Ronit Land Das Lehren: Reflexionen Äber einen Åsthetischen Dialog. Der KÇrper sei nur daher ein Organismus, weil der Geist ihn zum Organismus erklÄrt habe, schreibt 1886 der PÄdagoge John Dewey. Seiner Ansicht nach werden alle kreativen Quellen eines Individuums aus der Symbiose zwischen natÅrlichen KrÄften und Ästhetischer Neugier geschÇpft. Mit der äberzeugung, dass das mentale und emotionale Dasein aus den kÇrperlichen Erfahrungen stamme, fÅhrt Dewey die Theorien von William James fort und behauptet, dass die Lust an der Ästhetischen Handlung aus dem physischen Erlebnis hervor gerufen werde und nicht ausschlieàlich auf einer mentalen Sozialisation basiere. Sich vom herkÇmmlichen Dualismus in der PÄdagogik hinwegbewegend, der KÇrper und Geist zwar anerkennt, aber als unabhÄngige Komponenten im Dialog zwischen Lehrer und SchÅler betrachtet, entwickelte Dewey die Theorie, dass jegliche Differenzierung im Sinne einer Trennung zwischen KÇrper und Geist schÄdlich fÅr den soma-Ästhetischen Prozess des Lehrens und des Lernens sei. Kann der Prozess des Lehrens ein geschlossenes System sein, kann er je zu einem vollendeten Ergebnis fÅhren, oder handelt es sich nicht immer um einen Austausch zwischen zwei Parteien, die sich auf einen andauernden Prozess der VitalitÄt geeinigt haben? Die Rede ist von einem Prozess der Herstellung einer Kommunikation, die vom Lehrer die AbschÄtzung aller Differenzen und Éhnlichkeiten einer kommunikativen Handlung abverlangt. Diese Handlung des Lehrens und des Lernens verkÇrpert eine Auseinandersetzung mit der Differenz als konfrontativen Dialog, der die VerÄnderung des Subjekts vor Augen hat. Ausgehend von der qualitativen Kraft der soma-Ästhetischen Erfahrung wird jeder prozessorientierte Austausch zu einer VerÄnderung des Subjekts. Wiederholungen im System ermÇglichen der Erfahrung, eine retroaktive Bewegung wahrzunehmen, kÇnnen aber nicht zum Sinn des Prozesses werden. Die Herstellung eines ideellen Lernprozesses hat mit dessen KontinuitÄt zu tun. Ésthetisches Lernen erweitert an erster Stelle das VermÇgen der Sinnlichkeit und verknÅpft sie mit dem Akt der mentalen Erkenntnisse. Diese Erkenntnis garantiert, aber, keine Anerkenung von Seiten der normativen Umwelt. Sie ermÇglicht, aber, den Blick auf neue ZusammenhÄnge von improvisierten Praktiken und etabliert dadurch ein reflexives Wechselspiel zwischen alltÄglichen Handlungen und kÅnstlerischen TÄtigkeiten (Bertram). Der Lehrer trÄgt, allerdings, die Verantwortung, dass dieser Prozess nicht willkÅrlich stattfindet und dass die WÅrde dieses Abenteuers dazu fÅhrt, das sinnliche und das mentale VermÇgen des SchÅlers miteinander zu vereinbaren und den Anspruch des SchÅlers auf UnterstÅtzung gerecht zu werden. Wenn der Austausch zwischen Lehrer und SchÅler ein transzendentaler Prozess ist, welche Rolle spielen dann die Formen und Symbole, die eine Ästhetische Sprache ausmachen? Gilles Deleuze spricht von einem Balanceakt zwischen dem Universalen, der Idee des Lernens und den SingularitÄten, die sich in einem System, einem Handwerk oder einer Methode verbergen. Die Bedeutung des Lehrens wird oft nur gewÅrdigt und anerkannt, wenn das singulÄre System messbar und