Hans-Georg Gadamer Hermeneutik I Wahrheit und Methode

Werbung
Hans-Georg Gadamer
Gesammelte Werke
Band 1
Hans-Georg Gadamer
Hermeneutik I
Wahrheit und Methode
Grundzüge
einer philosophischen Hermeneutik
J. c. B. Mohr (Paul Sieb eck) Tübingen 1990
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufllahme
Gadamer, Hatls-Georg:
Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Unveränd. Taschenbuchausg.Tübingen : Mohr Siebeck
(UTB fiir Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 2115)
ISBN 3-8252-2115-6 (UTB)
ISBN 3-16-147182-2 (Mohr Siebeck)
Bd. 1. Hermeneutik: Wahrheit und Methode. - 1. Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik. - 1999
1. Auflage 1960
2. Auflage 1965 (erweitert)
3. Auflage 1972 (erweitert)
4. Auflage 1975 (erweitert)
5. Auflage 1986 (durchgesehen und erweitert [fur >Gesammelte Werke<])
6. Auflage 1990 (durchgesehen)
Unveränderte Taschenbuchausgabe 1999
C 1960/1990 j.e.B. Mohr (paul Siebeck) Tübingen.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielf:iltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Einbandgestaltung: Alfred Krugmann, Freiberg a.N., Druck: Presse-Druck, Augsburg.
ISBN 3-8252-2115-6 UTB Bestellnummer
Vorwort
Der Text der bisherigen Ausgabe ist für die Ausgabe der Gesammelten
Werke neu durchgesehen worden. Der Text blieb, von geringfügigen Glättun gen abgesehen, unverändert, soweit nicht anders vermerkt. Die bisherigen Seitenzahlen werden am Rand wiederholt. Die Exkurse (1. Auflage
S. 466-476) fmden sich zusammen mit dem Anhang der weiteren Auflagen
)Hermeneutik und Historismus< (2. Auflage S. 477-512), dem Vorwort zur
2. Aufl. (XV-XXVI) und dem Nachwort zur 3. Auflage (S. 513-541) im
Anhang des 2. Bandes.
Die Anmerkungen wurden beträchtlich vermehrt oder erweitert. Sie
sollen insbesondere auf den Fortgang der Forschung - eigener wie andererhinweisen, soweit mir das sinnvoll schien. Alle Ergänzungen, sowie alle
Erweiterungen und Hinzufügungen von Anmerkungen sind durch eckige
Klammem kenntlich gemacht. Der 2. Band der Gesammelten Werke, auf
den vielfach hingewiesen wird, sollte als Fortsetzung, Ausweitung und
Eingrenzung gelesen werden. Daher ist ein erweitertes gemeinsames Register beider Bände nunmehr dem 2. Band angehängt worden, das von dem
seinerzeit von Reiner Wiehl erstellten Register dankbar Gebrauch macht.
Das neue Register wird vor allem meinem Mitarbeiter an der Ausgabe,
Herrn Knut Eming, verdankt. Unser Bestreben war, bei häufigeren Begriffen die Hauptstellen sichtbar zu machen, insbesondere auch, damit die
Zusammengehörigkeit von Band 1 und 2 deutlich wird. Was der Computer
nie lernen wird, sollte von uns wenigstens in Annäherung geleistet werden.
HGG
.-
-...
