III. Bengel und die Bibel Der Text der Bibel Die Bibel war für Bengel Zeit seines Lebens das Buch der Bücher: "Hier ist die Sonne, die alle Nebel durchbricht. Hier ist die einzige Schrift, die niemals veraltet." Man kann "himmelfest darauf fußen." Bengel hat diesem Buch ein Leben lang mit all seinen Gaben und Kräften gedient. Doch - was ist es um dieses Buch, auf das man sich mit seinem ganzen Leben gründen kann? Was ist dessen eigener Grund? Das Buch der Bibel ist uns nicht in einem eindeutigen, nicht weiter hinterfragbaren "Original" überliefert. Es gibt keinen uns zugänglichen irrtumsfreien biblischen "Urtext". Der Text der Bibel liegt uns nur in zahlreichen Abschriften vor, teils aus den Jahren der Alten Kirche, teils aus späterer Zeit. Diese Handschriften weichen in ihrer Textgestalt an nicht wenigen Stellen voneinander ab. Einmal sind einfache Abschreibfehler der Grund dafür, an anderen Stellen aber auch der Versuch der Abschreiber, eine schwer verständliche Textpassage durch eine kurze Einfügung oder durch die Wahl eines anderen Begriffs verständlicher zu machen. Diese unterschiedlichen Lesarten und die zahlreichen Varianten im Text hatten einst schon den gewissenhaften Tübinger Studenten Bengel umgetrieben und angefochten. Deshalb bemühte er sich, sobald er dazu die äußeren Voraussetzungen hatte, einen möglichst fehlerfreien Text herauszufinden, der dem biblischen Grundtext so weit wie möglich nahe kommt. Bengels unterrichtliche Verpflichtungen kamen ihm dabei zu Hilfe. Der Lehrauftrag Bengels an der Denkendorfer Klosterschule nötigte ihn, mit seinen Schülern lateinische und griechische Texte zu lesen. Da keine geeigneten Vorlagen vorhanden waren, machte sich Bengel an die Bearbeitung und Herausgabe klassischer und patristischer Texte für den Schulunterricht So entstanden Ausgaben von Briefen Ciceros oder der Schrift "De Sacerdotio" von Johannes Chrysostomus. Diese Editionen wirken wie Vorarbeiten für die spätere Herausgabe des griechischen Neuen Testaments. In mühevoller Kleinarbeit suchte Bengel nach Handschriften des neutestamentlichen Textes, um sie miteinander vergleichen zu können. Viele Jahre seines Lebens hat er an diese Arbeit gewandt. Aus den Bibliotheken von Straßburg, Frankfurt und Basel, aus Amsterdam, St. Petersburg und Moskau kamen Sendungen mit Handschriften nach dem abgelegenen Denkendorf, wo sie von Bengel mit peinlichster Genauigkeit, Wort für Wort und Silbe für Silbe verglichen wurden. Vor jedem Kasus und Tempus, Partikel und Komma hielt Bengel still, verglich und bewertete. Bis 1722 hatte er 137 Handschriften gesichtet, darunter 15, die bisher unbekannt waren. Grundlage war für Bengel der im Wesentlichen auf die Edition des Erasmus (1516 u.ö.) zurückgehende Textus receptus. Zur Bewertung der zahlreichen Varianten stellte Bengel Grundsätze auf, die bis heute in der Textkritik Gültigkeit haben, so z.B. die Regel von der lectio difficilior [= der schwierigeren Lesart]: "Proclivi scriptioni praestat ardua" (Der leichteren Lesart ist die schwierigere vorzuziehen). Zugleich nahm Bengel eine Klassifizierung der Textvarianten vor, indem er sie in zwei Textfamilien, eine afrikanische und eine asiatische, gliederte. 1734, genau 200 Jahre nach dem Erscheinen von Luthers Übersetzung der gesamten Bibel, erschien bei Cotta in Tübingen die erste Ausgabe von Bengels griechischem Text des Neuen Testaments mit einem ausgewählten Varianten- und Parallelenapparat. Diese textkritische Arbeit war für Bengel ein Hilfsdienst zur Erfassung und Erklärung der biblischen Inhalte. Es ging ihm bei dieser Arbeit nicht um die Sachkritik an der Bibel, wie sie seit der Aufklärung als Prinzip des Verstehens und der Auslegung der Schrift geübt wird und wie sie heute unter dem Stichwort "historisch-kritische Methode" jedem Theologen bekannt ist. Er wollte nur eine zuverlässigere