empirisch nachgewiesen werden kann. Lernen ist aber die Bewegung des Universalen, die „eine Sinnlichkeit […] und ein Denken miteinander verknÅpft“ (Deleuze). Es impliziert den „lebendigen äbergang“ zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen. Eine LehrtÄtigkeit ist insofern ein Balanceakt zwischen der Notwendigkeit, dem Empirischen Raum zu verschaffen und der Neugier, die Fragen und Problemstellungen als solche in den Mittelpunkt zu stellen. So wird eine Unterordnung des Lernens unter das Wissen vermieden. 40 SelbstverstÄndlich ist am Ausgang jedes Prozesses eine Struktur vorhanden. Jeder Lernprozess ist auch der Vergleich zwischen dem Bekannten und dem Neuen. Die empfundene QualitÄt verschmilzt sehr hÄufig mit den neuen, noch unreflektierten Reizen, die elementar und rezeptiv wahrgenommen werden, aber schon im Hier und Jetzt zur unmittelbaren Synthese zwischen der Sinnlichkeit und der kognitiven Erwartung beitragen. Die TÄtigkeit des Lehrers ist ein kreatives Handeln, die Wiederholung und Gewohnheit nicht unreflektiert zulassen darf, aber sich mit den folgenden Fragestellungen als einen unvermeidlichen Gegenstand der Handlung beschÄftigen muss: Wie unterscheidet ein Lehrer zwischen einer banalen Wiederholung und einem strukturellen System, das einer Handlung zu Grunde liegt? Wie integriert der Lehrer seine gegenwÄrtigen Erfahrungen in die Reizaufnahme seines SchÅlers? Wie vermittelt der Lehrer die Neugier fÅr die reine Form, das reine System? Wenn ein System mit heterogenen Prozessen in BerÅhrung kommt, entsteht eine Kommunikation, die unerwartete Ereignisse mit sich bringt. Die Folge ist eine zeitlich-rÄumliche Dynamik, die die Grundlage fÅr einen kreativen Prozess schafft. Dieser Prozess wird immer individuell, subjektiv und unwiederholbar wahrgenommen. Das daraus folgende Lernergebnis beinhaltet allerdings ein Wechselspiel zwischen dem bereits vorhandenen Wissen und der unvorhersehbaren Fortentwicklung. Der Lehrer hat die Aufgabe, diese ‚verkÇrperte Perspektive’ des SchÅlers zu begleiten. Damit ist nicht eine Trennung und Isolation zwischen KÇrperwahrnehmung und intellektueller Perspektive gemeint. Vielmehr handelt es sich hier um eine notwendige Integration beider PhÄnomene. Zusammengefasst kÇnnte es heiàen: eine lehrende TÄtigkeit ist eine Handlung, die zwischen einer vorhandenen Struktur und einem unvorhersehbaren Abenteuer stattfindet und die individuell verkÇrperte Lernperspektive des SchÅlers ‚choreographiert’. Die ontologische Einheit von KÇrper und Geist wird in herkÇmmlichen BildungszusammenhÄngen nicht genug gewÅrdigt. Wie schon erwÄhnt, genieàen die geistigen Ergebnisse einen hÇheren Stellenwert als die kÇrperliche Wahrnehmung. Ésthetisches Lernen kann aber ohne Integration von analytischer Handlung und dynamischen VerÄnderungen so gut wie nicht stattfinden. Die Bereitschaft zu verÄndern beinhaltet die Bereitschaft zu ‚entlernen’. In der Ästhetischen Bildung ist der Lehrer ein ‚DekonstruktionskÅnstler’. Die Ästhetische Bildung, hier verkÇrpert durch das Lernen von Tanz, kann zusÄtzlich zum Balanceakt zwischen KÇrper und Geist die Integration der situativen Voraussetzungen nicht Åbersehen. Damit sind