Dozier (1990) die Patienten mit unsicherdistanziertem Bindungsstil gerade am wenigsten verbesserten. 1.2.3 Epidemiologie Aus einer Metaanalyse von van Ijzendoorn und Bakermans-Kranenburg aus dem Jahre 1996 zur Erhebung von normativen Daten geht hervor, dass der Anteil sicher gebundener Erwachsener in klinisch unauffälligen Stichproben 58%, in klinischen Stichproben hingegen bei 14 % liegt. Bezüglich der Adult Attachment Scale (Collins & Read, 1990), auf welche im Kapitel 1.2.5.3 näher eingegangen wird, fand sich in der Normalpopulation ein Verteilungsmuster von 47% mit sicherem, 38% mit unsicher-ängstlichem, und 15 % mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil. 1.2.4 Methoden der klinischen Bindungsforschung Erst Mitte der 80er Jahre wurden Methoden entwickelt, um bindungsbezogene Merkmale bei Erwachsenen systematisch zu erfassen. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass die Bindungstheorie in der klinischen Forschung, zumindest was die Erwachsenenforschung betrifft, erst so spät rezipiert wurde, obwohl die historischen Anfänge der Bindungstheorie mit Bowlby als Hauptmitbegründer schon Ende der 60er Jahre liegen. Erstmals gelang es Ainsworth et al. (1978) mit der Identifizierung von drei Bindungsstilen bei Kleinkindern anhand der „Fremden Situation“, bindungstheoretische Konstrukte einer empirischen Überprüfung zugänglich zu machen. Mary Main entwickelte, mit dem Fokus, Eltern-Kind-Beziehungen aus bindungstheoretischer Sicht besser beschreiben zu können, das 21 Erwachsenen-Bindungs-Interviews (Adult Attachment Interview [AAI], 1985-1996) und leistete damit in der Erwachsenenbindungsforschung Pionierarbeit. Somit hat die Erwachsenenbindungsforschung einerseits ihre Wurzeln in der klinischen Entwicklungspsychologie, andererseits in der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, zu der Fragebogenmethoden zur Erfassung von Bindungsmustern überwiegen. Von Bartholomew und Shaver (1998) wurden die verschiedenen Entwicklungen in der Methodik der Erwachsenenbindungsforschung beschrieben. Sie problematisieren in der Diskussion um die Konvergenz und Divergenz der einzelnen Methoden die schwere Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Ansätze (vgl. Buchheim & Strauß, 2002). Da die Erwachsenenbindungsmethoden jedoch auf ein und dasselbe theoretische Konstrukt ausgerichtet sind, gehen Bartholomew und Shaver von einem hypothetischen Konvergenzkontinuum der Erwachsenenbindungsmethoden aus, auf dem sich alle Methoden zur Erhebung der Erwachsenenbindung anordnen lassen. Dabei steht an einem Pol das aufwändige, methodisch am anspruchsvollste Messinstrument, nämlich das AAI und hingegen am anderen Pol die Ein-Item-Zuordnung zur Bindung Erwachsener in Liebesbeziehungen von Hazan und Shaver (1987), die als einfachste und ökonomischste Methode betrachtet wird. Von Pol zu Pol verändern sich mindestens drei Eigenschaften der Erhebungsmethoden: • Die Komplexität der Instrumente und Aufwand der Erhebung • Der Gegenstand der Items • Die Art der Beurteilung Dieses Kontinuum wurde von Buchheim und Strauß (2002) aufgegriffen, übersetzt und um deutschsprachige Instrumente erweitert (Abb. 1.3). 22 AAIFamilienPartnerbezogenes Elterninterview Bindungsinterview Bindungsinterview AAI (George AAI-Q-Sort Erwachsenenet al. 1985) (Kobak et bindungsal. 1993) Interview (EBPR, Strauß et al. 1999) Partnerbezogene Selbstbeschreibung Interview zu engen Beziehungen BFPE (vgl. Höger 1999) Multi-ItemBindungsskalen Ein-ItemSelbstzuordnung Single-Item-Maß (Hazan & Shaver 1987) AAS (Collins & Read 1990) Bindungsskalen Bindungsskalen (Asendorpf et al. (Grau 1999) 1997) Abb. 1.3: Hypothetisches Konvergenzkontinuum der Erwachsenenbindungsforschung (in Anlehnung an Bartholomew & Shaver, 1998), von Buchheim & Strauß, 2002 In den nachfolgenden Kapiteln sollen die von Collins und Read (1990), Bartholomew und Horowitz (1991), von Hazan und Shaver (1987), und aus historischen Gründen die von Main und Goldwyn (1985) entwickelten Instrumente vorgestellt werden. 1.2.4.1 Adult Attachment Interview von Main und Goldwyn (1985-1996) Das von Main und Goldwyn entwickelte Adult Attachment Interview (AAI) geht bis in die 80er Jahre zurück (George, Kaplan, & Main, 1985) und wurde seither immer wieder weiterentwickelt. Es handelt sich hierbei um ein semistrukturiertes Interview, welches im Wesentlichen auf die Erinnerungen an Bindungsbeziehungen in der Kindheit, den Zugang zu bindungsrelevanten Gedanken und Gefühlen sowie deren Auswirkungen auf die aktuelle psychische (kognitive wie emotionale) Einstellung zur Bindung an andere bedeutende Personen fokussiert. Das Adult Attachment Interview erfasst demnach die aktuelle Repräsentation – „current state of mind with respect to attachment“ – von Bindungserfahrungen. Im Mittelpunkt steht die sprachliche Kohärenz, Klarheit und Konkretheit, in welcher über Bindungserfahrungen erzählt wird und nicht der eigentliche Inhalt der erinnerten Geschichte. Hierbei gelten vor allem kurze, zusammenhängende und logische Beschreibungen der vergangenen Erfahrungen und der heutigen Einstellungen als kohärent. Ausschlaggebend war bei der Konzeption des Verfahrens die Annahme, dass das 23 innere Arbeitsmodell eine Entsprechung darin finden müsse, wie Bindungserfahrungen sprachlich repräsentiert werden. Außerdem spielen die emotionale und die kognitive Integrationsfähigkeit eine wesentliche Rolle. Diese werden bewertet, indem man das Ausmaß an Idealisierung oder Entwertung der Bindungsfiguren und deren innere Repräsentanz, beurteilt, das heißt ob und wie stark die Interviewten noch heute mit Wut oder Ärger involviert sind. Es lassen sich drei Hauptkategorien der Bindungsrepräsentationen zuordnen: „secure“ (sicherautonom), „dismissing“ (bindungs-distanziert), „preoccupied“ (bindungs-verstrickt). Sie werden folgendermaßen charakterisiert: • Sicher-autonom (secure) – gebundene Erwachsene erzählen auf offene, kohärente, klare und konsistente Weise über die Erinnerungen an ihre Kindheit, unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ erlebt wurden. Dabei können sie ihre Aussagen mit konkreten Details und Episoden belegen. Während des Interviews können diese Personen ihre Erfahrungen reflektieren und schreiben ihnen einen wertvollen Einfluss auf die eigene Entwicklung zu. Im vierkategorialen Modell nach Bartholomew und Horowitz entspricht diese Bindungsrepräsentation dem sicheren Prototyp. • Der bindungs-distanzierte (dismissing) Interviewte gibt inkohärente, allgemein gehaltene und unvollständige, idealisierte Auskünfte über seine Erfahrungen. Es werden wenige konkrete Details genannt, oft zeigen sich Erinnerungslücken. Der bindungs-distanzierte betont Stärke und innere Unabhängigkeit von anderen bei reduzierter Emotionalität. Es existiert eine Organisation von Gedanken, die es erlaubt, Bindungsthemen in der Regel zu deaktivieren (Hesse, 1999). Das distanzierte Muster entspricht im vierkategorialen Modell von Bartholomew und Horowitz am ehesten dem abweisenden Prototyp. • Bindungs-verstrickte (preoccupied) Personen erwähnen eine Fülle von Details, erzählen oft in ausufernder, nicht objektiver, ärgerlicher Art und Weise über erlebte Erfahrungen mit ihren Bezugspersonen. Die Aussagen lassen sich nicht in ein zusammenhängendes Bild einfügen. Bei Überbewertung von Beziehungen fehlt es an Distanz und Objektivität, daher erwecken diese Personen den Eindruck, als hätten sie ihre Erfahrungen gerade erst gestern gemacht. Konfliktbehaftete Aussagen werden mittels übertrieben wirkenden pseudopsychologischen Analysen abstrahiert und verallgemeinert. Entsprechungen finden sich im vierkategorialen Modell sowohl zum anklammernden als auch zum ängstlich-vermeidenden Prototyp. 24 Eine weitere Kategorie wurde erst in den späten 80er Jahren entwickelt und stellt eine eigene, zusätzliche Bindungsrepräsentation dar: • Als unverarbeitet / traumatisiert (unresolved trauma) gilt der Bindungsstil von Interviewten, die sich speziell auf Passagen im Interview beziehen, in denen über traumatische Ereignisse berichtet wird, die bisher emotional nicht verarbeitet wurden. Dabei schleichen sich gedankliche und sprachliche Fehler ein, die von der interviewten Person unbemerkt bleiben. Diese sprachliche Darstellung wirkt desorganisiert, teilweise sogar irrational. „Dies wurde von Main im Sinne eines Vorhandenseins von dissoziierten Erinnerungen interpretiert, die mit den bewussten kognitiven Strukturen interferieren“ (Steffanowski, 1999). Das Adult Attachment Interview wird beinahe ausschließlich für die Forschung verwendet und nicht für die Diagnostik in der psychotherapeutischen Praxis, da ein erhebliches Problem dieses Verfahrens in der mangelnden Ökonomie begründet liegt. So dauert die Durchführung des Interviews sehr lange und es ist von Nöten, dass sehr erfahrene Interviewer die Testsituation beurteilen. Das AAI liefert jedoch für jede Versuchsperson eine Fülle von Daten, was vor allem für umfangreiche Forschungsvorhaben wie die Durchführung von Längsschnittstudien vorteilhaft sein kann. 1.2.4.2 Attachment Style Measure von Hazan und Shaver (1987) Hazans und Shavers (1987) Interesse galt der Fragestellung, wie der Bindungsstil mit dem Erleben von wichtigen Liebesbeziehungen zusammenhängt. Hierzu haben sie an von Ainsworth et al. (1978) bei Kindern gefundene Bindungstypologien angelehnte einfache Formulierungen für drei analoge Bindungsmuster bei Erwachsenen entwickelt. Benutzt wird in diesem Verfahren ein Single-Item-Maß. Der Proband soll sich dabei dem Bindungsstil zuordnen, der am ehesten seine Gefühle widerspiegelt. Hier werden verschiedene Bindungsstile in die drei Kategorien sicher (secure), vermeidend (avoidant) und ängstlichambivalent (anxious-ambivalent) eingeteilt. • Sicher gebundene Personen empfinden es als relativ einfach, anderen Menschen nahe zu sein. Sie fühlen sich dabei wohl, von ihnen abhängig zu sein und zu wissen, dass sie von einem abhängen. Sie haben kaum Befürchtungen, verlassen zu werden oder dass ein anderer Mensch zu viel Nähe fordern könnte. • Vermeidende Personen fühlen sich in der Nähe anderer Menschen unwohl und haben Schwierigkeiten, ihnen zu vertrauen und von ihnen abhängig zu sein. Sie 25 haben häufig das Gefühl, dass andere Menschen mehr Nähe wollen, als sie selber geben können und ihnen angenehm ist. • Ängstlich - ambivalente Personen haben einerseits den starken Wunsch, anderen nahe zu kommen, andererseits befürchten sie, vom Partner verlassen zu werden und nicht genug geliebt zu werden. Dieses Verfahren ist insofern ökonomisch, als dass es sich ohne großen Aufwand durchführen und auswerten lässt. Hazan und Shaver (1987) ist es gelungen, in Abhängigkeit vom Bindungsstil signifikante Unterschiede im Erleben einer Partnerschaft nachzuweisen. Nachteilig an diesem Verfahren ist, dass keine Aussage über den individuellen Grad der Ausprägung des Bindungsstils möglich ist. Zum anderen hat sich gezeigt, dass eine Verwendung von vier Bindungsstilen eine bessere Differenzierung erlaubt. 1.2.4.3 Adult Attachment Scale von Collins und Read (1990) Die von Collins und Read (1990) entwickelte Adult Attachment Scale (AAS) stellt im Gegensatz zum Adult Attachment Interview (AAI) von Main und Goldwyn (1985-1996) ein Selbstbeschreibungsverfahren dar, welches sich auf bindungsbezogene Einstellungen bezieht. Es gelang mit der Adult Attachment Scale, grundlegende Dimensionen zu identifizieren, auf denen die Bindungsstile basieren könnten. Fokus der Entwicklung dieses Verfahrens war die Fragestellung, inwieweit der Bindungsstil im Sinne der Theorie Bowlbys (1976) mit inneren Modellen vom Selbst und vom Anderen zusammenhängt. Collins und Read (1990) haben zur Skalenbildung zunächst die Beschreibungsblöcke von Hazan und Shaver (1987) in Einzelitems aufgelöst, diese durch weitere wichtige Items zur Erreichbarkeit (Availability) und Zugänglichkeit (Responsivity) der Bindungspersonen ergänzt und Faktorenanalysen unterzogen. Daraus resultierten drei dimensionale Skalen mit jeweils fünf Items, welche die Offenheit für Nähe (Close) in Beziehungen, Vertrauen (Depend) in den anderen und Angst (Anxiety) vor dem Verlassen werden erfassen. Einen hohen statistischen Zusammenhang zeigten insbesondere die Skalen Nähe und Vertrauen (r = .38), während sich zwischen der Angst- und Näheskala kaum Zusammenhänge zeigten (r = ,08) und zwischen den Skalen Angst und Vertrauen negative Zusammenhänge (r = -,24) was theorienkonsistent ist. Die Reliabilitäten der Skalen (Cronbachs α) bewegen sich in einem Bereich zwischen ,69 und ,75. Die AAS besteht aus 15 Items, die auf einer fünfstufigen Skala von „stimmt gar nicht“ (1) bis „stimmt genau“ (5) eingeschätzt werden. Zur Auswertung des Fragebogens werden die angekreuzten Zahlenwerte addiert, wobei einige der Items aufgrund 26 ihrer negativen Polung vorher zu invertieren sind. Tabelle 1.7 zeigt die 15 Items der AAS in der deutschen Fassung. Tab. 1.7: Skalen, Items und Kennwerte der Adult Attachment Scale (Collins & Read, 1990), deutsche Fassung Skalenbezeichnung: Angst (Anxiety) Ich mache mir oft Sorgen, dass meine Freunde / meine Freundinnen mich nicht wirklich mögen. (+) Mein Wunsch, in einem anderen Menschen völlig aufzugehen, schreckt andere manchmal ab. (+) Ich merke, dass andere mich nicht so nah an sich herankommen lassen, wie ich es gerne hätte. (+) Ich mache mir oft Sorgen, ein mir wichtiger Mensch könnte mich verlassen. (+) Ich mache mir oft Sorgen, dass meine Freunde / meine Freundinnen eines Tages nicht mehr mit mir befreundet sein möchten. (+) Skalenbezeichnung: Nähe (Close) Es macht mich nervös, wenn mir jemand zu nahe ist. (-) Für mich ist es schwierig, andere an mich heranzulassen. (-) Es ist mir irgendwie unangenehm, mit anderen sehr vertraut zu werden. (-) In Freundschaften wünschen sich meine Freunde / meine Freundinnen häufig mehr Nähe von mir, als mir angenehm ist. (-) Die Vorstellung, mir könnte jemand zu nahe kommen, beunruhigt mich. (-) Skalenbezeichnung: Vertrauen (Depend) Ich weiß: wenn ich jemanden brauche, wird auch jemand da sein. (+) Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darauf verlassen kann, dass andere da sind, wenn ich sie brauche. (-) Menschen sind nie da, wenn man sie braucht. (-) Ich kann mich gut auf andere verlassen. (+) Es fällt mir schwer, anderen voll und ganz zu vertrauen. (-) Hohe Werte auf der Skala Angst stehen für starke Ängste, nicht ausreichend geliebt zu werden. Ein niedriger Wert auf dieser Skala spricht für Selbstsicherheit in Beziehungen, da nur ein geringes Ausmaß an Verlustängsten besteht. Bezüglich der Skala Nähe bedeuten hohe Werte, dass es der Person leicht fällt, Nähe zu anderen sowohl herzustellen als auch zuzulassen und aufrechtzuerhalten. Niedrige Werte deuten darauf hin, dass es den Versuchspersonen schwer fällt, zwischenmenschliche Nähe herzustellen, da sie sich durch diese bedroht fühlen. Auf der Skala Vertrauen sprechen hohe Werte dafür, dass sich die Versuchsperson anderen Menschen bei Bedarf anvertraut. Fehlendes zwischenmenschliches Vertrauen zeigt sich bei niedrigen Punktwerten. 