Inhalt
Einleitung
Erster Teil
Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst
I. Die Transzendierung der ästhetischen Dimension
1. Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaften
a) Das Methodenproblem
b) Humanistische Leitbegriffe
9
9
9
15
a) Bildung
15
P)
sensus communis
24
y)
Urteilskraft
36
0) Geschmack
40
2. Subjektivierung der Ästhetik durch die Kantische Kritik
a) Kants Lehre von Geschmack und Genie
48
48
a) Die transzendentale Auszeichnung des Geschmacks
48
P)
50
Die Lehre von der freien und anhängenden Schönheit
y) Die Lehre vom Ideal der Schönheit
52
0) Das Interesse am Schönen in Natur und Kunst
55
c) Das Verhältnis von Geschmack und Genie
58
VIII
Inhalt
b) Genieästhetik und Erlebnisbegriff
61
a) Das Vordringen des Geniebegriffs
61
{J) Zur Wortgeschichte von »Erlebnis«
66
y) Der Begriff des Erlebnisses
70
c) Die Grenze der Erlebniskunst . Rehabilitierung
der Allegorie
3. Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst
76
87
a) Die Fragwürdigkeit der ästhetischen Bildung
87
b) Kritik der Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins
94
H. Die Ontologie des Kunstwerks und ihre
hermeneutische Bedeutung
107
1. Spiel als Leitfaden der ontologischen Explikation
107
a) Der Begriffdes Spiels
107
b) Die Verwandlung ins Gebilde und die totale Vermittlung
116
c) Die Zeitlichkeit des Ästhetischen
126
d) Das Beispiel des Tragischen
133
2. Ästhetische und hermeneutische Folgerungen
139
a) Die Seinsvalenz des Bildes
139
b) Der ontologische Grund des Okkasionellen
und des Dekorativen
149
c) Die Grenzstellung der Literatur
165
d) Rekonstruktion und Integration als hermrneutische J.6
Aufgaben
169
Inhalt
IX
Zweiter Teil
Ausweitung der Waltrheitsfrage aufdas Verstehen
in den Geisteswissenschaften
I. Geschichtliche Vorbereitung
1. Fragwürdigkeit der romantischen Hermeneutik und ihrer
Anwendung auf die Historik
a) Wesens wandel der Hermeneutik zwischen Aufklärung und
Romantik
177
177
177
11) Vorgeschichte der romantischen Hermeneutik
177
{J) Schleiermachers Entwurfeiner universalen Hermeneutik
188
b) Anschluß der historischen Schule an die romantische
Hermeneutik
201
11) Verlegenheit gegenüber dem Ideal der Universalgeschichte
201
{J) Rankes historische Weltanschauung
207
r) Verhältnis von Historik und Hermeneutik bei). G. Droysen
216
2. Diltheys Verstrickung in die Aporien des Historismus
222
a) Vom erkenntnistheoretischen Problem der Geschichte zur
hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften
222
b) Zwiespalt von Wissenschaft und Lebensphilosophie
in Diltheys Analyse des historischen Bewußtseins
235
3. Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung
durch die phänomenologische Forschung
246
a) Der Begriffdes Lebens bei Husserl und GrafYorck
246
b) Heideggers Entwurf einer hermeneutischen
Phänomenologie
258
x
Inhalt
270
H. Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfahrung
1. Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens
zum hermeneutischen Prinzip
270
a) Der hermeneutische Zirkel und das Problem der Vorurteile
270
a) Heideggers Aufdeckung der Vorstruktur des Verstehens
270
p)
276
Die Diskreditierung des Vorurteils durch die Aufklärung
281
b) Vorurteile als Bedingungen des Verstehens
a) Die Rehabilitierung von Autorität und Tradition
281
P)
290
Das Beispiel des Klassischen
c) Die hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstandes
2%
d) Das Prinzip der Wirkungsgeschichte
305
2. Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblem~
312
a) Das hermeneutische Problem der Anwendung
312
b) Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles
317
c) Die exemplarische Bedeutung der juristischen
Hermeneutik
330
346
3. Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins
a) Die Grenze der Reflexionsphilosophie
346
b) Der Begriff der Erfahrung und das Wesen
der hermeneutischen Erfahrung
352
c) Der hermeneutische Vorrang der Frage
368
a) Das Vorbild der platonischen Dialektik
P)
Die Logik von Frage und Antwort
~~
...
