Hans-Georg Gadamer Gesammelte Werke Band 1 Hans-Georg Gadamer Hermeneutik I Wahrheit und Methode Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik J. c. B. Mohr (Paul Sieb eck) Tübingen 1990 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufllahme Gadamer, Hatls-Georg: Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Unveränd. Taschenbuchausg.Tübingen : Mohr Siebeck (UTB fiir Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 2115) ISBN 3-8252-2115-6 (UTB) ISBN 3-16-147182-2 (Mohr Siebeck) Bd. 1. Hermeneutik: Wahrheit und Methode. - 1. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. - 1999 1. Auflage 1960 2. Auflage 1965 (erweitert) 3. Auflage 1972 (erweitert) 4. Auflage 1975 (erweitert) 5. Auflage 1986 (durchgesehen und erweitert [fur >Gesammelte Werke<]) 6. Auflage 1990 (durchgesehen) Unveränderte Taschenbuchausgabe 1999 C 1960/1990 j.e.B. Mohr (paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielf:iltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Alfred Krugmann, Freiberg a.N., Druck: Presse-Druck, Augsburg. ISBN 3-8252-2115-6 UTB Bestellnummer Vorwort Der Text der bisherigen Ausgabe ist für die Ausgabe der Gesammelten Werke neu durchgesehen worden. Der Text blieb, von geringfügigen Glättun gen abgesehen, unverändert, soweit nicht anders vermerkt. Die bisherigen Seitenzahlen werden am Rand wiederholt. Die Exkurse (1. Auflage S. 466-476) fmden sich zusammen mit dem Anhang der weiteren Auflagen )Hermeneutik und Historismus< (2. Auflage S. 477-512), dem Vorwort zur 2. Aufl. (XV-XXVI) und dem Nachwort zur 3. Auflage (S. 513-541) im Anhang des 2. Bandes. Die Anmerkungen wurden beträchtlich vermehrt oder erweitert. Sie sollen insbesondere auf den Fortgang der Forschung - eigener wie andererhinweisen, soweit mir das sinnvoll schien. Alle Ergänzungen, sowie alle Erweiterungen und Hinzufügungen von Anmerkungen sind durch eckige Klammem kenntlich gemacht. Der 2. Band der Gesammelten Werke, auf den vielfach hingewiesen wird, sollte als Fortsetzung, Ausweitung und Eingrenzung gelesen werden. Daher ist ein erweitertes gemeinsames Register beider Bände nunmehr dem 2. Band angehängt worden, das von dem seinerzeit von Reiner Wiehl erstellten Register dankbar Gebrauch macht. Das neue Register wird vor allem meinem Mitarbeiter an der Ausgabe, Herrn Knut Eming, verdankt. Unser Bestreben war, bei häufigeren Begriffen die Hauptstellen sichtbar zu machen, insbesondere auch, damit die Zusammengehörigkeit von Band 1 und 2 deutlich wird. Was der Computer nie lernen wird, sollte von uns wenigstens in Annäherung geleistet werden. HGG .- -... Inhalt Einleitung Erster Teil Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst I. Die Transzendierung der ästhetischen Dimension 1. Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaften a) Das Methodenproblem b) Humanistische Leitbegriffe 9 9 9 15 a) Bildung 15 P) sensus communis 24 y) Urteilskraft 36 0) Geschmack 40 2. Subjektivierung der Ästhetik durch die Kantische Kritik a) Kants Lehre von Geschmack und Genie 48 48 a) Die transzendentale Auszeichnung des Geschmacks 48 P) 50 Die Lehre von der freien und anhängenden Schönheit y) Die Lehre vom Ideal der Schönheit 52 0) Das Interesse am Schönen in Natur und Kunst 55 c) Das Verhältnis von Geschmack und Genie 58 VIII Inhalt b) Genieästhetik und Erlebnisbegriff 61 a) Das Vordringen des Geniebegriffs 61 {J) Zur Wortgeschichte von »Erlebnis« 66 y) Der Begriff des Erlebnisses 70 c) Die Grenze der Erlebniskunst . Rehabilitierung der Allegorie 3. Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst 76 87 a) Die Fragwürdigkeit der ästhetischen Bildung 87 b) Kritik der Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins 94 H. Die Ontologie des Kunstwerks und ihre hermeneutische Bedeutung 107 1. Spiel als Leitfaden der ontologischen Explikation 107 a) Der Begriffdes Spiels 107 b) Die Verwandlung ins Gebilde und die totale Vermittlung 116 c) Die Zeitlichkeit des Ästhetischen 126 d) Das Beispiel des Tragischen 133 2. Ästhetische und hermeneutische Folgerungen 139 a) Die Seinsvalenz des Bildes 139 b) Der ontologische Grund des Okkasionellen und des Dekorativen 149 c) Die Grenzstellung der Literatur 165 d) Rekonstruktion und Integration als hermrneutische J.6 Aufgaben 169 Inhalt IX Zweiter Teil Ausweitung der Waltrheitsfrage aufdas Verstehen in den Geisteswissenschaften I. Geschichtliche Vorbereitung 1. Fragwürdigkeit der romantischen Hermeneutik und ihrer Anwendung auf die Historik a) Wesens wandel der Hermeneutik zwischen Aufklärung und Romantik 177 177 177 11) Vorgeschichte der romantischen Hermeneutik 177 {J) Schleiermachers Entwurfeiner universalen Hermeneutik 188 b) Anschluß der historischen Schule an die romantische Hermeneutik 201 11) Verlegenheit gegenüber dem Ideal der Universalgeschichte 201 {J) Rankes historische Weltanschauung 207 r) Verhältnis von Historik und Hermeneutik bei). G. Droysen 216 2. Diltheys Verstrickung in die Aporien des Historismus 222 a) Vom erkenntnistheoretischen Problem der Geschichte zur hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften 222 b) Zwiespalt von Wissenschaft und Lebensphilosophie in Diltheys Analyse des historischen Bewußtseins 235 3. Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung durch die phänomenologische Forschung 246 a) Der Begriffdes Lebens bei Husserl und GrafYorck 246 b) Heideggers Entwurf einer hermeneutischen Phänomenologie 258 x Inhalt 270 H. Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfahrung 1. Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip 270 a) Der hermeneutische Zirkel und das Problem der Vorurteile 270 a) Heideggers Aufdeckung der Vorstruktur des Verstehens 270 p) 276 Die Diskreditierung des Vorurteils durch die Aufklärung 281 b) Vorurteile als Bedingungen des Verstehens a) Die Rehabilitierung von Autorität und Tradition 281 P) 290 Das Beispiel des Klassischen c) Die hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstandes 2% d) Das Prinzip der Wirkungsgeschichte 305 2. Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblem~ 312 a) Das hermeneutische Problem der Anwendung 312 b) Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles 317 c) Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik 330 346 3. Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins a) Die Grenze der Reflexionsphilosophie 346 b) Der Begriff der Erfahrung und das Wesen der hermeneutischen Erfahrung 352 c) Der hermeneutische Vorrang der Frage 368 a) Das Vorbild der platonischen Dialektik P) Die Logik von Frage und Antwort ~~ ... 368 375 Inhalt XI Dritter Teil Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache 1. Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung 387 a) Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen Gegenstandes 393 b) Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen Vollzugs 399 2. Prägung des Begriffs >Sprache< durch die Denkgeschichte des Abendlandes 409 a) Sprache und Logos 409 b) Sprache und Verbum 422 c) Sprache und Begriffsbildung 432 3. Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie 442 a) Sprache als Welterfahrung 442 b) Die Mitte der Sprache und ihre spekulative Struktur 460 c) Der universale Aspekt der Hermeneutik 478 Bibliographische Nachweise 495 Solang du Selbstgewoifenes fongst, ist alles Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn-; erst wenn du plötzlich Fiinger wirst des Balles, den eine ewige Mitspielerin dir zuwarf, deiner Mitte, ingenau gekonntem Schwung, in einem jener Bögen aus Gottes großem Brückenbau: erst dann ist Fangen-können ein Vermögen,Nicht deines, einer Welt. R.M. Rilke [XXVII/XXVIII I Einleitung Die folgenden Untersuchungen haben es mit dem hermeneutischen Problem zu tun. Das Phänomen des Verstehens und der rechten Auslegung des Verstandenen ist nicht nur ein Spezialproblem der geisteswissenschaftlichen Methodenlehre. Es hat von alters her auch eine theologische und eine juristische Hermeneutik gegeben, die nicht so sehr wissenschaftstheoretischen Charakters waren, als"vielmehr dem praktischen Verhalten des durch die Wissenschaft ausgebildeten Richters oder Pfarrers entsprachen und ihm dienten. So drängt das Problem der Hermeneutik schon von seinem geschichtlichen Ursprung her über die Grenzen