27 Die Übersetzung der Adult Attachment Scale erfolgte durch Büsselberg (1993), eine Überarbeitung durch Schwerdt (1994), der zusätzlich zum Beziehungsbereich „Partnerschaft“ auch „Freundschaften allgemein“ mit einbezog. Durch die Entwicklung der Adult Attachment Scale ist es gelungen, eine diskrete Bindungstypologie auf intervallskalierbare Dimensionen zurückzuführen, die fundamentale Aspekte des Bindungssystems abzubilden scheinen. In einer Clusteranalyse überprüften Collins und Read diese Vermutung und konnten nachweisen, dass den drei Bindungsmustern äquivalente Cluster zugeordnet werden können: • Ein sicheres Bindungsmuster zeichnet sich durch hohe Werte auf den Skalen Nähe und Vertrauen und durch niedrige Werte auf der Angstskala aus. • Der Bindungstypus ängstlich geht mit hohen Werten auf der Angstskala und mittleren Werten auf der Nähe- und Vertrauensskala einher. • Der vermeidende Bindungsstil geht mit niedrigen Werten auf allen drei Skalen einher. In der Normalpopulation fand sich folgendes Verteilungsmuster bezüglich der Bindungsstile: 47% weisen einen sicheren Bindungsstil auf, 38% weisen einen unsicher-ängstlichen Bindungsstil und 15 % einen unsicher-vermeidenden Bindungsstil auf. 1.2.4.4 Relationship Questionnaire von Bartholomew und Horowitz (1991) Das Relationship Questionnaire (RQ), von Bartholomew und Horowitz (1991) entwickelt, ist ein Single-Item-Messverfahren, welches aus vier kurzen Selbstbeschreibungen besteht. Jede dieser Selbstbeschreibungen lässt sich je einem prototypischen Bindungsstil, in Anlehnung an das vierkategoriale Modell, zuordnen. Probanden werden gebeten, auf einer 7-Punkte-Skala anzukreuzen, in welchem Ausmaß sie mit jedem einzelnen der vier prototypischen Bindungsstile übereinstimmen. Daraus ergeben sich vier intervallskalierte Rohwerte, welche ein bestimmtes Bindungsprofil bereitstellen. 28 Tab. 1.8: Relationsship Questionnaire (Bartholomew & Horowitz (1991) Secure pattern (sicher) It is easy for me to become emotionally close to others. I am comfortable depending on them and having them depend on me. I don’t worry about being alone or having not accept me. Dismissing pattern (abweisend) I am comfortable without close emotional relationships. It is very important to me to feel independent and self-sufficient, and I prefer not to depend on others or have others depend on me. Preoccupied pattern (anklammernd) I want to be completely emotionally intimate with others, but I often find hat others are reluctant to get as close as I would like. I am uncomfortable being without close relationships, but I sometimes worry that others don’t value me as much as I value them Fearful pattern (ängstlich-vermeidend) I am uncomfortable getting close to others. I want emotionally close relationships, but I find it difficult to trust others completely, or to depend on them. I worry that I will be hurt if I allow myself to become too close to others. Das RQ wurde entwickelt, um Ausprägungsgrade der prototypischen Bindungsmuster intervallskaliert messen zu können, so dass individuelle Unterschiede innerhalb der einzelnen Bindungsmuster berücksichtigt werden können. Vorteilhaft an diesem Testverfahren ist die schnelle Durchführbarkeit. Ein Nachteil besteht jedoch darin, dass der Proband mehrere Aussagen gleichzeitig verarbeiten muss, was aufgrund selektiver Wahrnehmung zu einer Erhöhung der Fehlervarianz führen kann. Lienert und Raatz (1994) empfehlen daher, möglichst kurze und eindeutige Itemformulierungen zu verwenden. 29 1.3 Alexithymie 1.3.1 Definition und Phänomenologie Der Begriff Alexithymie wurde 1973 maßgeblich von John C. Nemiah und Peter E. Sifneos geprägt, leitet sich aus dem Griechischen ab (A = Negation, Lexis = Wort, Thymos = Gefühl) und bezeichnet die Unfähigkeit eines Individuums, Gefühle angemessen bei sich wahrzunehmen, diese sprachlich präzise auszudrücken und damit psychisch zu verarbeiten. In der Klinik steht der Begriff Alexithymie dabei für Störungen der Affektregulation (Taylor, Bagby & Parker, 1997). Alexithymie ist keine Diagnose im Sinne der Diagnosenmanuale ICD-10 und DSM-IV, sondern ist vielmehr als dimensionales Konstrukt zu verstehen. Schon 1985 deutete Freud körperliche Beschwerden wie Schwitzen oder Schwindel als Symptome eines Angstanfalles, bei dem eine seelische Verarbeitung ausbleibt und stattdessen die Erregung direkt in ein Körpersymptom überführt wird. In der Zwischenzeit wurden Begriffe wie „infantile Persönlichkeit“ (Ruesch, 1948), „pensée opératoire“ (Marty & de M’Uzan, 1963), „Alexithymie“ (Sifneos, 1972) oder „Pinocchio-Syndrom“ (SellschoppRuppel & von Rad, 1977) gebildet, die alle eine Art emotionales Analphabetentum bezeichnen sollen (Gündel, Ceballos-Baumann, & von Rad, 2000). Als Ausdruck der Schwierigkeit einer adäquaten Verarbeitung emotionaler Stimuli kommt es zu einer Reduktion kreativer Phantasie. Diese kann sich sowohl in einer Verminderung von Tagtraum-Aktivitäten als auch in einem Fehlen von Träumen in der Nacht äußern. Sprachlich resultiert das Fehlen einer Symbolik, welche Gefühle, Stimmungen und affektive Spannungen beschreibt. Es überwiegt ein utilitaristischer, als kühl, technokratisch und mechanischer charakterisierender Denkstil (vgl. Ahrens & Deffner, 1985; v. Rad, 1983). Sifneos und Nemiah (1970) beobachteten das Phänomen der Alexithymie vor allem bei Patienten mit psychosomatischen Symptomen. Sie postulierten eine tief in der Neurophysiologie verwurzelte Unfähigkeit, Gefühle zu empfinden, wahrzunehmen und auszudrücken, sowie in Phantasien aktiv zu evozieren. Marty und deM’Uzan (1978) fassten Alexithymie als einen Ausdruck der Verdrängung emotionaler Impulse auf. Auch von ihnen wurde das Syndrom den Patienten mit psychosomatischen Störungen zugeschrieben. Dabei wurde auf das Phänomen der Gegenübertragung fokussiert, so wie sie im psychoanalytischen Interview aufgetreten waren. So fand sich neben dem automatistisch-mechanistischem Denken die „projektive Reduplikation“ in der Objektbeziehung. Die Probanden hatten Schwierigkeiten damit, im Untersucher ein fremdes Objekt zu erkennen und verhielten sich oft so als sei das Gegenüber ihnen selbst in allen Eigenschaften genau gleich. Der Begriff 30 „rélation blanche“ trat hinzu, weil der Untersucher sich oft leer, alleingelassen, emotional wenig angeregt fühlt, während der Patient den Analytiker ganz funktionalistisch wahrnimmt. Hier ein Beispiel einer solchen Kommunikation: „Patient: Heute hatte ich das Gefühl, dass es länger gedauert hat, bis Sie mir die Tür öffneten. Ich dachte schon, es könnte Ihnen etwas passiert sein und Sie könnten gestorben sein. Therapeut: Wie wäre das für Sie gewesen? Patient: Naja, es wäre schon schade gewesen, denn ich hätte mir dann einen neuen Therapeuten suchen müssen!“ (Marty, 1958). 1.3.2 In Ätiologie der Alexithymie mehreren wissenschaftlichen Publikationen wurde über die Entstehung von Persönlichkeitsmerkmalen und Alexithymie diskutiert (z.B. Ahrens, 1987; Benedetti, 1980, 1983). Im Folgenden sollen zusammengefasst zwei grundsätzliche Konzepte zur Entstehung der Alexithymie behandelt werden, nämlich das primär neurobiologische und das psychodynamisch-psychoanalytische Konzept. 1.3.2.1 Neurobiologische Konzepte Es wird postuliert, dass bei psychosomatischen Patienten, bei denen Alexithymie von Nemiah und Sifneos 1973 beobachtet worden ist, Störungen in der Funktion paläostrialer dopaminerger Strukturen zu finden sind, die mit einer Beeinträchtigung der Funktion der neuronalen Verbindung zwischen limbischen System und Neokortex einhergehen (Maclean, 1948; Sifneos, 1996; Stevens, 1973). Die beschriebenen Patienten würden unter einer „Aphasie“ gefühlshafter Wahrnehmungen leiden (Stevens, 1973). So wurde bei 12 aufgrund schweren epileptischen Leidens kommisurotomierten Patienten Wesensveränderungen festgestellt, welche mit den Beschreibungen alexithymer psychosomatischer Patienten viele Übereinstimmungen zeigten (Hoppe & Bogen 1977; Hoppe, 1989). Von Erhebungen bei Patienten nach Komissurotomie und unilateralem Hirnschaden wurde 1986 von Miller eine Hemisphären-Typologie abgeleitet. Demnach habe die linke Hemisphäre die Funktion, Sprachprozesse zu unterhalten, deduktive und syllogische Schlussfolgerungen zu ermöglichen, logisch-deskriptiv sowie perzeptiv und konzeptiv zu analysieren, sprachliche, syntaktische und semantische Qualitäten von Sprache und Kommunikation zu interpretieren, wohingegen der rechten Hemisphäre mehr „intuitive“ Funktionen zugeordnet wurden. Hier fände eine „Dechiffrierung“ des emotionalen Anteils der Kommunikation sowie die SymbolBild-Kodierung statt (Miller, 1986). Von Hoppe wurde eine „funktionelle Kommissurotomie“ 31 für alexityhme Patienten beschrieben: das primär emotional-gefärbte Prozessmaterial, die affektive Gegenstandrepräsentationen der rechten Hemisphäre würde vom Bewusstsein abgeschnitten, wohingegen die linke Hemisphäre mit den rational-verbalen Sprachrepräsentation überwiegen würden. In der modernen Alexithymieforschung wird derzeit erheblich nach einer Identifikation neurobiologischer Korrelate der beeinträchtigten Affektverarbeitung gesucht. Die Entwicklung funktionell-bildgebender Verfahren (funktionelle Magnetresonanztomographie, Positronen-Emissions-Tomographie, Single-Photon-Emissions-Computertomographie) hat in den letzten Jahren zu einer Vielzahl an Einzelbefunden geführt. Da bisher aber nur rudimentäre Kenntnisse über die hochkomplexe neurobiologische Natur der Emotionalität selbst und über die an ihrer Regulation beteiligten Strukturen vorhanden sind, ist es bisher noch nicht gelungen, ein greifbares hirnorganisches Substrat alexithymer Persönlichkeitszüge zu bestimmen. Neben der Suche nach einem neurologischen „Fokus“ geht man deshalb heute dazu über, Alexithymie in erster Linie als ein Paradigma zur theoriegeleiteten Erforschung neurobiologischer Grundlagen der Affektivität zu nutzen. 1.3.2.2 Psychodynamisch-psychoanalytische Konzepte In einer Studie von Freyberger aus dem Jahre 1977 zeigten sich bei Patienten, die durch erhebliche medizinische Eingriffe oder lebensbedrohliche Erkrankungen existenziell beeinträchtigt waren, alexithyme Persönlichkeitsmerkmale. Freyberger deutete diese Persönlichkeitszüge als einen Verleugnungsprozess als Folge dieser Belastung und bezeichnete sie als sekundäre Alexithymie. Davon abzugrenzen ist die sogenannte primäre Alexithymie, die ätiologisch auf einer mit einer Ich-Schwäche verbundenen psychotraumatisch bedingten narzisstisch-prägenitale Entwicklungsstörung zurückzuführen ist. Die Alexithymie wird heute eher als zeitlich stabiles Persönlichkeitsmerkmal gesehen. So zeigten beispielsweise Untersuchungen von Patienten mit Angststörungen, dass während des Beobachtungszeitraumes die Angstsymptomatik nachließ, die Alexithymieausprägung, ermittelt mittels der Toronto-Alexithymie-Skala (TAS-26) jedoch unverändert blieb. Ähnliche Ergebnisse zeigten Untersuchungen bei Patienten mit Colitis ulcerosa und Morbus Crohn, Patienten mit Abhängigkeitsstörungen und Depressionen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich bei der Alexithymie eher um ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal handelt und nur sehr schwere traumatisierende Erlebnisse zu einer Veränderung der Alexithymieausprägung führen können (Gündel et al., 2000, vgl. Freyberger, 1977). 32 Bezüglich der primären Alexithymie postuliert Freyberger, dass diese Störung einerseits zu erheblichen Abhängigkeitswünschen und andererseits zu aggressiven Triebwünschen führt, was disponierend für die Entstehung psychosomatischer Erkrankungen sei. Benedetti (1980, 1983) hingegen postuliert, dass sich alexithyme Merkmale im Verlauf einer Psychotherapie immer auflösen und später zu „echten“ neurotischen Symptomen entwickeln. So sei die Alexithymie als Variante einer narzisstischen Störung zu verstehen. Ferner versteht Benedetti das Phänomen der Alexithymie eher als passager auftretendes psychodynamisches Phänomen im Sinne einer „Abspaltung einer Affektiven Dimension des Leidens“. Weitere Faktoren, die als Ursachen für die Entstehung einer Alexithymie fungieren, sind Störungen in der frühen intimen Beziehung mit den Eltern, Einsamkeitserfahrungen, Selbstidentitätsstörungen und die nur mangelhaft als solche wahrgenommenen frühen narzisstischen Kränkungen (Gündel et al., 2000). In einer Studie von Berenbaum aus dem Jahre 1996 wurde aufgezeigt, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit mit Alexithymie und Persönlichkeitsstörungen assoziiert sind. Des Weiteren wurde 1994 von Berenbaum und James beschrieben, dass Alexithymie mit Besonderheiten im (früh-)kindlichen Erleben zusammenhängt, wie beispielsweise Gefühl der Unsicherheit und Schutzlosigkeit in der Kindheit, Aufwachsen in Heimen oder Missbrauch im Kindesalter (Berenbaum & James, 1994). Von Dworkin & Saczynski (1984) wurde Alexithymie als Folge von introvertierten und depressiven Charaktereigenschaften angesehen, welche zunächst zur sozialen Isolation und daraus folgernd zu einem Mangel an interpersonellen Aktivitäten, sozialer Anhedonie und folglich zur Alexithymie führen. 1.3.3 Prävalenz der Alexithymie in der Normalpopulation Zur Prävalenz von Alexithymie in der Normalpopulation wurden bisher zahlreiche Studien durchgeführt (Joukamaa et al., 2003; Kokkonen et al., 2001; Mattila, Salminen, Nummi, & Joukamaa, 2006; Montreuil & Pedinielli, 1995; Parker, Taylor, & Bagby, 1989; Salminen, Saarijarvi, Ääirelä, Toikka, & Kauhanen, 1999). Hauptsächlich bezogen sich diese Studien auf skandinavische Stichproben. In diesen Studien fanden sich zusätzlich Hinweise auf eine Häufung alexithymer Merkmale bei ledigen Männern, niedrigem Sozialstatus, frühkindlichen Belastungen und Entwicklungsverzögerungen (Joukamaa et al., 2003, 2008). In allen Studien wurde als Messinstrument die Toronto-Alexithymie-Skala verwendet. Dabei wird eine durchschnittliche Prävalenz von ca. 7 – 19 % in der Normalpopulation angegeben. 33 1.3.4 Anwendungsgebiete der Alexithymieforschung „Die Messung der Alexithymie, vermittelt durch empirische Untersuchungen in den Hauptversionen TAS-26 und TAS-20, stimuliert insbesondere in drei Gebieten die psychosomatische Forschung und bildet inzwischen einen eindrucksvollen „Body of Knowledge“: 1. Alexithymie als klinisch bedeutsame Variable bei psychiatrischen und psychosomatischen Störungen 2. Alexithymie als psychobiologisch faßbare Störung der Affektverarbeitung 3. Alexithymie als Kultur- und Schichtphänomen.“ (Kupfer, Brosig, & Brähler, 2001, S.11). Auf die ersten beiden Punkte wurde im Vorfeld eingegangen. Zur Alexithymie als kultur- und klassenabhängiges Phänomen stellt sich die Frage, ob die Fähigkeit des Menschen, Gefühle erleben und zeigen zu dürfen, also dessen emotionale Durchlässigkeit und Sensibilität, kulturell überformt ist. Einige Studien bestätigen den Zusammenhang zwischen niedrigem sozioökonomischem Status und Alexithymie (Kauhanen, Julkunen, & Salonen, 1992; Kirmeyer & Young, 1993; Lane et al., 1998; Lumley, Ovies, Stettner, Wehmer, & Lakey, 1996; Taylor, Bagby, & Parker, 1992). 1.3.5 Ausgewählte Krankheitsbilder und ihre Beziehung zur Alexithymie Alexithymie beschreibt generelle psychische Dispositionen für die Entwicklung körperlicher und psychischer Krankheiten. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die die Beziehung ausgewählter Krankheitsbilder zur Alexithymie untersuchen. Tabelle 1.9 gibt eine Übersicht an Untersuchungen über ausgewählte Krankheitsbilder und ihre Beziehung zur Alexithymie. 