368
375
Inhalt
XI
Dritter Teil
Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache
1. Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung
387
a) Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen
Gegenstandes
393
b) Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen
Vollzugs
399
2. Prägung des Begriffs >Sprache< durch die Denkgeschichte des
Abendlandes
409
a) Sprache und Logos
409
b) Sprache und Verbum
422
c) Sprache und Begriffsbildung
432
3. Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie
442
a) Sprache als Welterfahrung
442
b) Die Mitte der Sprache und ihre spekulative Struktur
460
c) Der universale Aspekt der Hermeneutik
478
Bibliographische Nachweise
495
Solang du Selbstgewoifenes fongst, ist alles
Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn-;
erst wenn du plötzlich Fiinger wirst des Balles,
den eine ewige Mitspielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, ingenau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brückenbau:
erst dann ist Fangen-können ein Vermögen,Nicht deines, einer Welt.
R.M. Rilke
[XXVII/XXVIII I
Einleitung
Die folgenden Untersuchungen haben es mit dem hermeneutischen Problem zu tun. Das Phänomen des Verstehens und der rechten Auslegung des
Verstandenen ist nicht nur ein Spezialproblem der geisteswissenschaftlichen
Methodenlehre. Es hat von alters her auch eine theologische und eine
juristische Hermeneutik gegeben, die nicht so sehr wissenschaftstheoretischen Charakters waren, als"vielmehr dem praktischen Verhalten des durch
die Wissenschaft ausgebildeten Richters oder Pfarrers entsprachen und ihm
dienten. So drängt das Problem der Hermeneutik schon von seinem geschichtlichen Ursprung her über die Grenzen hinaus, die durch den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft gesetzt sind. Verstehen und Auslegen
von Texten ist nicht nur ein Anliegen der Wissenschaft, sondern gehört
offenbar zur menschlichen Welterfahrung insgesamt. Das hermeneutische
Phänomen ist ursprünglich überhaupt kein Methodenproblem. Es geht in
ihm nicht um eine Methode des Verstehens, durch die Texte einer wissenschaftlichen Erkenntnis so unterworfen werden, wie alle sonstigen Erfahrungsgegenstände. Es geht in ihm überhaupt nicht in erster Linie um den
Aufbau einer gesicherten Erkenntnis, die dem Methodenideal der Wissenschaft genügt - und doch geht es um Erkenntnis und um Wahrheit auch hier.
Im Verstehen der Überlieferung werden nicht nur Texte verstanden, sondern Einsichten erworben und Wahrheiten erkannt. Was ist das für eine
Erkenntnis und was für eine Wahrheit?
Angesichts der Vorherrschaft, die die neuzeitliche Wissenschaft innerhalb
der philosophischen Klärung und Rechtfertigung des Begriffs der Erkenntnis und des Begriffs der Wahrheit besitzt, scheint diese Frage ohne rechte
Legitimation. Und doch läßt sich derselben auch innerhalb der Wissenschaften gar nicht ausweichen. Das Phänomen des Verstehens durchzieht nicht
nur alle menschlichen Weltbezüge. Es hat auch innerhalb der Wissenschaft
selbständige Geltung und widersetzt sich dem Versuch, sich in eine Methode
der Wissenschaft umdeuten zu lassen. Die folgenden Untersuchungen
knüpfen an diesen Widerstand an, der sich innerhalb der modernen Wissenschaft gegen den universalen Anspruch wissenschaftlicher Methodik behauptet. Ihr Anliegen ist, Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich
wissenschaftlicher Methodik übersteigt, überall aufzusuchen, wo sie begegnet und auf die ihr eigene Legitimation zu befragen. So rücken die Geistes-
2
Einleitung
[XXVIII)
wissenschaften mit Erfahrungsweisen zusammen, die außerhalb der Wissenschaft liegen: mit der Erfahrung der Philosophie, mit der Erfahrung der
Kunst und mit der Erfahrung der Geschichte selbst. Das alles sind Erfahrungsweisen, in denen sich Wahrheit kundtut, die nicht mit den methodischen Mitteln der Wissenschaft verifiziert werden kann.