hinaus, die durch den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft gesetzt sind. Verstehen und Auslegen von Texten ist nicht nur ein Anliegen der Wissenschaft, sondern gehört offenbar zur menschlichen Welterfahrung insgesamt. Das hermeneutische Phänomen ist ursprünglich überhaupt kein Methodenproblem. Es geht in ihm nicht um eine Methode des Verstehens, durch die Texte einer wissenschaftlichen Erkenntnis so unterworfen werden, wie alle sonstigen Erfahrungsgegenstände. Es geht in ihm überhaupt nicht in erster Linie um den Aufbau einer gesicherten Erkenntnis, die dem Methodenideal der Wissenschaft genügt - und doch geht es um Erkenntnis und um Wahrheit auch hier. Im Verstehen der Überlieferung werden nicht nur Texte verstanden, sondern Einsichten erworben und Wahrheiten erkannt. Was ist das für eine Erkenntnis und was für eine Wahrheit? Angesichts der Vorherrschaft, die die neuzeitliche Wissenschaft innerhalb der philosophischen Klärung und Rechtfertigung des Begriffs der Erkenntnis und des Begriffs der Wahrheit besitzt, scheint diese Frage ohne rechte Legitimation. Und doch läßt sich derselben auch innerhalb der Wissenschaften gar nicht ausweichen. Das Phänomen des Verstehens durchzieht nicht nur alle menschlichen Weltbezüge. Es hat auch innerhalb der Wissenschaft selbständige Geltung und widersetzt sich dem Versuch, sich in eine Methode der Wissenschaft umdeuten zu lassen. Die folgenden Untersuchungen knüpfen an diesen Widerstand an, der sich innerhalb der modernen Wissenschaft gegen den universalen Anspruch wissenschaftlicher Methodik behauptet. Ihr Anliegen ist, Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt, überall aufzusuchen, wo sie begegnet und auf die ihr eigene Legitimation zu befragen. So rücken die Geistes- 2 Einleitung [XXVIII) wissenschaften mit Erfahrungsweisen zusammen, die außerhalb der Wissenschaft liegen: mit der Erfahrung der Philosophie, mit der Erfahrung der Kunst und mit der Erfahrung der Geschichte selbst. Das alles sind Erfahrungsweisen, in denen sich Wahrheit kundtut, die nicht mit den methodischen Mitteln der Wissenschaft verifiziert werden kann. Davon hat die Philosophie unserer Tage ein sehr ausgeprägtes Bewußtsein. Aber eine ganz andere Frage ist es, wie weit sich der Wahrheitsanspruch solcher außerhalb der Wissenschaft stehenden Erkenntnisweisen philosophisch legitimieren läßt. Die Aktualität des hermeneutischen Phänomens beruht in meinen Augen darauf, daß nur die Vertiefung in das Phänomen des Verstehens eine solche Legitimation bringen kann. Diese Überzeugung ist mir nicht zuletzt durch das Gewicht bestärkt worden, das in der philosophisch~ Arbeit der Gegenwart die Geschichte der Philosophie besitzt. Das Verstehen begegnet uns gegenüber der geschichtlichen Überlieferung der Philosophie als eine überlegene Erfahrung" die den Schein historischer Methode, der auf der philosophiegeschichtlichen Forschung liegt, leicht durchsGhauen läßt. Es gehört zur elementaren Erfahrung des Philosophierens, daß die Klassiker des philosophischen Gedankens, wenn wir sie zu verstehen suchen, von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen, den das zeitgenössische Bewußtsein weder abweisen noch überbieten kann. Das naive Selbstgefühl der Gegenwart mag sich dagegen auflehnen, daß das philosophische Bewußtsein die Möglichkeit einräumt, seine eigene philosophische Einsicht sei der eines Plato und Aristoteles, eines Leibniz, Kant oder Hegel gegenüber geringeren Ranges. Man mag eine Schwäche des gegenwärtigen Philosophierens darin sehen, daß es sich der Auslegung und Verarbeitung seiner klassischen Überlieferung mit solchem Eingeständnis der eigenen Schwäche zuwendet. Sicher ist es aber eine noch viel größere Schwäche des philosophischen Gedankens, wenn einer sich einer solchen Erprobung seiner selbst nicht stellt und vorzieht, den Narren auf eigene Faust zu spielen. Daß im Verstehen der Texte dieser großen Denker Wahrheit erkannt wird, die auf anderem Wege nicht erreichbar wäre, muß man sich eingestehen, auch wenn dies dem Maßstab von Forschung und Fortschritt, mit dem die Wissenschaft sich selber