34 Tab. 1.9: Ausgewählte Krankheitsbilder und ihre Beziehung zur Alexithymie (in Anlehnung an Kupfer, Brosig & Brähler, 2001) Autor Bach & Bach (1996) Erkrankung / Ereignis Somatoforme Störung vs. Somatische Störung Ergebnis Höherer TAS-Gesamtscore bei somatoformen Störungen im Vergleich zu Somatikern Bach, Bach & deZwaan (1996) Somatoforme Störungen Somatoforme Störungen und Alexithymie unabhängige Krankheitsbilder Bach et al. (1994) Somatoforme Störungen DSM-III Diagnose somatoforme Störung und Alexithymie unabhängig Bach et al. (1994) Persönlichkeitsstörungen Keine Erhöhung des TAS-Gesamtscores Psychopathie Keine Erhöhung des TAS-Gesamtscores Sucht vs. Essstörungen und Kontrollen Keine signifikanten Unterschiede in der Alexithymie Louth, Hare & Linden (1998) Chinet et al. (1998) Lutz (2006) Alkoholabhängigkeit, erektile Dysfunktion Erhöhte Alexithymiewerte bei Alkoholkrankheit; erhöhte Alexithymie bei erektiler Dysfunktion Uzun et al. (2003) Alkoholabhängigkeit Erhöhte Alexithymiewerte Kauhanen et al. (1992) Alkoholabhängigkeit Erhöhte Alexithymiewerte, Schwere der Alkoholabhängigkeit korreliert mit Schwere der Alexithymie Troisi et al. (1998) DeZwaan et al. (1995) Cannabis Abusus Übergewicht Zunahme der Alexithymie, je intensiver Cannabis-Gebrauch Binge-Eaters haben höhere TAS-Gesamtscores als Kontrollgruppen mit Übergewicht Rastam et al. (1997) Anorexia nervosa Erhöhte Alexithymiewerte nur in Subgruppe Sexton et al. (1998) Essstörung Höhere Alexithymiewerte in der Gruppe der Anorexie, verglichen mit Bulimie und Normalpersonen Kosturek et al. (1998) Chronischer Schmerz Kawamura et al. (1997) Schlafstörungen Todarello et al. (1995) Hypertonie Todarello et al. (1997) Mamma- und Zervixkarzinom 35 Niedriger TAS-Gesamtscore Schlafstörungen werden assoziiert mit Alexithymie Erhöhte Alexithymiewerte Erhöhte Alexithymiewerte; bei Frauen mit besonders alexithymer Merkmalsausprägung signifikant erniedrigte Zahl von Lymphozytenuntergruppen Porcelli et al. (1995) Morbus Crohn / Colitis ulcerosa Erhöhte Alexithymiewerte Kauhanen et al. (1994) Koronare Herzkrankheit Keine Zusammenhänge zwischen Alexithymie und Ischämiereaktion bei KHK. Alexithyme werden eher als krank diagnostiziert Torosion et al. (1997) Stumme Ischämie Extern orientierter Denkstil erhöht bei Patienten mit stummer Ischämie vs. Patienten mit Angina pectoris bei Belastungstest Lumley et al. (1997) Organerkrankungen Keine Korrelation der Alexithymiewerte mit der Schwere der Erkrankung Wise et al. (1990) somatisch Erkrankte Höhere Alexithymiewerte als Normalpersonen, jedoch unabhängig von der Schwere der Erkrankung Kauhanen et al. (1996) Sterblichkeit Fiedler et al. (1994) Multiple Chemical Sensivity Malt et al. (1997) Erhöhte Alexithymiewerte Amalgam-Ängste Scheidt et al. (1999) 1.3.6 Alexithymie wird assoziiert mit höheren Todesraten in prospektiver Studie Keine erhöhten Alexithymiewerte Idiopathischer Torticollis Erhöhte Alexithymiewerte Messverfahren der Alexithymie Es gibt eine Reihe von psychometrischen Verfahren, die im Laufe der Zeit zur „Messung der Alexithymie“ entwickelt wurden. Neben Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren existieren auch projektive Verfahren (Acklin & Bernat, 1987; Taylor & Bagby, 1997) oder sprachinhaltsanalytische Verfahren (von Rad et al., 1977). Die bekanntesten Messinstrumente sind unter anderem der Beth Israel Hospital Psychosomatic Questionnaire (BIQ) (Sifneos, 1973), die Schalling-Sifneos Personality Scale (SSPS) (Apfel & Sifneos, 1979), die Alexithymie-Skala des Minnesota-Multiphasic Personality Inventory (MMPI-A) (Kleiger & Kinsmann, 1980) sowie der Alexithymia Provoked Response Questionnaire (APRQ) (Krystal, Giller, & Cicchetti, 1986). Die meisten dieser Verfahren sind jedoch hinsichtlich ihrer testtheoretischen Gütekriterien kritisch zu bewerten. Die derzeit am häufigsten verwendeten psychometrischen Verfahren sind die Levels of Emotional Awareness Scales (LEAS) (Lane et al., 1998a,b) und die Toronto Alexithymie Skala in ihrer aktuellen Version mit 20 Items, welche sich erheblich hinsichtlich grundlegender methodischer, konzeptioneller 36 und theoretischer Überlegungen zum Alexithymiekonstrukt unterscheiden und deshalb auch unterschiedliche Aspekte der Alexithymie abdecken. Beide Verfahren liegen in einer deutschen Übersetzung vor (Bagby, Parker, & Taylor, 1994a; Bagby, Taylor, & Parker, 1994b; Parker, Bagby, & Taylor, 1993; Subic-Wrana, Thomas, Huber, & Köhle, 2001). Aufgrund einfacher und ökonomischer Anwendung hat sich die TAS-20 als das am häufigsten eingesetzte Verfahren im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt. Die Toronto Alexithymie Skala wird im Kapitel 3.4.4 ausführlich beschrieben. 37 1.4 Die Bedeutung von Bindungsstil und Alexithymie für die Entstehung von Alkoholismus 1.4.1 Alkoholismus und Bindung Von Flores (2004) wird postuliert, dass die Suchtmittelabhängigkeit in der Bindungsstörung des Patienten begründet ist. Aufgrund fehlender externaler Unterstützung in der frühen Kindheit ist es den Patienten nicht möglich, ihre eigenen Affekte zu regulieren. Somit fällt das Knüpfen und Unterhalten von zwischenmenschlichen Beziehungen schwer und aufgrund mangelnder emotionaler Beziehungen besteht die Gefahr, Alkohol oder Drogen zu konsumieren, wodurch zunächst der Mangel an engen emotionalen Beziehungen ausgeglichen werden kann. Für Abhängigkeitserkrankungen liegen noch wenige Daten über den Anteil sicher und unsicher gebundener Patienten vor, obwohl Substanzabhängigkeiten in der Literatur häufig als „attachment disorders“ bezeichnet werden. In klinisch unauffälligen Stichproben beträgt der Anteil sicher gebundener Erwachsener 58%, in klinischen Stichproben 14% (van Ijzendoorn & Bakermans-Kranenburg, 1996). Aus einer Studie aus dem Jahre 2002 (Egle, Hardt, Nickel, Kappis, & Hoffmann, 2002) geht hervor, dass ein deutlicher Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und psychiatrischer Erkrankung besteht. Es ist davon auszugehen, dass diese Tendenz auch bei Suchterkrankungen aufzufinden ist. Diese Annahmen werden von Schindler (2001) gestützt, der, nach den prototypischen Beschreibungen von Bartholomew (1990), einen überwiegenden Anteil von ängstlich-vermeidenden Bindungsstilen, gefolgt von den zweithöchsten Skalenwerten im anklammernden Bindungsstil bei Suchterkrankten feststellte. Ebenso findet sich in einer Studie von Dagdar, Abdolmanafi, Rostani und Hamidi (2010), in der Suchtkranke gegen Probanden der Normalpopulation getestet wurden, ein signifikanter Zusammenhang zwischen einem unsicheren Bindungsstil und einer Suchterkrankung. Exakte Zahlen liegen dennoch bislang noch nicht vor. Beispielsweise zeigt eine Studie von Wedekind et al. (2013) einen Anteil von 33% an sicher gebundenen Probanden innerhalb einer Stichprobe von Alkoholikern. Allerdings liegt die Fallzahl hier lediglich bei 59. Ebenso zeigt sich in einer Studie von Harnic et al. (2010), in der 40 Alkoholiker getestet wurden, in 50 % der Fälle ein unsicherer Bindungsstil. In einer Studie von Ridinger, König, Lange und Wodarz (2009) zeigte sich innerhalb einer Studienpopulation von Alkoholikern mit einer Fallzahl von 517 ein Anteil unsicher gebundener Probanden von 79,3 % respektive 20,7 % sicher gebundener Probanden. In einer Studie von Thorberg und Lyvers (2006) zeigten sich ähnliche Tendenzen. 38 Zudem wird konstatiert, dass die Schwere der Drogenabhängigkeit in der Konzeption von Bartholomew (1990) mit dem negativen Selbstbild der Suchterkrankten korreliert (Schindler, 2001; Thomasius, 2000). Vungkhanching et al. (2004) postulieren, dass ein unsicherer Bindungsstil ein Risikofaktor für die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit sei, unabhängig von der positiven Familienanamnese einer Suchterkrankung. De Rick und Vanheule (2007) schlagen vor, bei der Therapie von Alkoholikern zwischen Patienten mit sicherer und unsicherer Bindung zu differenzieren. In ihrer Studie, in der 101 Alkoholiker getestet wurden, zeigten sich in der Gruppe der unsicher gebundenen Patienten mehr schizotype und depressive Persönlichkeitsmerkmale, sowie ein erhöhter Anteil an Alexithymen als in der Gruppe der sicher gebundenen Patienten, welches unterschiedliche Behandlungsansätze zu offerieren notwendig macht. Ebenso wird konstatiert, dass der Bindungsstil sowohl die Frequenz des Drogengebrauchs, als auch den Stress-motivierten Drogengebrauch beeinflusst (Kassel, Wardle, & Roberts, 2007). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Wissenschaft zum Thema Bindung und Sucht noch am Anfang steht. Die Bindungstheorie trägt viel zum Verständnis und Behandlung von Beziehungen und Affektregulation bei. Beides, sowohl die Affektregulation mittels psychotroper Substanzen als auch die Vermeidung enger Beziehungen sind wesentliche Elemente für das Verständnis von Suchterkrankungen. 1.4.2 Alkoholismus und Alexithymie Die Alexithymie stellt ein kognitiv emotionales Muster dar, welches häufig bei Alkoholabhängigkeit aber auch bei Drogenabhängigkeit im Allgemeinen beschrieben wird (Croissant, Hölzl, & Olbrich, 2002). Daten zur Prävalenz von Alexithymie bei Alkoholikern schwanken in der Literatur zwischen 40 und 78 % (Rybakowski, Ziólkowski, Zasadzka, & Brzeziński, 1988; Taieb et al., 2002; Thorberg, Young, Sullivan, & Lyvers, 2009). Alexithymie wird häufig als ein Risikofaktor für die Entstehung einer Alkoholkrankheit angesehen, obwohl es bislang geringe Belege für einen Zusammenhang zwischen Alexithymie und Alkoholkonsum sowie zwischen Alexithymie und Schweregrad der Alkoholabhängigkeit gibt (vgl. Thorberg et al., 2009). Weiterhin wird von Thorberg et al. (2009) postuliert, dass das Wissen über den prädiktiven Nutzen der Alexithymie im Vergleich zu besser untersuchten und etablierteren Alkoholismusentstehung eher gering ist. Honkolampi psychologischen Konstrukten der Eine Längsschnittstudie über 7 Jahre von et al. (2010) zeigte beispielsweise eine Assoziation zwischen bei 39 Erstdatenerhebung auffälliger schwerer depressiver Symptomatik (gemessen mittels der Beck Depression Inventory BDI) und dem späterem Auftreten von schweren Depressionen, Persönlichkeitsstörung und Alkoholismus. Diese Assoziation zeigte sich jedoch nicht bei Alexithymie, getestet mittels Toronto Alexithymia Scale 20 (TAS-20). Ebenso wurde untersucht, inwieweit Alexithymie für den Behandlungserfolg einer Alkoholkrankheit eine Rolle spielt. Hierzu gibt es Studien, welche ein eher negatives outcome des Therapieerfolgs bei alexithymen Alkoholkranken belegen (Bruche, Curren, & Williams, 2012; Coriale et al., 2012; Thorberg, Young, Sullivan, Lyvers, Connor, & Feeney, 2011), sowie andere Studien, welche keinen Unterschied bezüglich des Therapieerfolgs zwischen alexithymen und nicht alexithymen Alkoholikern belegen (De Haan et al., 2012; Stasiewicz, 2012). Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass bisher noch nicht fest steht, inwieweit bei der Behandlung von Alkoholikern eine Differenzierung zwischen alexithymen und nicht alexithymen Patienten sinnvoll, nützlich oder gar notwendig ist. 1.4.3 Bindung und Alexithymie Der Alexithymiebegriff wird in der psychoanalytischen Literatur als Form der Affektregulationsstörung verstanden (vgl. Scheidt & Waller, 2005). „Empirische Befunde zeigen, dass Alexithymie in Zusammenhang mit einer unsicheren, insbesondere einer unsicher-vermeidenden Bindungsrepräsentation auftritt.“ (Scheidt, C.E., Waller, E., 2005). Beispielsweise zeigt eine Studie von Troisi, D’Argenio, Peracchio und Petti (2001) einen signifikanten Zusammenhang zwischen unsicherem Bindungsstil und Alexithymie. Als weiteren Faktor zeigte sich innerhalb der Subpopulation der Probanden mit unsicherem Bindungsstil in denjenigen Gruppen mit anklammernder oder ängstlich-vermeidender Komponente eine höhere Prävalenz der Alexithymie (65% respektive 73%), als in der Gruppe mit abweisender Komponente (36%). De Rick und Vanheule (2007), sowie Scheidt et al. (1999) fanden ebenfalls einen Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und Alexithymie. Insgesamt gibt es aber bisher noch wenige Studien, in der sowohl Alexithymie als auch Bindungsstile getestet werden. Gleichwohl werden beide Komponenten als prädiktive Faktoren für die Entstehung einer Suchterkrankung sowie jeder anderen psychiatrischen Erkrankung verstanden. 40 2. Ziele der Arbeit 2.1 Allgemeine Ziele der Studie und Fragestellung Es gibt eine Reihe von wissenschaftlichen Erklärungen des Auftretens von süchtigen Störungen, welche auf verschiedenen empirischen Untersuchungen beruhen, die das gehäufte Auftreten von bestimmten Merkmalen bei Suchtkranken, bei Drogen selbst und im sozialen Umfeld aufzeigen. Daraus resultiert die grundlegende Hypothese, dass diese drei Faktoren (Person, Droge, Umwelt) die Entwicklung der Sucht begünstigen (Abb. 2.1). Abb. 2.1.: Das „Ursachendreieck“ der Sucht (nach Feuerlein, 1989) Ferner steht eine Reihe von Erklärungsmodellen der Suchtentstehung zur Verfügung, wobei je nach Erklärungsinteresse das eine oder andere Modell bevorzugt wird. Die Modelle sind aber grundsätzlich miteinander verknüpft, woraus sich ein mehrdimensionales Krankheitsmodell, das sogenannte „biopsychosoziale Ursachenmodell“ (Engel, 1977; Feuerlein, 1989) ableiten lässt (Abb.2.2). „Sucht ist in dieser Sicht das Ergebnis einer längerwährenden Wechselwirkung von Merkmalen der Person (z.B. genetische Risikofaktoren oder psychische Risikofaktoren wie Belohnungsabhängigkeit, Belastungsvermeidung, Neugierde) der Umwelt (Risikokonstellation im sozialen Umfeld) der Droge (Stoffe mit hohem bzw. adäquatem Suchtpotential).“ (Tretter, 2000) 41 Abb. 2.2: Das biopsychosoziale Ursachenmodell (Engel, 1977; Feuerlein, 1989) 42 Die Tabelle 2.1 gibt eine Übersicht über Erklärungsmodelle der Suchtursachen. Tab. 2.1. Verschiedene Erklärungsmodelle der Suchtentstehung Modell Stichworte Sozialwissenschaftliche Erklärungsmodelle Makroebene (Gesellschaft) Mesoebene (Gemeinde) Mikroebene (Familie) Psychologische Modelle Rausch, Positivierung Lernpsychologisches Modell Lernen am Erfolg (operantes Konditionieren), SORKC-Modell , klassische Konditionierung, Lernen am Modell Kognitives Modelle Erwartung, Wahrnehmung, automatisierte Denkabläufe, Bewertungsprozesse, intentionales Handeln, Selbstwirksamkeitserwartung, internale und externale Attributionsprozesse Psychoanalytische Modelle Instanzenmodell (Ich, Es, Über-Ich), Narzisstische Krisen, „Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt“, Affektund Frustrationsintoleranz Integrativ kybernetisch- psychologische Modelle Süchtiges Verhalten als dysfunktionales Zusammenspiel von Regulationsstörungen: Selbst- Umwelt-Beziehung, Wunsch-Wirklichkeitsbeziehungen (Sollwert vs. Istwert), Lust-Unlust-Balance; Ko-Morbidität: psychoneurotische Störungen, Psychosen, Depressionen, Ängste, Aggressionsstörungen Persönlichkeitstheoretische Modelle Schizoide, schizotypische, paranoide, histrionische, narzisstische, antisoziale, Borderline-, selbstunsichere, dependente, zwanghafte, passiv-aggressive Persönlichkeiten; Unreflektierte, passive Affektlabilität; Zentrale orale Fixierung Neurobiologische Modelle Noradrenalin, Dopamin, GABA, Glutamat, Hypothalamus, limbisches System, Locus coerulens, Rezeptoren, Transmitter, Expression genetischer Informationen Integrative Modelle „biopsychosoziales Ursachenmodell“ „Ökologische“ Modelle Lebensbedingungen, Lebenskonzept, Lebensgefühl, Lebensstil Systemische Modelle Teufelskreise (psychisch, somatisch, sozial), Regelkreise, Co-Abhängigkeit Eine sichere Bindungsorganisation ist im Sinne der Entwicklungspsychopathologie als ein zentraler Schutzfaktor zu betrachten, eine unsichere Bindungsorganisation als ein 43 Vulnerabilitätsfaktor. Wie bereits in der Einleitung erörtert, zeigen sich im Hinblick auf die Vorhersage einer bestimmten psychischen Störung Multifinalität, das heißt viele verschiedene Störungsbilder resultieren aufgrund eines einzelnen bestimmten Risikofaktors und Multikausalität, das heißt ein bestimmtes Störungsbild wird durch verschiedene Risikofaktoren verursacht. Die Bindungstheorie könnte gewissermaßen eine Basis für die häufig untereinander komorbid vorliegenden Persönlichkeitsstörungen darstellen (Pilkonis, 1997; West & Sheldon-Keller, 1994). Einige Autoren sehen in der Bindungstheorie eine Hilfe zum besseren Verständnis verschiedener klinischer Störungsbilder. Nach Bowlby ist das teilweise unbewusste (Re-)Agieren auf Affektäußerungen für die Ausreifung einer sicheren Bindung wichtig. Versteht man Alexithymie als Defizit des Affekterlebens, so weisen Alexithymie und Bindung theoretische Verbindungen auf, welche es weiter zu untersuchen gilt. Eine stark ausgeprägte Alexithymie kann, ebenso wie ein unsicherer Bindungsstil im Sinne eines Vulnerabilitätsfaktors aufgefasst werden. Beide können durch eine beeinträchtigte soziale Anpassung eine zunehmende Vereinsamung und die Entwicklung psychischer Störungen begünstigen. Die vorliegende Studie soll aufweisen, inwieweit ein unsicheres Bindungsverhalten und eine ausgeprägte Alexithymie Prämisse für die Ausbildung einer Suchterkrankung bzw. für die Ausbildung jeder anderen psychiatrischen Erkrankung ist, um nachfolgend Therapieoptionen daraus herleiten zu können. Außerdem soll festgestellt werden, ob ein Zusammenhang zwischen unsicherem Bindungsverhalten und Alexithymie besteht. 