Heteronormativität und Homosexualitäten (PDF Available)

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R. Bartel, I. Horwath,
W. Kannonier-Finster, M. Mesner,
E. Pfefferkorn, M. Ziegler (Hg.)
Heteronormativität und
Homosexualitäten
transblick
Sozialwissenschaftliche Reihe
3
HerausgeberInnen:
Waltraud Kannonier-Finster, Christian Fleck, Horst Schreiber,
Meinrad Ziegler
R. Bartel, I. Horwath,
W. Kannonier-Finster, M. Mesner,
E. Pfefferkorn, M. Ziegler (Hg.)
Heteronormativität und
Homosexualitäten
Die Buchreihe transblick veröffentlicht Arbeiten, die der sozialwissenschaftlichen Aufklärung verpflichtet sind.
Ein Blick richtet sich auf Phänomene und Verhältnisse, die ­wenig beachtet oder im Dunkeln gehalten werden.
Ein anderer Blick bietet Beschreibungen und Analysen, die eine unkonventionelle Sichtweise auf das soziale Leben eröffnen.
transblick thematisiert gesellschaftliche Widerspruchs­er­fah­run­gen
und Dominanzverhältnisse und fragt, was wir als vernünftig, gerecht
und der menschlichen Würde angemessen erachten.
transblick will Denkprozesse fördern und auf Handlungsperspektiven
verweisen. Die Bücher sollen in Inhalt und Form auf­regen und einem
Transfer sozialwissenschaftlicher Sichtweisen in interessierte Öffentlichkeiten dienen.
transblick benutzt eine Sprache, die auch jenen Personen und Gruppen das Mitdenken und Mitreden ermöglicht, die außerhalb des akademischen ­Diskurses leben und handeln.
transblick soll Frauen und Männer ansprechen, die sowohl dem „Darüberhinaus“-Schauen als auch dem „Hindurch“- oder „Quer-durch“Denken ­etwas abgewinnen können.
StudienVerlag
www.gaismair-gesellschaft.at
Innsbruck
Wien
Bozen
Inhalt
Das Zustandekommen dieser Publikation wurde ermöglicht durch eine internationale Tagung unter gleichem Titel.
Die OrganisatorInnen waren :
KARL FRANZENS UNIVERSITÄT
JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT
INNSBRUCK
LINZ
INSTITUT FÜR SOZIOLOGIE
INSTITUT FÜR SOZIOLOGIE
Vorwort der HerausgeberInnen
7
Rainer Bartel
Zur Entstehungsgeschichte des Sammelbandes
9
Meinrad Ziegler
Einleitung:
Heteronormativität und die Verflüssigung des Selbstverständlichen –
theoretische Kontexte13
Alice Pechriggl
Naturrechtliche „Heteronormativität“ vs. politische Normsetzung.
Zur Kritik von Diskursen über die Norm und über diese hinweg …25
© 2008 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck
E-Mail: [email protected], Internet: www. studienverlag.at
Antke Engel
Gefeierte Vielfalt. Umstrittene Heterogenität.
Befriedete Provokation.
Sexuelle Lebensformen in spätmodernen Gesellschaften43
Gedruckt mit Unterstützung von:
LINZER
HOCHSCHULFONDS
Layout, Satz: Willi Winkler, neusehland.at
Umschlag: Willi Winkler nach einer Idee von Waltraud Kannonier-Finster.
Fotonachweise: stocksnapper (U1), photocase©cydonna (U4)
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-7065-4529-7
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem
anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer
Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Phil C. Langer
Paradoxes Begehren.
Zur Bedeutung heteronormativer Männlichkeitsbilder
in der Psychodynamik von HIV-Neuinfektionen
65
Christoph Treiblmayr
Von „bewegten Männern“ und „queeren Gender-Utopien“.
Männliche Homosexualitäten im deutschen Kino der 1990er Jahre
85
Christine M. Klapeer
Für eine neue Grammatik der Anerkennung.
Eine kritische Inspektion unterschiedlicher Anerkennungskonzeptionen
für eine Theorie und Politik im LGBT-Kontext109
Vorwort
Sushila Mesquita
Heteronormativität und Sichtbarkeit129
Die AutorInnen und HerausgeberInnen149
Im November 2006 fand an der Johannes Kepler Universität in Linz/Österreich die
Tagung „Heteronormativität und Homosexualitäten. Forschung in Anknüpfung an
Michael Pollak“ statt. Die Veranstaltung stellte die gesellschaftliche Norm der Heterosexualität als zentrales Machtverhältnis zur Diskussion. Wir wollten damit an
eine aktuelle kritische Auseinandersetzung anknüpfen. Michael Pollak, ein aus Linz
stammender, vor allem in Frankreich anerkannter Soziologe und im Jahr 1992 zu
früh verstorben, hat mit seinen Studien zu homosexuellen Milieus einige wichtige
Wegmarken für ein solches Vorhaben gesetzt.
Bei der Tagung fanden sich ForscherInnen aus heterosexuellen, schwulen, lesbischen, queeren Zusammenhängen im In- und Ausland zu einer gemeinsamen
Debatte zusammen. Es waren RepräsentantInnen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen, die hier ins Gespräch kamen. Spürbar war bei der Tagung, dass viele
Teilnehmende nicht nur aus einem rein akademischen Interesse heraus gekommen
waren. Dass es sich auch um AkteurInnen sozialer Bewegungen handelte, die sich
aufeinander einließen, war durchaus anregend.
Die Idee zur Organisierung der Tagung kam von der Homosexuellen Initiative
(HOSI) Linz. Als engagierter Teil der Zivilgesellschaft wollte sie durch die Koopera­
tion mit der Universität ein Zeichen der Sichtbarkeit für homosexuelle Lebensformen in einem anerkannten Feld der kulturellen und politischen Öffentlichkeit setzen. Als Partner für dieses Vorhaben fanden sich das Institut für Soziologie und das
Institut für Frauen- und Geschlechterforschung, beide von der Universität Linz, und
das Institut für Soziologie der Universität Innsbruck. Das gemeinsame Projekt betonte die Notwendigkeit, die starren polaren Muster von Hetero- und Homosexualität aufzuweichen und Platz zu schaffen für vielfältige Formen von gelebter Sexualität
und Identität. In einer schwierigen Phase der Realisierung war wiederum das Engagement der HOSI Linz von Bedeutung: Sie übernahm die materielle Absicherung der
Veranstaltung.
Die in diesem Buch versammelten Beiträge gehen auf diese Tagung zurück. Mit
den ausgewählten Texten möchten wir Leserinnen und Leser ansprechen, die sich
mit der Ambivalenz – den einschränkenden wie den befreienden Momenten – von
sexuellen Identitätskonstruktionen und Identitätspolitiken und ihren sozialen Konsequenzen beschäftigen wollen. Darüber hinaus stellen einige Beiträge – durchaus
Zur Entstehungsgeschichte
des Sammelbands
widersprüchliche – gesellschaftliche Entwicklungen im Hinblick auf die Anerkennung von Lebensformen jenseits des Prinzips der Heteronormativität und jenseits
von Identitätszwängen zur Diskussion.
Die HerausgeberInnen, Jänner 2008
„Vom Mythos des Verschwindens der Homosexualität“ sprach im März 2004 der
Berliner Soziologe Michael Bochow an der Johannes Kepler Universität (JKU) Linz.
Vortragsabend und Vortragsthema waren Ergebnis eines erstmaligen und vorerst
noch losen Zusammenwirkens des Instituts für Soziologie der JKU, der Österreichischen HochschülerInnenschaft an der JKU, der Aidshilfe Oberösterreich und
der Homosexuellen Initiative (HOSI) Linz. Die lange und angeregte Diskussion im
Hörsaal fand ihre Fortsetzung schließlich in einem informellen Rahmen. Dort war
es auch, dass der Gastreferent über den unter so manchen TeilnehmerInnen noch
wenig bekannten Soziologen Michael Pollak zu erzählen begann: Der 1948 in Wien
gebürtige Pollak absolvierte an der damaligen Linzer Hochschule für Sozial- und
Wirtschaftswissenschaften ein Soziologiestudium, bevor er, nach einer ersten Kontaktaufnahme mit Pierre Bourdieu, nach Paris ging. Pollak machte im Ausland Karriere, ohne seinen Weg zurück nach Österreich zu finden. Im breiten Spektrum seiner Forschungsinteressen fand sich auch die empirische Erforschung homosexueller
Milieus im Spiegel der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Speziell untersuchte er das Verhalten schwuler Männer im Zeichen möglicher Bedrohung durch
das auch sexuell übertragbare HI-Virus.
Die Anregung Michael Bochows, sich seines gelegentlichen Kooperationspartners
Pollak stärker zu entsinnen, versickerte nicht, sondern setzte sich im Bewusstsein fest,
um als Wunsch zur Aktion und als unnachgiebiges Interesse unter einigen Mitgliedern der spät­abendlichen Diskussionsgruppe rund um den Impuls gebenden Gastvortragenden immer wieder aufzukommen. Wie aber könnten, sollten oder wollten die Linzer AkteurInnen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft der Forschung
­Pollaks, zwölf Jahre, nachdem dieser in Paris an den Folgen von Aids gestorben war,
gerecht werden? Es entstand die Idee einer Tagung. Diese Idee wurde zurück an die
JKU getragen: anfangs noch wenig konkret, dafür aber von Anfang an kontrovers.
Die Verhandlungen mit der JKU rissen trotz unterschiedlicher Auffassungen nicht
ab und brachten schließlich konkrete Ergebnisse.
Sozialwissenschaftlich scheint mir an dem gemeinsamen Unternehmen Folgendes
bemerkenswert: Zwei gänzlich unterschiedliche Organisationen mit differenten Or
ganisationskulturen waren am Planungsprozess beteiligt: Sollten, wollten und konnten sie sich zu einem Joint Venture (einem gemeinsamen Wagnis im wahren Sinn des
Worts) zusammenfinden? Auf der einen Seite die stürmisch-emanzipatorische HOSI
Linz, Teil der Zivilgesellschaft, Interessensvertreterin und Repräsentantin der Lesben- und Schwulenbewegung in Oberösterreich, auf der anderen Seite das Institut
für Soziologie und das Institut für Frauen- und Geschlechterforschung der JKU als
fachlich einschlägige Einrichtungen emanzipationsrelevanter öffentlicher Forschung
und Lehre in Ober­österreich, gleichsam der institutionalisierte Wille zur Tat und
der Rahmen für jene Menschen, denen das Thema, wiederum ungewöhnlich für die
Linzer Uni, ein wissenschaftliches Anliegen war und ist.
Da mit dieser Konstellation zumindest in der Region Oberösterreich Neuland betreten wurde, fehlte es an einem bewährten Konzept zur reibungsfreien Integration,
zumal die verfügbaren Zeitressourcen auf Grund ihrer Knappheit mehr auf das Ziel
denn auf den Prozess konzentriert wurden. Obwohl dadurch der Weg relativ vernachlässigt wurde, kam das Ziel doch immer deutlicher vor Augen. Und seine Erreichung wurde umso stärker angestrengt, als für die in einem solch neuartigen Projekt
Unerfahrenen überraschend positive Rückmeldungen kamen, und zwar sowohl aus
der lesbigay community als auch aus der scientific community: Auf Seiten der Bewegung von der Art „Dass ihr so etwas zusammenbringt!“, auf Seiten der Wissenschaft
mit der Botschaft „Dass ihr euch so etwas traut!“ Insofern möge dem Ergebnis des
Joint Venture in historischer wie inhaltlicher Hinsicht besondere Aufmerksamkeit
zukommen.
Ein unerwartetes Hindernis stellte sich jedoch in den Weg, das wohl auch mit der
Abhandlung der immer noch sensiblen Fragestellungen und deren Ergebnissen –
nicht zuletzt in Form des vorliegenden Bandes – zusammenhängt: die ernüchternde
Erkenntnis, dass ein solches Projekt beinahe nicht finanzierbar sein sollte (das Defizit hielt sich schließlich doch in Grenzen). Immerhin handelte es sich um ein Projekt, das in den Augen seiner BetreiberInnen wissenschaftlich-hochschuldidaktisch
ebenso wie gesellschaftlich-politisch zentral war: als eines, welches die Privatheit des
Sexus mit der Öffentlichkeit der res publica verbinde.
Inhaltlich sollte die Tagung nicht in erster Linie vom Menschen und Forscher
Michael Pollak handeln, jedoch sollte sie seinen Blickwinkel einnehmen und seine
Arbeitsweise aufnehmen. Und sie sollte nicht nur die Homosexualität behandeln,
sondern auch und gerade ihren Antipoden, die Heterosexualität, berücksichtigen
und die darin eingearbeiteten Diskriminierungsformen gegenüber allen davon abweichenden Lebensformen aufzeigen.
„Heteronormativität und Homosexualitäten. Forschung in Anknüpfung an
­Michael Pollak“ hieß schließlich die Tagung, die am 9. November 2006 an der JKU,
und nicht zuletzt mit großzügiger Unterstützung durch die Universität, insbesonde10
re in Person des Vizerektors für Außenbeziehungen, Professor Friedrich Schneider,
ihren Ausgang nahm. Sie fand unter Beachtung und mit Unterstützung öffentlicher
Stellen und bei aktiver Beteiligung statt, die höher und vor allem auch intensiver
war, als es für die „österreichischen Verhältnisse“ zu erwarten stand. Eine besonders
große Bestätigung und einen ebensolchen Auftrag, wohl auch für den hier vorliegenden Band, stellte die Eröffnung durch den Rektor der JKU, den Zeithistoriker
und Unterstützer der Tagung, Professor Rudolf Ardelt, dar, der die „Flucht“ Michael
Pollaks aus der geistigen Enge seiner damaligen Heimat thematisierte und die Anwesenden ermunterte und aufrief, ihre Botschaft hinauszutragen.
Ein Merkmal der Tagung und dieses Sammelbandes war bzw. ist die Multidisziplinarität. Ein weiteres Tagungskennzeichen war ihre Brückenschlagfunktion: von der
Wissenschaft zur gesellschaftspolitischen Praxis. Besonderen Ausdruck fand diese
Konstellation in der Podiumsdiskussion auf dem Campus, an der VertreterInnen von
lesbigay community, scientific community und political community teilnahmen. Die­
se von der JKU als Abrundung der Tagung organisierte Diskussionsveranstaltung
stieß immerhin auf großes Interesse, bezeichnenderweise fast ausschließlich von außerhalb des Campus. Insofern erfüllte dieses „Campus-Gespräch“ eine doppelt anregende Funktion: als „reales“ Feed-back sowohl für die WissenschafterInnen der
Tagung und HerausgeberInnen dieses Bands als auch für das Management der JKU
im Hinblick auf Heteronormativität.
Die HerausgeberInnen dieses Buches sind mit dem Programmkomitee der Tagung
nahezu identisch. Sie decken sich mit den drei wesentlichen ProjektpartnerInnen der
Tagung. Trotz dieser „Personalunion“ kann und will sich der vorliegende Sammelband nicht als bloßer Tagungsband verstehen. Vielmehr will er eine Auswahl aus den
und eine Weiterentwicklung von Tagungsbeiträgen präsentieren. Sie alle handeln von
der grundlegenden und vielschichtigen sozialen Dominanz der Heterosexualität als
eine dem gesellschaftlichen Leben Struktur gebende Norm. Mit dem vorliegenden
Sammelband wollen wir darauf reagieren, dass lesbische und schwule Individuen
und Szenen nicht mehr die einzigen sind, die sich durch die herrschenden Normen
der Heterosexualität in ihrer Lebensführung eingeschränkt fühlen. In den letzten gut
15 Jahren haben sich die Szenen vervielfältigt, die heterosexuelle Identitätskonstruktionen und Identitätspolitiken als normative Zwänge erleben und sozial wie körperlich einen anderen Umgang mit ihrer Geschlechtlichkeit versuchen oder pflegen.
Rainer Bartel
11
Meinrad Ziegler
Einleitung:
Heteronormativität und die Verflüssigung
des Selbstverständlichen
– theoretische Kontexte
Dieses Buch lädt dazu ein, unser alltägliches Wahrnehmen von und Denken über
Geschlechtlichkeit in Frage zu stellen. Die meisten Menschen gehen fraglos davon
aus, dass unsere soziale Welt von Frauen und Männer bewohnt wird, dass die Natur
diese zwei Geschlechter hervorgebracht hat und dass mit dieser natürlichen Eigenart
einige grundlegende, kaum veränderbare Handlungsdispositionen verbunden sind.
Die hier versammelten Beiträge haben einen anderen Ausgangspunkt: Es ist nicht
die Natur, die uns in eine heterosexuelle Welt hineinstellt. Dass wir das soziale Leben
„heterosexualisiert“ (Hartmann/Klesse 2007, S. 9) erfahren, ist viel mehr eine Folge von historisch gewachsener Praxis und institutionalisierten Bahnen des Redens,
Denkens und Wahrnehmens. Der Begriff der Heteronormativität bringt zum einen
diese sozial hergestellte Heterosexualität zum Ausdruck und verweist zum anderen
auf das Moment der Macht in diesem Prozess: Die Heterosexualität wird als Norm
der Geschlechterverhältnisse benannt (vgl. Wagenknecht 2007).
Heteronormativität wirkt als strukturierendes Prinzip auf zwei Ebenen: Als Konzept, das die Menschen in die Form zweier – vorgeblich – körperlich und sozial
eindeutig voneinander unterschiedener Geschlechter drängt, stellt es erstens eine
Ordnung im Hinblick auf Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen her,
die alle anderen nicht-heterosexuellen Formen des Lebens und Begehrens ausgrenzt.
Als Konzept, das die Heterosexualität als umfassendes gesellschaftliches Ordnungssystem etabliert hat, strukturiert es zweitens das Zusammenleben der Menschen
auch jenseits der Sexualität und des Begehrens. Das Prinzip der Heteronormativität ist in die gesellschaftliche Arbeitsteilung, in die Institution der Familie, in die
herrschenden Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbeziehungen und in deren
Vorstellungswelt eingeschrieben.
12
13
Die Beiträge setzen sich in kritisch-parteinehmender Perspektive mit der Norm
der Heterosexualität auseinander. Sie greifen in die vielfältigen theoretischen Debatten zum Konzept der Heteronormativität ein und verweisen auf problematische
Folgen dieses Konzepts im Zusammenhang mit Lebensformen, die sich diesem nicht
unterordnen. Viele dieser Argumentationen nehmen auch auf aktuelle politische
Entwicklungen und Anliegen der sozialen Bewegungen Bezug, die das herrschende
Geschlechterregime beengend finden. Nicht zuletzt geht es den Autorinnen und Autoren darum, Fragen zur Diskussion zu stellen, die in einer Gesellschaft aufbrechen,
die die Heteronormativität als regulierendes Prinzip aufzugeben beginnt oder sich
zumindest einer kritischen Auseinandersetzung mit den heteronormativen Verhältnissen öffnet.
Woher kommt eigentlich der kulturelle Impuls, grundlegende und scheinbar bewährte Begriffe, die traditionell unser soziales Leben strukturieren, in Frage zu stellen?