rÄumliche und kollektive Gegebenheiten gemeint, die den Lernprozess komplexer machen. Das Entdecken von Handlungsprinzipien – im Einklang mit dem ‚Entlernen’ von vorgefertigten Formen – schult die ‚Handlungsfantasie’ fÅr die ‚reine Form’ ebenso wie fÅr die Differenzierung des Kommunikationsverhaltens des SchÅlers: zweifellos ein komplexes Verfahren, fÅr das der Lehrer die Verantwortung trÄgt. Ziel bei diesem Lernprinzip ist es, eine MÇglichkeit aufzuzeigen, in der der Austausch zwischen tanzimmanenten Handlungen und kommunikativen Handlungen stattfindet, ohne dass die Grenzen zwischen beiden Anteilen vÇllig aufgelÇst werden. Es handelt sich schon um eine professionelle TanzausÅbung, um die Fortentwicklung des kreativen und kritischen Potentials und um die WÅrdigung der Ästhetischen Handlung als Bestandteil des tÄglichen Daseins. Die Anforderung an den Lehrer, eine SimultaneitÄt zwischen einem kÅnstlerischen Nimbus und einer reflektierten Theorie herstellen zu mÅssen, bedeutet oft auch, mit Reibungspunkten und WidersprÅchen im Umfeld des SchÅleralltags umgehen zu kÇnnen. Reibungspunkte mit dem SchÅler entstehen, 41 wenn die Zweideutigkeit von geistigen und physischen KÇrpern nicht verstanden wird. Das bedeutet, am Nimbus festzuhalten zu wollen, dass Tanz auf banalen Interpretationsmustern basiert, als systemische Handlung kontraproduktiv ist, nicht dazu dient, auf die KomplexitÄt des kÅnstlerischen Gesamtvorhabens einzugehen. In einer zeitgemÄàen TanzpÄdagogik handelt es sich nicht um eine mimetische Wiedergabe von Tanzformen. Vielmehr stehen Improvisationstechniken im Vordergrund, die unterschiedliche Kategorien von Lernen und ‚Entlernen’ beinhalten. Ohne die verschiedenen Anteile von Form und freier Gestaltung werten zu wollen, handelt es sich hier in beiden FÄllen um die Ésthetik des Tanzes und um die FÄhigkeit, angewandte Erfahrungen und Wissen als Lernprozess im Sinne der Fortentwicklung zu erkennen. Die grundlegende Frage, wie zu lehren sei, setzt voraus, dass das Universal-SchÇne im Einklang mit dem Individuell-Notwendigen gelernt wird. Die Arbeit an einem Selbst, in diesem Zusammenhang die Ästhetische Arbeit an einem Selbst setzt voraus, dass es sich um eine Art meisterlicher VirtuositÄt handelt. Bei dieser Art von VirtuositÄt geht es um die Frage, wie gelernt wird. Das Erwerben eines was-Wissens sollte nur als Zusatzgewinn betrachtet werden. Die Ästhetische Bildung ermÇglicht ein Lernen von ‚wissen wie’ und nicht nur von ‚wissen was’. Die Lernkunst ist dann gefragt, wenn es um Handlungsmuster geht bzw. um die Fragen Wie vermittelt der Lehrer ein Repertoire, das die eigene kreative Fantasie des SchÅlers fÇrdert? Das heiàt: nicht ein Repertoire von vorgefertigten Bewegungsmustern, sondern ein Repertoire von unvorhersehbaren MÇglichkeiten? Soll das PlÄdoyer, den Vermittlungsprozess nicht ausschlieàlich auf eine bereits vorhandene Auffassung oder ein vorhandenes Wissen zurÅckzufÅhren, Bestandteil der Vereinbahrung zwischen Lehrer und SchÅler sein? Soll die Spinoza'sche Einstellung, der Lehrer habe den Auftrag, Menschen allen WiderstÄnden zum Trotz in ihrem GemÅt zu stÄrken und nicht im Dienste des intellektuellen Wissens zu