Davon hat die Philosophie unserer Tage ein sehr ausgeprägtes Bewußtsein. Aber eine ganz andere Frage ist es, wie weit sich der Wahrheitsanspruch
solcher außerhalb der Wissenschaft stehenden Erkenntnisweisen philosophisch legitimieren läßt. Die Aktualität des hermeneutischen Phänomens
beruht in meinen Augen darauf, daß nur die Vertiefung in das Phänomen des
Verstehens eine solche Legitimation bringen kann. Diese Überzeugung ist
mir nicht zuletzt durch das Gewicht bestärkt worden, das in der philosophisch~ Arbeit der Gegenwart die Geschichte der Philosophie besitzt.
Das Verstehen begegnet uns gegenüber der geschichtlichen Überlieferung
der Philosophie als eine überlegene Erfahrung" die den Schein historischer
Methode, der auf der philosophiegeschichtlichen Forschung liegt, leicht
durchsGhauen läßt. Es gehört zur elementaren Erfahrung des Philosophierens, daß die Klassiker des philosophischen Gedankens, wenn wir sie zu
verstehen suchen, von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen,
den das zeitgenössische Bewußtsein weder abweisen noch überbieten kann.
Das naive Selbstgefühl der Gegenwart mag sich dagegen auflehnen, daß das
philosophische Bewußtsein die Möglichkeit einräumt, seine eigene philosophische Einsicht sei der eines Plato und Aristoteles, eines Leibniz, Kant
oder Hegel gegenüber geringeren Ranges. Man mag eine Schwäche des
gegenwärtigen Philosophierens darin sehen, daß es sich der Auslegung und
Verarbeitung seiner klassischen Überlieferung mit solchem Eingeständnis
der eigenen Schwäche zuwendet. Sicher ist es aber eine noch viel größere
Schwäche des philosophischen Gedankens, wenn einer sich einer solchen
Erprobung seiner selbst nicht stellt und vorzieht, den Narren auf eigene
Faust zu spielen. Daß im Verstehen der Texte dieser großen Denker Wahrheit
erkannt wird, die auf anderem Wege nicht erreichbar wäre, muß man sich
eingestehen, auch wenn dies dem Maßstab von Forschung und Fortschritt,
mit dem die Wissenschaft sich selber mißt, widerspricht.
Ähnliches gilt von der Erfahrung der Kunst. Hier ist die wissenschaftliche
Erforschung, die die sogenannte Kunstwissenschaft betreibt, sich dessen
von vornherein bewußt, daß sie die Erfahrung der Kunst weder ersetzen
noch überbieten kann. Daß an einem Kunstwerk Wahrheit erfahren wird,
die uns auf keinem anderen Wege erreichbar ist, macht die philosophische
Bedeutung der Kunst aus, die sich gegen jedes Räsonnement behauptet. So
ist neben der Erfahrung der Philosophie die Erfahrung der Kunst die eindringlichste Mahnung an das wissenschaftliche Bewußtsein, sich seine
Grenzen einzugestehen.
[XXIX/XXX)
Einleitung
3
Die folgenden Untersuchungen setzen daher mit einer Kritik des ästhetischen Bewußtseins ein, um die Erfahrung von Wahrheit, die uns durch das
Kunstwerk zuteil wird, gegen die ästhetische Theorie zu verteidigen, die
sich vom Wahrheitsbegriff der Wissenschaft beengen läßt. Sie bleiben aber
bei der Rechtfertigung der Wahrheit der Kunst nicht stehen. Sie versuchen
vielmehr, von diesem Ausgangspunkte aus einen Begriff von Erkenntnis
und von Wahrheit zu entfalten, der dem Ganzen unserer hermeneutischen
Erfahrung entspricht. Wie wir es in der Erfahrung der Kunst mit Wahrheiten
zu tun haben, die den Bereich methodischer Erkenntnis grundsätzlich übersteigen, so gilt ein Ähnliches für das Ganze der Geisteswissenschaften, in
denen unsere geschichtliche Überlieferung in allen ihren Formen zwar auch
zum Gegenstand der Erforschung gemacht wird, aber zugleich selber in ihrer
Wahrheit zum Sprechen kommt. Die Erfahrung der geschichtlichen Überlieferung reicht grundsätzlich über das hinaus, was an ihr erforschbar ist. Sie ist
nicht nur in dem Sinne wahr oder unwahr, über den die historische Kritik
entscheidet - sie vermittelt stets Wahrheit, an der es teil zu gewinnen gilt.