44 2.2 Hypothesen und Fragestellungen 2.2.1 Hypothese 1 Eine Alkoholismusdiagnose ist signifikant positiv mit einem unsicheren Bindungsstil korreliert. 2.2.2 Hypothese 2 Eine Alkoholismusdiagnose ist signifikant positiv mit Alexithymie korreliert. 2.2.3 Fragestellung 1 Eine Suchtdiagnose ist signifikant positiv mit einem unsicheren Bindungsstil korreliert. 2.2.4 Fragestellung 2 Eine Suchtdiagnose ist signifikant positiv mit Alexithymie korreliert. 2.2.5 Fragestellung 3 Ein unsicherer Bindungsstil ist signifikant positiv mit Alexithymie korreliert. 45 3. Methodik 3.1 Studiendesign Es wurde eine retrospektive klinische Studie durchgeführt. Die Untersuchungen wurden sowohl zu Beginn als auch zum Ende der stationären Behandlung durchgeführt im Sinne eines Prä-Post-Designs, ohne Kontrollgruppe. Die Untersuchung erfasst insgesamt 248 psychiatrische Patienten, die in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus aufgenommen waren. 3.2.1 Einschlusskriterien Erfasst und untersucht wurden alle Patienten, die stationär behandlungsbedürftig auf eine offene (nicht geschlossene, geschützte) Station eines Landeskrankenhauses aufgenommen wurden. Patienten, die zunächst auf einer geschlossenen Station behandelt wurden, gelangten erst dann in die Untersuchung, wenn eine Verlegung auf eine offene Station möglich war. Die Patienten waren mindestens 18 und maximal 65 Jahre alt und der deutschen Sprache ausreichend mächtig. 3.2.2 Ausschlusskriterien Nicht in die Studie einbezogen wurden Patienten mit Demenz, Minderbegabung, akuten psychotischen Störungen, akuten Intoxikationen, Alter außerhalb des definierten Bereichs (s.o.), Patienten mit nicht ausreichenden deutschen Sprachkenntnissen sowie fehlendes Einverständnis zur Studie. Ebenso wurden direkt von einer geschlossenen Station entlassene Patienten nicht in die Studie aufgenommen. 3.3 Datenerhebung Die Daten wurden sowohl innerhalb der ersten drei Tage der Behandlung auf einer offenen Station, als auch zum Ende der stationären Behandlung erhoben, im Sinne eines Prä-PostDesigns. Zum ersten Messzeitpunkt füllten die Patienten neben den soziodemographischen Daten eine einmalige Einverständniserklärung aus, die dazu diente, den Patienten einheitlich über die Ziele und Inhalte der Studie zu informieren. Des Weiteren wurde damit aus ethischen, datenschutzrechtlichen und juristischen Gründen ein Einverständnis für die Teilnahme an der Studie erlangt. Es wurde explizit auf Freiwilligkeit der Studienteilnahme hingewiesen und betont, dass im Falle einer Nicht-Einwilligung keinerlei Abstriche an der üblichen Routine-Behandlung erfolgen würde und dass die Zustimmung zur Teilnahme 46 jederzeit zurück genommen werden kann. Vor allen Erhebungen wurde die Studie zur Genehmigung der Untersuchungs-Designs der Ethikkommission in Mainz vorgelegt. Zur Anonymisierung wurden den einzelnen Patienten Chiffre-Nummern zugeteilt, so dass die Auswertung nicht über den Namen, sondern über die Chiffre-Nummer stattfand. Die Datenerhebung selbst erfolgte nicht anonym. 3.4 Messinstrumente Neben standardisierter Therapeuten- und Patientenfragebögen im Sinne einer Fremd- und Selbstbeurteilung zum Zeitpunkt der Aufnahme kamen testpsychologische Verfahren zum Einsatz, in erster Linie Selbstbeurteilungsskalen, die eine allgemeine und störungsspezifische Symptomatik erheben und auch typische störungsspezifische Einstellungen erfragen. Insgesamt wurden 13 Fragebögen verwendet, davon 2 Aufnahmebögen zur Erfassung basaler soziodemographischer Daten sowie zur Erfassung von Diagnosen nach ICD-10 und DSM IV, ein Abschlussfragebogen, einen Entlassungsbogen, zur Erfassung der allgemeinen Symptombelastung die Symptomcheckliste SCL 90-R, als störungsspezifische Instrumente das Borderline-Persönlichkeits-Inventar BPI, das Persönlichkeitsstörungsinterview SKID-II (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV, Achse II), als Fragebögen zu dissoziativen Symptomen der FDS (Fragebogen zu Dissoziativen Symptomen), zur Bestimmung der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung die Impact of Event Scale – Revised (IES-R) und die Posttraumatic Stress Diagnostic Scale (PDS) sowie zur Erfassung von Bindungsqualitäten die Adult Attachment Scale (AAS) und die Toronto-Alexithymie-Skala26 (TAS-26) zur Erfassung von Störungen der Affektverarbeitung. Neben den genannten testpsychologischen Verfahren wurde auch das soziale Funktionsniveau mit Hilfe des Global Assessment of Functioning (GAF) gemäß DSM-IV erhoben. Zum Messzeitpunkt 1 (erster Tag nach Aufnahme) wurden den Patienten folgende Fragebögen vorgelegt: Aufnahmebogen Therapeut und Aufnahmebogen Patient. Zum Messzeitpunkt 2 (zweiter Tag nach Aufnahme) fanden verschiedene Tests und Untersuchungen statt: dazu wurden als Messinstrumente die Symptomcheckliste SCL-90, die Toronto-Alexithymie-Skala-26 (TAS-26), die Adult-Attachment-Scale (AAS), das Borderline-Persönlichkeitsinventar (BPI), der Frageboden zu dissoziativen Symptomen (FDS), die Impact of Event-Scale (IES-R), die PDS (Diagnoseskala der PTBS, deutschsprachige Version der Posttraumatic Stress Diagnostic Scale von Foa, 1995) und das strukturierte klinische Interview für DSM-IV, Achse II (SKID-II), gewählt. 47 In den nachfolgenden Kapiteln soll auf einzelne, ausgewählte Fragenbögen näher eingegangen werden. 3.4.1 Aufnahmebogen Therapeut Durch diesen Aufnahmebogen werden allgemeine soziodemographische Daten wie Alter und Geschlecht, sowie psychiatrische und somatische Diagnosen nach DSM-IV und ICD 10 erfasst. Des Weiteren wird der Charakter der Aufnahmestation dokumentiert (geschlossen, offen allgemeinpsychiatrisch oder offen psychotherapeutisch) und ob eine Verlegung stattgefunden hat. Er erfolgte eine Medikamentenanamnese, eine Einschätzung des allgemeinen Funktionsniveaus in Anlehnung an die GAF-Skala (Global Assessment of Functioning Scale) der Achse V des DSM-IV (diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen), und eine Anamnese über Vorbehandlungen somatischer sowie psychiatrischer Erkrankungen. Im Hinblick auf Vorbehandlungen psychiatrischer Erkrankungen erfolgte eine Einteilung zwischen ambulanten, stationärer und teilstationärer Behandlung sowie eine Einteilung in psychotherapeutischer und psychiatrischer Vorbehandlung. Es wurden Daten zur gynäkologischen und Sexualanamnese erhoben. Des Weiteren wurde erfasst, ob Nikotin-, Alkohol- und der Konsum von anderen Drogen vorliegt oder in der Vergangenheit vorgelegen hat. Es folgten Angaben zur Kindheit und Jugend des Patienten, zu Bezugspersonen, eigener Heirat und Dauer der aktuellen Beziehung. Erfasst wurden auch soziodemographische Daten der Eltern und näherer Familienangehöriger, ob Vorstrafen, finanzielle Probleme, psychische oder chronische körperliche Erkrankungen vorlagen, ob Suizidhandlungen innerhalb der Familie stattgefunden haben, ob eine Scheidung der Eltern vorlag oder der Verlust eines älteren Geschwisterteiles oder eines engen Freundes, und mit welchen Familienangehörigen der Patient aufgewachsen ist. Des Weiteren wurde erfragt, inwieweit der Patient während seiner Kindheit und Jugend in sozialen Gruppen aktiv war, beispielsweise im Rahmen von Politik, Jugendgruppen, Kirche und anderen Vereinen. Die Anzahl der Schulwechsel und Umzüge in der Kindheit wurde dokumentiert, außerdem ob der Kontakt zu Gleichaltrigen als gut oder schlecht eingeschätzt wurde. Es wurde erörtert, ob der Patient Erfahrung mit körperlicher Gewalttätigkeit und sexuellem Missbrauch gemacht hat und wenn ja, in welchem Alter und durch wen. 48 Am Ende des Interviews wurde durch den Therapeuten eine Einschätzung zur Motivation des Patienten im Hinblick auf die bevorstehende Behandlung abgegeben. 3.4.2 Aufnahmebogen Patient Dieser Bogen hielt Angaben über Kostenträger, zuweisende Einrichtung und Wartezeit auf die stationäre Aufnahme fest. Es wurden Herkunftsland, Alter des Patienten, familiäre Situation und Wohnsituation dokumentiert. Des Weiteren wurde der schulische und berufliche Werdegang erfragt, sowie die aktuelle Erwerbslage des Patienten und dessen Haupteinnahmequelle. Es wurden Fragen zur Arbeitsunfähigkeit bei Aufnahme und in den letzten 12 Monaten sowie auch zu einer eventuellen frühzeitigen Berentung gestellt und festgehalten. Die Patienten sollten Angaben zu ihrer eigenen Vorgeschichte bezüglich Sucht, Suizidversuchen und Gewalttätigkeiten gegen andere oder sich selbst machen und ihre Beschwerdesymptomatik und dessen Dauer formulieren und angeben. Zuletzt sollte noch eine Selbsteinschätzung des Patienten zur Motivation bezüglich der vorgesehenen Behandlung sowie eine Festlegung individueller Therapieziele stattfinden. Die allgemeine Zufriedenheit mit dem jetzigen Leben wurde von den Patienten auf einer Skala von 1 (schlecht) bis 10 (sehr zufrieden) angegeben. 3.4.3 Adult Attachment Scale (AAS) Auf die von Collins und Read (1990) entwickelte Adult Attachment Scale (AAS) wurde bereits eingegangen (vgl. Kapitel 1.2.4.3). Es handelt sich bei diesem Messinstrument um ein Selbstbeschreibungsverfahren, welches sich auf bindungsbezogene Einstellungen bezieht. Dessen dimensionale Skalen erfassen die Offenheit für Nähe in Beziehungen (Close), das Vertrauen in den anderen (Depend) sowie die Angst vor dem Verlassen werden (Anxiety). In der vorliegenden Studie wurde die deutsche Adaptation der AAS benutzt. Die Übersetzung der Adult Attachment Scale erfolgte durch Büsselberg (1993). Die AAS besteht aus 18 Items, die auf einer fünfstufigen Skala von „stimmt gar nicht“ (1) bis „stimmt genau“ (5) eingeschätzt werden. Die Ausprägungen der einzelnen Skalen werden als Summenscores der jeweils sechs Items jeder Skala berechnet. Dabei werden einige Items aufgrund ihrer negativen Polung vorher invertiert. Tabelle 1.7, Kapitel 1.2.4.3, zeigt die 15 Items der AAS in der deutschen Fassung. Durch die Entwicklung der Adult Attachment Scale ist es gelungen, eine diskrete Bindungstypologie auf intervallskalierbare Dimensionen zurückzuführen, die fundamentale Aspekte des Bindungssystems abzubilden scheinen. In einer Clusteranalyse überprüften 49 Collins und Read diese Vermutung und konnten nachweisen, dass den drei Bindungsmustern äquivalente Cluster zugeordnet werden können: • Ein sicheres Bindungsmuster zeichnet sich durch hohe Werte auf den Skalen Nähe und Vertrauen und durch niedrige Werte auf der Angstskala aus • Der Bindungstypus ängstlich geht mit hohen Werten auf der Angstskala und mittleren Werten auf der Nähe- und Vertrauensskala einher. • Der vermeidende Bindungsstil geht mit niedrigen Werten auf allen drei Skalen einher. 3.4.4 Toronto-Alexithymie-Skala (TAS-26) Bei der Toronto-Alexithymie-Skala-26 (TAS-26) handelt es sich um die deutschsprachige Adaptation des von Taylor und Bagby (1997) entwickelten Fragebogens. Sie dient der Erfassung der subjektiven Einschätzung von spezifischen Dimensionen der Konstrukte Alexithymie. Die TAS-26 erfasst drei Skalen „Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen“, „Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen“ und den „extern orientierten Denkstil“, welche zu einer „Alexithymie-Gesamtskala“ addiert werden können. Der Test besteht aus 26 Items, die auf einer 5-stufigen Antwortskala beantwortet werden müssen. Die einzelnen Antwortmöglichkeiten bedeuten: 1 = trifft gar nicht zu, 2 = trifft eher nicht zu, 3 = teils / teils, 4 = trifft eher zu, 5 = trifft völlig zu. Hohe Werte auf der Skala „Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen“, deuten darauf hin, dass der Proband Schwierigkeiten hat, eigene Gefühle und deren physiologische Begleiterscheinungen in adäquater Weise wahrzunehmen. Hohe Werte auf der Skala „Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen“ sprechen dafür, dass Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen bestehen, da ein Teil der Kommunikation eingeschränkt oder im Extremfall fehlend ist. Probanden mit hohen Werten auf der Skala „extern orientierter Denkstil“ zeigen ein stark eingeschränktes Interesse an analytischem Denken bzw. an einer Reflexion von Lösungswegen in problematischen Situationen. Den Probanden reicht eine eher oberflächliche Betrachtungsweise von problematischen Situationen und Abläufen. Die Gesamtskala scheint am besten geeignet zu sein für die Unterteilung von Probanden in hoch- und niedrigalexithyme Untergruppen. Die TAS-26 ist ein nach Testgütekriterien gut abgesichertes Messinstrument für das Konstrukt Alexithymie, welches mittels einer repräsentativen Stichprobe (n = 2047) normiert wurde. Sie führt als standardisiertes Selbstbeurteilungsverfahren zu einer relativ hohen Objektivität. Divergente Validität und die Kriteriumsvalidität des Instruments konnten in 50 verschiedenen Untersuchungen zufriedenstellend nachgewiesen werden (Kupfer, Brosig & Brähler, 2000). In Anlehnung an Taylor und Bagby (1997) werden Probanden ab einem Gesamtwert von ≥ 54 als alexithym bezeichnet. Dieser Wert muss allerdings in klinischen Studien noch bestätigt werden (Kupfer, Brosig & Brähler, 2000). 3.4.5 Abschlussfragebogen Therapeut Mit diesem Fragebogen werden wie beim Aufnahmebogen des Therapeuten psychiatrische bzw. psychotherapeutische Diagnosen, sowie somatische Diagnosen erfasst. Es wird die Art der Entlassung festgehalten (regulär, vorübergehende Verlegung, Beurlaubung, Entweichung, Entlassung gegen ärztlichen Rat, Entlassung wegen mangelnder Motivation), ebenso die Medikation bei Entlassung. Es erfolgte erneut die Globale Erfassung des Funktionsniveaus (GAF). 3.4.6 Abschlussfragebogen Patient In diesem Fragebogen sollten die Patienten die einzelnen Therapieformen und Maßnahmen bewerten und angeben, inwieweit diese geholfen haben. Dies sollte auf einer Skala angegeben werden, die von „sehr geholfen“ bis „geschadet“ reicht. Anschließend folgte eine Bewertung, inwieweit die am Tag der Aufnahme individuell angesetzten Therapieziele erreicht wurden. Zuletzt sollte noch die allgemeine Zufriedenheit mit dem jetzigen Leben auf einer Skala von 1 (sehr unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden) angegeben werden. 3.4.7 Tests bei Entlassung Am letzten Tag vor der Entlassung wurden den Patienten die Messinstrumente IES-R, FDS und SCL-90 vorgelegt. 3.5 Statistische Auswertung Die statistischen Analysen wurden allesamt mittels SPSS für Windows, Release 15.0, ermittelt. 51 4. Ergebnisse 4.1 Stichprobenbeschreibung 4.1.1 Soziodemographische Daten Insgesamt nahmen an der Studie 248 Männer und Frauen teil, die in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus aufgenommen waren. Von den Patienten waren 90 (36%) männlich und 157 (64%) weiblich, bei einem Patienten ist das Geschlecht aufgrund fehlender Angabe unbekannt. Das durchschnittliche Alter der Patienten lag bei 39,9 Jahren. 