Zweifellos ist der allgemein gesellschaftliche Hintergrund im Zusammenhang mit
der permanenten Umwälzung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse durch die Entwicklung des industriellen Kapitalismus wichtig. Die moderne
Produktionsweise zeichnet sich durch Unsicherheit und Bewegung aus. Das gilt für
den materiellen Bereich der Dinge und Waren und gilt ebenso für den kulturellen
Bereich von Sinn und Bedeutung. Nicht selten veralten Vorstellungen, Ideen, Konzepte rascher, als sie sich in den Köpfen festsetzen können. Der dynamische Wandel
hat mittlerweile alle Bereiche unseres Lebens mehr oder weniger radikal in Frage
gestellt. Am Beginn des dritten Jahrtausends wachsen Generationen in eine Gesellschaft hinein, in der sich grundlegende Vorstellungen und Praktiken des Lebens, des
Arbeitens und Liebens, des Lernens und Konsumierens völlig anders darstellen als
in jener Zeit, in der ihre Eltern Jugendliche waren. Der Stellenwert von Traditionen
verändert sich. Zum einen deshalb, weil die überkommenen Lebensformen dem Interesse im Wege stehen, Dinge und Menschen immer vollständiger in Waren zu verwandeln und den Imperativen der Ökonomie unterzuordnen. Zum anderen deshalb,
weil der mit dem Kapitalismus verbundene Prozess der umfassenden Rationalisierung auch die Bereiche des Denkens erfasst. Das bedeutet: Wir reagieren nicht nur
passiv, vielleicht verunsichert, auf die gesellschaftlichen Veränderungen, wir treiben
sie durch die Produktion von Wissen und wissenschaftlicher Forschung sowie durch
normative Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit und „Wahrheit“ voran. Den sozialen und kulturellen Ordnungen wird nicht mehr fraglos Folge geleistet, sondern sie
müssen sich als sinnvoll und brauchbar legitimieren. Vor diesem Hintergrund ist es
nur logisch, dass ein kulturelles Konzept wie das Geschlecht ebenso einer kritischen
Prüfung unterzogen wird, wie wir das bei den Begriffen Nation, Identität oder Familie fast schon gewohnt sind. In der Zeit des radikalen Wandels, den die Moderne sich
14
selbst auferlegt hat, kann niemand davon ausgehen, dass gesellschaftliche Bereiche
von Umwälzungen und von Umgestaltungen ausgespart bleiben.
Es ist keineswegs ein so neuer Gedanke, dass das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit im Hinblick auf seine Naturgegebenheit und Unveränderlichkeit in Frage
gestellt wird (vgl. Wetterer 2004; Wagenknecht 2007). Mit Blick auf die psychische
Entwicklung von geschlechtlicher Identität hatte schon Sigmund Freud eine Position, die sehr viel differenzierter war als die Annahme einer natürlichen Männlichkeit
und Weiblichkeit, die im Psychischen dann nur mehr entsprechend repräsentiert
werden musste. Freud (1920) differenzierte zwischen somatischem und psychischem
Geschlechtscharakter sowie der Richtung in der Wahl der Liebesobjekte. Alle drei
Momente der Geschlechtlichkeit könnten variabel miteinander kombiniert sein. Ein
männlicher Körper muss also nicht mit einer männlichen Identität verbunden und
durch das Begehren nach einer Frau bestimmt sein. Auf diese und einige andere
Hinweise bei Freud aufbauend (vgl. auch Alice Pechriggl in diesem Band) versteht
der Psychoanalytiker Wolfgang Mertens (1992; vgl. auch Rauchfleisch 1996, S. 45
ff.) die Geschlechtsidentität als eine komplexe Struktur, die sich aus einer Kern-Geschlechtsidentität, der Geschlechtsrolle und der Geschlechtspartner-Orientierung
zusammensetzt.
Die Kern-Geschlechtsidentität wird bei Mertens als relativ ursprüngliches, bewusstes und unbewusstes, Erleben verstanden, bezüglich des biologischen Geschlechts
ein Junge oder ein Mädchen zu sein. In den Entwicklungsprozess dieser Identität
würden mehrfache Erfahrungen einfließen: Erfahrungen in sensomotorischen und
psychosexuellen Bereichen sowie Erfahrungen aus Interaktionen mit den Eltern. Es
sei davon auszugehen, dass Kinder etwa gegen Ende des zweiten Lebensjahres zu der
Erkenntnis kommen, dass ihr Geschlecht eine irreversible Struktur darstelle. Eine
darauf aufbauende Komponente der Geschlechtsidentität bilde die Geschlechtsrolle.
Sie sei durch kulturspezifische Normen und Erwartungen geprägt, die das eigene
Verhalten sowie das Verhalten der InteraktionspartnerInnen bezüglich des jeweiligen
Geschlechts definieren. Als Komplex von normativen Vorstellungen, der unter dem
Eindruck äußerer Einflüsse gebildet wird, unterliege die Geschlechtsrolle lebenslang
einem Prozess der Veränderung. Die Orientierung auf GeschlechtspartnerInnen als
dritte Komponente sei noch weitgehender für kulturelle Einwirkungen und die Verarbeitung lebensgeschichtlicher Erfahrungen geöffnet und führe zu einer Vielfalt von
möglichen sexuellen Erlebens- und Beziehungsformen.
In der soziologischen Interaktionstheorie hat Harold Garfinkel (1967) davon gesprochen, dass die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht kontinuierlich in sozialen Interaktionen und Praktiken hergestellt werden müsse. Anhand einer Fallstudie über
eine Transsexuelle macht er deutlich, dass kaum Situationen denkbar seien, in denen
die Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter unwichtig wäre und die Arbeit
15
am eigenen Geschlecht, das doing gender, nicht geleistet werden müsste. Für diejenigen, die sich mit dem Geschlecht des eigenen Körpers identifizieren, vollziehe sich
diese Arbeit in der Regel unreflektiert und habituell. Fehle es jedoch an dieser Identifikation, dann befindet sich die Person quasi auf einem permanenten Prüfstand.
Wie sich die soziale Konstruktion von Geschlecht in unterschiedlichen Kulturen
darstellt, ist in der Kulturanthropologie ein mehrfach aufgegriffenes Thema. Um
zu zeigen, wie der Alltagsverstand in der verwirrenden Vielfalt von Erfahrungen
eine Ordnung schafft, diskutiert Clifford Geertz (1987, S. 271ff.), gestützt auf einen
Aufsatz von Robert Edgerton im American Anthropologist, das Phänomen der Inter­
sexualität, vielfach auch Hermaphrodismus genannt. Es ist ein anatomischer Sachverhalt, dass es etwa drei Prozent von Menschen gibt, die deutlich sowohl männliche
wie auch weibliche Geschlechtsmerkmale aufweisen. Der Alltagsverstand, eine der
„ältesten Vorstädte der menschlichen Kultur“ (ebd., S. 267), schreibt dem Umstand
einer biologischen Uneindeutigkeit des Geschlechts in drei unterschiedlichen Kulturen eine jeweils andere Bedeutung zu und produziert damit völlig verschiedene
soziale Phänomene. Die erste Kultur, Nordamerika, begegnet diesem Phänomen mit
Abscheu. Darüber hinaus stellt das Thema die hoch entwickelte Industriegesellschaft
vor große Probleme bei der Verwaltung der Menschen. Muss so jemand den Militärdienst absolvieren? Kann die Person heiraten? Welchen Umkleidebereich soll sie
im öffentlichen Bad benutzen? Gewöhnlich wird auf Intersexualität so reagiert, dass
die betroffenen Personen mit großer Energie dazu ermutigt werden, ihr natürliches
Geschlecht auf eines der beiden in dieser Kultur möglichen zu reduzieren. Therapien
und schließlich die Chirurgie helfen, um die geschlechtlich unklar bestimmte Person
in eine Frau oder einen Mann zu verwandeln.
Auch bei den Navaho, der zweiten Kultur, handelt es sich beim Hermaphrodismus
um etwas Anormales. Jedoch gibt es nicht die Reaktion von Schrecken und Ekel,
sondern eher von Verwunderung und Ehrfurcht. Zwitter werden nicht nur geduldet.
Sie werden verehrt. Sie erscheinen als Personen, die mit göttlichem Segen ausgestattet sind und Glück und Wohlstand in einen Haushalt bringen können. Intersexuelle
sind von Natur aus reicher ausgestattet als Frauen und Männer. Sie können sowohl
Männer- als auch Frauenarbeit leisten. Eine vermutlich für jede Kultur merkwürdige
Tatsache wird hier anders interpretiert. Damit verwandelt sich dasselbe Phänomen
nicht in einen Umstand, den es zu beseitigen gilt, sondern in eine Erfahrung, die
wertzuschätzen es sich lohnt.
Eine dritte Interpretation und kulturelle Denkweise findet sich beim ostafrikanischen Stamm der Pokot. Bei ihnen gilt der Zwitter als nutzlos. „Es“ ist weder Mann
noch Frau, das sich nicht am Geschlechtsverkehr erfreuen kann, eine Erfahrung, die
bei den Pokot als eine der angenehmsten Dinge des Lebens betrachtet wird. Diese
Ethnie bringt, wie die Nordamerikaner, den Intersexuellen keinerlei Achtung entge16
gen. Sie reagiert allerdings auch nicht mit Abwehr und Abscheu. Intersexuelle werden für ein Versehen gehalten. Im Unterschied zu den Navaho sehen die Pokot im
Hermaphrodismus kein Geschenk, sondern den Ausdruck eines Fehlers ihrer Götter. Weil sie nicht in die kulturelle Ordnung passen, werden Intersexuelle manchmal
schon als Kinder getötet. Manchmal werden sie auch am Leben gelassen. Sie leben
dann ignoriert oder sozial vernachlässigt, als isolierte Individuen, und gelten nicht
als Angehörige der Gruppe.
Für Geertz zeigt das Beispiel, wie der Alltagsverstand arbeitet. Wie Religion, Wissenschaft oder Philosophie entwickle er Diskurse und dazugehörige Normen. In
unserem Zusammenhang verweist der Umgang unterschiedlicher Ethnien mit dem
Phänomen der Intersexualität darauf, wie Wahrnehmung, Denken und Handeln aus
der Welt unmittelbarer Erfahrung eine zweite, soziale, Realität erschaffen, die mit Bedeutungen aufgeladen ist. Vorerst unbestimmte Phänomene verwandeln sich in dieser sozial hergestellten Welt in eindeutige, für die jeweilige Kultur handhabbare und
lebbare sowie mit Macht und Autorität geordnete Dinge. Überlegungen von Geertz
(ebd., S. 275) weitergedacht, könnten wir sagen: Der Mensch kann in der natürlichen
Welt nicht leben; er macht sie sich mit seinen Konstruktionen bewohnbar.
Diese menschliche Leistung gründet auf den Diskursen, die uns mit ihren Darstellungen nahe legen, wie die Welt der Dinge „wirklich“ ist, wie wir sie wahrzunehmen
und zu denken haben. Die Überzeugungskraft und Macht der Diskurse beruht auf
drei Prinzipien (Foucault 1974): Diskurse arbeiten mit Prozeduren der Ausschließung und des Verbotes – wir hätten nicht das Recht, bei jeder Gelegenheit alles zu
sagen. Sie arbeiten zweitens mit dem Prinzip der Grenzziehung und Verwerfung – es
gäbe vernünftige und wahnsinnige Redeweisen; was die „Verrückten“ uns zu sagen
hätten, sei ohne Bedeutung. Und drittens vermitteln uns die Diskurse Vorstellungen
darüber, was falsch und was richtig ist, oder vielleicht genauer: was wir als wahr betrachten wollen und welche institutionelle Macht uns verbürgt, dass eine Wahrheit
die höchste ist.
Eine weitere wichtige Quelle dafür, dem Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit die
Selbstverständlichkeit zu rauben, war die Frauen- und Geschlechterforschung (vgl.
Degele 2003). In den 1970er und frühen 1980er Jahren haben zahlreiche Forsche­
rinnen eine Vielzahl von Belegen dafür zusammen getragen, dass das körperliche
Geschlecht, sex, nicht kausal mit dem sozialen Geschlecht, gender, verbunden ist. Das
soziale Geschlecht wurde als Produkt von Prozessen der kulturellen Prägung und des
sozialen Lernens erkennbar. Die gegebenen Geschlechterverhältnisse verloren damit
die zentrale Legitimation, Ausdruck von empirischen Differenzen zwischen den Geschlechtern zu sein. Sie konnten als historisch gewordene und in Diskursen konstruierte Herrschaftsverhältnisse verstanden werden, die die beobachtbaren Differenzen
zwischen Männern und Frauen kontinuierlich reproduzieren.
17
Seit den 1990er Jahren hat sich die Infragestellung des Konzepts der Zweigeschlechtlichkeit vor dem Hintergrund philosophischer Diskurse nochmals vertieft
und radikalisiert. Nicht nur das Geschlecht, auch andere elementare Begriffe und
damit verbundene Erfahrungen unseres sozialen Lebens wurden, wie es hieß, einer
„Dekonstruktion“ unterworfen. Der französische Philosoph Jacques Derrida (1974)
hat dieses Verfahren des kritischen Denkens entscheidend geprägt. Dekonstruktion
heißt, Dualitäten als gewaltsame Hierarchien und konfliktgeladene und repressive
Strukturen des Gegensatzes zu begreifen. Die benannten Seiten sind dabei in der
Regel immer auch die herrschenden. Die Methode der Dekonstruktion will das Verdrängte, das nicht Gedachte freilegen (vgl. Degele 2003, S. 16f.; vgl. Hartmann 2004).
Dazu gehört, die dichotomen Kategorien und die damit verbundenen Vorstellungen
von starrer, unveränderlicher Identität aufzuweichen und in Frage zu stellen: Was
geht uns verloren, wenn wir nur in Gegensätzen denken und wahrnehmen? Was
verbirgt sich in den Zwischenräumen? Was schließen wir aus, indem wir in alt gewohnter Weise nur ein scheinbar eindeutiges Weiß und Schwarz zulassen?
Dekonstruktion greift in die herrschenden traditionellen Mechanismen ein, die
Welt zu denken und zu konstruieren. Sie pluralisiert die Bedeutungen, die in der
Folge zwischen den Gegensätzen denkbar und möglich werden. Die alten Begriffe
werden damit nicht völlig aufgegeben. Es wird ihnen die Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit genommen. Besonders wirkungsvoll war dieser Prozess bei der Hinterfragung traditioneller Konzepte über kollektive Identitäten wie etwa Geschlecht,
Rasse oder Nation (vgl. Benhabib 1997, S. 13ff.). Aus einer konstruktivistischen Pers­
pektive erweisen sich alle diese Identitäten als fließend und veränderbar, umstritten
und anfechtbar. Die Gegenposition des Essentialismus geht davon aus, dass es sich
bei diesen Konzepten nicht nur um Konstrukte, sondern um empirische Phänomene
handle, die durch wesentliche und universell beobachtbare Merkmale beschrieben
werden können. Einige essentialistische Ansätze zur Kategorie des Geschlechts argumentieren mit biologischen Voraussetzungen. Andere begründen das Geschlecht
auf einer anthropologischen Sichtweise und leiten Geschlechtsunterschiede aus der
Arbeitsteilung ab, die sich über weite historische Zeiträume erhalten hat.
Die Debatte zu Konstruktivismus versus Essentialismus ist komplex und vermutlich in die Liste der nicht lösbaren Dilemmata des sozialwissenschaftlichen Denkens
einzuordnen (vgl. Giddens 1999, S. 605ff.). Hilfreich für das Weiterdenken zu dieser
Frage erscheint uns der – dekonstruierende – Hinweis von Seyla Benhabib (1997,
S. 23f.): Es sei vereinfachend, Essentialismus und Konstruktivismus als dichotomische Setzung zu behandeln. Nur BeobachterInnen der sozialen Welt könnten in
dieser Position verharren. Aus der Perspektive der TeilnehmerInnen sei eine Verabsolutierung der konstruktivistischen Position schwierig, weil sie kaum das Feld des
aktiven und leidenschaftlichen Handelns im öffentlichen Raum eröffnet.
18
Mit Judith Butler (1991) nimmt die Dekonstruktion von Heterosexualität als diskursive Wahrheit nochmals eine Wendung. Sie spricht von der Performativität des
Geschlechts. Gemeint ist damit, dass wir mit der Sprache nicht einfach Dinge, Überzeugungen ausdrücken und mitteilen, sondern dass Sprechen wie ein Handeln zu
verstehen ist, in dem etwas hervorgebracht, etwas vollzogen wird. Im Hinblick auf
das Geschlecht bedeutet das, dass wir über Handlungen, Gesten, Kleidung, Sprache, Begehren nicht unsere gegebene Geschlechtsidentität ausdrücken, sondern
diese Identität in diesen Handlungen und anderen Vollzügen konstruieren, indem
wir uns auf die kulturell institutionalisierten Diskurse über Geschlecht beziehen. Im
Rahmen dieser Diskurse lernen wir, uns sozial als Mann oder Frau so zu verhalten,
wie es einem männlichen oder weiblichen Körper entspricht. Geschlechtsidentität
ist demnach gebunden an das Zitieren von Bedeutungen, an das Nachvollziehen von
Konventionen und Normen. Bis hierher sind Butlers Vorstellungen nicht unbedingt
neu. Die neue Dimension liegt darin, dass bei ihr die Konstruktivität des Geschlechts
nicht nur gender, sondern auch sex, den Körper, umfasst.
Geschlecht als etwas Konstruiertes zu verstehen, heißt nicht notwendig, dass damit diesem Merkmal jede Realität abgesprochen wird. Soziale Konstruktionsprozesse
können materielle Effekte, vor allem innerhalb der Individuen, haben. Andrea Maihofer (1995; 2004) hat dafür das Konzept von „Geschlecht als Existenzweise“ geprägt.
Sie versucht damit, die Ebene des individuellen Seins und Handelns mit der Ebene
gesellschaftlicher Strukturen zu verknüpfen. Individuen werden durch gesellschaftliche Prozesse der Vergeschlechtlichung nicht nur zu Männern und Frauen gemacht.
Im Zuge dieser Prozesse verwandeln sie sich tatsächlich in Männer oder Frauen. Geschlecht stellt sich aus dieser Perspektive als ein Set materialisierter Effekte von diskursiven Prozessen dar. Durch verschiedene Körperpraxen wie Denken, Fühlen und
Handeln verwandeln sich Konstrukte in gelebte Realitäten. Maihofer verfolgt hier
eine Vorstellung von Sein – oder auch von Identität –, die nicht als unveränderliche
Wesenheit gedacht wird. Es geht ihr um die Idee eines je historisch und gesellschaftlich-kulturell bedingten Seins, also um einen Modus der Existenz, der frei von einem
essentialistischen Denken wäre.
Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Heteronormativität in diesem
Band soll dazu anregen, Vorsicht gegenüber essentialistischen Identitätsgefühlen im
Hinblick auf das eigene Geschlecht zu üben. Mit den Merkmalen des eigenen Geschlechts eins zu sein, bedeutet, Potentiale des Anderen und von möglichen Dritten auszuschließen. Nicht befragbare Identifikationen könnten die Folge von Anpassungsleistungen an normative Zwänge sein. Vor zwanzig Jahren haben Regina
Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp (1987) die Frauen zu Fluchten aus dem
Identitätszwang aufgefordert, weil die Zurückweisung der diskriminierenden gesellschaftlichen Zuschreibungen ein wichtiges Element in der Bewegung zur Emanzipa19
tion sei. Was für Frauen noch immer gilt, wird mit der Kritik an dem Konzept der
Heteronormativität zu einer allgemeinen Einladung. In den letzten Jahren war es vor
allem das Ziel von VertreterInnen der queer studies, nicht nur das starre und eingrenzende bipolare Muster der Heterosexualität aufzubrechen, sondern jede dauerhafte
Identifizierung mit einem Geschlecht zu verweigern. Queer studies stehen für den
Versuch, die Kategorie des Geschlechts überhaupt zu verflüssigen und entgegen dem
diskursiven Regime der hetero- und androzentrischen Normalisierung neue Kategorien für Geschlecht und Sexualität zu entwickeln (vgl. Hark 1993; Degele 2003, S.