So suchen diese Studien zur Hermeneutik im Ausgang von der Erfahrung
der Kunst und der geschichtlichen Überlieferung das hermeneutische Phänomen in seiner vollen Tragweite sichtbar zu machen. Es gilt, in ihm eine
Erfahrung von Wahrheit anzuerkennen, die nicht nur philosophisch gerechtfertigt werden muß, sondern die selber eine Weise des Philosophierens ist.
Die Hermeneutik, die hier entwickelt wird, ist daher nicht etwa eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, sondern der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer
Welterfahrung verbindet. Wenn wir das Verstehen zum Gegenstand unserer .
Besinnung machen, so ist das Ziel nicht eine Kunstlehre des Verstehens, wie
sie die herkömmliche philologische und theologische Hermeneutik sein
wollte. Eine solche Kunstlehre würde verkennen, daß angesichts der Wahrheit dessen, was uns aus der Überlieferung anspricht, der Formalismus
kunstvollen Könnens eine falsche Überlegenheit in Anspruch nähme. Wenn
:im folgenden nachgewiesen werden wird, wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist und wie wenig durch das moderne historische Bewußtsein
die Traditionen, in denen wir stehen, entmächtigt sind, so werden damit
nicht etwa den Wissenschaften oder der Praxis des Lebens Vorschriften
gemacht, sondern es wird versucht, ein falsches Denken über das, was sie
sind, zu berichtigen.
Die folgenden Untersuchungen glauben damit einer Einsicht zu dienen,
die in unserer von schnellen Verwandlungen überfluteten Zeit von Verdunkdung bedroht ist. Was sich verändert, drängt sich der Aufmerksamkeit
unvergleichlich viel mehr auf, als was beim alten bleibt. Das ist ein allgemeines Gesetz unseres geistigen Lebens. Die Perspektiven, die sich von der
4
Einleitung
[XXX/XXXI)
Erfahrung des geschichtlichen Wandels her ergeben, sind daher immer in der
Gefahr, Verzerrungen zu sein, weil sie die Verborgenheit des Beharrenden
vergessen. Wir leben, wie mir scheint, in einer beständigen Überreizung
unseres historischen Bewußtseins. Es ist eine Folge dieser Überreizung und,
wie ich zeigen möchte, ein arger Kurzschluß, wenn man angesichts solcher
Überschätzung des historischen Wandels sich auf die ewigen Ordnungen der
Natur berufen wollte und die Natürlichkeit des Menschen zur Legitimation
des Gedankens des Naturrechtes aufriefe. Nicht nur daß geschichtliche
Überlieferung und natürliche Lebensordnung die Einheit der Welt bilden, in
der wir als Menschen leben - wie wir einander, wie wir geschichtliche
Überlieferungen, ~ie wir die natürlichen Gegebenheiten unserer Existenz
und unserer Welt erfahren, bildet ein wahrhaft hermeneutisches Universum,
in das wir nicht wie in unübersteigbare Schranken eingeschlossen, sondern
zu dem wir geöffnet sind.