224 der Probanden gaben Deutschland als Herkunftsland an, 9 Patienten stammten aus einem anderen europäischen Land, zwei Patienten kamen aus Asien und eine/r aus Amerika. Die Tabellen 4.1 bis 4.4 geben einen Überblick über einige ausgewählte soziodemographische Daten der Probanden. Tab. 4.1: höchster Schulabschluss der Gesamtpopulation zum Zeitpunkt der Befragung Schulabschluss n Prozent Abitur / Fachhochschulreife 44 17,7 Realschule 71 28,5 Hauptschule 105 42,2 Sonderschule 1 0,4 ohne Abschluss 11 4,4 noch in der Schule 4 1,6 keine Angaben 6 2,4 Tab. 4.2: höchster Berufsabschluss der Gesamtpopulation zum Zeitpunkt der Befragung Berufsabschluss n Prozent Universität / Fachhochschule 23 9,2 Meister 9 3,6 Lehre 136 54,6 sonstiger Abschluss 12 4,8 ohne Abschluss 41 16,5 noch in der Ausbildung 10 4,0 keine Angaben 11 4,4 52 Tab. 4.3: Berufstätigkeit der Gesamtpopulation zum Zeitpunkt der Befragung Berufstätigkeit n Prozent selbstständig 15 6,0 Angestellte(r) 82 32,9 Facharbeiter / -in, Arbeiter /-in 59 23,7 Auszubildende(r) 14 5,6 Rentner /-in 25 6,4 Hausfrau 24 9,6 Student / -in 3 1,2 ohne Beruf 13 5,2 sonstiges 8 3,2 Keine Angaben 7 2,8 Familienstand n Prozent verheiratet 89 35,8 ledig 71 28,5 geschieden 61 24,5 in Partnerschaft lebend 41 10,9 getrennt lebend 24 9,7 verwitwet 4 1,6 keine Angabe 6 2,4 Tab. 4.4: Familienstand der Gesamtpopulation zum Zeitpunkt der Befragung 4.1.2 Verteilungsmuster psychiatrischer Haupt- und Nebendiagnosen In der Tabelle 4.5 sind die aus Haupt- und Nebendiagnose(n) zusammengefassten Diagnosen und deren Häufigkeit in der Studienpopulation aufgeführt. Die am häufigsten vertretene psychiatrische Diagnosegruppe war die der Suchterkrankungen mit 155 Probanden (62,5 %). Schließt man die Gruppe der Patienten, die Nikotin, nicht aber andere Substanzen missbrauchen aus, ergibt sich eine Anzahl der Suchtkranken von 100 Probanden (40,3%), wodurch die Diagnosegruppe „Reaktionen auf schwere Anpassungsstörungen“ mit 140 Probanden an erste Stelle rückt (56,5 %). 53 Belastungen und Unabhängig von der Diagnose Nikotinabusus, welche nur als Nebendiagnose verschlüsselt worden war, bestand innerhalb der Untergruppe der Suchtkranken die größte Häufigkeitsverteilung bei dem Alkoholabusus mit 67 Probanden (36 männliche und 31 weibliche Probanden), wobei bei 29 Probanden die Alkoholabhängigkeit als Haupt-, und bei 38 Probanden als Nebendiagnose verschlüsselt war. Weitere Substanzen, bei denen die Probanden einen Substanzkonsum betrieben, sind in der Tabelle 4.6 aufgeführt. Weitere psychiatrische Diagnosen, die die Probanden aufwiesen waren affektive Störungen mit einer Anzahl von 54 (21,7%), Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren mit einer Anzahl von 36 (14,5%), somatoformen Störungen mit einer Anzahl von 27 (10,9%), Angststörungen mit einer Anzahl von 23 (9,3%) sowie zu einem geringeren Prozentsatz phobische Störungen, Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen, dissoziative Störungen und Zwangsstörungen. Tab. 4.5: Verteilung zusammengefasster Diagnosen der Studiengruppe nach ICD 10 ICD-10 Diagnose n Prozent F43 Reaktionen auf schwere Belastung und Anpassungsstörungen 140 56,5 F10-19 Suchterkrankung ausgenommen Nikotinabusus 100 40,3 F30-39 Affektive Störungen 54 21,7 F50-59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren 36 14,5 F45 Somatoforme Störungen 27 10,9 F41 Andere Angststörungen 23 9,3 F40 Phobische Störungen 16 6,5 F20-29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen 16 6,5 F44 Dissoziative Störungen 8 3,2 F42 Zwangsstörungen 2 0,8 Das Verteilungsmuster bezieht sich auf die Gesamtstudienpopulation. Dabei wird nicht zwischen Haupt- und Nebendiagnosen unterschieden. Die Prozentzahlen geben den Anteil der Patienten mit bestimmter psychiatrischer Diagnose an der Gesamtstudienpopulation an. n= Anzahl der Patienten. 54 Tab.4.6 : Verteilungsmuster der Suchtmittel in der Untergruppe der Suchtkranken ICD-10 Suchtmittel F10 Alkohol 67 67 27,0 F19 Multiple Substanzen (Polytoxikomanie) 22 22 8,9 F13 Sedativa und Hypnotika 13 13 5,2 F12 Cannabinoide 8 8 3,2 F11 Opioide 4 4 1,6 F15 Stimulantien 3 3 1,2 117 100 47,1 Gesamt n Anteil innerhalb der Gruppe der Suchtkranken (%) Anteil an der Gesamtstichprobe (%) Das Verteilungsmuster der Suchtmittel bezieht sich auf die Untergruppe der Suchtkranken, ausgenommen Suchtkranke, welche lediglich Nikotinabusus als Suchterkrankung aufweisen. Dabei wird nicht nach Haupt-und Nebendiagnosen unterschieden. Mehrfachkodierungen waren möglich, daher gibt die Gesamtanzahl von n = 117 die Anzahl der Diagnosekodierungen an, nicht die Anzahl der Patienten (vgl. Tab. 4.1: n Suchtkranke = 100). Persönlichkeitsstörungsdiagnosen konnten bei 156 Probanden gestellt werden, was einen prozentualen Anteil an der Gesamtstudienpopulation von 62,9 ergibt. Den größten Teil bildeten Patienten mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (66 Probanden), gefolgt von Patienten mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung (28 Probanden) und dependenten Persönlichkeitsstörung (25 Probanden). In der Tabelle 4.7 ist die Häufigkeitsverteilung aller in der gesamten Studienpopulation vertretenen Persönlichkeitsstörungsdiagnosen mit jeweiligem prozentualem Anteil an der gesamten Studienpopulation aufgelistet. 55 Tab.4.7: Verteilung der Persönlichkeitsstörungsdiagnosen in der Gesamtstichprobe Anteil an der Gesamtstichprobe (%) ICD-10 Persönlichkeitsstörungsdiagnose n F60.3 Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline-Typ, Impulsiver Typ) 66 26,6 F60.6 Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung 28 11,3 F60.7 Dependente Persönlichkeitsstörung 25 10,0 F60.4 Histrionische Persönlichkeitsstörung 13 5,2 F60.8 Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörung 10 4,0 F60.1 Schizoide Persönlichkeitsstörung 5 2,0 F60.5 Zwanghafte Persönlichkeitsstörung 4 1,6 F60.2 Dissoziative Persönlichkeitsstörung 3 1,2 F60.0 Paranoide Persönlichkeitsstörung 2 0,8 F60 Kumulativ 156 62,9 Das Verteilungsmuster bezieht sich auf die Gesamtstudienpopulation. n = Anzahl In der Gruppe der Probanden mit der Diagnose einer Suchterkrankung ausgenommen Nikotinabusus wiesen 71 der 100 Probanden neben der psychiatrischen Diagnose einer Suchterkrankung eine Persönlichkeitsstörungsdiagnose auf, was einen prozentualen Anteil von 71 ergibt. Im Vergleich dazu wiesen 85 der 148 Patienten ohne Diagnose einer Suchterkrankung ausgenommen Nikotinabusus eine gleichzeitig bestehende Persönlichkeitsstörungsdiagnose auf, was einen prozentualen Anteil von 57,4% ausmacht. Innerhalb der Gruppe der Suchtkranken mit gleichzeitig bestehender Persönlichkeitsstörung machten die Probanden mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung mit einer Anzahl von 25 den größten Teil aus, gefolgt von Probanden mit einer dependenten Persönlichkeitsstörung (15 Probanden) und einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung (13 Probanden). Alle anderen Persönlichkeitsstörungen, welche in der Gesamtpopulation vertreten sind, fanden sich in der in Untergruppe der Suchtkranken zu einem geringen, vernachlässigbaren Prozentsatz. Häufigkeitsverteilung aller in der Subpopulation 56 In der Tabelle 4.8 ist die der Suchtkranken vertretenden Persönlichkeitsdiagnosen mit jeweiligem prozentualen Anteil an der Gesamtstichprobe sowie an der Subpopulation der Suchtkranken aufgelistet. Tab.4.8: Verteilung der Persönlichkeitsstörungsdiagnosen in der Untergruppe der Suchtkranken Anteil an der Subpopulation der Suchtkranken (%) n Anteil an der Gesamtstichprobe (%) ICD-10 Persönlichkeitsstörungsdiagnose F60.3 Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline-Typ, Impulsiver Typ) 25 25 10,1 F60.7 Dependente Persönlichkeitsstörung 15 15 6,0 F60.6 Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung 13 13 5,2 F60.1 Schizoide Persönlichkeitsstörung 5 5 2,0 F60.4 Histrionische Persönlichkeitsstörung 4 4 1,6 F60.8 Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörung 4 4 1,6 F60.2 Dissoziative Persönlichkeitsstörung 3 3 1,2 F60.5 Zwanghafte Persönlichkeitsstörung 1 1 0,4 F60.0 Paranoide Persönlichkeitsstörung 1 1 0,4 F60 Kumulativ 71 71 28,6 Das Verteilungsmuster der Persönlichkeitsstörungsdiagnose bezieht sich auf die Untergruppe der Suchtkranken, ausgenommen Suchtkranke, welche lediglich Nikotinabusus als Diagnose aufweisen. n = Anzahl 4.2 Personengebundene Störvariablen Um eine sichere interne Validität der abhängigen Variablen zu gewährleisten, wurde überprüft, ob sich Konfundierungen der demographischen Variablen und der weiteren unabhängigen Variablen ergeben. Es wurden die unabhängigen Variablen „Alter“, „Familienstand“, „Erwerbstätigkeit“ und „Bildung“ mittels T-Test, Korrelation bei gepaarten Stichproben und Tests bei gepaarten Stichproben durchgeführt. Bei allen überprüften unabhängigen Variablen zeigten sich nicht signifikante Ergebnisse, so dass davon ausgegangen werden muss, dass diese nicht als personengebundene Störvariablen angesehen werden können. Die entsprechenden Ergebnisse sind in den Tabellen 4.9 bis 4.14 aufgeführt. 57 Tab. 4.9: Alter der Probanden zum Zeitpunkt der Befragung Suchtkranke Nicht-Suchtkranke Altersspanne (Jahre) 19 – 65 18 – 64 Durchschnittliches Alter 41,2 39,1 Tab. 4.10: Korrelation bei gepaarten Stichproben. Alter der Probanden bei Suchtpatienten versus Nicht-Suchtpatienten n Altersspanne der Probanden: Suchtkranke vs. Nichtsuchtkranke Korrelation 247 Signifikanz 0,92 0,150 Tab. 4.11: T-Test personengebundene Störvariablen. Test bei gepaarten Stichproben: Alter der Probanden bei Suchtpatienten versus Nicht-Suchtpatienten Gepaarte Differenzen Alter der Probanden – Suchtkranke vs. NichtSuchtkranke Mittelwert Standardabweichung Standardfehler des Mittelwertes 39,567 11,374 0,724 95% Konfidenzintervall der Differenz Untere Obere 38,141 40,992 T 54,670 df Sig. (2seitig) 246 0,000 Tab. 4.12: Familienstand der Suchtkranken beziehungsweise Nicht-Suchtkranken zum Zeitpunkt der Befragung Suchtkranke n (%) Nicht-Suchtkranke n (%) Anzahl Verheirateter 27 (27) 48 (32,4) Anzahl Unverheirateter 56 (56) 48 (32,4) Ohne Angabe 17 (17) 35 (23,6) Die Zahl ohne Klammer gibt die tatsächliche Anzahl (n) wieder, die dahinterstehende Zahl in Klammern gibt den prozentualen Anteil (%) an der jeweiligen Subpopulation (Suchtkranke beziehungsweise Nicht-Suchtkranke) an. 58 Tab. 4.13: Erwerbstätigkeit der Suchtkranken beziehungsweise Nicht-Suchtkranken zum Zeitpunkt der Befragung Erwerbstätigkeit Suchtkranke n (%) Nicht-Suchtkranke n (%) Anzahl voll Erwerbstätiger 30 (30) 50 (33,8) Anzahl teil Erwerbstätiger 12 (12) 18 (12,2) Anzahl nicht erwerbstätiger / Arbeitsloser 38 (38) 41 (27,7) Ohne Angabe 20 (20) 39 (26,3) Die Zahl ohne Klammer gibt die tatsächliche Anzahl (n) wieder, die dahinterstehende Zahl in Klammern gibt den prozentualen Anteil (%) an der jeweiligen Subpopulation (Suchtkranke beziehungsweise Nicht-Suchtkranke) an. Tab. 4.14: Höchster Schulabschluss der Suchtkranken beziehungsweise Nicht-Suchtkranken zum Zeitpunkt der Befragung Höchster Schulabschluss Suchtkranke n (%) Nicht-Suchtkranke n (%) Abitur / Fachhochschulreife 16 (16) 28 (18,9) Realschule / mittlere Reife 26 (26) 45 (30,4) Hauptschule 44 (44) 64 (41,2) Sonderschule 0 (0) 1 (0,7) Ohne Abschluss 5 (5) 6 (4,1) Sonstiger Abschluss 3 (3) 3 (2,0) Noch in der Schule 2 (2) 2 (1,4) Ohne Angabe 4 (4) 2 (1,4) Die Zahl ohne Klammer gibt die tatsächliche Anzahl (n) wieder, die dahinterstehende Zahl in Klammern gibt den prozentualen Anteil (%) an der jeweiligen Subpopulation (Suchtkranke beziehungsweise Nicht-Suchtkranke) an. 59 4.3 Ergebnisse der Adult Attachment Scale (AAS) Mittels der Adult Attachment Scale wurden die Bindungsqualitäten „sicher“, „unsicher vermeidend“ und „unsicher - ängstlich“, resultierend aus den jeweiligen Skalen „Depend“ (Vertrauen), „Close“ (Nähe) und „Anxiety“ (Angst), erfasst. Eine weitere Subklassifikation war die Bindungsqualität „mischgebunden“, das heißt, Probanden konnten weder als sicher, noch als unsicher gebunden eingeordnet werden. Innerhalb der Gesamtstudienpopulation waren alle vier Bindungsqualitäten vertreten: 80 Probanden (32,3%) wurden als sicher gebunden, 66 als unsicher (26,6%), davon 23 als unsicher – vermeidend (9,3%) und 43 als unsicher – ängstlich (17,3%) gebunden klassifiziert. 88 Probanden (35,5%) waren mischgebunden. Bei 14 Patienten (5,6%) fehlten die Daten zur Bindungsqualität. Die Tabellen 4.15 und 4.16 geben eine Übersicht über die Verteilungsmuster der Bindungsqualitäten innerhalb der Gesamtpopulation und der Subpopulationen der NichtSuchtkranken und Suchtkranken und innerhalb derer die Gruppe der Alkoholiker und Suchtkranker anderer Suchtstoffe. Tab. 4.15: Deskriptive und prozentuale Häufigkeiten der Bindungsqualitäten innerhalb der Gesamtpopulation, sowie der Subpopulationen der Suchtkranken und der Nicht-Suchtkranken mit anderen psychiatrischen Diagnosen Bindungsstil Sicher Gesamtpopulation (n = 248) Suchtkranke (n = 100) Nicht-Suchtkranke mit anderen psychiatrischen Diagnosen (n = 148) 80 (32) 36 (36) 44 (29,7) 66 (26,6) 27 (27) 39 (26,4) Unsicher-vermeidend 23 (9,3) 10 (10) 13 (8,8) Unsicher-ängstlich 43 (17,3) 17 (17) 26 (17,6) Mischgebunden 88 (35,5) 33 (33) 55 (37,2) Missing data 14 (5,6) 4 (4) 10 (6,8) Unsicher, davon Die Zahl ohne Klammer gibt die tatsächliche Anzahl (n) wieder, die dahinterstehende Zahl in Klammern gibt den prozentualen Anteil (%) an der jeweiligen Population (Gesamtpopulation beziehungsweise Subpopulationen) an. 60 Tab. 4.16: Deskriptive und prozentuale Häufigkeiten der Bindungsqualitäten innerhalb der Subpopulation der Suchtkranken Suchtkranke (n = 100) Bindungsstil Alkoholiker (n = 67) Suchtkranke anderer Suchtmittel (n = 33) Sicher 36 (36) 25 (37,3) 11 (33,3) Unsicher, davon 27 (27) 15 (22,4) 12 (36,4) Unsicher-vermeidend 10 (10) 5 (7,5) 5 (15,2) Unsicher-ängstlich 17 (17) 10 (14,9) 7 (21,2) 33 (33) 24 (35,8) 9 (27,3) 4 (4) 3 (4,5) 1 (3) Mischgebunden Missing data Die Zahl ohne Klammer gibt die tatsächliche Anzahl (n) wieder, die dahinterstehende Zahl in Klammern gibt den prozentualen Anteil (%) an der jeweiligen Population (Suchtkranke gesamt beziehungsweise Subpopulationen Alkoholiker und Suchtkranke anderer Suchtmittel) an. Aus den Daten und Prozentzahlen der in den Tabelle 4.15 und 4.16 aufgeführten Häufigkeitsverteilung der Bindungsqualitäten geht hervor, dass sich die Häufigkeitsverteilungen der Bindungsqualitäten innerhalb der Subpopulationen nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Die Werte liegen für die Bindungsqualität „sicher“ im Bereich zwischen 29,7 und 37,3 %, für die Bindungsqualität „unsicher“ zwischen 22,4 und 36,4 %, für die Bindungsqualität „unsicher – vermeidend“ zwischen 7,5 und 15,2 %, und für die Bindungsqualität „unsicher – ängstlich“ zwischen 14,9 und 21,2 %. Die Bindungsqualität „mischgebunden“ erreicht Werte zwischen 27,3 bis 37,2 %. Bei der Erstellung von Kreuztabellen und Signifikanzen zeigten sich ähnliche nicht signifikante Werte. Die Tabellen 4.17 und 4.18 geben eine Übersicht über den χ²-Test bzw. die Odds ratio erhaltenen Ergebnisse. 61 Tab. 4.17: Statistische Auswertung der Bindungsstile bezüglich der Subpopulation der Suchtkranken im Vergleich untereinander und im Vergleich mit der Gruppe der NichtSuchtkranken mit anderer psychiatrischer Diagnose ²-Test nach Pearson Exakte Signifikanz 2-seitig (Exakter Test nach Fisher) Exakte Signifikanz 2seitig (LikelihoodQuotient) df Anzahl gültiger Fälle Suchtkranke gegen NichtSuchtkranke in Bezug auf sicheren versus unsicheren versus mischgebundenen Bindungsstil 1,388 (a) 0,494 0,501 2 234 Alkoholiker gegen andere Suchtkranke in Bezug auf sicheren versus unsicheren versus mischgebundenen Bindungsstil 3,533 (b) 0,474 0,486 4 234 Alkoholiker gegen andere Suchtkranke in Bezug auf unsicher-ängstlichen Bindungsstil 0,604 (c) 0,762 0,762 2 234 Alkoholiker gegen andere Suchtkranke in Bezug auf unsicher-vermeidenden Bindungsstil 1,533 (d) 0,469 0,521 2 234 Alkoholiker versus andere 1,150 (e) 0,567 0,567 2 Suchtkranke in Bezug auf sicheren versus unsicheren Bindungsstil a 0 Zellen (,0%) haben einer erwartete Häufigkeit kleiner 5. Die minimale erwartete Häufigkeit ist 26,67. b 0 Zellen (,0%) haben eine erwartete Häufigkeit kleiner 5. Die minimale erwartete Häufigkeit ist 8,89. c 0 Zellen (0%) haben eine erwartete Häufigkeit kleiner 5. Die minimale erwartete Häufigkeit ist 5,88. d 1 Zellen (16,7%) haben eine erwartete Häufigkeit kleiner 5. Die minimale erwartete Häufigkeit ist 3,15. e 0 Zellen (0%) haben eine erwartete Häufigkeit kleiner 5. Die minimale erwartete Häufigkeit ist 10,85. 