brechen, Bestandteil jedes Ästhetischen Austauschs sein? Wenn die Vermittlung Ästhetischer Gestaltungskompetenzen als unverzichtbarer Ausschnitt der allgemeinen Bildungslandschaft gesehen wÅrde, kÇnnte man daraus den Schluss ziehen, dies sprÄche dafÅr, dass auch herkÇmmliche Bildungssysteme den Schwerpunkt auf das prozessorientierte Lernen legen kÇnnten. Allerdings steht bei der Diskussion Åber diese Ästhetischen Lernmethoden oft die Frage zur Debatte, um welche gelernte TÄtigkeit, welches performative KÇnnen es sich handelt. Die PhÄnomene „KÇnnerschaft und Ésthetik“ werden von Dieter ThomÄ nicht als eindeutigen Widerspruch thematisiert, sondern als kritischer Versuch der AnnÄherung. Der Versuch, beide PhÄnomene in Einklang zu bringen, deckt sich mit dem Deleuze'schen Ansatz, die kÇnnerische Wiederholung und die ursprÅngliche Erfahrung miteinander zu vereinbaren. Die Voraussetzung fÅr eine solche gelungene Vereinbarung ist die FÄhigkeit des Lehrers, den SchÅler zu Åberzeugen, an seinen WiderstÄnden zu arbeiten, um WiderstandskrÄfte zur BewÄltigung bestehender ZwÄnge und EinschrÄnkungen im alltÄglichen Umfeld zu entwickeln. Der Ästhetische und pÄdagogische Austausch zwischen Lehrer und SchÅler vollzieht sich nicht nur aus der Perspektive der Ziel-Zweck-Relation. Komplexe ‚BedÅrfnis- und Neugierketten’ leiten den Prozess und ermÇglichen durch ihn eine Entwicklungsbiografie, die im idealen Fall zu einer 42 Ästhetisch-kreativen und gesellschaftlich-kritischen PersÇnlichkeit fÅhrt. Die Aufgabe des Lehrers ist dann, die OrientierungsfÄhigkeit zu begleiten und die ganzheitlichen Leistungen zu belohnen! Es wÄre verkehrt, diese Leistungen nicht zu bestÄrken und den Habitus zu tragen, Belohnung fÅr eine ganzheitliche Selbstreflexion sei weder notwendig noch leistbar. Die Notwendigkeit, den SchÅler bei seiner Selbstreflexion zu unterstÅtzen, wird gerade bei improvisierten Prozessen deutlich. Diese Prozesse ergeben sich nicht von selbst, sondern mÅssen geleitet werden und verlangen vom Lehrenden die hÇchste fachliche KÇnnerschaft ab. ‚Was ist ein SchÅler?’, das ist eine der schwierigsten Fragen in der Gesellschaftstheorie. Aus ihr erschlieàen sich weitere Fragen, die mit der TÄtigkeit des Lehrers eng verbunden sind: Inwieweit ist der Lehrer fÅr das Verhalten des SchÅlers verantwortlich? Handelt es sich um eine professionelle Verantwortung, eine moralische, eine emotionale? Ist der Lehrer immer von dem Wunsch geprÄgt, dem SchÅler zu gefallen? Inwieweit ist der Lernprozess eine Mischung von Imitation und LoslÇsung? Wer ist fÅr die 'Dosierung' dieser Komponenten verantwortlich? Die Begleitung des SchÅlers, das Coaching seiner Vorhaben, kann sich zu einer Geschichte der AbhÄngigkeit entwickeln, die eine klare Trennung zwischen der reinen Lehre und den LebensumstÄnden fast unmÇglich macht. Dem SchÅler stehe es frei, die Theorie und Praxis des Lehrers zu verwerfen, meint George Steiner. Zur Aufgabe des Lehrers gehÇrt es, den SchÅler zu ermutigen, diese Theorien und Praktiken kritisch zu betrachten. Er, der SchÅler, wird letztendlich derjenige sein, der die Perspektiven des Gelernten weiter trÄgt und mit seinem kritischen Blick entwickelt. Die SchÅler als „denkende MÄnner und Frauen sind keine Pawlowschen Hunde“ (Steiner). Die IntegritÄt des Lehrers spiegelt sich in seiner Klarheit, oft sogar Knappheit wider. Das schwierige Unterfangen, Ausbilder von Ausbildern zu sein, die Rolle des Maítre des Maítres zu Åbernehmen, bedarf einer hoch differenzierten ReflexionsfÄhigkeit seines SelbstverstÄndnisses. Der pÄdagogische Austausch mit Hilfe der Ästhetischen Medien und der Ausdruckssprachen versucht einen Einblick in eine Existenz zu vermitteln, die das Wesen als einen grenzenlosen Strom von kreativen HandlungsfÄhigkeiten sieht. Der Einklang des Denkens mit dem menschlichen KÇrper, von Spinoza erkannt und wahrgenommen, findet seine Existenz in der Ästhetischen Bildung. Die Ästhetische Begeisterung von irdischen Dingen bildet die Grundlage, Strukturen im Sinne des Handwerks zu erkennen und zu lernen, um den menschlichen Trieb zum Machen und zum Entwickeln zu befriedigen. Mit welchen Mitteln kann der TanzpÄdagoge eine optimale SubstantialitÄt von KÇrper und Geist des SchÅlers herstellen? Ist es nur der lebendige Unterricht mit ganzer Seele, der das kreative Handeln als Prozess des Werdens aufrechterhÄlt? Kann Leidenschaft Kompetenz ersetzen? Wer wÄre dann der bessere Lehrer, der gnadenlose Empirist oder die liebevolle Oma in der Nachmittags-AG? Wenn, nach den Worten von George Steiner, alle Ästhetischen BemÅhungen nur ein Ziel verfolgen – nÄmlich die Errichtung und Aufrechterhaltung einer Gesellschaft, die das freie und verantwortliche Denken und Handeln achtet – wie komplex und vielfÄltig mÅssen die FÄhigkeiten eines Lehrers sein? 43 Wir Lehrende sind oft eine Mischung aus kulturellem Elitarismus und ‚coolem’ Populismus. Die Notwendigkeit, alle Facetten der gesellschaftlichen VerÄnderungen pausenlos im Auge zu behalten – eine Herausforderung, der sich die Dozenten der Akademie Remscheid stellen mÖssen – reguliert zwar bei jedem ‚Meister’ den Drang zur ‚melodramatischen’ Selbstinszenierung, lenkt aber oft von der gewÖnschten und angestrebten kÖnstlerischen Tiefe und QualitÄt ab. Die jahrelange Erfahrung in dieser Profession bringt sicherlich eine substantielle SouverÄnitÄt mit sich. Im Hinblick auf die LegitimitÄt dieses Vorhaben stellen sich aber immer neue Fragen, je ganzheitlicher die Selbst- und Fremderwartungen werden. Die Leidenschaft und Begeisterung fÖr die Berufung, die Lust am Tun, wird durch Zweifel am Erfolg der Lehre getrÖbt. Wie lange noch soll der Sinn eines prozessorientierten Lernens verbreitet werden, ohne dass die Wirkung in einem gewÖnschten AusmaÑ sicht- und spÖrbar wird? Steiner nennt den Besitz der FÄhigkeit, einen anderen Menschen zu ‚belehren’, ein Geheimnis. Die Art der PÄdagogik, die die Akademie Remscheid vertritt, kann in der èffentlichkeit auch einen wunden Punkt treffen. Sie zieht einigen Personen, die sich als PÄdagogen verstehen, den Teppich der AutoritÄt weg. Sie hinterfragt die Notwendigkeit des so genannten Pseudoempirismus und stellt die LegitimitÄt einiger Bildungssysteme in Frage. Da die Akademie Remscheid so einflussreich wie mÜglich in der Breitenarbeit mitwirken mÜchte, mÖssen wir uns auch den folgenden Fragen und Schwierigkeiten stellen: Inwieweit kann