mißt, widerspricht. Ähnliches gilt von der Erfahrung der Kunst. Hier ist die wissenschaftliche Erforschung, die die sogenannte Kunstwissenschaft betreibt, sich dessen von vornherein bewußt, daß sie die Erfahrung der Kunst weder ersetzen noch überbieten kann. Daß an einem Kunstwerk Wahrheit erfahren wird, die uns auf keinem anderen Wege erreichbar ist, macht die philosophische Bedeutung der Kunst aus, die sich gegen jedes Räsonnement behauptet. So ist neben der Erfahrung der Philosophie die Erfahrung der Kunst die eindringlichste Mahnung an das wissenschaftliche Bewußtsein, sich seine Grenzen einzugestehen. [XXIX/XXX) Einleitung 3 Die folgenden Untersuchungen setzen daher mit einer Kritik des ästhetischen Bewußtseins ein, um die Erfahrung von Wahrheit, die uns durch das Kunstwerk zuteil wird, gegen die ästhetische Theorie zu verteidigen, die sich vom Wahrheitsbegriff der Wissenschaft beengen läßt. Sie bleiben aber bei der Rechtfertigung der Wahrheit der Kunst nicht stehen. Sie versuchen vielmehr, von diesem Ausgangspunkte aus einen Begriff von Erkenntnis und von Wahrheit zu entfalten, der dem Ganzen unserer hermeneutischen Erfahrung entspricht. Wie wir es in der Erfahrung der Kunst mit Wahrheiten zu tun haben, die den Bereich methodischer Erkenntnis grundsätzlich übersteigen, so gilt ein Ähnliches für das Ganze der Geisteswissenschaften, in denen unsere geschichtliche Überlieferung in allen ihren Formen zwar auch zum Gegenstand der Erforschung gemacht wird, aber zugleich selber in ihrer Wahrheit zum Sprechen kommt. Die Erfahrung der geschichtlichen Überlieferung reicht grundsätzlich über das hinaus, was an ihr erforschbar ist. Sie ist nicht nur in dem Sinne wahr oder unwahr, über den die historische Kritik entscheidet - sie vermittelt stets Wahrheit, an der es teil zu gewinnen gilt. So suchen diese Studien zur Hermeneutik im Ausgang von der Erfahrung der Kunst und der geschichtlichen Überlieferung das hermeneutische Phänomen in seiner vollen Tragweite sichtbar zu machen. Es gilt, in ihm eine Erfahrung von Wahrheit anzuerkennen, die nicht nur philosophisch gerechtfertigt werden muß, sondern die selber eine Weise des Philosophierens ist. Die Hermeneutik, die hier entwickelt wird, ist daher nicht etwa eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, sondern der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet. Wenn wir das Verstehen zum Gegenstand unserer . Besinnung machen, so ist das Ziel nicht eine Kunstlehre des Verstehens, wie sie die herkömmliche philologische und theologische Hermeneutik sein wollte. Eine solche Kunstlehre würde verkennen, daß angesichts der Wahrheit dessen, was uns aus der Überlieferung anspricht, der Formalismus kunstvollen Könnens eine falsche Überlegenheit in Anspruch nähme. Wenn :im folgenden nachgewiesen werden wird, wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist und wie wenig durch das moderne historische Bewußtsein die Traditionen, in denen wir stehen, entmächtigt sind, so werden damit nicht etwa den Wissenschaften oder der Praxis des Lebens Vorschriften gemacht, sondern es wird versucht, ein falsches Denken über das, was sie sind, zu berichtigen. Die folgenden Untersuchungen glauben damit einer Einsicht zu dienen, die in unserer von schnellen Verwandlungen überfluteten Zeit von Verdunkdung bedroht ist. Was sich verändert, drängt sich der Aufmerksamkeit unvergleichlich viel mehr auf, als was beim alten bleibt. Das ist ein allgemeines Gesetz unseres geistigen Lebens. Die Perspektiven, die sich von der 4 Einleitung [XXX/XXXI) Erfahrung des geschichtlichen Wandels her ergeben, sind daher immer in der Gefahr, Verzerrungen zu sein, weil sie die Verborgenheit des Beharrenden vergessen. Wir leben, wie mir scheint, in einer beständigen Überreizung unseres historischen Bewußtseins. Es ist eine Folge dieser Überreizung und, wie ich zeigen möchte, ein arger Kurzschluß, wenn man angesichts solcher Überschätzung des historischen Wandels sich auf die ewigen Ordnungen der Natur berufen wollte und die Natürlichkeit des Menschen zur Legitimation des Gedankens des Naturrechtes aufriefe. Nicht nur daß geschichtliche