233 Tab. 4.18: Statistische Berechnung der Odds ratio bezüglich der Subpopulation der Suchtkranken im Vergleich untereinander und im Vergleich mit der Gruppe der NichtSuchtkranken mit anderer psychiatrischer Diagnose Odds ratio Suchtkranke gegen Nicht-Suchtkranke bezüglich sicheren versus unsicheren Bindungsstil 1,19 Alkoholiker gegen Suchtkranke anderer Suchtmittel bezüglich sicheren versus unsicheren Bindungsstil 1,82 Alkoholiker gegen Suchtkranke anderer Suchtmittel bezüglich sicheren versus unsicher-vermeidenden Bindungsstil 2,27 Alkoholiker gegen Suchtkranke anderer Suchtmittel bezüglich sicheren versus unsicher-ängstlichen Bindungsstil 2,59 62 Es zeigt sich bei der Berechnung der Odds ratio, dass Suchtkranke gegenüber NichtSuchtkranke bezüglich sicheren und unsicheren Bindungsstil kaum einen Unterschied aufweisen (Odds ratio von 1,19). Ebenso wenig gibt es relevante Unterschiede zwischen Alkoholikern und Suchtkranken anderer Suchtmittel, wenn man sicheren versus unsicheren Bindungsstil (Odds ratio von 1,82), sicheren gegen unsicher vermeidenden Bindungsstil (Odds ratio von 2,27) und sicheren gegen unsicher-ängstlichen Bindungsstil (Odds ratio von 2,59) einander gegenüberstellt. Suchtkranke anderer Suchtmittel als Alkohol haben also nur ein gering erhöhtes Risiko für die Ausprägung eines unsicheren Bindungsstils als dies Alkoholiker haben. 4.4 Ergebnisse der Toronto-Alexithymie-Skala TAS-26 Innerhalb der Gesamtstichprobe wurden mittels der TAS-Gesamtskala gleich viele Patienten als alexithym bzw. als nicht alexithym getestet (jeweils 116 Patienten entsprechend 46,8 %). Bei 16 Patienten (6,5%) fehlen die entsprechenden Daten. Bezüglich der Dimension der Skala 1 (Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen) zeigten sich 98 Probanden (39,5 %) als alexithym. Bezüglich der Dimension der Skala 2 (Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen) fand sich der höchste Prozentsatz an als alexithym getesteten Probanden, verglichen mit den anderen beiden Subskalen sowie mit der Gesamtskala (154 Probanden entsprechend 62,1%). Bezüglich der Dimension der Skala 3 (Extern orientierter Denkstil) erwiesen sich 86 Probanden (34,7%) als alexithym. In der Tabelle 4.19 sind die deskriptiven beziehungsweise prozentualen Häufigkeiten der Gesamtpopulation bezüglich der TAS-Gesamtskala und der TAS-Subskalen aufgeführt. 63 Tab. 4.19: Deskriptive und prozentuale Häufigkeiten der Verteilung der Alexithymie in der Gesamtskala sowie der Subskalen der TAS-26 innerhalb der Gesamtpopulation Alexithym Nicht alexithym Missing TAS-Gesamtskala 116 (46,8) 116 (46,8) 16 (6,5) TAS Skala 1 98 (39,5) 134 (54,0) 16 (6,5) TAS Skala 2 154 (62,1) 78 (31,5) 16 (6,5) TAS Skala 3 86 (34,7) 14 (58,9) 16 (6,5) Die Zahl ohne Klammer gibt die tatsächliche Anzahl wieder (n), die dahinterstehende Zahl in Klammern gibt den prozentualen Anteil (%) an der Gesamtpopulation an. 4.4.1 Alexithymie und Sucht Im Vergleich der Subpopulationen „Suchtkranke“ mit der Subpopulation „Probanden mit anderer psychiatrischer Diagnose“ zeigte sich bezüglich der Gesamtskala und der Skalen 1 und 2 ähnliche Verteilungsmuster wie in der Gesamtstichprobe. Lediglich bei der Skala 3 (Extern orientierter Denkstil) zeigte sich, dass in der Subpopulation der Suchtkranken deutlich weniger Patienten als in der Subpopulation der Patienten mit anderer psychiatrischer Diagnose als alexithym klassifiziert werden konnten (29 % der Suchtkranken versus 38,5 % der Patienten mit anderer psychiatrischer Diagnose). Dieser zunächst auffällige prozentuale Unterschied zwischen der Subpopulation der Suchtkranken und der Subpopulation der Patienten mit anderer psychiatrischer Diagnose stellte sich in der weiteren Testung als nicht signifikant dar. Es wurden die Subpopulationen der Suchtkranken im Vergleich untereinander und im Vergleich mit der Gruppe der Nicht-Suchtkranken mit anderer psychiatrischer Diagnose im Hinblick auf das Vorhandensein von Alexithymie getestet. Dabei waren die Werte des χ ²-Tests nach Pearson, des Exakten Tests nach Fisher, des Likelihood-Quotienten, sowie die 2-seitige Signifikant im T-Test bei unabhängigen Stichproben allesamt nicht signifikant. Somit gibt es keine signifikanten Unterschiede bezüglich des Verteilungsmusters der Alexithymie hinsichtlich sowohl der Gesamtskala als auch der Subskalen1, 2 und 3 zwischen den in dieser Studie vorhandenen Subpopulationen Suchtkranken und NichtSuchtkranke mit anderer psychiatrischer Diagnose. In der Tabelle 4.20 sind die deskriptiven beziehungsweise prozentualen Häufigkeiten der Subpopulation der Suchtkranken versus der Subpopulation der Patienten mit anderer psychiatrischer Diagnose bezüglich der TAS-Gesamtskala und der TAS-Subskalen aufgeführt. 64 Tab. 4.20: Deskriptive und prozentuale Häufigkeiten der als innerhalb der Gesamtskala sowie der Subskalen TAS 1, TAS 2, TAS 3 als alexithym klassifizierten Probanden innerhalb der Subpopulation der Suchtkranken versus der Subpopulation der Patienten mit anderer psychiatrischer Diagnose (Nicht-Suchtkranke) TAS - Gesamtskala TAS 1 TAS 2 TAS 3 missing Gesamtpopulation (n=248) 166 (46,8) 98 (39,5) 154 (62,1) 86 (34,7) 16 (6,5) Suchtkranke (n =100) 45 (45,0) 42 (42,0) 62 (62,0) 29 (29,0) 5 (5,0) Nicht-Suchtkranke (n =148) 71 (48,0) 56 (37,8) 92 (62,2) 57 (38,5) 11 (7,4) Die Zahl ohne Klammer gibt die tatsächliche Anzahl wieder (n), die dahinterstehende Zahl in Klammern gibt den prozentualen Anteil (%) an der Gesamtpopulation bzw. der Subpopulationen (Suchtkranke und Nicht-Suchtkranke) an. TAS 1 stellt die Skala „Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen“ dar, TAS 2 „Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen“, TAS 3 „extern orientierter Denkstil“. Die 3 Skalen werden zu einer Alexithymie-Gesamtskala addiert (TAS-Gesamtskala). Ein Vergleich innerhalb der Subpopulation der Suchtkranken zwischen Alkoholikern und Suchtkranken, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren, zeigte deutliche Unterschiede in der Häufigkeitsverteilung pathologischer Werte in allen 3 Dimensionen (Skala 1, 2 und 3) sowie in der Gesamtskala Alexithymie. Insgesamt zeigte sich ein deutlich geringerer Prozentsatz an Alexithymen in der Gruppe der Alkoholiker als in der Gruppe Suchtkranker, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren. Für diese, in der deskriptiven Statistik zunächst auffälligen Werte, konnte jedoch keine statistische Relevanz erfasst werden, bis auf eine Ausnahme: Lediglich bei der Testung von Alkoholikern gegen Suchtkranke anderer Suchtmittel in Bezug auf die TAS-Skala 1 (Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen) zeigten sich signifikante Werte von 0,033 im Exakten Test nach Fischer und 0,035 im Likelihood-Quotienten. Dies bedeutet, dass Alkoholiker gegenüber Suchtkranken, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren, statistisch gesehen signifikant weniger Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen haben, insgesamt gesehen aber nicht weniger alexithym sind als andere Suchtkranke. In der Tabelle 4.21 sind die deskriptiven und prozentualen Häufigkeiten der Subpopulation der Alkoholiker versus der Subpopulation der Suchtkranken, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren bezüglich der TAS-Gesamtskala und der TAS-Subskalen aufgeführt. 65 Tab. 4.21: Deskriptive und prozentuale Häufigkeiten der Verteilung der als innerhalb der Gesamtskala sowie der Subskalen TAS 1, TAS 2, TAS 3 als alexithym klassifizierten Probanden innerhalb der Subpopulation der Alkoholiker versus der Subpopulation der Suchtkranken, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren TAS - Gesamtskala TAS 1 TAS 2 TAS 3 missing Suchtkranke (n=100) 45 (45,0) 42 (42,0) 62 (62,0) 29 (29,0) 5 (5) Alkoholiker (n=67) 25 (37,3) 22 (32,8) 38 (56,7) 17 (25,4) 4 (5,9) Andere Suchtkranke (n=33) 20 (60,6) 20 (60,6) 24 (72,7) 12 (36,4) 1 (3,0) Die Zahl ohne Klammer gibt die tatsächliche Anzahl wieder (n), die dahinterstehende Zahl in Klammern gibt den prozentualen Anteil (%) an den Subpopulationen (Suchtkranke gesamt, Alkoholiker und Suchtkranke anderer Suchtmittel) an. TAS 1 stellt die Skala „Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen“ dar, TAS 2 „Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen“, TAS 3 „extern orientierter Denkstil“. Die 3 Skalen werden zu einer Alexithymie-Gesamtskala addiert (TASGesamtskala). 4.4.2 Alexithymie und Bindung Aus den durch die Toronto-Alexithymie-Skala-26 (TAS-26) und Adult Attachment Scale (AAS) erhobenen deskriptiven Daten geht folgendes hervor: Sicher gebundene Probanden weisen deutlich weniger häufig pathologische Werte in allen 3 Dimensionen sowie in der Gesamtskala der Toronto-Alexithymie-Skala-26 auf als unsicher gebundene Patienten. So findet sich bezüglich der TAS-Gesamtskala innerhalb der Gruppe der sicher gebundenen Probanden ein Anteil alexithymer Patienten von 21,3 % im Gegensatz zu einem Anteil von 72,7 % innerhalb der Gruppe der unsicher gebundenen Probanden und zu einem Anteil von 56,8 % innerhalb der Gruppe der mischgebundenen Probanden. Die Werte der Subskalen TAS 1, 2 und 3 weisen ähnliche Tendenzen auf. Die angegebenen Prozentzahlen beziehen sich dabei auf die jeweilige Subpopulation (sicher gebunden, unsicher gebunden, mischgebunden). Unsicher gebundene sowie mischgebundene Patienten weisen deutlich häufiger pathologische Werte in allen 3 Dimensionen und in der Gesamtskala Alexithymie auf als der Durchschnitt der Gesamtstichprobe. Die Tabelle 4.22 gibt eine Übersicht über die mittels der Toronto-Alexithymie-Skala-26 als alexithym getesteten Probanden innerhalb der durch die Adult Attachment Scale (AAS) getesteten Subpopulationen. 66 Tab. 4.22: Deskriptive und prozentuale Häufigkeiten der als alexithym getesteten Probanden bezüglich der TAS-Gesamtskala, der Subskalen TAS 1, TAS 2 , TAS 3 in Bezug auf die Bindungsqualität. Bindungsstil TAS-Gesamtskala TAS 1 TAS 2 TAS 3 Sicher 80 (32,3) 17 (21,3) 19 (23,8) 32 (40,0) 23 (28,8) Unsicher 66 (26,6) 48 (72,7) 36 (54,5) 57 (86,4) 30 (45,5) Mischgebunden 88 (35,5) 50 (56,8) 42 (47,7) 64 (72,7) 32 (36,4) Gesamtpopulation 248 (100) 115 (46,4) 97 (39,1) 153 (61,7) 85 (34,3) Missing data 19 (7,7) 19 (7,7) 19 (7,7) 19 (7,7) 19 (7,7) Die Zahl ohne Klammer gibt die tatsächliche Anzahl wieder (n), die dahinterstehende Zahl in Klammern gibt in der ersten Spalte „Bindungsstil“ den prozentualen Anteil an der Gesamtpopulation (n=248) an, in den nachfolgenden Spalten „TASGesamtskala“, „TAS 1“, „TAS 2“, „TAS 3“ den prozentualen Anteil (%) an der jeweiligen Subpopulation (sicher, unsicher, mischgebunden). TAS 1 stellt die Skala „Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen“ dar, TAS 2 „Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen“, TAS 3 „extern orientierter Denkstil“. Die 3 Skalen werden zu einer Alexithymie-Gesamtskala addiert (TASGesamtskala). Mittels des χ²-Tests sowie des T-Test bei unabhängigen Stichproben wurde überprüft, ob der durch die Häufigkeitsverteilung angenommene Verdacht eines Zusammenhangs zwischen Bindungsstil und Alexithymie als signifikant einzustufen ist. Dabei konnten lediglich bei dem „unsicher-ängstlichen“ Subtypen des unsicheren Bindungsstils in den TAS-Skalen 1 und 2, nicht aber in der TAS-Skala 3 sowie in der TAS-Gesamtskala statistisch signifikante Ergebnisse gefunden werden. So zeigt sich bei der Testung mittels χ²-Test beim unsicherängstlichen Bindungsstil bezüglich der TAS-Skala 2 (Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen) im Exakten Test nach Fisher ein Wert von 0,001, und ein Likelihood-Quotient von ebenfalls 0,001. Im T-Test bei unabhängigen Stichproben zeigt sich, ebenfalls bei der Testung des unsicher-ängstlichen Bindungsstils bezüglich der TAS-Skala 1 (Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen) eine 2-seitige Signifikanz von 0,048 und bezüglich der TAS-Skala 2 (Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen) eine 2-seitige Signifikanz von 0,001. Alle anderen Testungen ergaben nicht signifikante Ergebnisse. So haben unsicherängstlich gebundene Probanden signifikant häufiger Schwierigkeiten bei der Identifikation und Beschreibung von Gefühlen. Insgesamt gesehen lässt sich aber der vermutete Zusammenhang, sicher gebundene Probanden seien seltener alexithym als unsicher und mischgebundene Probanden, statistisch nicht belegen. 67 4.5 Überprüfung der Hypothesen und Fragestellungen 4.5.1 Überprüfung der Hypothese 1: Eine Alkoholismusdiagnose ist signifikant positiv mit einem unsicheren Bindungsstil korreliert Die Hypothese wird nicht angenommen. Innerhalb der Gesamtstichprobe findet sich ein Prozentsatz von 26,6 als unsicher getestete Probanden. Innerhalb der Subpopulation der Alkoholiker finden sich 22,4 % als unsicher getestete Probanden. Die durchgeführten statistischen Tests (χ²-Test, Odds ratio) ergaben keine signifikanten Werte bezüglich einer Korrelation zwischen Alkoholismus und unsicheren Bindungsstil. 4.5.2 Überprüfung der Hypothese 2: Eine Alkoholismusdiagnose ist signifikant positiv mit Alexithymie korreliert Die Hypothese wird nicht angenommen. Innerhalb der Gesamtstichprobe findet sich ein Prozentsatz von 46,8 als durch die TAS-Gesamtskala als alexithym getestete Probanden. Innerhalb der Subpopulation der Alkoholiker finden sich 37,3 % als durch die TASGesamtskala als alexithym getesteten Probanden. Die durchgeführten Tests (χ²-Test, T-Test bei unabhängigen Stichproben) ergaben keine signifikanten Werte bezüglich der Korrelation zwischen Alkoholismus und Alexithymie. Lediglich bei der Testung von Alkoholikern gegen Suchtkranke, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren, zeigte sich in Bezug auf die TAS-Skala 1 („Schwierigkeit bei der Identifikation von Gefühlen“) signifikante Ergebnisse: exakter Test nach Fisher = 0,033 und Likelihood-Quotient = 0,035. Demzufolge haben Alkoholiker gegenüber Suchtkranke, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren, signifikant seltener Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Gefühlen. 4.5.3 Überprüfung der Fragestellung 1: Eine Suchtdiagnose ist signifikant positiv mit einem unsicheren Bindungsstil korreliert Die Hypothese wird nicht angenommen. Innerhalb der Gesamtstichprobe findet sich ein Prozentsatz von 26,6 als unsicher getestete Probanden. Innerhalb der Subpopulation der Suchtkranken finden sich 27 % als unsicher getestete Probanden. Die durchgeführten statistischen Tests (χ²-Test, Odds ratio) ergaben keine signifikanten Werte bezüglich einer Korrelation zwischen Suchterkrankung und unsicheren Bindungsstil. 68 4.5.4 Überprüfung der Fragestellung 2: Eine Suchtdiagnose ist signifikant positiv mit Alexithymie korreliert Die Hypothese wird nicht angenommen. Innerhalb der Gesamtstichprobe findet sich ein Prozentsatz von 46,8 als durch die TAS-Gesamtskala als alexithym getestete Probanden. Innerhalb der Subpopulation der Suchtkranken finden sich 45,0 % als durch die TASGesamtskala als alexithym getesteten Probanden. Die durchgeführten Tests (χ²-Test, T-Test bei unabhängigen Stichproben) ergaben keine signifikanten Werte bezüglich der Korrelation zwischen Suchterkrankung und Alexithymie. Lediglich bei der Testung von Alkoholikern gegen Suchtkranke, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren, zeigte sich in Bezug auf die TAS-Skala 1 („Schwierigkeit bei der Identifikation von Gefühlen“) signifikante Ergebnisse: exakter Test nach Fisher = 0,033 und Likelihood-Quotient = 0,035. Demzufolge haben Suchtkranke, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren gegenüber Alkoholikern signifikant häufiger Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Gefühlen. 