der Lehrer die IndividualitÄt und UnabhÄngigkeit des SchÅlers stÇren? Wie weit darf eine Interaktion, die auf AutoritÄt aufgebaut wird, zugelassen werden? Wann ist eine ‚StoffÖberlieferung’ eine Einsicht in neue Denkweisen, wann eine Weitergabe von ‚Denkschablonen’? Wenn das Lehren eine aufwÄrtsgerichtete Öberschreitende Bewegung ist, ein performativer Akt, der den Prinzipien des kÖnstlerischen Prozesses unterliegt, dann kann die Kritik an den herkÜmmlichen Bildungssystemen nur herb ausfallen. Die Lehre, die sich ausschlieÑlich den messbaren Lernmethoden unterzieht und so den SchÖler weiser macht, gibt es nicht. Da wir in einer unÖbersichtlichen Zeit leben, die menschliche Intuition aber nicht aufgeben dÖrfen, trÄgt der Lehrer zwangslÄufig die Verantwortung, diese Intuition zu fÜrdern. Es geht um eine FÜrderung, die aus allen Ressourcen der menschlichen KreativitÄt schÜpfen muss: zusÄtzlich zu den fachlichen Kompetenzen sollte der Lehrer Öber einen Optimismus verfÖgen, der ihm ermÜglicht, im Diskurs der gesellschaftlichen Unsicherheit einen kreativen Ansatz als grundstÄndige Lebenseinstellung herzustellen. Die FÜrderung der Selbstgestaltungspotentiale, durch den Ästhetischen Ansatz unterstÖtzt, ist kein Ansatz, der an der RealitÄt vorbei stattfindet. Er ist der Weg, der durch die RealitÄt fÖhrt und ein neues SelbstverstÄndnis hervorruft. Diese pÄdagogische RealitÄt nimmt das Individuum in seiner „leiblich-seelisch-geistigen TotalitÄt“ wahr (Rolf). Es wird an seinen alltÄglichen UmstÄnden abgeholt und bei seinem „Projekt der Selbstbestimmung“ (Rolf) begleitet. Der Mehrwert, den ein PÄdagoge leistet, wird an seiner FÄhigkeit erlebbar, „einem mÜglichen GlÖck in den Tiefen der AlltÄglichkeit auf kluge Weise nachzuspÖren“ um dem Lernenden „sinnliche wie rationale Wege […] zu erÜffnen“ (Rolf). Eine GegenÖberstellung von ‚Ästhetischer Existenz’ und ‚praktischer Vernunft’ ist eine althergebrachte Denkschablone, die den ganzheitlichen PÄdagogen tÄglich herausfordert. Diese populÄre Denkweise steht der Vision und Notwendigkeit, beide Facetten im Lernprozess zu vereinbaren, skeptisch gegenÖber. Bei dieser tÄglichen Herausforderung ist Grund zur Vorsicht geboten. 44 Die messbaren Instrumente des Bildungssystems behaupten weiter, dass kreative, prozessorientierte Lernmethoden sich an der RealitÄt vorbei abspielen. Dass diese Lernmethoden keinen charmanten Elitarismus bedeuten, sondern einen neuen anthropologischen Horizont erÇffnen, ist mit diesen Messinstrumenten so gut wie unmÇglich vorzulegen. Vorzulegen ist aber die TragfÄhigkeit der Methoden. Aus Berichten der Langzeitteilnehmer an den Qualifizierungen der Akademie Remscheid lÄsst sich ablesen, dass gerade die Ambivalenz zwischen den erlernten Methoden und dem beruflichen Alltag zu konstruktiven Herausforderungen und grundsÄtzlichen äberlegungen Åber die Profession des Lehrers fÅhrt. Die neuen maátres werden also auf ihren ‚Weg’ geschickt, um ihre eigene professionelle Interpretation zu entwickeln. Ein Beispiel: Die Kinderakademie, ein Projekt der Autostadt in Wolfsburg, fÜrdert interdisziplinÄre Tanzprojekte mit Kindern und Jugendlichen aus der Umgebung. Die jungen Menschen arbeiten Öber mehrere Monate mit Choreographen, die ihre Qualifikation unter anderem an der Akademie Remscheid erworben haben. Die Reichweite der Qualifikation der Choreographen kann erst ermessen werden, wenn man den kÖnstlerischen Lerneffekt der Kinder und Jugendlichen beobachtet und begleitet. Die Methoden, die der Arbeit der Choreographen zu Grunde liegen, sind keineswegs die Weitergabe von ’Koffer- und Kistentheorien’ oder das ‚UmfÖllen’ von festgelegten Tanzformen. Das Prinzip, das der Arbeit zu Grunde liegt, ist eines vom Lernen zu Lernen sowie Lernen zu ‚Entlernen’. Die FÄhigkeit, das prozesshafte Lernen als umfassende Trainingswissenschaft zu vermitteln, ermÜglicht den Choreographen und TanzpÄdagogen, Wissen so weiterzugeben, dass sich der kÖnstlerische Prozess auch auf Training und Leistung bezieht. Dass die Orientierung auf das Produkt nur einen Teil des Arbeitsprozesses ausmacht, bedeutet eine Umkehrung in der kÖnstlerischen Denkweise. Das effektvolle Hineinwachsen der Kinder und Jugendliche in den Lernprozess basiert eher auf der FÄhigkeit des lehrenden KÖnstlers als auf der Vermittlung einer wiederholten ábung. Es geht um ein „aktives mentales Ergreifen der [Ästhetischen] Stoffe“ (Sloterdijk). Die Kunst, am Stoff zu Öben und gleichzeitig den „mirakulÜsen Zirkel aus KÜnnen und Anwenden“ in Einklang zu bringen, kann als Wunder des kÖnstlerischen Lernmodells verstanden werden. Der Sprung von der tÄnzerischen Kompetenz zur allgemeinen Lernkompetenz findet statt, wenn die Kunst des KÜnnens ein Individuum hervorbringt, das sich in jeder Lage helfen kann. Die kÅnstlerische äberlegenheit wird oft mit der kreativen äberlegenheit Åber alltÄgliche Herausforderungen verwechselt. PÄdagogisch gesehen ist allein letztere erstrebenswert, sie kann aber von der performativen GrÇàe einer Person oft nicht getrennt werden. Da in den performativen Ausdrucksmitteln das äben in der Praxis des Lernens immer eingebettet ist, reicht die Improvisation sehr viel weiter und vollendet das KÇnnen zu einer Meisterschaft. In der Weitergabe komplexer Lernmodelle praktiziert der Lehrer ein UnterstÅtzungs- und Motivationsvorhaben, das den freien bzw. unfreien Willen zur Diskussion stellen soll. Es stellen sich Fragen wie: Wie wird das Streben des Lehrers nach einem Lernerfolg mit dem freien Willen des SchÅlers vereinbart? Wie hilft der QualitÄtsanspruch des Lehrers dem SchÅler, Åber seine Krisen hinwegzukommen? Ist die VerschrÄnkung der beiden Willen allein die Grundlage fÅr einen qualitativen Lernprozess? 45 Zwischen dem äben der technischen Form und dem ‚Entlernen’ der vorgefertigten Schablonen liegt der Bereich der gebundenen SpontaneitÄt. Diese SpontaneitÄt ist nur mÇglich, wenn die Ästhetische Bildung auf einer ‚Entschulung’ der Lernsysteme aufbauen kann. Als Ziel stehen die FÇrderung der Polyintelligenz der jungen Menschen und das ressourcen- und prozessorientierte Handeln vor Augen. Der Lehrende als Vorbild fÅr die nÄchste Generation von Lehrenden arbeitet immer weiter an der Wiederholung der OriginalitÄt – ein Widerspruch, mit dem er Frieden schlieÑen muss. Dieser Frieden kann ausschlieÑlich auf einer langen zeitlichen Erfahrung aufgebaut werden, die dem