Textgestalt erstellen und dadurch das Vertrauen in die Heilige Schrift stärken. Bengel gelang es durch intensives Bemühen, eine Stufe des neutestamentlichen Textes zu erreichen, die deutlich genauer war als die bis dahin bekannte und gebrauchte. Bengels Vertrauen in die Bibel wurde durch seine Arbeit am Text eindrucksvoll bestätigt; er fand in all den von ihm durchgesehenen und verglichenen Handschriften und Lesarten nichts, das in die Grundlage des Glaubens einschlüge." Im Blick auf die spätere Erklärung des Bibeltextes wurde er durch seine Arbeit in der Erkenntnis bestätigt: "Die Heilige Schrift wird durch nichts sicherer ausgelegt als durch sich selbst." So gehört Bengel nach dem Urteil des Kirchenhistorikers Martin Jung zu den Bahnbrechern der modernen wissenschaftlichen Erforschung der Bibel. Mit ihm begann in Deutschland die wissenschaftliche Arbeit am Text des Neuen Testaments.` Erklärung und Übersetzung Neben der Herausgabe des griechischen Textes lag Bengel von Anfang an dessen Auslegung am Herzen. Darum arbeitete er zugleich mit der Erforschung des Textes an seiner Erklärung. Aber erst 1742 konnte dieses Werk, die versweise lateinische Kommentierung des ganzen Neuen Testaments im Druck erscheinen: "Gnomon Novi Testamenti ...", "Fingerzeig, Wegweiser zum Neuen Testament, zu dem aus der ursprünglichen Kraft der Worte die Einfachheit, Tiefe, Verbindung und Heilsamkeit der himmlischen Meinungen angezeigt wird." Es ist dies Bengels wissenschaftliches Hauptwerk. Martin Brecht sieht im "Gnomon" "die reife Frucht eines langjährigen ehrfürchtigen und konzentrierten Hörens auf die Bibel, aus dem heraus in höchster Verdichtung, oft mit meisterlich knappen Sentenzen, dabei aber immer verständlich, häufig sogar durchaus erbaulich, formuliert wird. So entstand eine Spitzenleistung pietistischer Exegese..., auf die bis heute zurückgegriffen wird." Der Gnomon, übrigens 1755 von John Wesley, dem Begründer des weltweiten Methodismus, zur Grundlage seiner eigenen Erklärung des Neuen Testaments gemacht, erläutert die Schrift aus sich selbst. Das Einzelne wird aus dem Ganzen, das Ganze aus dem Einzelnen der Schrift verstanden. Nicht fehlen darf in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass etwa zeitgleich mit dem Gnomon eine Übersetzung des Neuen Testaments aus Bengels Hand entstand, die aber erst 1753, ein Jahr nach seinem Tod, im Druck erschien. Bengel wollte mit dieser Übersetzung den von ihm hoch geschätzten Luther nicht verdrängen oder gar ersetzen. Aber er wagte den Versuch, den griechischen Grundtext sorgfältiger wiederzugeben als das Luther aufgrund der begrenzten Zahl der ihm damals zugänglichen Handschriften möglich war. Bengel hat mit dieser Arbeit eine äußerst korrekte, wenn auch etwas hölzern klingende Übersetzung geschaffen, die größten Wert auf die Genauigkeit des Textes legt, auch wenn sie "nicht so fließet." Ein sprachlich behutsam modernisierter Nachdruck dieser Übersetzung (einschließlich der wertvollen Vorrede Bengels) ist dankenswerter Weise 1974 im Hänssler-Verlag erschienen. Die Bibel - Lehr- und Lebensbuch Getreu seinem Grundsatz: "Wende dich ganz dem Text zu; wende den Inhalt ganz auf dich selbst an", hat Bengel die Auslegung in seinem Gnomon" immer wieder durch ein kurzes, schriftlich gefasstes Gebet unterbrochen - ein Zeichen dafür, dass die Bibel für ihn nicht nur ein Lehrbuch, sondern ein Lebensbuch war, ein Buch, das ganz persönlich in das Leben des Lesers hineinsprechen will: "Wenn ich das gesamte Buch der Bibel in die Hand nehme, kann ich nur sagen: Das ist ein Brief, den mein Gott mir hat schreiben lassen. Nach ihm soll ich mich richten, weil Gott mich nach ihm richten wird. Ein jeder Bibelleser muss damit umgehen, als ob dieser Brief ihn allein anginge." So hat der Umgang Bengels mit der Bibel immer eine sehr persönliche Note, die er auch auf andere Leser übertragen möchte. "Die Bibel stand im Zentrum seines Glaubens. Er hielt nichts von unmittelbaren göttlichen Eingebungen. Die im Pietismus nicht seltenen spiritualistischen und charismatischen Frömmigkeitsformen waren ihm fremd."