4.5.5 Überprüfung der Fragestellung 3: Ein unsicherer Bindungsstil ist signifikant positiv mit Alexithymie korreliert Die Hypothese wird teilweise angenommen. Bezüglich des unsicher-ängstlichen Bindungsstils und der TAS-Subskalen 1 und 2 besteht eine signifikant positive Korrelation. Keine Korrelation konnte jedoch hinsichtlich des unsicher-ängstlichen Bindungsstils und der Subskala 3 sowie der TAS-Gesamtskala gefunden werden. Ebenso wenig fanden sich Korrelationen zwischen allen anderen Bindungsstilen und den TAS-Subskalen sowie der TAS-Gesamtskala. Innerhalb der Gesamtpopulation wurden 32,3 % der Probanden als sicher, 26,6 % als unsicher und 35,5 % als mischgebunden getestet. Dabei zeigte sich unter den sicher gebundenen Probanden ein Prozentsatz von 21,3 als durch die TAS-Gesamtskala als alexithym getesteten Probanden, wohingegen sich unter den als unsicher getesteten Probanden ein prozentualer Anteil von 72,7 Alexithymen zeigte. Unter den als mischgebunden getesteten Probanden fanden sich 56,8 % Alexithyme. Bei dem durchgeführten χ²-Test zeigte sich lediglich bezüglich der TAS-Subskala 2 („Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen“) bei der Testung des unsicher-ängstlichen Bindungsstils im Exakten Test nach Fisher ein signifikanter Wert von 0,001. Bei dem T-Test für unabhängige Stichproben zeigte sich, ebenfalls bei der Testung des unsicher-ängstlichen Bindungsstils ein signifikantes Ergebnis sowohl im Bezug auf die TAS-Subskala 1 („Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen“) mit einer 2-seitigen Signifikanz von 0,048, als auch im Bezug auf die TAS69 Subskala 2 („Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen“) mit einer 2-seitigen Signifikanz von 0,001. Demnach ist ein unsicher-ängstlicher Bindungsstil signifikant korreliert mit Alexithymie bezüglich der Subskalen 1 und 2. 70 5. Diskussion Im Folgenden sollen die Ergebnisse dieser Untersuchung kritisch diskutiert und in den aktuellen Forschungskontext eingeordnet werden. 5.1 Personengebundene Störfaktoren Um Aussagen über die Äquivalenz der soziodemographischen Merkmale zwischen der Suchtgruppe und der Gruppe der Nicht-Suchterkrankten machen zu können, wurden die Gruppen bezüglich der Variablen „Alter“, „Familienstand“, „Bildungsstand“ und „Berufstätigkeit“ verglichen. Hier zeigten sich in allen Variablen ähnliche Verteilungsmuster, so dass von einer bezüglich soziodemographischer Daten vergleichbaren Stichpopulation auszugehen ist. Für die Variablen „Bildungsstand“ und „Berufstätigkeit“ sind die in der vorliegenden Studie erhobenen Daten vergleichbar mit denen der Normalpopulation (Statistisches Bundesamt, 2011). Im Kapitel Ergebnisse sind in den Tabellen 4.9 bis 4.14 die Daten zu oben genannten Variablen aufgelistet. 5.2 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse der Adult Attachment Scale (AAS) Die Studie beinhaltet eine Probandenzahl von 248, davon waren 100 Probanden suchterkrankt und 148 hatten eine andere psychiatrische Diagnose. In der Gesamtpopulation sind alle mit der Adult Attachment Scale (AAS) messbaren Bindungsrepräsentanzen vertreten: 80 Probanden (32,3 %) wurden als sicher gebunden, 66 als unsicher (26,6 %), und davon 23 (9,3 %) als unsicher-vermeidend und 43 (17,3 %) als unsicher-ängstlich klassifiziert. Weiterhin fanden sich 88 Probanden (35,5 %) als mischgebunden, bei 14 Probanden (5,6 %) fehlten die entsprechenden Daten. Insgesamt finden sich also in der vorliegenden Stichprobe deutlich mehr unsicher und mischgebundene als sicher gebundene Probanden. Dies deckt sich mit den Ergebnissen vieler anderer Studien. In der Literatur finden sich Vergleichsdaten einer Normalpopulation bezüglich der Bindungsorganisation. So fanden van Ijzendoorn und Bakermans-Kranenburg 1996 in einer häufig zitierten Metaanalyse, ausschließlich basierend auf Daten aus dem Adult Attachment Interview (AAI) von Main und Goldwyn (1985 – 1996), innerhalb einer klinisch unauffälligen Stichprobe 58 % sicher gebundene Frauen und 62 % sicher gebundene Männer und im Vergleich dazu innerhalb klinisch auffälliger Stichproben einen Prozentsatz von 14 %, welcher deutlich niedriger ausfällt als in unserer durchgeführten Studie (32,3 % sicher gebundene Patienten). Allerdings gingen in diese Metaanalyse wenige klinisch auffällige 71 Erwachsene ein (Fonagy et al., 1993; Patrick, Hobson, Castle, Howard, & Maughan, 1994), sondern vor allem Adoleszente oder Eltern, deren Kinder klinisch auffällig geworden waren. Ebenso fanden Dozier, Stovall, & Albus (1999) mittels fünf Studien (Cole-Detke & Kobak, 1996; Fonagy et al., 1996; Patrick et al., 1994; Rosenstein & Horowitz, 1996; Tyrell & Dozier, 1997) innerhalb klinisch auffälliger Stichproben einen geringeren Anteil an sicher gebundenen Patienten als in der vorliegenden Studie, nämlich von 3 – 24 %. In drei nicht in die Übersichtsarbeit von Dozier et al. (1999) mit einbezogenen deutschen Studien mit klinisch auffälligen Stichproben fanden sich ähnliche Prozentangaben wie in der Literatur angegeben (Böddeker, 1996; Hermanutz & Schmitz-Hermanutz, 1996; Scheidt et al., 1999). Eine mögliche Ursache der bislang noch eher schwankenden Zahlen mag an unterschiedlichen Testverfahren der einzelnen Studien liegen. Das Adult Attachment Interview, beispielsweise in der Studie von van Ijzendoorn & Bakermans-Krankenburg (1996) verwendet, wird beinahe ausschließlich für die Forschung verwendet und nicht für die Diagnostik in der psychotherapeutischen Praxis, da ein erhebliches Problem dieses Verfahrens in der mangelnden Ökonomie begründet liegt. So dauert die Durchführung des Interviews sehr lange und es ist von Nöten, dass sehr erfahrene Interviewer die Testsituation beurteilen. Das AAI liefert jedoch für jede Versuchsperson eine Fülle von Daten, was vor allem für umfangreiche Forschungsvorhaben wie die Durchführung von Längsschnittstudien vorteilhaft sein kann. Die in der vorliegenden Arbeit verwendete Adult Attachment Scale (AAS) hingegen stellt ein Selbstbeschreibungsverfahren dar, welches die Datenerhebung deutlich vereinfacht und somit in der psychotherapeutischen Praxis häufiger verwendet wird. Vergleicht man nun die aus der Literatur gewonnen Daten zu Bindungsrepräsentationen mit den aus der vorliegenden Studie erhaltenen Daten, zeigt sich zumindest eine vergleichbare Tendenz, dass in klinisch auffälligen Stichproben der Prozentsatz an sicher gebundenen Probanden deutlich niedriger angesiedelt ist als in klinisch unauffälligen Stichproben. Betrachtet man nun isoliert die Subpopulation der Alkoholabhängigen mit einer Probandenzahl von 67, so finden sich 25 (37,3 %) als sicher gebunden, 15 (22,4 %) als unsicher gebunden und davon 5 (7,5 %) als unsicher-vermeidend und 10 (14,9 %) als unsicher-ängstlich gebunden klassifiziert. Des Weiteren fanden sich unter den Alkoholikern 24 Probanden (35,8 %) als mischgebunden klassifiziert. Hier zeigen sich ähnliche Verteilungsmuster wie in der Gesamtstichprobe sowie in der Stichprobe der psychiatrisch Erkrankten ohne Alkoholabhängigkeitsdiagnose. Somit unterscheiden sich Alkoholkranke bezüglich des Bindungsstils nicht wesentlich von psychiatrischen Patienten mit anderer Diagnose. 72 Was die Beziehung zwischen Bindungsstil und Alkoholismus betrifft, wurde bisher noch wenig erforscht. Es wird zwar deutlich, dass ein Zusammenhang zwischen unsicherem Bindungsstil und Alkoholismus besteht (Bensmann, 2007; Flores, 2001; Johann, Laufkötter, Lange, & Wodarz, 2004; Joyce et al. 1994; Kotov, 2006; Thorberg & Lyvers, 2006; Vungkhanching et al., 2004) (vgl. Kapitel 1.4.1), jedoch lässt sich bisher noch nicht feststellen, ob ein unsicherer Bindungsstil spezifisch für die Ausbildung einer Alkoholabhängigkeit ist, oder ob ein unsicherer Bindungsstil Prämisse für die Ausbildung jeder psychiatrischen Diagnose sein kann. Aus der vorliegenden Studie, in der kein wesentlicher Unterschied in der Häufigkeitsverteilung im Vergleich zwischen Alkoholikern und Patienten mit anderer psychiatrischer Diagnose zu finden ist und in der sich keine signifikanten Ergebnisse bezüglich der Korrelation zwischen Alkoholismus und unsicheren Bindungsstil zeigten, sowie aus der allgemeinen Studienlage, in der ein Zusammenhang zwischen unsicherem Bindungsstil und unterschiedlichsten psychiatrischen Störungsbildern, beispielsweise affektiven Störungen, Angststörungen, und Persönlichkeitsstörungen, hierunter insbesondere die Borderline-Störung, aufgezeigt wird, könnte sich annehmen lassen, dass eine unsichere Bindungsrepräsentanz als psychopathologischer Faktor disponierend ist für die Ausbildung jeder psychiatrischen Erkrankung und nicht spezifisch ist für die Ausbildung einer Alkoholkrankheit. Laut Zimmermann (2002, vgl. Kapitel 1.2.2) stellt Bindungssicherheit eine gute Prämisse dar, um Risikofaktoren oder Belastungen erfolgreich zu bewältigen. In der vorliegenden Studie findet sich, wie auch in der Vergleichsliteratur, eine geringere Präsenz des sicheren Bindungsstils im Vergleich zur Präsenz des sicheren Bindungsstils in klinisch unauffälligen Stichproben. Nichtsdestotrotz finden sich innerhalb der hier untersuchten Stichprobe 32,3 % sicher gebundene Probanden. Nun stellt sich die Frage, aus welchen Gründen es in diesen Fällen, in denen die Voraussetzungen zur erfolgreichen Bewältigung von Risikofaktoren gegeben sind, trotzdem zur Ausbildung einer psychiatrischen Krankheit gekommen ist, welche eine stationäre Therapie erforderlich gemacht hat. Ist demnach eine sichere Bindungsrepräsentanz, wie zuvor in der Literatur beschrieben, als zentraler protektiver Faktor, überbewertet worden? Oder spielen sogar jegliche protektiven Faktoren eine untergeordnete Rolle? Spielen bei der Psychopathogenese vielleicht die Vulnerabilitätsfaktoren eine größere Rolle? Ist demzufolge vielleicht eher eine unsichere Bindungsrepräsentanz als Vulnerabilitätsfaktor einzuschätzen und wäre eine sichere Bindungsrepräsentanz als „Schutzschild gegen psychiatrische Erkrankungen“ womöglich gar wirkungslos? 73 Fest steht, dass es in klinischen Populationen eine Häufung von Patienten mit unsicherem Bindungsstil gibt, beispielsweise bei Störungen des Sozialverhaltens, affektiven Störungen, Suchterkrankungen, diversen Persönlichkeitsstörungen (Rosenstein & Horowitz, 1996). In einer Studie von Mickelson et al. (1997) wurden sogar alle Psychopathologien außer Substanzabusus und Schizophrenie, da diese nicht untersucht wurden, negativ mit dem sicheren Bindungsstil und positiv mit dem unsicher-vermeidenden und unsicher-ängstlichen Bindungsstil korreliert. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Studien, welche unsichere Bindungsqualitäten positiv mit bestimmten Psychopathologien korrelieren (vgl. Kapitel 1.2.2). Jedoch lässt sich dadurch letztlich nicht klären, ob die Bindungsqualität überhaupt eine zentrale Rolle in der Psychodynamik und Psychopathogenese spielt. Ein erhebliches Problem bei der Interpretation, inwieweit eine Signifikanz des Bindungsmusters im Vergleich von Suchtkranken und Patienten mit anderen psychiatrischen Diagnosen besteht, ist die Tatsache, dass in den meisten Fällen Komorbiditäten bestehen. So kann nicht unterschieden werden, ob ein bestimmtes Bindungscluster dem Alkoholismus zugeschrieben werden kann, oder aber einer gleichzeitig bestehenden anderen psychiatrischen Erkrankung. Andere psychiatrische Erkrankungen, welche innerhalb der Studiengruppe auftraten, sind in der Tabelle 4.5 im Kapitel 4.1.2 aufgeführt. Zudem müssen die unter den Suchterkrankten gleichzeitig bestehenden Persönlichkeitsstörungen berücksichtigt werden, welche einen Anteil von 71 % ausmachen (siehe auch Tabelle 4.7, Kapitel 4.1.2). Um die Problematik der Komorbiditäten auszuschließen, wäre es in nachfolgenden Studien sinnvoll, bei den Einschlusskriterien nur Probanden zu berücksichtigen, welche lediglich eine psychiatrische Diagnose aufweisen. Dies ist leider nicht praktikabel. Ebenso wenig scheint es möglich zu sein, sich auf die Kombination von zwei Diagnosen zu beschränken, beispielsweise einer Suchtdiagnose und einer Persönlichkeitsstörungsdiagnose. Bailly und Venisse (1999) fanden heraus, dass die Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen bei Alkoholabhängigen zwischen 30 und 80 % variiert, wobei alle Persönlichkeitsstörungen wiedergefunden werden konnten. Marchiori et al. (1999) fanden dabei die schizoide Persönlichkeitsstörung an erster Stelle, gefolgt von der dependenten Persönlichkeitsstörung. In der vorliegenden Studie steht die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung an erster Stelle mit einem 25-prozentigen Anteil an der Subpopulation der Suchtkranken, die dependente Persönlichkeitsstörung mit einem 15-prozentigen Anteil an der Subpopulation der Suchtkranken an zweiter Stelle und die in der Studie von Marchiori et al. (1999) erwähnte schizoide Persönlichkeitsstörung steht in der vorliegenden Studie mit einem lediglich 5prozentigem Anteil an vierter Stelle (siehe Tabelle 4.7, Kapitel 4.1.2). Aus diesen 74 variierenden Daten wird deutlich, dass es, um bezüglich der Komorbiditäten exakt vergleichbare Probanden zu erhalten, einer enormen Fallzahl bedürfte. Zuletzt sei noch allgemein erwähnt, dass aufgrund der relativ kleinen Stichprobe der Alkoholabhängigen (n = 67) eine erneute Überprüfung der Resultate mit einer größeren Stichprobe erforderlich wäre, um statistisch aussagekräftigere Ergebnisse zu erhalten. Zudem findet ein Vergleich zwischen Suchtkranken und Probanden, die eine andere psychiatrische Diagnose als die der Suchterkrankung aufweisen, statt. Interessant wäre noch eine Untersuchung, in der man eine aus Suchtkranken bestehende klinische Stichprobe einer klinisch unauffälligen Stichprobe gegenüberstellt. Auf die Ergebnisse der Adult Attachment Scale (AAS) bezüglich eines möglichen Zusammenhangs zwischen Bindungsqualität und Alexithymie wird in Kapitel 5.4 eingegangen. 5.3 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse zur Toronto Alexithymie Skala (TAS26) in Bezug auf Suchterkrankung, insbesondere Alkoholismus Innerhalb der Gesamtstudienpopulation konnten 46,8 % der Probanden in der Gesamtskala TAS-26 als alexithym getestet werden. Bei 6,5 % fehlten die entsprechenden Daten. Damit liegt die Prävalenz der in der vorliegenden Studie als alexithym getesteten Probanden erwartungsgemäß deutlich über der Durchschnittsprävalenz in der Normalpopulation (zwischen 7 % und 19 %) (Joukamaa et al., 2003; Kokkonen et al., 2001; Mattila et al., 2006; Montreuil & Pedinielli, 1995; Parker et al., 1989; Salminen et al., 1999) (vgl. Kapitel 1.3.3). Der höchste Prozentsatz pathologischer Werte innerhalb der Gesamtstudienpopulation zeigte sich dabei in der TAS-Skala 2 („Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen“) mit 62,1 %. Im Vergleich zwischen der Subpopulation der Suchtkranken und der Subpopulation der Patienten mit anderer psychiatrischer Diagnose zeigte sich ein ähnliches Verteilungsmuster wie in der Gesamtpopulation mit einer Ausnahme: auf der Skala 3 („Extern orientierter Denkstil“) fand sich ein deutlich geringerer Prozentsatz von Probanden mit pathologischen Werten innerhalb der Gruppe der Suchtkranken im Vergleich zur Gruppe der Probanden mit anderer psychiatrischer Diagnose (29 % versus 38,5 %). Diese deskriptive Auffälligkeit konnte jedoch weder im χ²-Test, noch im T-Test bei unabhängigen Stichproben als signifikant eingestuft werden. Betrachtet man isoliert die Gruppe der Alkoholiker im Vergleich zur Gesamtstudienpopulation, fällt auf, dass innerhalb der Gruppe der Alkoholiker auf allen 3 75 Skalen sowie in der Gesamtskala weniger Probanden pathologische Werte aufweisen. Auch hier konnten die deskriptiven Auffälligkeiten durch die durchgeführten statistischen Tests als nicht signifikant gewertet werden. Die meisten als alexithym getesteten Probanden fanden sich in der Gruppe der Suchtkranken, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren. In der Gesamtskala ergab dies einen Prozentsatz von 60,6, in der Skala 2 sogar von 72,7. Hier ergab sich jedoch keine statistische Signifikanz. Dies deckt sich, unter Berücksichtigung der geringen Fallzahl der Alkoholiker (n=67) und der Suchtkranken anderer Suchtmittel (n=33) mit den Ergebnissen einer Studie mit höherer Fallzahl an Suchtkranken inklusive Alkoholikern (n = 204), in der Alkoholiker gegen Süchtige anderer Suchtmittel gegen Polytoxikomane in Bezug auf die Ausprägung der Alexithymie getestet worden sind (Haviland, Hendryx, Shaw & Henry, 1994). Auch in dieser mit höherer Fallzahl durchgeführten Studie zeigte sich kein statistisch relevanter Unterschied bezüglich des Vorhandenseins einer Alexithymie und dem jeweiligen Suchtmittel. Lediglich bezüglich der TAS-Skala 1 („Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen“) zeigte sich bei der Gegenüberstellung von Alkoholikern und Suchtkranken, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren, im exakten Test nach Fisher ein signifikanter Wert von 0,033 und ein Likelihood-Quotient von 0,035. Demzufolge hätten Alkoholiker gegenüber Suchtkranken, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren, signifikant seltener Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Gefühlen. Dies ist so bisher in der Literatur noch nicht beschrieben worden. Nun könnte man annehmen, dass dies womöglich im Suchtmittel selbst begründet sei. Man könnte annehmen, Alkohol sei weniger betäubend oder realitätsverzerrender als andere Suchtmittel. Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass Alexithymie heute eher als zeitlich stabiles Persönlichkeitsmerkmal gesehen wird, welches lediglich durch sehr schwere traumatisierende Erlebnisse in seiner Ausprägung verändert werden mag (vgl. Kapitel 1.3.2.2). Ist unter Umständen die Fähigkeit zur Identifikation von Gefühlen motivierend für den jeweiligen Patienten, die bei sich selbst identifizierten Gefühle im Sinne einer Coping-Strategie durch den Konsum von Alkohol zu unterdrücken? Wenn ja, warum wäre dies dann nicht ebenso bei anderen Suchtmitteln der Fall? Es könnte natürlich auch sein, dass es sich bei der Subpopulation der Suchtkranken anderer Suchtmittel als Alkohol um Patienten handelt, die sich möglicherweise primär aus anderen Gründen als der „Bekämpfung“ der Sucht stationär therapieren ließen, beispielsweise aufgrund Ihrer zusätzlich vorhandenen Persönlichkeitsstörung und dass es daher zu einer Verzerrung der Ergebnisse der miteinander verglichenen Subpopulationen kommt. Unabhängig von den logischen Ursachen dieses statistisch relevanten Unterschieds zwischen Alkoholiken und 76 Suchtpatienten, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren, soll nicht unerwähnt bleiben, dass diese Gegenüberstellung von zwei Subpopulationen auch methodische Einschränkungen aufweist. So ist die Fallzahl relativ gering (n = 67 Alkoholiker, n = 33 Suchtkranke anderer Suchtmittel), so dass die aus dieser Studie hervorgehende Aussage, Alkoholiker hätten signifikant seltener Probleme bei der Identifikation von Gefühlen, in weiteren Studien mit höherer Fallzahl noch bestätigt werden müsste. Nichtsdestotrotz konnte in dieser Studie gezeigt werden, dass Alkoholiker im Vergleich zu Daten aus der Normalpopulation, wie erwartet, erhöhte Alexithymiewerte aufweisen. Dies deckt sich mit Daten aus der Literatur. In einer finnischen Studie aus dem Jahre 1992 wurden 2297 männliche Alkoholiker mittleren Alters untersucht. Die Ergebnisse zeigten einen linearen Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Alexithymie (Kauhanen, Julkunen & Salonen, 1992). In einer türkischen Studie mit deutlich geringerer Fallzahl (n= 56) wurden ebenfalls männliche Alkoholiker mittels der TAS-20 getestet. Hier zeigte sich ebenfalls ein Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Alexithymie (Uzun et al., 2003). In einer deutschen Studie wurden 55 stationäre Alkoholkranke nach körperlichem Entzug und 18 Kontrollperson aus der Allgemeinbevölkerung mit der TAS-20 untersucht. Auch hier wiesen die Alkoholkranken im Vergleich zu den Kontrollpersonen signifikant höhere Alexithymiewerte auf (Croissant et al., 2002). Dies wird auch in einer aktuelleren Studie von Carton et al. aus dem Jahre 2010 bestätigt, in der Suchtpatienten mittels der TAS-20 getestet wurden. Die Daten zur Prävalenz von Alexithymie bei Alkoholikern schwanken jedoch zwischen 40 und 78 % (Rybakowski et al., 1998; Taieb et al., 2002; Thorberg et al., 2009) und insgesamt gibt es bislang geringe Belege dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen Alexithymie und der Entstehung einer Alkoholabhängigkeit gibt (vgl. hierzu auch Kapitel 1.4.2). Fest steht, dass Alkoholiker im Vergleich zur Normalpopulation erhöhte Alexithymiewerte aufweisen. Ob Alexithymie jedoch als Risikofaktor für die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit zu werten ist, ist bislang noch nicht bewiesen. Ebenso wenig konnte weder in der vorliegenden Studie noch in Studien aus der Literatur gezeigt werden, dass es einen statistisch relevanten Unterschied zwischen Alkoholikern und anderen psychiatrischen Patienten bezüglich des Vorhandenseins beziehungsweise der Absenz von Alexithymie gibt. Prozentual gesehen liegen die Alkoholiker in dieser Studie sowohl in der TAS-Gesamtskala, als auch in den TAS-Skalen 1 bis 3 Durchschnitts der Gesamtstichprobe, jedoch nicht statistisch relevant. 77 unterhalb des 5.4 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse zur Toronto Alexithymie Skala (TAS26) in Bezug auf Bindung, gemessen mit der Adult Attachment Scale (AAS) Erwartungsgemäß fanden sich in der vorliegenden Studie bei den sicher gebundenen Probanden deutlich weniger häufig pathologische Werte in allen 3 Dimensionen sowie in der Gesamtskala der TAS-26 als bei den unsicher gebundenen Probanden. So findet sich innerhalb der Gruppe der sicher gebundenen Probanden ein Anteil alexithymer Patienten von 21,3 %, im Gegensatz zu einem Anteil von 60,5 % innerhalb der Gruppe der unsicher gebundenen Probanden. Damit nähert sich die Prävalenz der als alexithym getesteten innerhalb der Gruppe der sicher gebundenen Probanden der Verteilung in der Normalpopulation (ca. 7 bis 19 %) an. Die Werte der Subskalen 1, 2 und 3 weisen ähnliche Tendenzen auf. Allerdings konnten bei der statistischen Auswertung keine statistisch relevanten positiven bzw. negativen Korrelationen bezüglich Bindungsstil und Alexithymie festgestellt werden, bis auf eine Ausnahme: Signifikante Werte zeigten sich lediglich bezüglich des unsicher-ängstlichen Subtypen des unsicheren Bindungsstils. Es zeigten sich eine positive Korrelation zwischen der Subskala TAS 1 („Schwierigkeiten bei der Identifikation von Gefühlen“) und unsicher-ängstlichem Bindungsstil mit einer 2-seitigen Signifikanz von 0,048 sowie ebenfalls eine positive Korrelation zwischen der Subskala TAS 2 („Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Gefühlen“) und unsicher-ängstlichem Bindungsstil mit einer 2-seitigen Signifikanz von 0,001 und einem Wert von 0,001 im exakten Test nach Fisher. Somit haben laut der vorliegenden Studie Probanden mit einem unsicherängstlichem Bindungsstil, und nur diese Subpopulation und nicht generell unsicher gebundene oder mischgebundene, statistisch gesehen häufiger Schwierigkeiten bei der Identifikation sowie der Beschreibung von Gefühlen, haben aber weder einen erhöhten extern orientierten Denkstil, noch sind sie in der TAS-Gesamtskala statistisch relevant häufiger vertreten. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie decken sich somit nur teilweise mit den doch sehr spärlich vorhandenen und schwankenden Daten aus der Literatur, in der eine positive Korrelation zwischen unsicherem Bindungsstil und Alexithymie bzw. eine negative Korrelation zwischen sicherem Bindungsstil und Alexithymie beschrieben wird. Es gibt einige Studien, welche auf einen Zusammenhang zwischen unsicherem Bindungsstil und Alexithymie hinweisen, welche in Kapitel 1.4.3 aufgeführt sind. In der Studie von Scheidt et al. (1999) fand sich eine positive Korrelation zwischen Skala 3 („Extern orientierter Denkstil“) und unsicherem Bindungsstil und eine negative Korrelation zwischen sowohl Skala TAS 1 und TAS 2 und sicherem Bindungsstil. Die in dieser Studie verwendeten Messinstrumente waren das Adult Attachment Interview (AAI), sowie die TAS-20. In einer 78 Studie von Dieris-Hirche, Berliner, Gieler, von Georgi und Milch (2008), in der als Messinstrumente der Gießener Bindungsbogen (GIBB), die Adult Attachment Scale (AAS), sowie die Toronto-Alexithymie-Scale 20 (TAS-20) verwendet wurden, zeigten sich ähnliche Tendenzen, nämlich einen Zusammenhang zwischen Alexithymie und unsicherem Bindungsstil. Dabei zeigten sich insbesondere beim distanzierten Bindungsstil hohe Alexithymieausprägungen. Im Gegensatz dazu fanden sich in einer Studie von Troisi et al. (2001) gerade bei unsicher gebundenen Probanden mit abweisender Komponente niedrigere Alexithymieausprägungen. Eine Studie von Domscheit, Schwab und Seidler (2008), in der 256 Studenten als Bindungsstilfragebögen der Bielefelder Fragebogen zu Partnerschaftserwartungen (BFPE) und der Bochumer Bindungsfragebogen (BoBi), sowie zur Erhebung der Emotionsregulation die Toronto-Alexithymie-Skala 26 (TAS-26), der Sense-of-Coherence-Fragebogen (SOC-9L) und die Skalen zum Erleben von Emotionen (SEE) vorgelegt wurden, fand man heraus, dass sicher Gebundene weniger Schwierigkeiten bei der Identifikation und bei der Beschreibung von Gefühlen (Skalen TAS 1 und TAS 2) haben und somit einen niedrigeren Gesamtwert „Alexithymie“ aufweisen. Ferner wurde noch in anderen verschiedenen Studien Hinweise auf bei Alexithymen gehäuft auftretenden unsicheren Bindungsmustern oder frühkindlichen Belastungen gefunden (Berenbaum, 1996; Lemche, Klann-Delius, Koch, & Joraschky, 2004; Wearden, Lamberton, Crook, & Walsh, 2005; Joukamaa et al., 2008). Laut Schäfer und Franz (2009) entspräche die resultierende Alexithymie, also emotionale Blindheit „der Blindheit des frühkindlichen Spiegelsystems und könnte die alexithyme Desorientierung sowohl hinsichtlich eigener affektiver Zustände (Franz et al. 2004) als auch eine gestörte Einfühlungsfähigkeit bedingen.“ (Schäfer und Franz, 2009, S. 341). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie decken sich also hinsichtlich des Verteilungsmusters von unsicherem respektive sicherem Bindungsstil bezüglich des Vorhandenseins beziehungsweise der Absenz von Alexithymie mit den Daten aus der Literatur. Statistisch relevant ist jedoch lediglich eine positive Korrelation zwischen unsicher-ängstlichem Bindungsstil und der „Schwierigkeit der Identifikation von Gefühlen“ (TAS 1) sowie der „Schwierigkeit bei der Beschreibung von Gefühlen“ (TAS 2). Weiterhin bleibt die Frage offen, inwieweit eine frühkindliche gestörte Affektäußerung Prämisse für die Ausbildung einer Alexithymie mit nachfolgendem unsicheren Bindungsstil sein kann, oder ob eine gestörte frühkindliche Bindung zur Ausbildung einer Alexithymie führt. 79 5. 5 Methodische Einschränkungen In der vorliegenden Studie wurden etablierte Messinstrumente verwendet, welche gute Testkriterien aufweisen. Die Toronto Alexithymie Skala-26 (TAS-26) wird auf dem Gebiet internationaler Forschung angewendet. Sie führt als standardisiertes Selbstbeurteilungsverfahren zu einer relativ hohen Objektivität. Divergente Validität und die Kriteriumsvalidität des Instruments konnten in verschiedenen Untersuchungen zufriedenstellend nachgewiesen werden (Kupfer et al., 2000) (vgl. Kapitel 3.4.4). Bei der Adult Attachment Scale (AAS) sei anzumerken, dass es sich, wie bei der TAS-26, um ein standardisiertes Selbstbeschreibungsverfahren handelt, jedoch, wie bereits in Kapitel 5.2 angemerkt, in der psychotherapeutischen Praxis häufiger Anwendung findet als in der Forschung. In der Forschung ist das Standardtestverfahren das Adult Attachment Interview (AAI), welches in der vorliegenden Studie aufgrund der mangelnden Ökonomie des Testverfahrens nicht verwendet worden ist. Dementsprechend ist ein metaanalytischer Vergleich der Ergebnisse dieser Studie mit Ergebnissen anderer Studien nur bedingt möglich. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Fallzahl. Die Gesamtpopulation ist mit einer Fallzahl von 248 Probanden zwar relativ hoch, allerdings lassen sich Unterschiede zwischen den Subpopulationen lediglich erahnen, was auch anhand der geringen statistisch signifikanten Ergebnisse deutlich wird. Das Problem der Komorbiditäten wurde schon in Kapitel 5.2 erläutert. Als letztes sei noch erwähnt, dass Kontroll-Gruppen mit klinisch gesunden Probanden getestet werden könnten, allerdings stehen hierzu genügend Zahlen zur Inzidenz von Alexithymie und sicheren versus unsicheren Bindungsstil in der Literatur zur Verfügung. 80 6. Zusammenfassung Es gibt eine Vielzahl von Vulnerabilitätsfaktoren im Sinne der Entwicklungspsychopathologie. Im Hinblick auf die Vorhersage einer bestimmten psychischen Störung zeigt sich Multifinalität, das heißt, dass viele verschiedene Störungsbilder aufgrund eines einzelnen bestimmten Risikofaktors resultieren, und Multikausalität, das heißt, dass ein bestimmtes Störungsbild durch verschiedene Risikofaktoren verursacht werden kann. Eine stark ausgeprägte Alexithymie kann entwicklungspsychopathologisch, ebenso wie ein unsicherer Bindungsstil als ein Vulnerabilitätsfaktor aufgefasst werden. Beide können durch eine beeinträchtigte soziale Anpassung eine zunehmende Vereinsamung und die Entwicklung psychischer Störungen begünstigen. So finden sich in klinisch auffälligen Stichproben gehäuft unsicher Gebundene als in klinisch unauffälligen Stichproben. Ebenso zeigt sich, dass Alexithymie in klinisch auffälligen Stichproben vermehrt anzutreffen ist als in klinisch nicht auffälligen Stichproben. Bezüglich des Suchtverhaltens gibt es bislang noch keine konzeptübergreifende Theorie. Wie bei der Psychopathogenese anderer psychiatrischer Erkrankungen ist auch hier allgemein anerkannt, dass die Substanzabhängigkeit ein nicht lineares multikausales Bedingungsgefüge darstellt (Bensmann, 2007). In der vorliegenden Studie wurde der Zusammenhang zwischen Bindungsstil, Alexithymie, und einer Suchtdiagnose, insbesondere Alkoholismus untersucht. Innerhalb der untersuchten Stichprobe fanden sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Bindungsqualität zwischen den Subpopulationen der Suchtkranken, insbesondere Alkoholiker und der Patienten mit anderer psychiatrischer Diagnose. Ebenso fanden sich keine Unterschiede zwischen Suchtkranken und Patienten mit anderer psychiatrischer Diagnose bezüglich der Alexithymie. Insgesamt jedoch zeigte sich, wie bereits in der Literatur beschrieben, deutlich vermehrte Fallzahlen von Alexithymen und Probanden mit unsicherem Bindungsstil innerhalb der untersuchten Stichprobe im Vergleich zur Normalpopulation. Innerhalb der Subpopulation der Suchtkranken jedoch zeigte sich bei den Alkoholikern ein deutlich geringerer Prozentsatz an Alexithymen als bei den Suchtkranken, welche andere Suchtmittel als Alkohol konsumieren. Da es insbesondere zum Alkoholismus im Vergleich zum Suchtverhalten mit anderen Substanzen nur wenige Studien gibt, und weil die hier aufgeführte Fallzahl an süchtigen Probanden, welche andere Substanzen als Alkohol konsumieren relativ gering ist, wären hier weitere Forschungen wünschenswert. 81 7. Literaturverzeichnis 1. Acklin, M. W. , & Bernat, E. (1987). Depression, Alexithymia and pain prone disorder: A Rorschach study. J Pers Assess. 51:462-79. 2. Agarwal, D.P., Harada, S., & Goedde, H.W. (1981). Racial differences in biological sensitivity to ethanol: the role of alcohol dehydrogenase and aldehyde dehydrogenase isozymes. Alcohol Clin Exp Res. 5(1). 12-16. 3. Ahrens, S. (1987). Alexithymie und kein Ende? Versuch eines Resümees. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin. 33: 201-20. 4. Ahrens, S., & Deffner, G. (1985). Alexithymie – Ergebnisse und Methoden. Ein Forschungsgebiet der psychosomatischen Medizin. Psychosomatik und Psychotherapie. 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