Subjekt/Lehrer auch ermÜglichen kann, die Bedeutung seiner Erfahrungswerte zu schÄtzen und im Alltag einzubringen. Nur wenn die Erfahrungswerte sowohl emotional, kognitiv und kinÄsthetisch vorhanden sind, kann der TanzpÄdagoge die QualitÄten der Bewegung und ihre Wirkung auf den SchÖler differenziert nachvollziehen. An dieser Schnittstelle treffen sich die Aussagen von Moshe Feldenkrais Öber das Lehren und die von Theodor Adorno Öber die Theorie der àsthetik. Beide unterstreichen die Wichtigkeit des gleichzeitigen Sehens und Wahrnehmens sowie die BeschÄftigung mit der Fragestellung: Wie sehe ich was und wie nehme ich was wahr? Unser Versuch, Ésthetik zu erklÄren und spÅrbar zu machen, zwingt uns, bestimmte Kriterien fest zu legen und zu beurteilen, „damit diese (zum Beispiel) auf den Gegenstand Tanz angewendet werden kÇnnen“ (Ficola). Diese Anwendung bewegt sich zwischen der festgelegten Struktur und der geÅbten EntscheidungsfÄhigkeit. Der KÇrper kann eine Form gelernt haben, zum Beispiel den Arm vor dem Brustkorb auszustrecken (Struktur). Die Person kann aber entscheiden, gleichzeitig zu gehen, zu laufen oder zu drehen (verschiedene EntscheidungsmÇglichkeiten). Das Gelernte kann vom Gehirn jederzeit wiedergegeben werden und wird irgendwann zu einem motorischen Muster(-Wissen), wobei die Beziehung zu anderen KÇrperteilen, zum Raum und gegebenenfalls zu anderen Mitwirkenden sich pausenlos verÄndert (improvisierte EntscheidungsfÄhigkeit). Das Lehren von Tanz kann als Versuch verstanden werden, dieses komplexe ‚Unternehmen’ kompetent und leidenschaftlich zu begleiten. „Wahre Lehre kann ein schrecklich gefÄhrliches Unternehmen sein. Der lebende Meister nimmt in seine HÄnde das Innerste seiner SchÅler, den zerbrechlichen und entflammbaren Stoff ihrer MÇglichkeiten. Er legt Hand an das, was wir uns als die Seele und die Wurzeln des Wesens vorstellen[…]Ohne ernste Besorgnis, ohne bekÅmmerte Ehrfurcht fÅr die damit verbundenen Risiken zu lehren ist leichtfertig. Es ohne RÅcksicht auf die individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen zu tun, die sich ergeben kÇnnen, ist Blindheit. Groà zu lehren heiàt, im SchÅler Zweifel zu wecken, ihn zum Andersdenken auszubilden[…] fÅr die Abreise zu schulen („Geht nun davon“, gebietet Zarathustra). Ein richtiger Meister sollte zum Schluà allein sein“ (Steiner). 46 Literatur: Bertram, Georg W.: „Improvisation und NormativitÄt“, in: Improvisation, Brandstetter, Gabriele, Bormann, Hans-Friedrich, Matzke, Annemarie (Hg), Bielefeld, 2010 Ficola, Daniell’: „FÅhlen und Erkennen. äberlegungen zu einer praktischen Kritik der NeuroÄsthetik“, in: Jahrbuch Tanzforschung, Hamburg, 2006. Rolf, Thomas: „Normale Selbstverwirklichung. äber Lebenskunst und ExistenzÄsthetik“, in: Kritik der Lebenskunst, Hrsg. Kerstin und Langbehn, Frankfurt/M, 2007. Shusterman, Richard: Body Consciousness, New York, 2008. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben Ändern, Frankfurt/M, 2009. Steiner, George: Der Meister und seine SchÅler, MÅnchen, 2004. ThomÄ, Dieter: „Lebenskunst zwischen KÇnnerschaft und Ésthetik. Kritische Anmerkungen“, in: Kritik der Lebenskunst, Hrsg. Kerstin und Langbehn, Frankfurt/M, 2007. 47