[Martin H. Jung] Für Bengel war die Schrift alleinige Grundlage für Glauben und Leben. Sie richtet das Leben auf Christus hin, weg von den Stimmen aus dem eigenen Herzen: "Das Wort Gottes ist eine beständige Warnung vor dem Betrug des eigenen Herzens ... Darum lerne die Heilige Schrift und in ihr die Kraft Gottes erkennen! Denn Unwissenheit ist die Mutter aller Irrlehren." So war Bengels Leben und Arbeiten vom Umgang mit der Heiligen Schrift geprägt. Umgang mit der Schrift war für ihn aber immer zugleich Umgang mit dem Herrn der Schrift. Alle Leser der Bibel mahnt er: "Trage nichts in die Schrift hinein, aber schöpfe alles aus ihr und lass nichts von dem zurück, was in ihr liegt." Ihre Ausleger, Theologen und Nichttheologen, vergleicht er mit einem "Brunnenmacher. Dieser darf selbst kein Wasser in die Quelle gießen, sondern nur machen, dass es ohne Verstopfung und Unlauterkeit in alle Röhren und Gefäße laufe." An dieses theologische Erbe Bengels gilt es auch heute anzuknüpfen. ... Die ganze Schrift Martin Luther hat zu seiner Zeit als Mitte der Schrift die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade, allein durch den Glauben neu erkannt und auf den Leuchter gestellt. Das gilt als seine reformatorische Grunderkenntnis. Wo aber die Mitte mit solchem Nachdruck betont wird, müssen andere Bereiche am Rand oder im Schatten bleiben. Das war auch bei Luther der Fall. So hat er z.B. aus theologischen Gründen bei seiner Bibelübersetzung den Jakobusbrief im Reigen neutestamentlicher Schriften deutlich nach hinten versetzt, und zur Johannesoffenbarung, dem letzten Buch der Bibel, konnte Luther keinen rechten Zugang finden. Bengel ging hier über Luther hinaus. Dem reformatorischen Hauptsatz "sola scriptura", allein die Schrift", hat Bengel einen zweiten hinzugefügt: "tota scriptura", die ganze Schrift. Es ging ihm mit Apostelgeschichte 20,27 um den ganzen Ratschluss Gottes". Für Bengel gehörte zu dem paulinischen "Wort vom Kreuz", das Luther neu betont hat, das "Wort vom Reich". Beide Teile bildeten für ihn ein unteilbares Ganzes, das Kreuz und das Reich. Der Gedanke vom ewigen Reich Gottes kam in der Theologie durch Bengel wieder neu in den Blick. Die Heilige Schrift war für ihn "ein Lagerbuch (in heutiger Sprache: ein notarielles Grundbuch, in dem alle Liegenschaften eines Ortes sorgfältig verzeichnet stehen), ein Lagerbuch der Gemeinde Gottes von Anbeginn der Welt bis ans Ende, darin beschrieben ist, was die Welt, das menschliche Geschlecht und die Gemeinde Gottes für einen Ursprung, Lauf und Ziel habe." Oder: "Christus ist das Licht der Welt, und seine Zeit auf dieser Welt ist das Licht der sonst so dunklen Weltzeiten. Auf diesem Grund ist die Zeitrechnung, welche sich in der Heiligen Schrift von der Schöpfung bis auf Christus und weiter bis an das Ende der Welt auf eine wunderbare Weise erstrecket, gebaut worden." Oder: "Die Heilige Schrift leuchtet der ganzen Kirche voran. Sie zeigt nicht nur den Weg zum Heil, sondern weist auch den Ursprung und das Ziel aller Dinge auf" So sah Bengel in der Bibel "eine unvergleichliche Nachricht von der göttlichen Oeconomie bei allen Kreaturen." Wenn heute der Tübinger Neutestanentler Peter Stuhlmacher im Blick auf die Einheit der Schrift schreibt von dem Bild eines heilsgeschichtlichen Weges, den der eine Gott mit Israel und der Welt gegangen ist und vollends gehen wird ", dann hat er damit genau das aufgenommen, was Bengel zu seiner Zeit gesagt hat. [aus: Sorg,Theo: Das theologische Erbe Johann Albrecht Bengels für die Gegenwart. In:theologische beiträge, 34. Jg, 03-4, S. 177-181]