Eine Besinnung auf das, was in den Geisteswissenschaften Wahrheit ist,
darf sich nicht selber aus der Überlieferung herausreflektieren wollen, deren
Verbindlichkeit ihr aufgegangen ist. Sie muß daher ftir ihre eigene Arbeitsweise die Forderung aufstellen, soviel geschichtliche Selbstdurchsichtigkeit
zu erwerben, wie ihr nur irgend möglich ist. Bemüht, das Universum des
Verstehens besser zu verstehen, als unter dem Erkenntnisbegriff der modernen Wissenschaft möglich scheint, muß sie auch ein neues Verhältnis zu den
Begriffen suchen, die sie selber gebraucht. Sie wird sich dessen bewußt sein
müssen, daß ihr eigenes Verstehen und Auslegen keine Konstruktion aus
Prinzipien ist, sondern die Fortbildung eines von weit herkommenden Geschehens. Begriffe, die sie gebraucht, wird sie daher nicht unbefragt in
Anspruch nehmen dürfen, sondern zu übernehmen haben, was ihr aus dem
ursprünglichen Bedeutungsgehalt ihrer Begriffe überkommen ist.
Die philosophische Bemühung unserer Zeit unterscheidet sich dadurch
von der klassischen Tradition der Philosophie, daß sie keine unmittelbare
und ungebrochene Fortsetzung derselben darstellt. Bei aller Verbundenheit
mit ihrer geschichtlichen Herkunft ist die Philosophie heute sich ihres geschichtlichen Abstandes zu ihren klassischen Vorbildern wohl bewußt. Das
prägt sich vor allem in ihrem veränderten Verhältnis zum Begriff aus. So
folgenschwer und bis auf den Grund gehend die Umformungen des abendländischen philosophischen Denkens auch gewesen sind, die mit der Latinisierung der griechischen Begriffe und der Einformung der lateinischen
Begriffssprache in die neueren Sprachen vor sich gingen - die Entstehung
des geschichtlichen Bewußtseins in den letztenJahrhunderten bedeutet einen
Einschnitt von noch viel tieferer Art. Seither ist die Kontinuität der abendländischen Denktradition nur noch in gebrochener Weise wirksam. Die
naive Unschuld ist verlorengegangen, mit der man die Begriffe der Tradition den eigenen Gedanken dienstbar machte. Seither ist ftir die Wissenschaft
[XXXI)
Einleitung
5
ihr Verhältnis zu solchen Begriffen von seltsamer Unverbindlichkeit geworden, ob nun ihr Umgang mit diesen Begriffen von Art der gelehrten, um
nicht zu sagen archaisierenden Aufnahme, oder von der Art einer technischen Handhabung sei, die sich die Begriffe wie Werkzeuge zurechtmacht.
Beides kann der hermeneutischen Erfahrung in Wahrheit nicht genügen. Die
Begrifflichkeit, in der sich das Philosophieren entfaltet, hat uns vielmehr
immer schon in derselben Weise eingenommen, in der uns die Sprache, in
der wir leben, bestimmt. So gehört es zur Gewissenhaftigkeit des Denkens,
sich dieser Voreingenommenheiten bewußt zu werden. Es ist ein neues,
kritisches Bewußtsein, das seither alles verantwortliche Philosophieren zu
begleiten hat und das die Sprach- und Denkgewohnheiten, die sich dem
einzelnen in der Kommunikation mit seiner Mitwelt bilden, vor das Forum
der geschichtlichen Tradition stellt, der wir alle gemeinsam angehören.
Die nachfolgenden Untersuchungen bemühen sich, dieser Forderung
dadurch nachzukommen, daß sie begriffsgeschichtliche Fragestellungen mit
der sachlichen Exposition ihres Themas aufs engste verknüpfen. Die Gewissenhaftigkeit phänomenologischer Deskription, die Husserl uns zur Pflicht
gemacht hat, die Weite des geschichtlichen Horizontes, in die Dilthey alles
Philosophieren gestellt hat, und nicht zuletzt die Durchdringung beider
Antriebe durch den von Heidegger vor Jahrzehnten empfangenen Anstoß
bezeichnen das Maß, unter das sich der Verfasser gestellt hat und dessen
Verbindlichkeit trotz aller Unvollkommenheit der Ausführung unverdunkelt geblieben sein möchte.
Erster Teil
Freilegung der Wahrheitsfrage
an der Erfahrung der Kunst
Herunterladen