Überlieferung und natürliche Lebensordnung die Einheit der Welt bilden, in der wir als Menschen leben - wie wir einander, wie wir geschichtliche Überlieferungen, ~ie wir die natürlichen Gegebenheiten unserer Existenz und unserer Welt erfahren, bildet ein wahrhaft hermeneutisches Universum, in das wir nicht wie in unübersteigbare Schranken eingeschlossen, sondern zu dem wir geöffnet sind. Eine Besinnung auf das, was in den Geisteswissenschaften Wahrheit ist, darf sich nicht selber aus der Überlieferung herausreflektieren wollen, deren Verbindlichkeit ihr aufgegangen ist. Sie muß daher ftir ihre eigene Arbeitsweise die Forderung aufstellen, soviel geschichtliche Selbstdurchsichtigkeit zu erwerben, wie ihr nur irgend möglich ist. Bemüht, das Universum des Verstehens besser zu verstehen, als unter dem Erkenntnisbegriff der modernen Wissenschaft möglich scheint, muß sie auch ein neues Verhältnis zu den Begriffen suchen, die sie selber gebraucht. Sie wird sich dessen bewußt sein müssen, daß ihr eigenes Verstehen und Auslegen keine Konstruktion aus Prinzipien ist, sondern die Fortbildung eines von weit herkommenden Geschehens. Begriffe, die sie gebraucht, wird sie daher nicht unbefragt in Anspruch nehmen dürfen, sondern zu übernehmen haben, was ihr aus dem ursprünglichen Bedeutungsgehalt ihrer Begriffe überkommen ist. Die philosophische Bemühung unserer Zeit unterscheidet sich dadurch von der klassischen Tradition der Philosophie, daß sie keine unmittelbare und ungebrochene Fortsetzung derselben darstellt. Bei aller Verbundenheit mit ihrer geschichtlichen Herkunft ist die Philosophie heute sich ihres geschichtlichen Abstandes zu ihren klassischen Vorbildern wohl bewußt. Das prägt sich vor allem in ihrem veränderten Verhältnis zum Begriff aus. So folgenschwer und bis auf den Grund gehend die Umformungen des abendländischen philosophischen Denkens auch gewesen sind, die mit der Latinisierung der griechischen Begriffe und der Einformung der lateinischen Begriffssprache in die neueren Sprachen vor sich gingen - die Entstehung des geschichtlichen Bewußtseins in den letztenJahrhunderten bedeutet einen Einschnitt von noch viel tieferer Art. Seither ist die Kontinuität der abendländischen Denktradition nur noch in gebrochener Weise wirksam. Die naive Unschuld ist verlorengegangen, mit der man die Begriffe der Tradition den eigenen Gedanken dienstbar machte. Seither ist ftir die Wissenschaft [XXXI) Einleitung 5 ihr Verhältnis zu solchen Begriffen von seltsamer Unverbindlichkeit geworden, ob nun ihr Umgang mit diesen Begriffen von Art der gelehrten, um nicht zu sagen archaisierenden Aufnahme, oder von der Art einer technischen Handhabung sei, die sich die Begriffe wie Werkzeuge zurechtmacht. Beides kann der hermeneutischen Erfahrung in Wahrheit nicht genügen. Die Begrifflichkeit, in der sich das Philosophieren entfaltet, hat uns vielmehr immer schon in derselben Weise eingenommen, in der uns die Sprache, in der wir leben, bestimmt. So gehört es zur Gewissenhaftigkeit des Denkens, sich dieser Voreingenommenheiten bewußt zu werden. Es ist ein neues, kritisches Bewußtsein, das seither alles verantwortliche Philosophieren zu begleiten hat und das die Sprach- und Denkgewohnheiten, die sich dem einzelnen in der Kommunikation mit seiner Mitwelt bilden, vor das Forum der geschichtlichen Tradition stellt, der wir alle gemeinsam angehören. Die nachfolgenden Untersuchungen bemühen sich, dieser Forderung dadurch nachzukommen, daß sie begriffsgeschichtliche Fragestellungen mit der sachlichen Exposition ihres Themas aufs engste verknüpfen. Die Gewissenhaftigkeit phänomenologischer Deskription, die Husserl uns zur Pflicht gemacht hat, die Weite des geschichtlichen Horizontes, in die Dilthey alles Philosophieren gestellt hat, und nicht zuletzt die Durchdringung beider Antriebe durch den von Heidegger vor Jahrzehnten empfangenen Anstoß bezeichnen das Maß, unter das sich der Verfasser gestellt hat und dessen Verbindlichkeit trotz aller Unvollkommenheit der Ausführung unverdunkelt geblieben sein möchte. Erster Teil Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst