1830 DMW 1985,110. Jg., NY.47 Kommentare AIDS in Deutschland: eine nicht bestandene Herausforderung H. Fiedler .Der beste Schutz gegen AIDS ist richtiges Verhalten. Der beste Weg zu richtigem Verhalten ist richtiges Wissen. << Unter dieses unbestreitbar zutreffende Motto stellte das Düsseldorfer »Institut für Lebens- und Sexualberatung« ein im August 1985 herausgegebenes Merkblatt. Leider enthält das von verschiedenen Stellen in großer Fülle an Ärzteschaft und Bevölkerung verteilte Aufklärungsmaterial meist belegbare und nicht belegbare, also möglicherweise falsche Informationen. Fehlinformationen über AIDS bergen die Gefahr in sich, einerseits unbegründeter Sorglosigkeit, andererseits ungerechtfertigtem Schrecken und Fatalismus den Weg zu bahnen und damit das Gegenteil von »richtigem Wissen« zu erreichen. Hier sollen nur einige wenige, aber typische Informationen mit irreführenden Aussagen diskutiert werden. Im Mai 1985 veröffentlichte das ))Bundesgesundheitsblattc ein Manifest, in dem behauptet wird, durch die Untersuchung aller Blutspenden auf Anti-HTLV I11 ließe sich die Ausbreitung von AIDS-Infektionen und -Erkrankungen weitgehend verhindern. Davon, daß über 99% der in der Bundesrepublik aufgetretenen AIDS-Fälle nicht durch die Transfusion von in Deutschland gespendetem Blut ausgelöst wurden und demzufolge eine .weitgehende Verhinderungs der AIDS-Ausbreitung ganz andere Schwerpunkte als das Blutspendewesen zum Ziel haben müßte, stand in dem Manifest nichts. Anfang Juni 1985 teilten Tageszeitungen bundesweit mit, daß Professor Hunsmann (Göttingen) die Zahl der täglich in der Bundesrepublik durch Bluttransfusionen mit AIDS infizierten Personen auf .zwischen 15 und 2 0 ~ also auf jährlich über 5000 einschätze. Hier handelt es sich nicht, wie im ersten Fall, um eine ungerechtfertigte Verharmlosung, sondern um eine verhängnisvolle Dramatisierung, für deren Richtigkeit es keinen wissenschaftlich stichhaltigen Beleg gibt. In den USA, wo im August 1985 über 12 000 AIDS-Patienten registriert waren, wurde die Zahl der in den zurückliegenden 5 Jahren durch Transfusionen verursachten AIDS-Erkrankungen mit 184 beziffert. Die Annahme, daß hierzuDtsch. med. Wschr. 110 (1985), 1830-1831 O 1985 Georg Thierne Verlag Stuttgart . New York lande, wo zum gleichen Zeitpunkt 248 AIDS-Fälle registriert waren und zudem seit Mai 1985 nur entsprechend ausgetestete Blutkonserven in den Verkehr gelangen, jährlich über 5000 Personen infiziert werden, ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Derartige Meldungen beschwören die Gefahr herauf, daß die Welle der Transfusionsverweigerung aus Angst bald mehr Opfer fordern könnte als transfusionsbedingte AIDSInfektionen. In gleichem Sinne dürfte eine Nachricht des Westdeutschen Rundfunks vom 29. 9. 1985 wirken, nach der es laut Professor Kretschmer (Gießen) in der Bundesrepublik derzeit 19 transfusionsbedingte AIDSErkrankungen geben soll. Hier wurden offensichtlich 18 durch importierte Plasmafraktionen ausgelöste Fälle mitgezählt, obwohl diese importierten Infektionen zur Frage der Gefährlichkeit bzw. Ungefährlichkeit der Transfusion in Deutschland gespendeten Blutes nichts beizutragen vermögen und insofern ein falsches Bild erzeugen. Im August 1985 verteilte der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit Merkblätter mit der Aussage: )>DerNachweis von Antikörpern ist ein sicherer Nachweis der Infektion mit LAVIHTLV III«. Eine derart apodiktische Behauptung wäre wissenschaftlich gerechtfertigt, wenn die Untersuchung sämtlicher infektiöser Mikroorganismen, also auch der nicht krankheitsauslösenden, auf Antigen-Verwandtschaften mit HTLV I11 ein negatives Ergebnis erbracht hätte. Da eine solche Untersuchung niemals stattgefunden hat und obendrein deutliche Hinweise auf Antigen-Verwandtschaften zwischen HTLV 111 und anderen Mikroorganismen existieren, ist die öffentliche Aussage des Gesundheitsministeriums , wissenschaftlich nicht belegbar. Sollten sich Blutspender im Anti-HTLV-111-Test reagierende Antikörper durch Infektionen mit anderen Mikroorganismen zugezogen haben, ohne Zusammenhang mit Promiskuität oder Drogenkonsum, so bedarf es keiner besonderen Einbildungskraft, sich die Empfindungen dieser Blutspender bei einer .Aufklärung« im Sinne des Gesundheitsministeriums vorzustellen, von den darauf möglicherweise folgenden Familientragödien abgesehen. Ebenfalls im August 1985 zitierte eine Hamburger Boulevard-Illustrierte mit beachtlicher Auflage Professor Koch vom Bundesgesundheitsamt: »Die Verbreitung von Hepatitis B in unserem Land (ca. 3 bis 4 Mil!ionen Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Blutspendedienst der DRK-Landesverbände Nordrhein und Westfalen-Lippe Bundesbürger haben serologische Symptome oder Residuen einer asymptomatischen Hepatitis-B-Infektion; der Autor) ist ein gutes Raster, um die AIDS-Epidemie zu erklären, denn der Ansteckungsweg für beide Krankheiten ist derselbe.. Daraus schließt dann die Illustrierte auf 3,6 Millionen zu erwartende AIDS-Opfer. In Wirklichkeit verkennt der Professor Koch zugeschriebene Vergleich fundamentale Unterschiede zwischen AIDS- und Hepatitis-B-Epidemiologie: AIDS-Erreger sind in eingetrockneter Form außerhalb eines Wirtsorganismus offensichtlich viel weniger überlebensfähig als Hepatitis-B-Erreger. AIDS-Erreger gehen unter Hospitalbedingungen weder von Patient zu Patient noch von Patienten zu Ärzten und Pflegepersonal noch von Ärzten und Pflegepersonal zu Patienten über; in der Epidemiologie der Hepatitis B spielen diese Hospitalund Praxis-Infektionen eine wesentliche Rolle. AIDSErreger können in gerinnungsaktiven Plasmafraktionen relativ leicht abgetötet werden, Hepatitis-B-Erreger waren zumindest in der Zeit, in der sie sich ungehindert in der Bevölkerung verbreitet haben, jeglicher Inaktivierung in gerinnungsaktiven Plasmafraktionen unzugänglich. Da wesentliche Verbreitungswege des Hepatitis-BVirus dem AIDS-Erreger nicht zur Verfügung stehen, ist ein Vergleich der Epidemiologien beider Infektionen nicht begründbar. Andererseits macht die Ankündigung von Millionen angeblich unvermeidbaren AIDS-Opfern wenig Mut, sich der vielfältigen und erwiesenermaßen erfolgversprechenden Möglichkeiten zum Schutz vor einer weiteren AIDS-Ausbreitung entschlossen zu bedienen. Die öffentliche Aufklärung über AIDS kann nur dann zu den notwendigen und möglichen praktischen Ergebnissen führen, wenn sie sich an hergebrachten Prinzipien wissenschaftlicher Erkenntnisfindung, -kodifizierung und -verbreitung orientiert. Gegen dieses Postulat ist vielfach verstoßen worden. Leider besteht wenig Aussicht, daß sich dieser Mißstand in absehbarer Zeit ändern wird. Selbst wenn für die AIDS-Prophylaxe heute sozusagen der Stein der Weisen gefunden und ab morgen keine einzige AIDS-Infektion mehr stattfinden würde, müßten die Erkrankungsziffern entsprechend der außergewöhnlich langen Inkubationszeit noch einige Jahre weiter ansteigen. Dies wäre nach bisheriger Erfahrung auch für hochoffizielle Stellen bereits ein hinreichender Grund, immer neue Horror-Visionen zu verbreiten, welche die rationale Auseinandersetzung mit dem todernsten Problem noch nachhaltiger als bereits heute behindern würden. Es ist ermutigend zu sehen, mit welchem Ernst und welchem Engagement sich AIDS-Hilfe-Gruppen und organisierte Vertretungen besonders gefährdeter Bevölkerungskreise um richtige Aufklärung als Weg zu wirksamem Schutz vor AIDS bemühen. Diese Bemühungen sollten seitens der Hochschullehrer und Gesundheitsbehörden durch wissenschaftlich belegbare Informationen unterstützt und nicht durch mehr oder weniger wahllose Verbreitung von gesicherten Erkenntnissen, Vermutungen, ungerechtfertigter Verharmlosung und unbegründeten Horror-Visionen entmutigt werden. Dr. H. Fiedler DRK-Blutspendedienst 4400 Münster, Stellmacherweg 43 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. DMW 1985, 110. Jg., NY.47