19f.). Unabhängig davon, wo dieses Vorhaben theoretisch hinführen wird – in den
gesellschaftspraktischen Bewegungen zu Fragen der Geschlechterverhältnisse schafft
queeres Denken und Handeln einen sozialen Raum für die Wahrnehmung von
vielfältigen Formen gelebter Sexualität und Identität. Die Vielfalt von Transgender,
Homo-, Trans- und Bisexualitäten ist keine neue Erscheinung. Neben der Hetero­
sexualität sind sie Praxis nicht nur in den gegenwärtigen Gesellschaften. Sie waren es
auch in den vergangenen. Damals wie heute verstellt jedoch ein normatives Konzept
von Heterosexualität den Blick. Die Auseinandersetzung mit diesem Konzept soll zu
einem Wechsel der Perspektive beitragen und helfen, die Vielfalt und die Unordnung
der Geschlechter zu sehen und als gelebte Realität anzuerkennen.
Einige einführende Hinweise zu den nach folgenden Beiträgen: Die Philosophin
­Alice Pechriggl setzt sich mit dem Konzept der Norm im Allgemeinen und der Heteronormativität im Besonderen in grundlegender Weise auseinander. Nachdem sie
häufig gebrauchte, wenn auch nicht immer klar definierte Begrifflichkeiten in ihrem
wissenschaftshistorischen Entstehungskontext verortet und konturiert, wendet sie
sich den zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die gesetzliche Normierung
gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zu. Anhand der Debatte um die französischen
PaCs (Pacte Civil de Solidarité) skizziert und analysiert sie die wesentlichen Argumentationsmuster der GegnerInnen einer solchen Normierung. Dabei konstatiert
sie eine überraschende Übereinstimmung zwischen naturrechtlichen und psycho­
analytischen Diskursen. Orientiert am Maßstab einer demokratischen Ordnung, die
die Zielvorgaben der autonomen Entscheidung und Partizipation der Subjekte nicht
aus den Auge verliert, diskutiert sie die Implikationen und möglichen Konsequenzen
konkret politischer Normierungs- und Normativitätsdiskurse.
Antke Engel vom Institut für Queer Theory, Hamburg, geht über Heteronormativität in Form von Verbot und Repression hinaus, zumal diese in unseren Breiten
tendenziell im Abnehmen sind. Vielmehr löst die Autorin das zunächst paradox
erscheinende Phänomen auf, dass gesellschaftliche Normalisierung von Nicht-Heterosexualität und Integration von Nicht-Heterosexuellen nicht nur mit Heteronormativität sexuell motivierter Diskriminierung einhergehen können, sondern diese
20
Gesellschaftsstrategien für etwas anderes, nämlich für die Verbreitung und Internalisierung des neoliberalen Projekts, instrumentalisiert werden. Durch die „Privatisierung“ des Sexuellen kommt es gleichwohl nicht zum Verschwinden von Homophobie
und Ausgrenzung, sondern homosexuelle Normalisierung reißt soziale Gräben anhand anderer Kriterien und entlang anderer Bruchlinien auf, die allerdings sexuell
relevant bleiben, indem sie für eine ganz bestimmte Diskriminierung auf Grund des
Sexuellen wirksam sind. In diesem Sinn plädiert Engel für eine Differenzierung und
Repolitisierung des Sexuellen, um sich der Vereinnahmung durch den Neoliberalismus zu entziehen.
Vor dem Hintergrund steigender HIV-Neuinfektionen, von denen in fast allen westlichen Industriestaaten besonders homo- und bisexuelle Männer betroffen
sind, analysiert Phil C. Langer in seinem Beitrag mögliche Psychodynamiken von
HIV-Infektionen. Der Autor stellt dabei einen Zusammenhang zwischen der oft problematischen Identitätsfindung und -konstruktion schwuler Männlichkeit in einer
von heteronormativen Männlichkeitsvorstellungen geprägten Gesellschaft und dem
Eingehen von HIV-Infektionsrisiken her. Anhand ausgewählter Befunde aus Interviews mit HIV-positiven und ungetesteten schwulen und bisexuellen Männern arbeitet Langer Faktoren heraus, die diese potentiellen Dynamiken von homosexuellen
Männlichkeitsbildern und dem Eingehen von HIV-Infektionsrisiken sichtbar machen. Rückschlüsse und Empfehlungen für die Prävention neuer HIV-Infektionen
unter schwulen und bisexuellen Männern runden den Beitrag ab.
Christoph Treiblmayr geht der Frage nach, wie und warum sich die Darstellung
schwuler Männer in der Geschichte des Kinos weitestgehend verändert, multipliziert und großteils normalisiert hat. Insofern knüpft er damit an die Betrachtung
der (trügerischen) gesellschaftlichen Normalisierung durch Antke Engel an. Der Autor zeigt die divergente Kino- (und Gesellschafts-)Situation in den 1990er Jahren
an den Beispielen zweier sehr verschiedener deutscher Filme „Der bewegte Mann“
und „Prinz in Hölleland“ über Schwule auf. Dabei bettet er die cineastische Analyse
der beiden Filme in eine historische Abhandlung der Entwicklung des hegemonialen
bürgerlichen Männlichkeitsbildes und dessen Krise im späteren 20. Jahrhundert ein.
Überdies verweist er auf einen seit der Aidsproblematik festzustellenden „changed
sense of mortality“.
Christine Klapeer diskutiert in ihrem Beitrag die Frage, welche der aktuellen sozialwissenschaftlichen Konzepte von sozialer Anerkennung für das Verflüssigen von
heteronormativen Strukturen geeignet sein könnten. Die Autorin knüpft an die Anerkennungsdebatte zwischen Axel Honneth und Nancy Fraser an und spricht sich
entschieden dafür aus, die Frage der Anerkennung im Sinn von Fraser als demokratiepolitisches und nicht als identitätspolitisches Problem im Sinn von Honneth zu
fassen. ‚Anerkennung’ im Sinn von Fraser würde bedeuten, dass in der Gesellschaft
21
kulturelle Wertmuster institutionalisiert sind, die es ermöglichen, dass nicht-heterosexuelle Lebensformen gleichwertig am sozialen Leben teilnehmen. Das Konzept
zielt nicht auf die soziale Akzeptanz von individuellen Verhaltensweisen oder Identitäten, sondern umgekehrt auf die Beseitigung von Missachtung gegenüber einzelnen oder Gruppen, weil Missachtung eine Unterdrückung von Möglichkeiten der
Teilhabe bedeutet. Der Beitrag spannt den Bogen von theoretischen Konzepten hin
zu gesellschaftspraktischen Debatten. Er diskutiert und entwickelt anerkennungstheoretische Kategorien aus einer aktuellen Theoriedebatte heraus und zeigt ihre
Brauchbarkeit für das politische Handeln der schwulen und lesbischen Bewegungen
in einem heteronormativ strukturierten Umfeld.
Ein Beitrag von Sushila Mesquita beschließt das Buch. Sie setzt sich mit dem Thema Sichtbarkeit als einem zentralen politischen Anliegen marginalisierter Lesben,
Schwuler und Transgender-Personen auseinander. Ausgehend von einer Analyse der
mit der Kategorie Sichtbarkeit verbundenen Ambivalenz und zum Verhältnis von
Sichtbarkeit, Repräsentation und politischer Macht geht Mesquita der Frage nach,
unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Konsequenzen und auf welche Arten
welche Lebensentwürfe derzeit öffentliche Sichtbarkeit erlangen können. Am Beispiel
der Darstellung von Lesben, Schwulen und Transgender-Personen in MainstreamMedien zeigt Mesquita, dass die Grenze zwischen gesellschaftlichem Ein- und Ausschluss nicht mehr dezidiert entlang der Achse Heterosexualität/Homosexualität
verläuft, sondern zwischen je „respektablen“ Ausgestaltungen von Lebensentwürfen:
So erfolgt einerseits eine normalisierende Darstellung einer bestimmten, vorwiegend
unpolitischen und auf Konsum und Lifestyle reduzierten schwulen „Identität“, die
durch Entsexualisierung, Entpolitisierung bzw. Individualisierung und Kulturalisierung gekennzeichnet ist. Andererseits kommt Subjekten jenseits der „Grenze der
Integrierbarkeit“ durch Karnevalisierung die Funktion des konstitutiven Außen zu,
sie werden als die Regel bestätigende Ausnahme gewertet und politisch nicht ernst
genommen. Dagegen plädiert die Autorin für eine emanzipatorische Politik der
Sichtbarkeit, in der gängige Darstellungsformen herausgefordert werden, indem der
Ambivalenz der Sichtbarkeit Rechnung getragen wird.
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23
Alice Pechriggl
Naturrechtliche „Heteronormativität“
vs. politische Normsetzung
Zur Kritik von Diskursen über die Norm
und über diese hinweg …
Der Begriff der „Heteronormativität“ wird nur selten in Zusammenhang mit dem
Begriff und der Praxis der Normsetzung reflektiert, obwohl es ursprünglich gerade
die Setzung war, welche die Norm als Gesetz (von nomos) im Gegensatz zur Gewachsenheit bzw. der Unabänderlichkeit der Natur (physis) auszeichnete.1
Der folgende Aufsatz wird in einem ersten Schritt jene Tendenzen innerhalb der
gerade gängigen und stark an Butler orientierten Heteronormativitätskritik hervorheben, welche die bestehende Norm substantialisieren. Dadurch wirkt diese Kritik
selbst, so meine These, implizit normierend, möglicherweise sogar im Sinne einer
diskursiven Inframacht (in den Lesben- und Schwulencommunities, aber auch in
den lesbischen, queeren, schwulen, bisexuellen, transsexuellen etc. Individuen).2 In
einem zweiten Schritt wird es darum gehen, die dieser Kritik auf den ersten Blick dia­
metral entgegen gesetzten Diskurse zu skizzieren, nämlich bestimmte psychoanalytische und – wie zu zeigen sein wird – erkenntnsitheoretisch nicht haltbare Theorien
über die Geschlechterdifferenz im Prozess der sexualitätsbezogenen Normsetzung.
Insofern sich diese „Theorien“ einer hypostasierten Idee der Geschlechterdifferenz
für die naturrechtliche Grundlegung homophober bzw. heterosexistischer Normen
bedienen, sind sie nicht nur erkenntniskritisch zu erhellen, sondern vor allem auf
ihre politischen Implikationen hin zu kritisieren: Dass konservative oder neuerdings
„rechtslacanianische“ PsychoanalytikerInnen als ExpertInnen für die Beurteilung
1 Bereits für Aristoteles war es die widersprüchliche Natur des Menschen, als Mensch – und nicht als bloßes Lebewesen,
zôon, oder Lebendiges, bios – gerade nicht natürlich, unabänderlich, sondern vielmehr politisch und damit auch verändernd/veränderbar zu sein.
2 Diesen Aspekt der disziplinierenden und vereinheitlichenden Effekte einer zunehmend unkritisch tradierten und zum
hegemonialen „Subversions“diskurs erhobenen Theorie werde ich andernorts ausführen, weil er den Rahmen dieses Aufsatzes sprengt. Inwieweit diesen Diskursen eine aktive, effektuierende Macht zugeschrieben werden kann, wird dann
genauer zu behandeln sein.
24
25
bzw. Pathologisierung der richtigen/normalen und falschen/perversen Sexualität
fungieren, ist nichts Besonderes; dass sie sich als naturrechtlich argumentierende
FundamentaltheoretikerInnen eines sich in Europa und darüber hinaus revolutionierenden Partnerschafts- und Eherechts gegen dessen demokratisch erwirkte Veränderung stemmen, scheint dagegen mehr als kritikwürdig, und zwar im doppelten
Sinn von Kritik. In diesem Sinn werde ich mit der diesbezüglichen Debatte im Vorfeld des Pacte Civil de Solidarité (PaCs) schließen, wie er in Frankreich gesetzlich
implementiert wurde.3
Welche Normativität?
Was heißt nun Normativität? Rechtspositivistisch – im Unterschied zu naturrechtlich
– betrachtet würde es nichts anderes bedeuten als die Tatsache der Normsetzung und
der daraus hervorgehenden (und sie ihrerseits maßgeblich wieder begründenden)
Norm.4 Nun wird dagegen in dem Begriff der Heteronormativität wie etwa Butler
ihn in Gender Trouble und vor allem in ihrem Buch über die Subjektivierung als Unterwerfung unter das heteronormative Dispositiv (Butler 2001) ins Feld führt, Normativität gleichsam naturalisiert, indem sie zu einer transzendentalen, aber zugleich
empirischen Verfasstheit gemacht wird: Sie wird zur unhintergehbaren Bedingung
der Möglichkeit sowohl von Sozialisation als Normalisierung und impliziter Normierung als auch von expliziter Normsetzung als solcher.
Nun wird damit aber die Grenze zwischen Letzterer, also dem Prozess der expliziten Instituierung von politischen bzw. juristisch kodifizierten Normen (Normsetzung), und der viel diffuseren sozialen „Normierung“, bzw. der implizit sich beständig reinsitituierenden „Normalität“, in dieser Auffassung tendenziell verwischt; beide
werden gleichsam in eins gesetzt bzw. wird die politische und rechtliche Norm unter
diese diffuse soziale, ja anthropologisch verallgemeinerte Norm subsumiert. Die Prozesse der Reproduktion dieser Normalität werden als „psychosozialisatorische“ und
3 PaCs ist die französische Bezeichnung für eine eingetragene Partnerschaft (auch mariage civil, Zivilehe genannt), die
sowohl von homo- als auch von heterosexuellen Paaren eingegangen werden kann.
4 Ich beziehe mich dabei selbstverständlich auf Kelsen und seinen systematischen Versuch einer reinen Rechtslehre, die
sich gerade gegen jede naturrechtliche und damit außerhalb des Rechts bzw. der Normsetzung angesiedelte Rechtslehre
richtet. Vgl. Kelsen 1960. Für die klassische demokratische Antike, die Kelsen sehr gut kannte, war dies klar: Es ging in
Athen nicht um „Naturrecht“, das ja in erster Linie eine teilweise säkularisierende Übertragung des Gottesbegriffs auf den
Naturbegriff ist, sondern bestenfalls um die (begriffliche) Natur des Rechts. Diese liegt in dessen Gesetztheit, d.h. in der
Tatsache, von Polisbürgern bzw. von der (nur erst männlich) demokratischen Ekklesia instituiert worden zu sein (und
auch wieder destituiert werden zu können). Ich sehe darin die antike Grundlage des Rechtspositivismus im doppelten
Sinn von Setzung und von Tatsache als Ergebnis von setzender Handlung (und nicht als Affirmation einer schlechten
Wirklichkeit, wie die kritische Theorie fälschlich und pauschalisierend gegen den Positivismus ins Feld führte, so wie
dieser eine Zeit lang ebenso fälschlich und pauschalisierend die Metaphysik, das heißt die begriffssystematische und
wertebezogene Reflexion als solche verabschieden zu können meinte; das gilt allerdings nur mit Einschränkungen für
Kelsen, der immerhin ein Buch mit dem Titel Vom Wesen und Wert der Demokratie schrieb).
26
immanent veränderbare benannt bzw. als heterosexuelle Matrix bezeichnet, die überhaupt erst die Geschlechterordnung und alle damit verknüpften Verhältnisse hervorbringe und garantiere. Die Gewordenheit und sogar die Abänderbarkeit im Zuge
der Reiteration werden zwar behauptet, die verallgemeinernden Extrapolierungen
tendieren jedoch dazu, die je konkreten Instituierungs- und Abweichungsprozesse
von dieser „Heteronorm“ zu überdecken, so wie die je spezifischen (historischen,
gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen) Bedingungen derselben oft im Dunkeln gehalten werden.5
Wenden wir uns nun dem Begriff der Matrix zu. Da Butler sich eingehend mit dem
psychoanalytischen Diskurs befasst hat, könnte ihr Matrixbegriff sich an jenen der
Psychoanalyse, genauer der Gruppenpsychoanalyse, wie Bion und Foulkes sie Ende
des Zweiten Weltkrieges entwickelt haben, anlehnen. Es gibt allerdings in Butlers
Arbeiten keine expliziten Bezugnahmen darauf, und Matrix in ihrem Sinn wäre eher
als eine Art gesellschaftliches, das heißt konkretes, aber dennoch transhistorisches
a priori zu fassen, das heißt als etwas Transzendentales diesseits aller Erfahrungen;
als etwas Unhintergehbares, das alle Normalisierungs-, Normierungs- und Normsetzungsprozesse bedingt bzw. mit hervorbringt, und zwar nicht als Grundnorm im
Sinne Kelsens (Verfassungen, Grundrechte), sondern als eine zwar (zumeist implizit)
instituierte, aber zugleich immanente und stets latente Natur/Struktur der Gesellschaftlichkeit überhaupt. Anders der Matrix-Begriff in der Gruppenpsychoanalyse,
der nichts anderes bezeichnet als die in einer Gruppe vorhandenen oder besser kursierenden unbewussten, vorbewussten und bewussten Vorstellungen, Wünsche und
Affekte. Foulkes fasst diese Matrix in kommunikativen Metaphern des Netzes und
der Resonanz und gibt nicht vor, die Struktur oder die sexuelle Ausrichtung einer
solchen Matrix bestimmen zu können, schon gar nicht a priori, das heißt ohne eine
genaue Analyse der jeweiligen Gruppe und ihrer expliziten wie auch ihrer verschlei5 In diesem Sinne stellt die Betonung von Identifizierungsprozessen m. E. gerade kein Zeichen eines „juridischen Machtmodells“ (Lorey 1996) dar, das eine explizite Auseinandersetzung mit Normsetzungsprozessen und dem positiven Recht
als Konzept und als Phänomen erfordern würde. So schreibt etwa Lorey: „Butler bietet mit dieser Gleichzeitigkeit von
Norm und Subjekt einen durchaus spannenden Vorschlag… Nur wird dieser Vorschlag in dem Moment problematisch,
in dem Butler ihn universalisiert und nicht mehr davon ausgeht, daß sie ein spezifisches Verhältnis zwischen Norm und
Subjekt in einem juridischen Rahmen analysiert und nicht generell die Konstitution von Subjekten. Indem sie diese
Universalisierung jedoch vornimmt, werden Subjekte nur noch als subjektivierte, im Sinne von ‚unterworfene’, denkbar.“
(Lorey 1996, S. 140). Was die Universalisierung anlangt, so kann ich mich Loreys Einschätzung durchaus anschließen,
nicht aber, was die Eindeutigkeit des „juridischen Modells“ anlangt, das ja gerade mit dem Modell der sozialen Norm
vermischt wird. Das Problem, das sich in Bezug auf die explizite Norm(setzung) stellt, ist eine Ausblendung möglicher
(aber kaum verwirklichter bzw. oligarchisch eingeengter) Demokratie als Normsetzung, an der alle BürgerInnen effektiv
(und nicht durch reine Stellvertretung/Repräsentanz) beteiligt sind. Derart ihre „eigene“ kollektive Norm – „autonom“,
also selbstbestimmend – setzend, unterstellen sie sich ihr, indem sie ihr gehorchen und sie damit erst verbindlich machen. In der rein negativen Version der „(Hetero-)Norm“ dagegen wird diese als a priori heteronom, fremdbestimmt
bzw. als vom „Anderen“ gesetzt gefasst, als ob kollektive Autonomie im obigen Sinn nicht einmal mehr denkbar oder als
politisches Projekt zulässig wäre. Ich halte diese geistige und diskursive Verfasstheit bzw. Ausblendung mehr für einen
oligarchischen Struktureffekt gepaart mit einem abhängigen Festhalten am (negativen) großen „Anderen“ denn für eine
potentiell befreiende Kritik.
27
erten Äußerungen (Foulkes 1992). Zwar gibt es für Foulkes eine sozio-kulturelle
„Grundmatrix“, diese wird allerdings von der dynamischen Matrix der aktuellen,
spezifisch der analytisch arbeitenden Gruppe ständig „verflüssigt“, mobilisiert, implizit wie auch explizit kreativ verändert, reflektiert etc. Butler konstatiert dagegen eine
sich reiterierende heterosexuelle Matrix, aus der sich alle homosexuellen Manifestationen und „Subjekte“ gleichsam wie Verdammte des allgemeinen Unterwerfungsdispositivs hervorheben, weil sie darin als a priori abartige und bestenfalls radikal
revolutionäre Elemente erscheinen und auch (anti)normkonstitutiv fungieren.
Nun ist diese Auffassung verlockend, weil „homosexuelle“ Menschen oder Sexualpraktiken in den meisten Gesellschaften bzw. Kulturen als abartig („abjekt“ im Sinne
Lacans) bzw. pervers betrachtet sowie behandelt wurden und auch weitgehend noch
werden; sie ist weiters verlockend, weil die Sozialisation ebenso wie die daran geknüpften explizit normativen Diskurse sowie die impliziteren Dispositive in der Tat
entsprechend ausgerichtet sind. Doch diese relative, keineswegs absolute, Konstanz
der Instituiertheit und „Behandlung“ von Homosexualität bzw. der psychosozialen
wie auch gesetzlichen Heteronormierung lässt noch keinen pauschalen Schluss auf
eine umfassende „heterosexuelle Matrix“ zu. Auch erscheint es mir wissenschaftstheoretisch problematisch, „Heteronormativität“ als paradigmatisches HeteronomieDispositiv aufzublähen (abgesehen davon, dass dies politisch ein Problem darstellen
könnte). Nicht zuletzt die Anlehnung zentraler männlich homosozialer Praktiken an
die in manchen Gesellschaften durchaus auch positiv sanktionierten homosexuellen
Praktiken (sowie die umgekehrte Anlehnung) werden dabei übergangen. Insofern ist
es auch bezeichnend, dass Foucault, dem Butler in ihrer Einschätzung weitgehend
folgt, in Sexualität und Wahrheit die Homosexualität als Lebensform in der griechischen Antike bestreitet und zu einer mehr oder weniger tolerierten Sexualpraxis
minimiert. Die in der griechischen Antike praktizierten, ja auch institutionalisierten
und sanktionierten homosexuellen Praktiken sind in ihrer komplexen Verbindung
zur vorherrschenden Homosozialität und in ihrer Anlehnung an die instituierte heterosexuelle Asymmetrie zum Teil bis heute wirksam, und zwar in durchaus ambivalenter Weise: z.B. Frauen ausschließend, aber nicht zur Gänze und nicht nur; als
den Männerbund hierarchisierend und organisierend; als Sublimierung der Liebe
über ein Leben im Kreislauf der Fortpflanzung hinaus und zwar seit Sappho, deren
Gedichte vor Platons Aneignung ihrer Topoi als „Sapphos unsterbliche Kinder“ bezeichnet wurden (im archaischen Zeitalter gilt also manches, was uns der Männerwelt vorbehalten schien, auch für weibliche Homosexualität, die meistens, aber nicht
immer, durch die Eheschließung abgelöst oder zumindest in Schach gehalten wurde). Für das klassische Athen müssen zum Zweck dieser Minimierung der Homosexualität nicht nur die platonischen Schriften (Pechriggl 2006), sondern vor allem die
Bedeutung der beiden Gründungshelden der Demokratie, Harmodios und seines
28
Leibhabers Aristogeiton, übergangen werden, denen die athenische Demokratie immerhin ein Denkmal setzte, weil sie „die Stadt vom Tyrannen befreiten“6.
Diskursive Schleichnormierungen?
Meine These lautet nun, dass mit der weitgehenden Subsumierung der Frage nach
der expliziten und formalen Instituierung unter eine implizite und umso diffuser
theoretisierte „Heteronormativität“ diese Frage ausgespart wird oder zumindest als
atopon, d.h. als begrifflich ungewöhnlich erscheint. Die vordergründig normkritischen Normativitätsdiskurse weisen nämlich eine epistemologische Vermengung
auf, wie wir sie auch aus den posttheologischen Naturrechtsdiskursen kennen. Diese
treten durch ihre deterministisch-metaphysischen Verfügungen mit dem Postulat
gottgegebener oder gewachsener „Naturen“ bzw. Strukturen oder Invarianten auf,
von denen die „legitimen“ positiven, also gesetzten Normen als „von Natur“ legitime
Derivate oder Emanationen abgeleitet werden. In Analogie dazu führen verallgemeinernde Diskurse über die Hetero- oder Bio-Normativität sowohl strukturalistisch als
auch poststrukturalistisch, ja sogar „radikalkonstruktivistisch“ die „Struktur“ oder
das „Dispositiv“ als ebenso unumgängliche wie determinierende ins Feld. Dagegen
wird eine Reflexion der expliziten Instituierung und Destituierung, das heißt Setzung als Veränderung durch politisches Handeln, gemieden und jedenfalls nicht in
ihrer radikal schöpferischen und verändernden Dimension wahrgenommen (Pechriggl 2007). Schließlich verlaufen sie konträr zur Metatheorie.
Der pauschalisierende Metadiskurs über die Heteronormativität wirkt nun insofern – zumindest implizit – normierend, als diese als Konstante oder als Struktur die
instituierten und bestehenden Zwänge und Normen sowie die damit verknüpften
Verinnerlichungen (allen voran die Homophobie) metaphysisch zu substantialisieren tendiert (indem sie ihr aus ontologischer Perspektive den oben beschriebenen
transzendentalen Status zuweist, also jenen, Bedingung der Möglichkeit von Subjektwerdung, von Normierung etc. zu sein).
Wo liegt nun, bei aller Differenz, die Nähe zwischen derartigen Schleichnormierungen
und den institutionell vorherrschenden psychoanalytischen Normativitätsdiskursen
6 Indem sie ihn töteten und als Befreier vom Tyrannen in die Gründungsgeschichte der athenischen Demokratie eingingen. Schiller hat in der Bürgschaft die Geschichte ihrer Pointen beraubt, indem er sie ihres homosexuellen Hintergrunds
entledigt und mit einer Art happy end versehen hat, das den Tyrannenmord sowie die Hinrichtung der Mörder vermeidet
und mit den erbaulichen Versen endet: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte“: Der Tyrann stirbt
sozusagen hegelianisch, also in der begrifflichen Aufhebung, denn mit der Bitte zeigt er sich einsichtig und hört auf, im
starken Sinn Tyrann zu sein. Zu diesem klassischsten aller Tyrannenmorde siehe v. a. Thukydides 2004, I, 20-22 sowie VI,
54-59; abweichend Aristoteles 1970, XVI, XVIII und LVIII.
29
samt ihren (amphibolischen, also begrifflich widersprüchlichen) Grundannahmen
über die „Natur der menschlichen Sexualität“?7
Psychoanalytische Geschlechtermetaphysik und
naturrechtliche Heteronormativität
Bevor ich diese Frage zu beantworten versuche, möchte ich diese Diskurse kurz skizzieren.
Seit dem Beginn der 90er Jahre hat sich in der Geschlechterforschung und den
kritischen (in Europa nach wie vor nicht institutionalisierten) Sexualwissenschaften,
aber auch in den westlichen Industriegesellschaften selbst, sehr viel verändert. Das
betrifft vor allem den so genannten contrat (hétéro)sexuel (Wittig 1998 in Anlehnung
an Rousseau), also den (hetero)sexuellen Gesellschaftsvertrag bzw. den Geschlechtervertrag.8
Obwohl diese Veränderungen an der Institution Psychoanalyse weitgehend spurlos vorübergegangen zu sein scheinen,9 ist die Öffnung auf die Thematik im Ansatz
auch innerhalb der Psychoanalyse gemacht, eine weiterführende kritische Auseinandersetzung mit dem Thema der Diskriminierung von Lesben und Schwulen sowie
ihrer theoretischen Ideologisierung in der Institution Psychoanalyse durchaus möglich, ja in Ansätzen geführt. Ich sehe diese Möglichkeit im deutschsprachigen Raum
nicht zuletzt in der transdisziplinären Ausrichtung (etwa der Zeitschrift Werkblatt)
zwischen Psychoanalyse und Gesellschaftskritik; ebenso in den diversen Bezugnahmen auf Morgenthaler, dem wir m. E. das bislang interessanteste und fundierteste
Buch über Hetero-, Homo-, Bisexualität und Psychoanalyse verdanken; zu erwähnen
ist auch Barbara Gissrau (Morgenthaler 1984, Giessrau 1997).
Ich möchte in der gebotenen Kürze die wichtigsten Aspekte der Verbindung zwischen Körper- und Geschlechterimaginärem im Kontext gegenwärtiger Umbrüche
im so genannten contrat sexuel darlegen und dabei charakteristische Züge psychoanalytischer Geschlechtermetaphysik (die eigentlich eine Pseudometaphysik ist) genauer herausheben, bevor ich auf die legitimatorische Funktion dieser Diskurse im
Kampf gegen die Instituierung des PaCs in Frankreich eingehe. Dazu möchte ich
von der psychoanalytischen Gruppe ausgehen, in der sich die gesellschaftlichen Instanzen mit den intrapsychischen Instanzen in ihrer wechselseitigen Konstituierung
7 Die Unterschiede sind relativ klar und explizit gemacht. Aus traditioneller Sicht auf die Begriffe der Sexualität und
der Geschlechtsidentität könnten sie größer nicht sein, insofern sie sich auf einen Naturbegriff im substanziell-unabänderlichen Sinn einerseits, auf die „Konstruiertheit“ der Heteronormativität sowie auf die Performativität von Geschlecht
andererseits beziehen.
8 Butlers Konzeption der heterosexuellen Matrix ist stark von diesem Text beeinflusst.
9 Insbesondere an den meisten Ausbildungsvereinen. Siehe weiter unten FN 19.
30
besser beobachten lassen als in den doch sehr extrapolierenden Fallvignetten aus
dem Einzelsetting.
Die Geschlechtlichkeit spielt in der Gruppe eine zentrale Rolle, ist sie doch das, was
sich am eindeutigsten fassen zu lassen scheint, und zugleich das, was sich in seinem
Wesen am hartnäckigsten entzieht bzw. verhüllt, so dass wir guten Grund haben, an
einem solchen Wesen der Geschlechtlichkeit – oder des Männlichen und Weiblichen
– zu zweifeln (Freud 1905, 1923, zur Unmöglichkeit der Gleichung weiblich – passiv,
männlich – aktiv vgl. 1933, S. 123). Das Begehren transzendiert immer schon die Geschlechterdifferenz (es existiert sowohl diesseits als auch jenseits der anatomischen
Differenz, an die es sich zugleich mehr oder weniger stark anlehnt). Um dies nachzuvollziehen, können wir uns teilweise an Freuds Triebtheorie, an Platons Erostheorien
oder an Lacans Erotologie, insbesondere an sein Seminar Encore halten,10 und die
aktuellen sozio- wie auch rechtspolitischen Veränderungen in Sachen homo- und
heterosexuelle Partnerschaft, Fortpflanzungsmedizin und Transsexualität verweisen
auf die Komplexität dieser Frage.
In der psychoanalytischen Gruppe tritt diese Transzendierung des Geschlechts
durch das Begehren noch deutlicher hervor. So reicht es bereits aus, dass wir die
Grundannahme der Paarung11 betrachten, um diese bereits von Freud konstatierte Aporie einer a-„sexuellen“ Provenienz (aber auch Tendenz) des Sexualtriebes zu
bemerken: Wie Bion feststellte (Bion 2001), setzt sich diese immer schon über die
Heterosexualität hinweg, in die sie vielmehr gesellschaftlich stets von Neuem gelenkt
werden muss: Wenn die Gruppe gerade in dieser Grundannahme wünscht, vorstellt,
fühlt und agiert, dann insofern sie allen möglichen Gruppenmitgliedern – unabhängig von anatomischen oder durch Sekundärmerkmale bzw. Habitus bedingten
Geschlechtszuordnungen – Paarung unterstellt. In der Gruppe klafft die ganze
Schwierigkeit und Prekarietät gesellschaftlicher und entwicklungspsychologischer
Verfasstheit des Sexuellen. Die Heterosexualität muss ja gerade aufgrund dieser Prekarietät fundamentalistisch über Naturrechte oder sonstige Konstrukte anatomischer
10 Bei aller Unklarheit über das „Was“ oder „Wesen“ von weiblich und männlich im psychischen Sinn beharrt Freud jedoch auf dem Prinzip der sexuellen Bipolarität bzw. der komplementären Bisexualität oder dem psychischen Hermaphroditismus (Freud 1905, S. 43). Damit wird ein solches Wesen zwar implizit angenommen, allerdings als vom somatischen
und anatomischen Hermaphroditismus abgelöstes bzw. ablösbares. Siehe hierzu die triftige Kritik von Judith Butler in Das
Unbehagen der Geschlechter, die jedoch dazu neigt, die vielfältigen und komplexen anatomischen geschlechtsspezifischen
Merkmale und Dispositionen in ihrem Fürsichsein (also diesseits der sprachlichen und damit schon gesellschaftlichen
In-Bedeutung-Setzung) zu negieren, was nicht nur mit einer Verkennung der somatischen vis formandi bzw. der figurativen Kraft des Leibes zusammenhängt, sondern auch dessen, was diese an Möglichkeiten und Anstößen für die weitere
Bearbeitung und Anlehnung durch die Psyche/n und die Kultur impliziert.
11 Bions Grundannahmen bezeichnen eine je überwiegende Haltung bzw. einen Affekt-Wunsch-Vorstellungsmodus,
den die Gruppenmitglieder so lange teilen, bis sie in einen anderen wechseln. Bion zählt drei solcher Grundannahmen:
Abhängigkeit, Kampf-Flucht, Paarung. Die (therapeutische) Arbeitsgruppe zeichnet sich nach ihm dadurch aus, dass sie
fähig ist, aus diesen allesamt primärprozesshaften Denk- und Vorstellungsweisen herauszutreten und diese als (bzw. sich
als darin befindliche) Gruppe zu reflektieren.
31
bzw. bio-logischer Prägung als normative verteidigt werden (wenn nicht durch brachiale Gewalt).
Sowenig sich die Frage nach dem sexuellen Begehren des Menschen (aber auch
der Bonobo-Affen u. a. Tierarten) auf die Frage nach der Differenz zwischen Weibchen und Männchen reduzieren lässt, so wenig lässt sich damit die Frage nach der
Differenz und dem Verhältnis zwischen Frausein und Mannsein beantworten. Geschlechtsidentität, sexuelle Handlung und sexuelle Identität sind zwar eng miteinander verknüpft, aber sie stehen weder in einem natur-notwendigen noch in einem
logisch-zwingenden Kausalverhältnis. Das erkennt die Gruppe immer wieder an,
„vergisst“ es aber im selben Rhythmus. „Mann“ und „Frau“, das „Weibliche“ und das
„Männliche“ sollen Orientierung geben, doch ihr Wesen lässt sich nicht festmachen,
nicht einmal in der „Natur“ des Begehrens. Einmal ist die Frau die Mutter, dann
wieder die dominante Aussaugerin, ein anderes Mal ist der Mann der Beschützer,
dann wieder der kleine orientierungslose Bub oder der drakonisch-kalte Ausbeuter
etc. Stereotypen und Klischees lösen einander ab, wie sie gerade gebraucht werden,
und so könnte die Gruppe beschrieben werden als ein lebendiges Gebilde, das dieses
komplexe und immer auch chiasmatische Beziehungsgeflecht zwischen Männern
und Frauen reinszeniert. Das Chiasma bezeichnet die Überkreuzung der „Gegensätze“, also das Männliche in den Frauen, den konträren Ödipus12, das Mütterliche
in den Männern. Die Dichotomien lösen sich beständig auf und werden wieder szenisch eingesetzt: als Allianzen, als Ehegebote, als Kriterien einer funktionierenden
Beziehung, als Garanten für das beständige Gelingen der Verführung, für dauerhaftes oder überhaupt nur einmal im lustvollen Genießen ankommendes Begehren
und Begehrt-Werden etc.
Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Macht, und zwar nicht nur die
des – immer wieder auch verhinderten – Begehrens selbst, das sich – egal ob Frau
oder Mann – zuweilen wie ein Zeichen der Ohn-/Macht, sprich Im/potenz sowie der
Vernichtungs- bzw. Auflösungsangst ausmachen lässt.
Unsichere Kausalitäten, Pseudo-Kausalität und Normativität
Ich wähle nun einige Beispiele aus der pseudometaphysischen Reduktion des Ödipus, zum einen in dem Bestreben, damit den dogmatischen Schlummer einer Geschlechterasymmetrielehre zu stören, die falsche Metaphysik betreibt, wo es um
Phänomenologie und Erfahrungsbegriffe für die Erhellung der Anlehnung zwischen
12 Demnach die Tochter bzw. der Sohn sich nicht nur mit der Mutter bzw. dem Vater identifiziert und den Vater bzw. die
Mutter zum Objekt ihrer bzw. seiner Begierde macht, sondern auch umgekehrt.
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sexueller Anatomie und psychosexueller Identität sowie Geschlechtsidentität ginge,
zum anderen, um einen stigmatisierenden Diskurs in seinen antidemokratischen
Dimensionen aufzuzeigen und als solchen zu entkräften. Ausgangspunkt hierfür ist
die Entzauberung einer immerfort postulierten Illusion: dass nämlich diese beiden
Identitäten (anatomische und psychosexuelle) voneinander ableitbar bzw. aufeinander reduzierbar wären und dass diese Reduktion, gleichsam von selbst, die „natürliche Norm“ ergeben würde. Dieser Glaube beruht bereits auf der zumeist impliziten
– aber ontologisch unhaltbaren – Annahme eines substantiellen, also immer schon
abgegrenzt zugrunde liegenden Wesens (ousia) von „weiblich“ und „männlich“, eine
Annahme, von der nicht einmal Aristoteles ausging, der ja der Erfinder dieses – als
Grenzbegriff gedachten – Wesensbegriffs (ousia) der Philosophie ist.
Wenn nun in der psychoanalytischen Geschlechtermetaphysik die Penis-Vagina-Komplementarität ins Zentrum gerückt wird, um eine solche substanzhafte Begründung für die sexuelle Identität bzw. „Dissidentität“ (das homo-, bi- oder sonst
wie-sexuell Sein) und im selben Atemzug für die Geschlechtsidentität (das Frausein
oder Mannsein) darzustellen, dann geschieht dies meist im Zeichen der „erlittenen“
Penetration, die als Passivität das Weibliche (und via Pseudodeduktion die Frau bzw.
das Weib) konstituiere; es geschieht weiters im Zeichen der aktiven Konstituierung
dieses Weiblichen durch den Penis, der als Inkarnation des Prinzips der Aktivität das
Männliche konstituiere.13 Ich möchte hier nur folgende Punkte festhalten:
- Diese Art der Metaphysik steht im Zeichen dessen, was Kant Amphibolie nannte.14 Auf diese Weise werden die Weiblichkeit, das Weibliche, die Frau und die
aktiv-passiv-Differenz oder die Geschlechterdifferenz wie wesenhaft in ein determinierendes Kausalitätsverhältnis gesetzt, das seinen normativen (Sollens-)Charakter als ontologischen ausgibt, nicht ohne ihn hinterrücks (naturrechtlich) als
normativen zu verstärken. (Ich resümiere den Diskurs nochmals: Die meisten
Frauen seien vorwiegend heterosexuell und erleben den Koitus unbewusst oder
13 Diese erbauliche Version einer psychosexuellen „Metaphysik“ stammt von Jacqueline Schaeffer, „Die Geschlechterdifferenz im Paar oder die gemeinsame Erschaffung des Männlichen und des Weiblichen“, Vortrag gehalten in Wien im
Mai 2004 bei der Tagung Vom Skandal des Sexuellen, Institut Français. Ich habe an anderer Stelle die Pfeiler dieser unsere
philosophische und religiöse Tradition durchziehenden Art von konkretistischer Metaphysik des Körperdings analysiert,
auf der die zentralen Bedeutungen des gesellschaftlichen Körperimaginären ruhen. Als solche muss diese Metaphysik
die somatische vis formandi, also die im Leiblichen bzw. im Psychosomatischen anzusetzende figurative Kraft, aussparen
(Pechriggl 2000, Kap. 1). Und genau in diesem Punkt der Aussparung trifft sie sich mit Butlers Ansatz, von dem sie doch
so weit entfernt zu liegen scheint.
14 Als Amphibolie bezeichnet Kant in der Kritik der reinen Vernunft eine erkenntnistheoretisch unzulässige Anwendung transzendentaler Begriffe (a priori) in empirischen Bereichen (a posteriori); eine Anwendung also von ontologischabstrakten Kategorien und Begriffen, die das Sein als Sein, als Seinsweisen, als Werden bzw. Wesen, als Erkennbares bzw.
Unbestimmbares etc. organisieren und erkennbar machen, in Bereichen, in denen doch ganz andere, nämlich Erfahrungsbegriffe, induktive und phänomenologisch stets erweiterbare Begriffe, beschreibende Kategorien etc. angemessen
sind.
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bewusst als erlittene Penetration. Daraus wird auf das Wesen der weiblichen Sexualität geschlossen, wobei dieses wesenhaft zugrunde gelegte Verhältnis als dynamisch – durch das komplementär Männliche – herzustellendes ausgegeben
wird.) In diesem eigentlich pseudoontologischen Zirkelschluss legt die letztlich
von einer durchaus auch normativ hergestellten Organlust abgeleitete „Natur“
der Geschlechterdifferenz die Frau auf die als masochistische Passivität definierte
Weiblichkeit fest, den Mann auf die Annahme seiner penetrierend-deflorierenden
Aktivität, ohne dass auch nur einen Moment lang auf die ebenso die Sexualität
und das Begehren konstituierende ontologisch-grammatikalische Umkehrung
verwiesen würde: das Überstülpen oder Verschlingen, das der Penis „erleidet“,
etwa wenn eine (vielleicht nicht gerade die) Frau auf dem Mann „reitet“; von anderen, zum Beispiel homosexuellen Penetrationsphantasmen und -praktiken als
integrative Anteile männlicher oder weiblicher Geschlechtsidentität (Frausein
und Mannsein im einzig sinnvoll gültigen, nämlich empirischen Sinn) ganz zu
schweigen (ein sexualitätsgeschichtlicher Blick auf die griechische Antike hätte
auch hier schon zu maßgeblichen Relativierungen gezwungen).15
- Diese pseudometaphysisch deduzierte „Natur“ der Geschlechterdifferenz in der
Sexualität spart einen großen Teil der Organlust aus, insbesondere die an die Klitoris gebundene (Schlesier 1981).
Es ist hier nicht der Raum, genauer auf die erkenntnistheoretischen und ontologischen Implikationen eines derart unkritischen Gebrauchs einzugehen, der jenem
des theologischen Ventriloquismus ähnelt.16 Kritisch-wissenschaftliche Spekulation
jedenfalls verfährt anders, egal ob sie nun analytische oder synthetische Urteile bzw.
deduktive oder induktive Schlüsse verfasst, egal auch, ob sie metaphysische Begriffe
oder Erfahrungsbegriffe zu prägen versucht.
Ich möchte die hier in extremis betrachteten Momente nun aber noch einmal in der
Freud’schen Tradition und bei Freud selbst aufgreifen. Ich komme hierfür auf die
erwähnte Reduktion des Ödipus zurück, um sie etwas näher zu erläutern. Freud
schematisierte bewusst und explizit, als er den Ödipus in der gängigen Version beschrieb, und verwies auf den empirisch vollständigen Ödipus (Das Ich und das Es),
der den konträren Ödipus beinhalte: Er schrieb unter Bezugnahme auf Hirschfelds
Konzeption der sexuellen Zwischenstufen von einem Kontinuum, auf dem sich alles
15 Zum phantasmatischen gender crossing und seiner Relevanz für Selbst-/Körperbildung und Wirklichkeitssinn vgl.
Moré 1997.
16 Eine bereits in der Renaissance, insbesondere bei Giordano Bruno gängige Bezeichnung für jene Kirchenväter und
-männer, die als Bauchredner im doppelten Sinn die weibliche Sexualität und Gebärpflicht bestimmen zu können vorgeben. Wir finden diesen Ventriloquismus heute wohl am prominentesten in den Ethikkommissionen vertreten.
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befinde: von der klar bipolaren bis zur stark verwischten Ausprägung männlicher
Identifikation und weiblicher Objektwahl oder umgekehrt. Die Gewichtung hänge,
so Freud, von der weiblichen und männlichen Anlage ab, und hier kommt der entscheidende Satz: „worin immer diese bestehen mögen“ (1923, S. 261). Freud geht in
seinem sozialen und familiengenetischen Konstruktivismus sogar so weit, dass er die
Möglichkeit der psychischen Bipolarität als einzige Grundlage für die Geschlechtlichkeit in Erwägung zieht (also keine wesenhafte Geschlechtssubstanz): als Resultat
von Verinnerlichung und als objektgerichtete Veräußerung homogener und heterogener Anteile eines aus Mutter und Vater bestehenden Elternpaares, die grob als Frau
und Mann gelten, und davon abgeleitet ein bisexuelles Begehren, also das Begehren
nach einem weiblichen und einem männlichen Wesen (im Sinn eines empirischen
Wesens, zôon, und nicht eines metaphysischen Wesens, ousia). Doch es handelt sich
hier nur um eine Art Einblick oder Einsicht, die immer wieder – im Übrigen auch bei
Hirschfeld – zugunsten eines impliziten oder expliziten psychischen Geschlechtswesens aufgegeben wird.
Hier klafft das große Loch vieler psychoanalytischer Geschlechtertheorien, nämlich das Körperimaginäre des jeweiligen Gesellschaftlich-Geschichtlichen (um einen
Terminus von Castoriadis zu verwenden, der mit diesem Ausdruck die Untrennbarkeit von Geschichte und Gesellschaft markiert). Denn ob eine Mutter eher als
männliche oder als weibliche (Frau oder sogar als Mann) / ein Vater als eher weiblicher oder männlicher (Mann bzw. sogar als Frau) gilt, ist in erster Linie eine Frage
der gesellschaftlichen Konvention sowie der körperlichen und charakterlichen Ausprägungen, insofern sie davon überhaupt kategorisiert werden; selbst die eventuelle
„Verleugnung“ oder die starke Relativierung der eigenen psychischen oder anatomischen Geschlechtszugehörigkeit muss sich an diese Konvention halten, um als
Verleugnung oder Relativierung zu gelingen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang an den für Lacans Begriff des Phallus gewiss
richtunggebenden Aufsatz von Joan Rivière verweisen, der unter dem Titel „Weiblichkeit als Maske“ bzw. auf Englisch unter „Womanliness as Masquerade“ erschien
und der mit „Weiblichkeit als Maskerade“ übersetzt wurde.17 Sie geht der Hypothese
nach, dass Frauen diese Maskerade anlegen, um der Rivalität der Männer dort zu entgehen, wo diese unter sich sein zu müssen glauben, also im sozialen und beruflichen
Männerbund, der den Eintritt von Frauen unter dem Vorzeichen der Gleichheit als
unzulässiges Eindringen erscheinen und mit Ausschluss ahnden lässt; diese Manifestation soll durch die Maske/rade des „ich bin ja anders“ abgewehrt werden, meist um
den Preis unterwürfig-verführerischen Gehabes und struktureller Entmündigung.
17 Den Hinweis auf die frühere deutsche Version entnahm ich dem Referat, das Petra Springer bei der Tagung in Linz
hielt, diese Version ist abgedruckt in: Riviere 1996.
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Das Gesellschaftliche als Quelle des Ödipus finden wir aber vor allem in Freuds
Theoriebildung: Die Theorie stammt aus seinen historisch-anthropologischen Nachdichtungen und er verweist in Das Ich und das Es explizit auf diese als Quelle seiner
Ödipustheorie. Doch handelt es sich dabei nicht nur um Nachdichtungen, sondern
um reduzierende Umdichtungen, insbesondere des Hesiodischen Mythos in der
Theo­gonie, der mit Stellen aus der Bibel und dem Talmud (Bava Metzia, 59) vermengt
wird.18 Diese Schematisierung, die Freud – was die Reduktion der Eltern auf den Vater angeht – noch als solche ausweist, setzt sich aber durch. In der Folge versickert die
wissenschaftlich-kritische Betrachtung über die Fußnote in den Subtext, auch den
der Psychoanalyse als Institution. Es handelt sich hierbei (versickern) nicht bloß um
eine Metapher aus dem Reich der Rhetorik, sondern um das, was ich ontologische
Metapher nenne, also eine, die seinsrelevant ist oder die eine seinsrelevante Dynamik
betrifft: Im vorliegenden Fall umschreibt diese Metapher ein gruppen- oder institutionenanalytisches Phänomen, das sich auf unsere Psychen, auf unsere Berufswahl
etc. auswirkt. Der Subtext hat die Funktion, die wahrere, aber komplexere Annäherung zum einen – im Sinn von aufheben – zu bewahren und zugleich verschwinden
zu machen, zum anderen – im psychoanalytischen Sinn – zu unterdrücken. Diese
Unterdrückung im Text ist eine Resonanz der gesellschaftlichen Stimmung und geht
in den einzelnen Adepten und Adeptinnen eine Verbindung mit ihrem eigenen Unbewussten ein, mit dem Tabu der Homo- und vor allem der Polysexualität, das – um
ein Skandal zu werden – überhaupt einmal offen thematisiert werden müsste, was für
Europa weitgehend ausgeblieben ist.
Zur Frage nach der „Homosexualität“ oder, wie es zu Freuds Zeiten hieß, der „Inversion“, möchte ich die heute oft vergessene Fußnote aus den Drei Abhandlungen
zitieren: „In der Auffassung der Inversion sind die pathologischen Gesichtspunkte
von anthropologischen abgelöst worden“ (1905, S. 38). Das war allerdings zur vorvorigen Jahrhundertwende, als der nunmehr konservative psychoanalytische mainstream noch modern zu nennen war. Die als Dogma propagierte Annahme, dass „die
Homosexuellen“ die Geschlechterdifferenz leugnen (oder gar die Differenz überhaupt, deren paradigmatische Gestalt und imaginäre Verkörperung die Geschlechterdifferenz sei) ist nicht als irrelevanter Essentialismus abzutun, sondern stellt als
generalisierende Pathologisierung eines der Hauptargumente gegen die Zulassung
so genannter Homosexueller zur Berufsgruppe der PsychoanalytikerInnen dar.19
Als derartiger Sprechakt lehnt sich dieses Dogma an eine heteronormisierende, also
fremdbestimmende Redeweise „über den Patienten“ oder „die Patientin“ an, die nicht
nur in dessen persönlicher Pathologisierung besteht, wenn es um die publizierte Be18 Nicht nur, dass die Eltern auf den Vater reduziert werden, wird die Gemeinschaft der göttlichen Geschwister auf eine
Gemeinschaft der Brüder reduziert (in der Theogonie sind sowohl männliche als auch weibliche Gottheiten und sogar die
„Mutter“ am Sturz des „Vaters“ beteiligt).
36
schreibung (immer seltener um das tiefer greifende Zusammenhangverständnis)
von Symptomen geht, sondern die vor allem in Hinblick auf die Rituale psychoanalytischer Korpsbildung konstitutiv ist. Nicht zuletzt deshalb wäre eine eingehender
gruppenanalytisch inspirierte Selbst/kritik der Institution Psychoanalyse als heterosexistischer Korps an der Zeit.
Ich möchte nun abschließend diesen (pseudo)metaphysisch angelegten Redeweisen
und den damit verbundenen Ausgrenzungspraktiken die politische Frage nach der
expliziten Instituierung in Bezug auf Homo- und Heterosexualität am Beispiel der
Einführung des PaCs gegenüberstellen. Die Initiative dazu ging von einigen linken
Abgeordneten der französischen Nationalversammlung aus, die damit nicht zuletzt
den Reaktionen lesbischer und schwuler AktivistInnen auf die gegen einen Schwulen erfolgten Gewaltexzesse Rechnung trugen. Die JuristInnen, die den Gesetzesvorschlag einbrachten, begründeten ihre Argumentation im Rahmen der Norm,
also nicht mit fundamental(istisch)en Argumenten jenseits des gesetzten Rechts. Sie
argumentierten, dass der Code civil nicht näher bestimme, ob es sich bei der Ehe
um eine Verbindung zwischen Mann und Frau handelt.20 Dass die psychoanalytischnaturrechtlichen Diskurse zur Sexualität gerade in Frankreich eine wichtige Rolle
während des Instituierungsprozesses spielen konnten, liegt vor allem daran, dass die
Psychoanalyse dort ein im europäischen Vergleich hohes gesellschaftliches Ansehen
genießt. Dass sich dabei fast ausschließlich die konservativsten und gegen den PaCs
eingestellten PsychoanalytikerInnen zu Wort meldeten, sagt mehr über die offizielle
Institution Psychoanalyse aus denn über das in Frankreich zu findende theoretischpsychoanalytische Spektrum.
Gegen diese Normsetzung waren in Frankreich der offizielle anthropologische
sowie der psychoanalytische Sex- und Geschlechterdifferenzdiskurs ebenso militant
wie homophob ins politische Schlachtfeld geführt worden: Diese Diskurse und ihre
RepräsentantInnen agierten im Sinne der naturalisierenden Grundlegung der bestehenden (politisch-juristischen) Norm einer ausschließlich heterosexuellen Partnerschaft, indem sie einen Naturrechtsdiskurs im Zeichen der Fortpflanzung und der
biologischen Geschlechterdifferenz reaktivierten. Dieser Diskurs ist in Frankreich
nie – wie in Österreich insbesondere mit Kelsen – durch eine rechtspositivistische
19 Vgl. Isay 1995; dagegen die unverhohlen homophobe Rezension seines Buches Le psychanalyste homosexuel, die Cléopâtre Athanasiou auf dem nämlichen „Argument“ gründet, dem gemäß „die Homosexuellen“ die Differenz leugnen
und deshalb nicht als PsychoanalytikerInnen zuzulassen seien (Athanasiou 1993); in jüngerer Zeit vgl. vor allem die
sehr institutionenkritischen Arbeiten des Psychoanalytikers Ralph Roughton (2002). Diese Nummer der Zeitschrift der
IPA enthält übrigens mehrere Beiträge, die anlässlich des Spring Meetings 2001 in New Orleans erstmals öffentlich zu
diesem Thema in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung vorgetragen und diskutiert wurden, also zehn
Jahre später als in der Psychiatrischen Vereinigung – aber immerhin, sie wurden es. In Europa, gar in Wien, steht diese
Auseinandersetzung noch aus.
20 Für einen fundierten Vergleich zwischen dem PaCs in Frankreich und dem in Schweden siehe Ytterberg 2003.
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Tradition radikal in Frage gestellt worden.21 Selbst Monique Wittig (1992), auf deren
Theorien Butlers Arbeiten maßgeblich aufbauen, verweist auf den „contrat sexuel“,
indem sie sich auf den Vertragstheoretiker Rousseau bezieht, der ja die Vertraglichkeit als Effekt der Natur betrachtet und nicht nur die hierarchischen Geschlechterherrschaftsverhältnisse aus der vermeintlich natürlichen – und nicht politischen
– Natur des Menschen ableiten zu können meint. Und doch setzt Wittig nirgends
so transzendental, also diesseits aller vertraglichen Setzung, an wie Butler.22 Daraus
ergab sich die auf den ersten Blick paradoxe Situation, dass in Frankreich eine relativ frühe liberale Normsetzung durch selbsternannte SpezialistInnen der Sexualität,
der Verwandtschaft und der Sozialität mit naturrechtlichen Argumenten abzuwenden versucht wurde. Dies misslang allerdings nicht zuletzt aufgrund der guten Argumente der PaCs-BefürworterInnen (Borillo und Fassin 1999) und der insgesamt
liberaleren Einstellung der Franzosen und Französinnen bzw. dem parteipolitischen
Kräfteverhältnis in den Kammern.23 Die betreffenden PsychoanalytikerInnen siedeln
im Namen der Geschlechterdifferenz das psychische Wesen der Schwulen und Lesben, ja aller Homosexuellen, in der narzisstischen Störung und der „Verleugnung
der Differenz“ an, deren Prototyp wie erwähnt die Geschlechterdifferenz sei, welche
für das (normale, eigentliche) Begehren konstitutiv sei. Niemals wird dabei die für
viele von uns heute selbstverständliche Perspektive der Konstituierung des einzig
„normalen“ Begehrens gerade durch die Verdammung des „abnormen“ Begehrens
zwischen Männern oder zwischen Frauen eingenommen. Auch hat keineR dieseR
„ExpertInnen des Sexuellen“ es der Mühe wert gefunden, sich auf die nicht unbeträchtlichen Differenzerfahrungen jener Menschen wirklich einzulassen, die von
ihnen, den VertreterInnnen des eigentlichen, natürlichen und normalen Begehrens,
ständig über das Wesen ihrer „abnormen“ oder „perversen“ Sexualität belehrt werden. Ebenso wenig werden von ihnen die mittlerweile recht zahlreich vorliegenden
psychologisch-psychiatrischen Forschungen mit Kindern und Jugendlichen, die mit
schwulen oder lesbischen Elternpaaren aufgewachsen sind, konsultiert.24 Diese bis in
die 1980er Jahre zurückreichenden Forschungen konnten bei den befragten Kindern
und Jugendlichen keine signifikanten oder psychopathologisch relevanten Unterschiede zu jenen Kindern feststellen, die mit heterosexuellen Eltern aufgewachsen
21 Auf die Frage, warum die ÖVP sich in Österreich gegen eine entsprechende Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
PartnerInnenschaften stelle, antwortete sogar der konservative und kirchennahe Parteiführer Schüssel denn auch nicht
mit einer naturrechtlichen Begründung, sondern angeblich mit den Worten: „Eben darum.“ (Zitiert nach Günther Tolar
bei der abendlichen Podiumsdiskussion während der Tagung in Linz.)
22 Dasselbe gilt für die anderen radikallesbischen Autorinnen der Zeitschrift Questions féministes, die Butler nicht mehr
erwähnt, aber deren Theoriebildung im Frankreich der 1970er Jahre ebenso bahnbrechend war wie die ihrer in die USA
emigrierten Mitstreiterin Wittig. Genannt seien insbesondere die Sozial- und Kulturanthropologin Nicole-Claude Mathieu sowie die Soziologin Colette Guillaumin.
23 Umgekehrt habe ich in Österreich niemals eine Demonstration wie jene in Paris erlebt, wo fanatische KatholikInnen
„Pédés au bûcher!“, d.h. „Schwule auf den Scheiterhaufen!“ skandierten bzw. auf Tafeln vor sich her trugen.
38
sind, im Gegenteil.25 Doch die (pseudo)metaphysische „Theoriebildung“ kümmert
sich nicht um empirische Forschung, und zwar aus Prinzip nicht, und nicht nur, weil
eine solche Fundierung in der wissenschaftlich erforschten Erfahrung und Wirklichkeit die fundamentalistisch-„naturrechtlich“ postulierende – und im politischen
Kontext jedenfalls anmaßende – Expertise über das Wesen der Homosexualität genauso ad absurdum führt wie eine ontologisch-erkentnistheoretische Kritik.
In der Allianz der psychoanalytisch-naturrechtlichen WortführerInnen mit den
katholischen VerkünderInnen eines lacanianisch inspirierten, aber umso fundamentalistischeren Ehediskurses meinten diese „ExpertInnen“, sich plötzlich unverhohlen
über die Grenzen hinwegsetzen zu können, welche die Säkularisierung politischer
Machtausübung gebietet (verwiesen sei vor allem auf jene LacanianerInnen, die
mit dem PaCs und in der damit möglicherweise einhergehenden Homoelternschaft
schon das Herausfallen der Kinder schwuler und lesbischer Paare aus dem Symbolischen, das heißt also aus der Sprache selbst, prophezeiten). Michel Tort, selbst Psychoanalytiker, bringt in seiner Kritik an diesen TheoretikerInnen das fatale Chiasma
antimoderner Anmaßung auf den Punkt (Tort 2005, S. 429): Innerhalb ihrer Berufsfelder vermögen sie, nicht zuletzt aufgrund ihrer rigiden Dogmatik, ihre paternalistische Expertise immer weniger zu verwirklichen (nämlich im Sinne eines sensiblen,
wohlwollenden und differenzierten Umgangs mit den irreduzibel komplexen sexuellen Problemen derer, welche diese Expertise suchen); stattdessen drängen sie sich
vermehrt ungefragt im politischen Feld der Normsetzung als ExpertInnen auf, in
einem Feld also, in dem jedeR BürgerIn selbst Experte bzw. Expertin für sich ist [Ich
füge hinzu: sein sollte, wenn wir „Demokratie“ noch irgendwie ernst nehmen]. Am
deutlichsten erweist sich diese Tendenz an den nicht nur latent homophoben Kirchen selbst, aber auch an den ebenfalls noch homophoben und teilweise sektenartig
strukturierten psychoanalytischen Ausbildungsvereinen. Und dies scheint mir demokratiepolitisch um einiges bedenklicher als die – der Veränderung in der diesbezüglichen Normsetzungspraxis gegenüber durchaus auch wohlwollenden – Vertreter­
Innen einer transzendentalen Diskursivierung umfassender „Heteronormativität“
24 Eine dieser pauschalisierenden Ignoranz möglicherweise zugrunde liegende Homophobie kann im Schutz einer weitgehend homophoben (Homosexuelle ausgrenzenden) Institution gut der psychoanalytischen Selbstreflexion widerstehen. Analoges gilt für die, bis vor kurzem gängige, aber nunmehr untersagte, explizite Pathologisierung der Homosexualität bzw. der Homosexuellen, die eine Realitätsprüfung durch die empirische Sozialforschung immer scheute. Aus einer
solchen geht nämlich hervor, dass unter homosexuell lebenden Menschen, sofern ihr familiäres und soziales Umfeld
nicht besonders feindselig sind, nicht mehr psychisches Leid zu finden ist als unter heterosexuell lebenden (vgl. Roughton
2002). Anstatt die Korrelation zwischen einer (nicht lückenlos und für alle Regionen erwiesenen) höheren Selbstmordrate unter schwulen bzw. bisexuellen Adoleszenten und feindseliger Familie sowie sozialem und religiösem Umfeld zu
untersuchen, wird diese Rate aber oftmals als Beweis für die Psychopathologie der Schwulen als solche herangezogen.
25 Vgl. Jansen und Steffens 2006. Der signifikanteste Unterschied sei der, dass Burschen oder junge Männer, die mit lesbischen Paaren aufgewachsen sind, stärker so genannt weibliche Charakterzüge (Empathie, Feinsinnigkeit etc.) aufweisen
und toleranter im Umgang mit „abweichenden“ Geschlechteridentifikationen sind.
39
wie Butler (2000). Dieses Wohlwollen oder gar explizite Streben nach Veränderung
wird allerdings relativiert durch pseudosubversive Theoreme, die adventistisch schon
vor der damit einhergehenden „Homonormativität“ warnen, oder den radikal verändernden Struktureffekt derartiger Normsetzungen schlichtweg in Abrede stellen.
Die transzendentale Kritik der Normativität ist zugleich eine an der (sozialen oder
politischen bzw. juristischen) Norm im abstrakt-allgemeinen Sinn (bzw. an ihren
umfassenden Effekten) und nicht an bestimmten Normen, Gesetzen oder Normierungs- und Normsetzungsweisen. Die transzendentale Position in Fragen kultureller
und politischer Praxis garantiert immerhin, – zumindest in der Vorstellung – das
letzte Wort zu haben. Inwieweit wir in diesem Zusammenhang von einer Art „Nomophobie“ sprechen können, ist allerdings Gegenstand einer anderen Analyse.
Wenn der erkenntnistheoretische und letztlich auch ethisch-politische Vorzug des
Rechtspositivismus, der sich an einer demokratischen – und als solche durchaus radikalisierbaren – Grundnorm orientiert, gegenüber den Naturrechtsdiskursen noch
einer Stütze bedürfte, so könnten wir sie in folgendem Umstand sehen: Das Bündnis
naturalisierender Normativitätsdiskurse gegen die Instituierung einer den contrat
sexuel umwälzenden Norm währte in Frankreich genau so lange, wie der politischzivilgesellschaftliche und dann parlamentarische Normsetzungsprozess brauchte,
um mit dem PaCs – als einem der ersten Regelwerke – die Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare als (minoritäre und als solche von der Mehrheit zu respektierende und gegebenenfalls zu verteidigende) Lebensgemeinschaftsform vertraglich
zu regeln. Wir können ob dieser Regulierung geteilter Meinung sein, doch ist diese
Form damit explizit, das heißt positiv normativ (und nicht mehr nur im negativen
Sinne eines grundrechtlichen Schutzes gegen Diskriminierung) von der Mehrheit
anerkannt. Die sexuelle Norm im soziologischen Sinn wird dadurch nicht schon zu
einer gleichgeschlechtlichen, allerdings verändert sich das juristische und politische
Normengefüge hinsichtlich der die Sexualitäten sanktionierenden Paarungs- und
Verwandtschaftsformen maßgeblich. Im Sinne der Zirkularität jedes Instituierungsprozesses ist dies nicht zuletzt auch ein Effekt einer bereits vorgängigen Verschiebung
der soziologischen Norm, auf die sich diese Normsetzung vermutlich ihrerseits wieder Norm verrückend auswirken wird. Und das macht eine abgeschlossene Rede von
der umfassenden Heteronormativität spätestens jetzt zu einer offenkundig falschen
(die transzendentalen Revisionen sind denn auch schon in Gang gesetzt worden).
40
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Antke Engel
Gefeierte Vielfalt.
Umstrittene Heterogenität.
Befriedete Provokation
Sexuelle Lebensformen
in spätmodernen Gesellschaften
In spätmodernen Gesellschaften erfolgt die Regulierung von Geschlecht und Sexualität nicht mehr überwiegend durch Verbot und Repression, sondern durch Normalisierung und Integration.1 Zwei-Geschlechter-Ordnung und normative Hetero­
sexualität genießen weiterhin den Status der Dominanz, aber sie beanspruchen nicht
länger das Monopol der öffentlich lebbaren geschlechtlichen und sexuellen Existenzweisen. So schreibt etwa die Berliner Senatorin für Arbeit, Soziales und Familie
2001 im Vorwort der Senatsamts-Broschüre Regenbogenfamilien. Wenn Eltern lesbisch, schwul, bi oder transsexuell sind:
„Was vor wenigen Jahren noch Unverständnis, Kopfschütteln und Abwehr bewirkt
hätte, ist heute zu einem Teil des normalen politischen Geschäfts geworden: Die Gesellschaft hat zur Kenntnis genommen, dass es lesbische Mütter und schwule Väter
gibt, dass Eltern ihr Geschlecht verändern oder sich mit Menschen mal des einen,
mal des anderen Geschlechts zusammen tun. Im Zuge der enormen Veränderungen,
denen das System Familie ausgesetzt ist, ist dies eine unter vielen – wenn auch eine,
die immer noch Ängste und moralische Ablehnung hervorruft“ (Schöttler 2001,
S. 11).
1 Ich wähle die Bezeichnung „spätmodern“ für Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, in denen die Kritik an der Moderne,
ihren Universalismen (global vereinheitlichte Begriffe von Fortschritt, Freiheit, Demokratie ...) und Dualismen (Arbeit/
Kapital, Frau/Mann, Barbarei/Zivilisation ...) in die Politik einfließt und dort Bekenntnisse zu Differenz und Pluralismus hervorbringt. Dies ist nicht synonym zu „westlich“, da es nicht für alle westlichen Gesellschaften gilt und sich auch
nicht auf diese beschränken lässt. Die politischen Veränderungen erfolgen im Zusammenhang mit „neoliberalen“ oder
„postfordistischen“ Änderungen der Produktionsverhältnisse, sollen aber nicht ausschließlich ökonomisch verstanden
werden.
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43
Auch haben kommerzielle Werbung und Mainstream-Medien Lesben und Schwule schon vor geraumer Zeit als Figuren der Darstellung wie als Subjekte des Konsums
entdeckt, und diversity management charakterisiert das zukunftsfähige Wirtschaftsunternehmen:
„Auf den modernen Zeitgeist setzen: Die Gesellschaft und mit ihr der Massenmarkt ist zunehmend von Offenheit geprägt. Schwule und Lesben sind in praktisch
allen Bereichen selbstverständlich integriert. Moderne Zielgruppen erwarten von
Unternehmen dieselbe Offenheit. In Zukunftsmärkten wird Gay Marketing positiv
wahrgenommen“, so die Beratungsfirma Homo Economics. Ungleich Besser Diversity
Consulting (www.homoeconomics.de, letzter Zugriff 13.06.07).
Solche programmatischen Bekenntnisse zur Normalisierung, Pluralisierung und
Integration von Differenz stellen eine Herausforderung für die Queer Theory2 dar,
denn offensichtlich können sich deren Macht- und Herrschaftsanalysen heute nicht
mehr auf Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung entlang naturalisierter, scheinbar stabiler sozialer Kategorien beziehen, sondern müssen auch Formen
differenzierten Einschlusses und pluralistischer Integration als Machtmechanismen
in Betracht ziehen. Neben rigider Normativität werden flexible Normalisierungen
in die Kritik an Identitäts- und Minderheitenkonstruktionen einbezogen, die einen
wichtigen Ausgangspunkt der Queer Theory darstellt (Engel 2002, S. 72 ff.).3 Doch die
Denaturalisierung von Identitäten, der Verweis auf ihre soziale Konstruiertheit und
die Komplexität von Anerkennungs- und Privilegierungsachsen, die ursprünglich als
politische Antworten auf die identitätskritischen Machtanalysen formuliert waren,
finden sich heute im dominanzgesellschaftlichen Feld als Aufforderung, die eigene
soziale Identität selbst zu gestalten und soziale Benachteiligungen durch individuelle
Eigenleistungen zu überwinden – kurzum als neue Formen der Herrschaft.4
2 Queer Theory ist ein sich seit Ende der 1980er entwickelndes Theorie- und Forschungsfeld, das sich mit den kulturellen
Vorstellungen, sozialen Praxen und gesellschaftlichen Institutionalisierungsformen von Geschlecht und Sexualität befasst (einführend: Jagose 2001; Engel 2005). Geschlecht und Sexualität gelten hierbei weder als naturgegeben noch als anthropologische Konstanten. Vielmehr wird gefragt, wie sie durch historisch und kulturell spezifische Machtverhältnisse
hervorgebracht und innerhalb dieser als Machtfaktoren wirksam werden. Besondere Aufmerksamkeit findet die Norm
rigider Zweigeschlechtlichkeit, der eine Schlüsselfunktion im Ineinandergreifen von Geschlechterhierarchie und normativer Heterosexualität zugesprochen wird (Butler 1991; Engel 2007). Die Begriffskombinationen queer/feministisch oder
geschlechtlich/sexuell, die ich im Folgenden verwende, verweisen auf die gegenseitige Absicherung der Regimes normativer Heterosexualität und rigider Zweigeschlechtlichkeit. „Heterorormativität“, eine der zentralen analytischen Kategorien
der Queer Theory, bezieht sich zunehmend nicht nur auf das Ineinandergreifen von Geschlecht und Sexualität, sondern
auch auf deren Zusammenspiel mit weiteren Kategorien sozialer Differenzierung (Hartmann 2007).
3 Sowohl politische als auch personale Identitäten trifft die Kritik, dass ihre unhinterfragte, normative Selbstverständlichkeit interne Vereinheitlichungen und externe Ausschlüsse begründet. Butler (1991) hat den Zusammenhang beider
Dimensionen mit Bezug auf Geschlechtsidentitäten und feministische Politik herausgearbeitet. Sie kritisiert, dass die
Kämpfe um Selbstermächtigung, Anerkennung und Integration von identitäts- und minderheitenpolitisch agierenden
Gruppen auf Wir-/Ihr-Konstruktionen beruhen und gesellschaftliche Dominanzrelationen und Hierarchien reproduzieren. Sie kritisiert auch, dass der privilegierte Status des autonomen, rationalen Subjekts nur durch Ausgrenzungen und
Verwerfungen all dessen, was die Selbstidentität in Frage stellt, zu erreichen ist. Identitäten werden entsprechend nicht
als Gegebenheiten, sondern Ergebnis von Zwängen, Zurichtungen oder Wiederholungen sozialer Normen angesehen, die
die Ausbildung stabiler, stimmiger und sozial verständlicher Identitäten fordern.
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Ähnlich wie in der Migrations- und der Behindertenpolitik wird also auch im sexualpolitischen Feld von offizieller Seite eine Vielfalt der Lebensformen gepriesen
– wenngleich die Vorstellungen bezüglich dessen, was darunter zu verstehen ist und
wo sich diese Pluralität entfalten möge, zum Teil recht weit auseinander liegen: Die
einen möchten den Assimilationsgedanken doch nicht aufgeben, so dass sich die
Vielfalt aufs Privatleben und die Kunst zu beschränken habe, während Bildung und
öffentliches Leben die Angleichung an eine Leitkultur erfordern. Andere befürworten ein toleranzpluralistisches Nischenmodell, das sozialen Differenzen einen ihren
kulturellen Gepflogenheiten angemessenen Raum zuspricht, der dann aber auch
dankbar zu bewohnen, farbig zu gestalten und nur in Ausnahmefällen zu verlassen
sei, auf dass sich insgesamt das bunte Mosaik der pluralistischen Gesellschaft bilde. Wieder andere preisen Differenzen als Garant von Kreativität und Neuerung; sie
wollen sie an sozio-kulturellen Schaltstellen vertreten und als Ideal installiert sehen.
Und schließlich finden sich auch diejenigen, die das Gesellschaftliche als umkämpftes
Feld widerstreitender und zum Teil unvereinbarer Differenzen sehen, deren Ringen
um Macht jedoch als Inbegriff des Politischen zu verstehen sei.5
All diesen Formen ist gemeinsam, dass die Verantwortung für die Integration
– oder auch deren Scheitern oder deren Verweigerung – den zu Integrierenden aufgebürdet bzw. angelastet wird. Dies wird schmackhaft gemacht, indem es als „Eigenverantwortung“ oder persönliche, vorgeblich freie Entscheidung codiert wird. Doch
letztlich greift ein Individualisierungsparadigma, das den Einzelnen abverlangt, sich
aktiv um ihre Normalisierung zu kümmern, die Spannbreiten normalisierter Subjektivität mitzugestalten und Erfolg an eigene Leistung, nicht an soziale Bedingungen
gekoppelt zu sehen. Soziale Gruppenzugehörigkeiten, ethische Werte oder unhinterfragte Gewohnheiten hebeln den individualisierten Leistungs- und Normalisierungsimperativ nicht aus. Wenn er greift, werden repressive und disziplinierende Formen
der Herrschaft überflüssig:
„Warum sollte es nötig sein, individuelle Freiheiten und Gestaltungsspielräume
einzuschränken, wenn sich politische Zwecke wesentlich ‚ökonomischer’ mittels individueller ‚Selbstverwirklichung’ realisieren lassen“ (Bröckling et al. 2000, S. 30).6
Im Folgenden interessiert mich die Frage, wie sich soziale Existenzweisen, die den
Normen der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität widersprechen, in den Integrationsrastern spätmoderner Gesellschaften artikulieren können. Meine These ist,
4 Für eine kritische Diagnose dieser Entwicklungen aus der Perspektive der Rassismuskritik vgl. Ha (2004).
5 Zur Unterscheidung der verschiedenen Integrationsmodelle und zur Kritik am Toleranzpluralismus vgl. Engel
(2006).
6 Zum Topos der Eigenverantwortung im Kontext neoliberaler Gouvernementalität vgl. Lemke (2000), Bröckling et al.
(2000, S. 25 ff.). Mit Fokus auf Geschlecht und Sexualität vgl. Pühl (2003), Wagenknecht (2003), Ganz (2007). Gutiérrez
Rodríguez (2003, S.175) kennzeichnet den gegen MigrantInnen geäußerten Vorwurf der „Integrationsunwilligkeit“ als
rassistische Version des Imperativs der Eigenverantwortung.
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dass durch einen Prozess, den ich projektive Integration nenne, bestimmte Formen
homosexueller Existenz nicht nur als integrationsfähig angesehen, sondern als Vorbilder zivilgesellschaftlicher, konsumkapitalistischer Bürger_innenschaft7 figuriert
werden. Entlang dieser Figur bildet sich ein neuer hegemonialer Konsens heraus, der
eine klare Hetero/Homo-Opposition in Frage stellt und durch eine Allianz dominanzgesellschaftlicher und minderheitenpolitischer Zustimmung zum neoliberalen
gesellschaftlichen Projekt ersetzt.
Inwiefern drückt sich in dieser „Allianz“ eine bestimmte Form spätmoderner
Herrschaft aus? Für wen und unter welchen Bedingungen erfolgt die Einladung zur
gesellschaftlichen Teilhabe? Welche neuen Ausschlüsse und Hierarchien entstehen
im Rahmen dieser Integrations- und Normalisierungsprozesse? Nicht zuletzt, wie
lässt sich die widersprüchliche Gleichzeitigkeit liberaler Pluralisierung und homosowie transphober8 Diskriminierung und Gewalt erklären? Welche Artikulationsund Gestaltungschancen kommen nicht-autorisierten Subjektivitäten9 zu, insbesondere dann, wenn sie dominante Werte und Institutionen in Frage stellen? Dies sind
zum einen Fragen danach, wie Differenz gesellschaftlich gelebt werden kann – z.B.,
ob sie immer einer Logik des Othering10 und einer klassifikatorischen Domestizierung unterliegt, ob Hybridität und Ambiguität gefeiert werden und ob irritierende,
schambesetzte, beängstigende Formen von Differenz anerkannt werden können. Den
7 Der Unterstrich, im Wort (Bürger_in) oder statt eines Pronomens (d_), ist von der Transgender-Bewegung eingeführt
worden, um sprachliche Geschlechtsmarkierungen, die ein Entweder/Oder von männlich und weiblich suggerieren (z.B.
die/der KonsumentIn) durch eine unterbrochene, aufgeschobene oder kontinuierliche Vorstellung von Geschlecht zu
ersetzen.
8 Homo- und Transphobie bezeichnen psychische Abwehrreaktionen (Ängste, Ekel, Panik) gegenüber gleichgeschlechtlichen oder transsexuellen bzw. transgender Praxen oder Darstellungen sowie die diskriminierenden und gewaltsamen
Ausdrucksweisen dieser psychischen Reaktionen im Umgang mit Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen und
Transgenders. Die Begriffe Homo- und Transphobie werden kritisiert, weil sie soziale Machtverhältnisse psychologisieren (Klesse 2004). Deshalb ist es wichtig, sie nicht als individuelle oder irrationale Reaktionen zu verstehen, sondern zu
betonen, dass sie durch heteronormative soziale Verhältnisse nahegelegt werden und innerhalb dieser als „vernünftig“
oder „normal“ erscheinen. Dass es „psychologisierende“ Begriffe sind, kann auch ein Vorteil sein, weil sie somit auch
unbewusste Haltungen und Praxen bezeichnen können, die von einer strukturellen Analyse (die von Heterosexismus
statt von Homophobie spricht) nicht erfasst werden. Insofern sich konkrete Gewalttaten und Morde an Lesben, Schwulen
oder Transgenders weder allein durch Strukturen noch durch rationale Motive erklären lassen, erweitern Homo- und
Transphobie den Horizont um unbewusste, psychische Momente, die aber sehr wohl auch daraufhin untersucht werden
können, wie sie zur Absicherung sozialer und symbolischer Herrschaft beitragen (Zita 1998; Hale 1998).
9 Der Begriff Subjektivität/en wird hier als Alternative zu den Begriffen Subjekt/e und Identität/en verwendet. Während
Subjekt, im Kontext poststrukturalistischen Denkens, für Positionen im Diskurs steht (z.B. die Position der autonomen,
rationalen Monade im abendländischen Diskurs der Moderne), bezeichnet Subjektivität die Formen, wie diese Subjektpositionen von Individuen sozial (als verkörperte, in Machtverhältnissen) gelebt werden – sozio-historisch spezifische
Selbstverhältnisse, Selbstverständnisse, Subjektivierungs- und Existenzweisen (Engel 2002, S. 65). Als solche sind sie im
Plural zu denken und unterscheiden sich vom Begriff der Identität, der (zumindest als Ideal) Kohärenz und Kontinuität
suggeriert. Im Unterschied dazu sind Subjektivitäten durch diverse, auch widersprüchliche Diskurse und soziale Kontexte bestimmt (z.B. kann eine Subjektivität die Positionen der gläubigen Christin, der Lesbe, der türkischen Migrantin,
der Sexarbeiterin miteinander vereinen), die nicht unbedingt in eine einheitliche Identität münden.
10 Othering bezeichnet Prozesse der Zuschreibung von Differenz, die über Klassifizierung oder Stigmatisierung insofern
hinausgehen, als dass jemand als der, die manchmal sogar das Andere der bestehenden kulturellen Ordnung bezeichnet
wird; ein Prozess, der oft damit einhergeht, die volle Menschlichkeit zu bestreiten und eine gewisse Monstrosität oder
Animalität zuzuschreiben. Der Begriff wird im Kontext der Rassismuskritik, der postkolonialen Theorie, der Disability
Studies sowie der Queer Theory verwendet.
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Begriff der befriedeten Provokation nutze ich, um auf verbreitete Formen aktiver Indifferenz hinzuweisen, mittels derer Existenzweisen, die dominante gesellschaftliche
Werte und Institutionen herausfordern, ihres provokativen Status beraubt werden,
indem sie als persönliche Idiosynkrasien oder private Spinnereien abgetan werden.11
Um kritisch damit umzugehen, dass auch die Anerkennung vielfältiger geschlechtlich/sexueller Existenzweisen zur Stabilisierung gesellschaftlicher Herrschafts- und
Ungleichheitsverhältnisse beitragen kann, scheint mir, so das Anliegen dieses Beitrags, eine Repolitisierung der Kategorien Geschlecht und Sexualität geboten.
Sexuelle Pluralisierung und Heteronormativität im Neoliberalismus
Geschlecht wird heute nicht mehr unbedingt gemäß der strikten Opposition „entweder männlich oder weiblich“ gelebt, sondern uneindeutige oder sich wandelnde Geschlechter reklamieren sozialen Raum und fordern Anerkennung. Wenn jedoch die
stabilen geschlechtlichen Identitätspositionen fragwürdig werden, die klar definierte
Begehrensrelationen begründen könnten, lässt sich auch Begehren nicht länger auf
die Alternative homo-, hetero- oder bisexuell beschränken. Welche unterschiedlichen
Einflüsse lassen sich im Hintergrund dieser Entwicklungen verzeichnen? Zweifellos
kommt feministischen, sexualpolitischen12 und queeren Bewegungen diesbezüglich
eine entscheidende Rolle zu, denn erst diese haben die Geschlechterordnungen und
normative Heterosexualität ihrer angeblichen Natürlichkeit beraubt und sie als historische Produkte – und Produktivkräfte gesellschaftlicher Machtverhältnisse – verstehbar gemacht (vgl. Engel 2002, 2005b). Damit eröffnet sich aber auch die Frage,
inwieweit Transformationen bestimmter gesellschaftlicher Machtrelationen, z.B. der
ökonomischen Produktionsverhältnisse, des nationalen Selbstverständnisses, der
Migrationsregimes oder der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ihrerseits Relevanz
bezüglich der Denaturalisierung und Pluralisierung der Geschlechter und Sexualitäten gewonnen haben. Kommerzielle Medien, Mode-, Werbe- und Kulturindustrie
verbreiten heutzutage Repräsentationen norm-abweichender sexueller Subjektivität,
und so manches Wirtschaftsunternehmen demonstriert Offenheit für Lesben und
11 Ein toleranzpluralistisches Negieren von Machtverhältnissen ist ebenso aktiv indifferent wie Verharmlosungen von
hate speech oder rassistischen, sexistischen oder antisemitischen Aussagen als „persönliche Meinungsäußerungen“.
12 Sexualpolitische Bewegungen haben in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedliche
Ausprägungen erfahren: So lässt sich z.B. unterscheiden, ob Lesben eher im Kontext der Frauen- oder der Schwulenbewegungen aktiv sind, welche Rolle Abtreibungsrechte für die Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung von Frauen spielen,
ob eine Hurenbewegung für die Anerkennung von Prostitution als Arbeit kämpft oder Sexarbeit primär unter der Überschrift Menschenhandel und Zwang politisiert wird, ob Transsexuelle und Transgenders, Transgenders und Intersexuelle
sich abgrenzen oder zusammenarbeiten und wenn ja, in welchen Feldern. Eine einfache Auflistung sexualpolitischer
Bewegungen unter Identitätskategorien wie Frauen, Lesben, Schwule erscheint wenig aussagekräftig und problematisch,
weil homogenisierend. Eine Einführung zu den sexualpolitischen Bewegungen im Vorfeld der Queer Theory bietet Jagose
(2001) und Hieber/Villa (2006) für den angloamerikanischen Bereich.
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Schwule, indem es sie als Konsument_innen anspricht und/oder Mitarbeiter_innen
mit betriebsinternen diversity-Konzepten beglückt.
Ökonomische Verhältnisse scheinen somit auf die eine oder andere Weise für
die Konstituierung sexueller Subjektivitäten und sozialer Beziehungen bedeutsam
zu sein. Doch wie können wir die Toleranz kapitalistischer Verhältnisse für nichtnormgerechte sexuelle Identitäten erklären? Verweist dies, wie David Evans (2000)
argumentiert, auf die „Amoralität des Marktes“, der alles vereinnahmt, was zu Profit
gemacht werden kann? Zeigt sich hier die Modernisierung des Kapitalismus, der flexiblere, individualisierte Arbeitskräfte benötigt und diese, so Richard Florida (2001),
in der schwul/lesbischen Mittelschicht zu finden glaubt? Stabilisiert die sozio-ökonomische Integration von Lesben und Schwulen womöglich sowohl Heteronormativität als auch Konsumkapitalismus, indem ein Raum fetischisierter Verdinglichung
„des Anderen“ geschaffen wird, ein Raum, auf den Neugier und Angst projiziert werden können?
Ich möchte die These vertreten, dass neoliberale Individualisierungsdiskurse eine
Pluralisierung sexueller Subjektivitäten und Lebensformen forcieren, weil damit eine
Ideologie der freien Gestaltbarkeit des eigenen Lebens versinnbildlicht werden kann.
Insofern diese Gestaltungsmacht als „Befreiung von repressiven Regulierungen“ gepriesen wird, dient sie dazu, gesellschaftliche Verantwortung in Eigenverantwortung
zu übersetzen und Zustimmung zum Leistungsprinzip13 sowie zum Abbau sozialstaatlicher Absicherung schmackhaft zu machen. Entsprechend behaupten die neoliberalen Diskurse eine Konvergenz oder quasi natürliche Stimmigkeit zwischen
sexuellem Pluralismus und Marktpluralismus, zwischen sexueller Freiheit und
Marktfreiheit. Wichtig erscheint mir hierbei, dass es nicht nur darum geht, neue
Konsument_innengruppen zu erschließen und nicht-normkonforme Sexualitäten
als Arbeitssubjekte zu integrieren, sondern sexuelle Subjektivitäten zu konstituieren,
die der Konsolidierung der neoliberalen Ordnung dienlich sind (Hennessy 2000;
Duggan 2003; Sigusch 2005). Für Volker Woltersdorff (2004) manifestiert sich dies
darin, dass Klischeebilder von Schwulen als Idealfiguren neoliberaler Transforma­
tion geschaffen werden:
„[...] zeitgenössische Medienberichte und Politikstrategien versuchen Schwule
(und in geringerem Maße auch Lesben) und den ihnen zugeschriebenen gay lifestyle
als Musterschüler des Neoliberalismus und als prestigeträchtige Konsum-Avantgarde in die Mitte der Gesellschaft einzuschreiben“ (Woltersdorff 2004, S. 146).
Doch, so fragt es sich, wie können diese Musterschüler zum Modell neoliberaler
Subjektivität werden; warum sollte sich ein heteronormativer Mainstream an ihnen
13 Das Leistungsprinzip legitimiert hierarchische Positionen in Arbeit und Beruf, reguliert aber zunehmend auch den
Zugang zu politischen Rechten und sozialen Ansprüchen (z.B. auf öffentlichen Raum, mediale Artikulation, Wohlfahrt):
Rechte oder Ansprüche hat, wer etwas leistet, gemäß der entsprechenden Leistung (die jedoch auch in Form ökonomischen, sozialen oder kulturellen Kapitals erbracht werden kann).
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orientieren, statt sie als „Streber“ auszugrenzen? Untersucht eine die entsprechenden
Diskurse genauer, lässt sich eine interessante Beobachtung machen: Präsentiert wird
in der öffentlichen Darstellung der „Homos“ mitnichten einzig das hippe, autonome,
allein der Arbeit und dem Konsum verschriebene Subjekt, das als einsamer Held,
Manager, Star seinen Erfolgen frönt. Vielmehr finden sich zahlreiche Repräsentationen von schwulen oder lesbischen Paaren, Freundeskreisen oder Familien, die einander umsorgen und nähren, in denen Unterstützung geleistet oder Kompetenzen
vermittelt werden. Der neoliberale Diskurs des Sexuellen zeichnet sich, so meine
Beobachtung, durch eine paradoxe Verbindung von Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit aus: Parallel zu Forderungen nach sexueller Selbstbestimmung werden
Ideale der Treue, des commitment, der Sorge und Verantwortung in Paar- und Familienkonstellationen aktiviert (vgl. Engel 2005a). Es ist also nicht einfach die Individualisierungsnorm, sondern das Konterkarieren von Autonomie und Bindung, das den
neoliberalen Zugriff aufs Sexuelle kennzeichnet. Dank der verbreiteten Bereitschaft,
Geschlecht und Sexualität als Inbegriffe des Persönlichen vor öffentlichem Zugriff zu
schützen, kann über den Bezug aufs Sexuelle das Bekenntnis zur privatisierten Verantwortung in den individuellen Freiheitsdiskurs eingeführt werden. Entsprechend
erweist sich die verstärkte Offenheit gegenüber Regenbogenfamilien14 als durchaus
funktional:
„Im Zuge des neoliberalen Umbaus der Familie zu einer Absicherungsgemeinschaft, an die sich vormals sozialstaatliche Funktionen delegieren lassen, geraten
auch homosexuelle Partnerschaften in die Aufmerksamkeit [...]. Die gesellschaftliche
Entsolidarisierung ist damit die historische Bedingung für die Anerkennung einzelner nicht-heterosexueller Lebensweisen – nach der Devise: du darfst so leben, wie
du bist, wenn du damit erfolgreich bist und selbst dafür die Verantwortung übernimmst“ (Woltersdorff 2004, S. 146).
Integriert werden kann, wer sich den Kriterien individualisierter Leistung und
Verantwortung unter der Überschrift einer globalisierten kapitalistischen Marktwirtschaft verschreibt. Somit finden sich durchaus einige „Integrationsgewinner_innen“,
die ihre Homosexualität offen im Zentrum spätkapitalistischer Gesellschaften leben.
Lisa Duggan (2003), Queer-Theoretikerin aus New York, fragt mit spitzer Ironie, ob
jene damit womöglich sogar eine bestimmte „Homonormativität“ einzusetzen vermögen?
14 Ähnlich wie Patchworkfamilie ist Regenbogenfamilie eine metaphorische Begriffsschöpfung, die sich verändernde
soziale Familienverhältnisse erfasst. Sie bezeichnet, abgeleitet von der Regenbogenflagge, Familien mit lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender oder queeren Elternteilen.
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Die „neue Homonormativität“ vereint sich mit der Heteronorm
In The Twilight of Equality (2003) benützt Duggan den Begriff „new homonormativity“ für die neoliberale Politik einer Gruppe nord-amerikanischer weißer Schwuler,
die in diversen Publikationen für eine Homo-Politik eintreten, welche sich den Prinzipien der häuslichen Privatheit, der freien Marktwirtschaft und des Patriotismus
verschreibt. Dennoch rühmen sie sich ihrer angeblichen politischen Neutralität. So
heißt es auf der Website des Independent Gay Forum (IGF):
„We deny ‚conservative‘ claims that gays and lesbians pose any threat to social morality or the political order. We equally oppose ‚progressive‘ claims that gays should
support radical social change or restructuring of society“ (IGF, zitiert nach Duggan
2003, S. 48).
Genau diese Behauptung „politischer Neutralität“ versteht Duggan als typisches
Moment neoliberaler Politik. Die Deregulierung durch staatliche Wirtschaftspolitik,
die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und die Privatisierung sozialer Aufgaben und Risiken gelten dann als Ergebnisse von Sach- und Verwaltungszwängen.
In eben diese Argumentation schreibt sich das IGF ein und befürwortet Prozesse
ökonomischer „Umverteilung nach oben“. Damit orientiert sich gay neoliberalism an
einem Programm zu Restrukturierung von Gesellschaft und globalen Verhältnissen.
Statt schwullesbischer Lobbypolitik vertreten die neoliberalen Schwulen – ganz im
Wortsinne der „Normativität“ – den Anspruch, dem eigenen Wertehorizont universelle Gültigkeit zu verleihen. Das Ziel ist hierbei tatsächlich weder Normalisierung
noch gleichberechtigte Teilhabe, sondern Ausdifferenzierung: Gemäß der Leistungsnorm schafft diese Politik Felder gesellschaftlicher Anerkennung für auserwählte
Lesben und Schwule und differenziert die Formen der Teilhabe an gesellschaftlichen
Rechten, Reichtum und politischer Macht.
Um die politische Relevanz dieses Diskurses zu beurteilen, möchte ich vorschlagen,
die „neue Homonormativität“ als eine spezifische Konstellation der Gouvernementalität zu analysieren. Der von Michel Foucault geprägte Begriff der Gouvernementalität bezeichnet das gesellschaftliche Zusammenspiel von Subjektivität und Herrschaft:
Er erfasst, wie sich Herrschaftsverhältnisse über Formen von Subjektivität konstituieren und wie sich zugleich die Subjekte mittels spezifischer Subjektivierungsweisen
in Herrschaftsverhältnisse einschreiben (vgl. Foucault 1987, 2000; Engel 2003). Den
Zusammenhang stellt Foucault über die Einführung des Begriffs der Regierung her,
der Formen der „Regierung des Selbst“ mit der „Regierung anderer“ verknüpft, wobei Regierung sich dadurch auszeichnet, die Bedingungen des Handelns (anderer)
zu beeinflussen: „Regieren hieße in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns anderer zu strukturieren“ (Foucault 1987: S. 255). So kann Foucault die Stabilisierung
dynamischer Machtverhältnisse zu Herrschaftsformen, deren Anfechtungen sowie
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die Bedeutung von Subjektivitätsformen und Subjektivierungsweisen für diese Prozesse erfassen.
Das Gouvernementalitätskonzept ermöglicht es, die Formen der Regierung des
Selbst und der Regierung anderer in den Blick zu nehmen, mittels derer eine weiße, schwule Führungsschicht sich an der Durchsetzung des neoliberalen Projekts
beteiligt. Nehmen wir das IGF als Beispiel, so zeichnet sich deren Argumentation
dadurch aus, dass sie Normen der Eigenleistung, des Privatvermögens, der maskulinen Dominanz für sich beanspruchen und dass sie gesellschaftliche Verantwortung verabschieden, aber „familiäre“ Verantwortung befürworten. Sie bemühen
sich, verschiedene Teile der Community einzubinden, indem sie z.B. versprechen,
dass Leistung und Selbstverantwortung zu sozialer Integration und kultureller Sichtbarkeit führen oder dass die Anerkennung als Konsumsubjekt zur Toleranz gegenüber vielfältigen sexuellen und geschlechtlichen Lebensstilen beiträgt. Damit will ich
nicht sagen, dass die neoliberalen Transformationen federführend von den gay white
males durchgesetzt werden, wohl aber, dass diese Dank ihrer Offenheit für die entsprechenden Anrufungen als Katalysatoren wirken. Die Durchsetzung neoliberaler
Vorstellungen beruht, wie Lisa Duggan aufzeigt, nicht zuletzt darauf, Brücken zu den
verschiedenen Minderheitengruppen zu schlagen, wobei deren Forderungen jedoch
entkoppelt werden von Kämpfen für soziale Gerechtigkeit und gegen ökonomische
Ausbeutung.
Doch wird dieses Projekt keineswegs „von oben aufgedrückt“, sondern es setzt
auf die aktive Beteiligung der Individuen und knüpft an bestehende kulturelle Politiken und Identitätspolitiken an. In diesem Sinne besteht keine klare Grenzziehung
zwischen neoliberalen Kräften und politischen Bewegungen. Vielmehr muss gefragt
werden, wie sich neoliberale Kräfte innerhalb der Bewegungen durchsetzen bzw. wie
Bewegungswissen seinen Weg in neoliberale Diskurse findet. Foucaults Konzept der
Gouvernementalität ist diesbezüglich insofern hilfreich, als es nicht nur die unhintergehbare Eingewobenheit in Machtverhältnisse hervorhebt (Foucault 1983), sondern darüber hinaus auf Formen des Handelns aufmerksam macht, die auf andere
einwirken, nicht indem sie diese zwingen, sondern indem sie deren Eigenaktivitäten
aktivieren. Hierbei kommt den „Technologien des Selbst“ prominente Bedeutung zu,
denn sie sind als doppeldeutige, doppelt bedeutsame Machtmechanismen zu verstehen: Mittels der Selbsttechnologien sind die Subjekte zugleich Produkte, aber auch
Ausübende der Macht gegenüber sich selbst.15 Dies ermöglicht Foucault zu zeigen,
wie sich die Subjektivierungsanforderungen in die Verantwortung der Einzelnen
verlagern und diesen abverlangen, sich selber zum Subjekt zu machen, indem sie die
15 Foucault (1987, S. 265-291) und (2000) befassen sich eher damit, wie Selbsttechnologien der Integration der Individuen
in den Staat dienen, während Foucault (1987, S. 243-261) das Umgehen der Individuen mit sich selbst fokussiert. In allen
Fällen wird aber die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Handlungsfreiheit im Prozess der Subjektivierung betont.
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Norm verinnerlichen und verkörpern. Somit manifestiert sich in den Technologien
des Selbst eine Form der Macht, die den Grundstock für ein Ideal der Subjektivierung als Individualisierung legt, das in spätmodernen Gesellschaften zunehmend
hegemonial wird.16
Lisa Duggan betont die hohe Bedeutung, die kulturellen Politiken hinsichtlich des
Aktivierens von Eigenverantwortung und der Popularisierung bestimmter Technologien des Selbst zukommt. Leider unterschätze die Linke oft, dass neoliberale Kräfte
bzw. die neue Rechte ausgesprochen versiert darin seien, mittels kultureller Politiken
Allianzangebote in progressive politische Bewegungen hinein zu machen, und zwar,
indem sie bestimmte Diskurse, Argumentationsfiguren oder Bilder aufgreifen: So
werde beispielsweise an die Forderung nach sexueller Selbstbestimmung der feministischen und Homo-Emanzipationspolitiken angeknüpft oder, so im Konzept des
diversity mangagement, es würden Differenzen als kulturelles Kapital und Bereicherung für die Firma gefeiert (Duggan 2003, S. XVI). Der Konsens, der auf diese Weise
suggeriert bzw. geschaffen wird, beruht jedoch darauf, dass vormals sozio-ökonomische Gerechtigkeitsforderungen auf privatisierte Freiheitsrechte verkürzt werden,
die sich in den Horizont einer Privatisierung sozialer Verantwortung einpassen lassen (ebd., S. XIV f.).
Ich möchte, um den Mechanismus zu bezeichnen, der diesen Prozess der Konsensbildung bzw. der Allianz unterschiedlicher politischer Interessen anleitet, den Begriff
der „projektiven Integration“ vorschlagen. Während andere Formen z.B. assimilatorischer oder toleranzpluralistischer Integration ebenfalls weiter bestehen, kann
projektive Integration als charakteristisch für spätmoderne, neoliberale Formen der
Gouvernementalität angesehen werden. Assimilation und Toleranzpluralismus stabilisieren die Norm, indem sie sich an ihr ausrichten oder klar definierte Nischen
der Differenz bereitstellen. Im Gegensatz dazu pluralisiert projektive Integration
die Norm selbst. Mittels Normalisierungsprozessen wird Differenz in die Norm integriert, so dass kulturelle Bilder z.B. staatsdienender Homos, Kultur schaffender
MigrantInnen sowie sportlicher oder wissenschaftlicher Asse unter geistig oder körperlich anders befähigten Menschen entstehen. Diese Bilder hybrider, flexibler und
ambivalenter Identitäten werden als Inbegriff erfolgreicher, kreativer Individualität
projektiv aufgeladen. Sie sind deshalb attraktiv, weil sie Differenz als Besonderheit,
aber eben nicht als das ganz Andere inszenieren. Diesbezüglich ist zudem hervorzu-
heben, dass Differenz im Kontext projektiver Integration nicht essentialisiert wird,
sondern entweder als Produkt individueller Praxis oder als Ausdruck komplexer sozialer Subjektivierungsweisen erscheint.17
Da somit die schicksalhaft Gebundenheit an eine womöglich naturalisierte Differenz, sei es des Geschlechts, der Rasse oder des sexuellen Begehrens, verabschiedet
ist, erscheint es auch nicht länger notwendig, sich an einer stabilen, gesetzesgleichen
Norm auszurichten, d.h. sich anzupassen oder den Status der Normabweichung identifikatorisch anzunehmen bzw. zu inkorporieren. Vielmehr bietet es sich an, sich die
gesellschaftlichen Angebote der Normalisierung kulturell konstruierter Differenzen
zu eigen zu machen. Diese „Angebote“ werden maßgeblich durch öffentlich verfügbare Bilder, sei es in den Medien, der Werbung, der Kunst oder in Publikationen
von Institutionen, Organisationen oder Firmen vermittelt. Hinsichtlich der Funktionsweisen projektiver Integration erscheint es mir entscheidend, dass die Bilder
„gefeierter Differenz“ in unterschiedliche Richtung wirken: Sie dienen majoritären
Subjekten als Projektionsfläche ihres hegemonialen Begehrens und sie bieten minoritären Subjekten an, sich als Avantgarde zu verstehen. Diese doppelte Adressierung,
die sich beispielsweise im Kontext der Sexualität gleichermaßen an Hetero- und
Homosexuelle richtet, ist entscheidend für die Herausbildung eines hegemonialen
Konsenses. Sie funktioniert darüber, dass beiden Gruppen angeboten wird, was Arlie
Hochschild (2002) ein „mögliches Selbst“ nennt. Das mögliche Selbst ist gerade in
seiner Existenz als Potenzial höchst real – nur dass es durch einen fortwährenden
Aufschub charakterisiert ist – z.B. kann sich ein Selbstverständnis über die niemals
benützte Kletterausrüstung auf dem Dachboden oder den seit zehn Jahren geplanten
Spanischkurs definieren.
Entscheidend ist: Auch wenn das „mögliche Selbst“ virtuell ist, erweist es sich als
wichtiges Moment der Persönlichkeit. Hinsichtlich einer spätmodernen Pluralisierung geschlechtlicher und sexueller Existenzweisen, die nicht länger durch eine strikte Homo/Hetero-Opposition gekennzeichnet sind, heißt dies: Für die majoritären
Subjekte erfolgt die Adressierung als mögliches Selbst in Form eines Versprechens,
nämlich des Versprechens, dass sie individuell und außergewöhnlich sein können,
ohne die Privilegien heteronormativer Behaglichkeit aufgeben zu müssen. Die wohl
etablierten Ideale der Liebe und der Familie, des Zuhauses und der Statusobjekte
lassen sich, so wird suggeriert, wunderbar durch eine gewagte sexuelle Subjektivität
ergänzen. Indem kulturelle Bilder die Kombinierbarkeit von Individualität und Gemeinschaftlichkeit aufrufen sowie soziale Differenz als Bereicherung präsentieren,
können sie als Beitrag zur „Bewältigung“ diverser sozialer Ängste angesehen wer-
16 Lorenz/Kuster (2007) verkomplizieren diesen Prozess aus queertheoretischer Sicht, indem sie Subjektivierung als
Ergebnis „sexueller Arbeit“ bezeichnen, die nicht einfach Individualisierung, sondern die „Durchquerung“ heterogener
sozialer Positionen erfordert.
17 Ha (2004) entwickelt diesen Gedanken für den Kontext der Migrationspolitik, indem er zeigt, wie Differenzen, die
nach dem Modell der Hybridität entworfen sind, in spätkapitalistischen Gesellschaften gefeiert und forciert werden, weil
sie für deren politische und ökonomische Modernisierung nutzbar sind – so dass die paradoxe Situation entsteht, dass
rassistische Ausbeutungsrelationen progressive, anti-essentialistische Identitätsmodelle begründen.
Projektive Integration: Verführung in die Verantwortlichkeit
52
53
den, die aus der neoliberalen Prekarisierung von Lebensverhältnissen resultieren:
Sich mit Bildern vieldeutiger Geschlechter und Sexualitäten als möglichem Selbst
zu identifizieren, erlaubt es, die entsprechenden, gesellschaftlich generierten Ängste
zu umschiffen: die Angst, die individuelle Autonomie verlieren und in Abhängigkeit
geraten, oder umgekehrt die Angst, dass bisher verlässliche Kontexte eine_n in die
Selbstverantwortung entlassen, oder dramatischer, dass das gemütliche Dasein eines
„ganz normalen“ Lebens in Devianz oder Verworfenheit umkippt. „Aber“, so lautet
die Story, „wenn die Homos wissen, wie sich die widersprüchlichen Anforderungen
von Individualität und Verantwortung kombinieren lassen, dann könnte ich mir
doch ihre Besonderheit als mein mögliches Selbst aneignen!“ Parallel dazu finden
Lesben und Schwule in den gleichen Bildern auch für sich ein attraktives mögliches
Selbst im Angebot – eines, das frei ist von allem, was als beschämend oder entwertend gilt. Gemäß den begehrten Bildern sind sie Idealbürger_innen und vorbildliche
Steuerzahler_innen, Konsument_innen, Soldat_innen oder Schwiegerkinder.
Diese beiden unterschiedlichen Versionen des möglichen Selbst, die durchaus
verschiedene Funktionen erfüllen, passen im Raster projektiver Integration hervorragend zusammen. Sie implizieren das Aufkommen eines neuen hegemonialen Konsenses, der darauf beruht, dass nicht länger stabile Normen sondern flexible Normalisierung die Individuen anleitet, sich einer sozial anerkannten Existenzweise zu
verschreiben. Auf diese Weise wird die Integration all derjenigen forciert, die sich
dem privatisierten Leistungsindividualismus verschreiben und den neuen Formen
sozialer Differenzierung und Hierarchisierung entlang individualisierter Kriterien
wie Bildung, Gesundheit, Flexibilität etc. zustimmen. Projektive Integration vollzieht
sich somit in einem sozio-ökonomischen Kontext, der sich dadurch auszeichnet, dass
der Abbau sozialer Sicherungssysteme die Einzelnen mit widersprüchlichen Anforderungen von Individualisierung und privatisierter Verantwortung beglücken. Dass
Lesben und Schwule in diesem Kontext gefeierte Subjektivitäten darstellen, resultiert
somit nicht so sehr aus der Tatsache, dass sie als bereitwillige Konsument_innen oder
als ästhetisch-kulturelle Stilbildner_innen fungieren, als dass sie als Verkörperung
einer privaten Lösung für ein sozio-ökonomisch bewirktes Problem gelten. Als solche erscheinen sie als „Musterschüler“ der Anpassung an die Herausforderungen
neoliberaler Transformation – nicht etwa aufgrund ihrer sozialen Differenz, sondern
weil sie angeblich wissen, wie Differenz zu managen und in kulturelles Kapital zu
übersetzen ist.
Soweit die Normalisierungsgeschichte, die nicht norm-gerechte geschlechtliche
und sexuelle Existenzweisen unter der Überschrift der Integration in spätmoderne
Gesellschaften betrachtet. Die toleranzpluralistische Offenheit, derer sich diese Gesellschaften rühmen, erweist sich als ausgesprochen funktional für die Durchsetzung individualisierter Leistungs- und privatisierter Verantwortungsnormen. Das aber heißt,
54
dass sich auf der Rückseite dieser Geschichte die Ausschlüsse derjenigen abspielen, die
den neoliberalen Anforderungsprofilen nicht genügen. Auch vollziehen sich dort die
gewaltsamen, homophoben, sexistischen, rassistischen und antisemitischen Praxen,
die eine Lösung der gesellschaftlichen Widersprüche nicht durch flexible Gestaltung,
sondern durch Stabilisierung des Selbst und durch Vereinheitlichung sozialer Lebensformen herzustellen trachten. Und dort finden sich diejenigen queer/feministischen
politischen Bewegungen, die sich gegen die differenzierte Integration, die neuen Ausschlüsse und Hierarchien der neoliberalen Globalisierung wenden.
Umkämpfte Heterogenität – zugunsten einer Politics of Strangeness
Wenn ich diese „Rückseite“ unter dem Begriff umkämpfte Heterogenität zusammenfasse, so gehe ich davon aus, dass sich heutzutage keine klare Grenzlinie mehr zwischen heterosexuellem Mainstream auf der einen Seite und Homo-Minorität auf der
anderen Seite ziehen lässt. Zum einen bildet sich, wie angedeutet, ein neuer hegemonialer Konsens, der bestimmte Formen homosexueller Existenz nicht nur als integrationsfähig ansieht, sondern als Vorbilder zivilgesellschaftlicher, konsumkapitalistischer Bürger_innenschaft figuriert. Spätmoderne Herrschaftsverhältnisse ersetzen
somit die Hetero/Homo-Opposition durch eine gemeinsame Anrufung vielfältiger
geschlechtlicher/sexueller Existenzweisen, um eine Allianz dominanzgesellschaftlicher und minderheitenpolitischer Zustimmung zum neoliberalen gesellschaftlichen Projekt zu gewinnen. Des Weiteren bedeutet dies aber auch, dass unter den
Kritiker_innen neoliberaler Verhältnisse rechts-nationale, patriarchale, homophobe
und rassistische Traditionalist_innen und linke, queer/feministische und/oder antirassistische Kapitalismuskritiker_innen aufeinander treffen, dass sich Verteilungsgerechtigkeit und Normativitätskritik aneinander reiben, dass Forderungen nach
Anerkennung individueller Besonderheit, kultureller Spezifik oder sozialer Werte
gegeneinander ausgespielt werden. Diese Heterogenität von teilweise inkompatiblen
Werten, Wünschen und Interessen ist politisch umkämpft – oder wäre dies zumindest, sofern sie nicht hegemonial still gestellt ist. Entscheidend bleibt also, wer welche
Formen des Ausschlusses oder der Entwertung propagieren und praktisch umsetzen
kann und welche Praxen dagegen in Anschlag gebracht und gesellschaftspolitisch
wirksam werden können.18 In dieser Hinsicht sind Formen normalisierender Inte18 Diese Fragen sind insofern entscheidend, als damit umzugehen ist, dass Tendenzen liberaler Pluralisierung mit dem
Fortdauern von Diskriminierung und Gewalt unmittelbar verwoben sind. Die Schwierigkeit liegt darin, dass sich politische Kritik an neoliberal induzierten sozialen Polarisierungen häufig in Rassismen, Antisemitismus oder Homo- und
Transphobie ausdrückt. Dies kann somit nicht einfach psychologistisch als „Abwehr des Anderen im Selbst“ erklärt
werden, sondern muss gesellschaftspolitisch interpretiert werden, um einen gewalt- und herrschaftskritischen Blick auf
die „Strategien“ zu entwickeln, mittels derer Kämpfe um Hegemonie und Ressourcen geführt werden.
55
gration zu kritisieren, denn wenngleich Normalisierung von den einen als Freiheitsgewinn gefeiert wird, impliziert sie für andere die Beteiligung an Formen der Verneinung, des Ausschlusses oder der Verwerfung von „Andersheit“ – all dessen, was auch
weiterhin für Scham, Scheitern, Devianz oder Pathologie steht. Es ist zu bezweifeln,
dass auch diese Formen der Differenz gemeint sind, wenn von neoliberaler Seite von
der Singularität oder Einzigartigkeit jeder Subjektivität die Rede ist. Oder wird dieser
tatsächlich mehr als nur privater Raum, nämlich auch öffentliche Artikulations- und
Gestaltungsmacht zugestanden?
Was heißt es, politische Handlungsmächtigkeit auch für diejenigen zu reklamieren, denen der Status eines Subjekts abgesprochen wird oder denen gegenüber es
sogar an sozialer Verstehbarkeit mangelt? In dem Aufsatz „The Question of Social
Transformation“ verschreibt sich Judith Butler (2004) genau dieser Frage:
„What moves me politically, and for which I want to make room, is the moment
in which a subject – a person, a collective – asserts a right or entitlement to a livable
life when no such prior authorization exists, when no clearly enabling convention is
in place“ (Butler 2004, S. 224).
Für Butler beweist sich Politik dort, wo im Kontext einer fundamentalen Gewalt,
nämlich der Gewalt, eine Subjektivität oder eine Lebensweise als irreal oder unlebbar
zu bezeichnen, sich Praxen entwickeln, die ein Überleben (survival) sichern (ebd., S.
218). Viele Menschen, die nicht im Kontinuum normalisierter gesellschaftlicher Subjektivitäten unterzubringen sind, (über)leben mit der Erfahrung, aus dem Feld des
Menschlichen herausgeschrieben zu sein und den Status eines Subjekts nicht in Anspruch nehmen zu können. Insofern sie dennoch leben, sprechen und soziale Teilhabe beanspruchen, leben sie in der Form eines „Irrtums“ oder eines „Betrugs“ – „as if
one were human“ (ebd.). Dies ist eine Erfahrung, die beispielsweise manchen Transgenders vertraut ist, die nicht in den Rastern der binären Geschlechterunterscheidung zuhause sind, oder manchen illegalisierten Migrant_innen, die in vieler Hinsicht gezwungen sind zu leben, als wären sie nicht existent, oder manchen psychisch
und geistig anders befähigten Menschen, denen von der Dominanzgesellschaft ein
Seinszustand des Nicht-ganz-Menschlichen zugesprochen wird. Wenn damit die potentiell politischen Subjekte von der normativen Ordnung als „Unmöglichkeit“ aufgefasst werden und sich womöglich selber als solche erleben, die nur im Modus des
„als ob“ Zugang zum Menschlichen haben, radikalisiert sich die Herausforderung
der Handlungsmächtigkeit. Treten den gewaltförmigen Ausschlüssen (kollektive)
Formen politischen Handelns entgegen, die sich der Norm widersetzen, obwohl sie
nicht autorisiert sind, so entsteht das Bild eines agonalen Politischen, das impliziert
„that a certain agonism and contestation will and must be in play.“ (ebd., S. 226).
Queer-politische Ansätze zielen darauf ab, Differenz/en nicht an den Normen der
dominanten Ordnung auszurichten, sondern im Gegenteil die Prozesse normativer
56
Differenzproduktion zu unterbrechen, über die sich Dominanzverhältnisse reproduzieren (vgl. Engel 2002). Zwar münden queere Ansätze keineswegs automatisch
in eine Kritik spätmoderner Herrschaftsverhältnisse (vgl. ebd., 199 ff.), sind aber
doch geeignet, ein Modell des agonalen Pluralismus zu forcieren und Dissens als
produktives Moment des Gesellschaftlichen einzusetzen. In diesem Sinne vertritt
etwa ­Shane Phelan in ihrem Buch Sexual Strangers (2001) die Auffassung, dass eine
politische Konzeption, die darauf verzichtet, majoritäre Subjekte in ihren Selbstverständnissen zu erschüttern, bedeutungslos bleibe. Sie werde niemals die Partizipation von Menschen ermöglichen, die innerhalb der bestehenden sozio-kulturellen
Raster nicht den Status der Normalität für sich in Anspruch nehmen können. Deshalb fordert Phelan von den Vertreter_innen des Toleranzpluralismus, des Multikulturalismus oder des diversity management die Bereitschaft, sich zunächst einmal
selbst zu dezentrieren (vgl. ebd., S. 143). Phelans Kritik gilt denjenigen, „[who; A.E.]
cannot or will not allow the presence of other cultures or identities to shape their
identities in turn“ (ebd., S. 146). Dem entgegen führt sie die Rede von den strangers
ein, um ein Modell aktiver politischer Partizipation zu entwerfen, in dem bestehende Machtrelationen sowohl von dominanten als auch von minorisierten Positionen
aus angefochten werden können.19 Strangeness bedeutet für Phelan eine „difference
that makes a difference“ (ebd., S. 141), die von keiner Kategorie je eingeholt und
stillgestellt werden kann. Insofern strangeness ein nicht-assimilatorisches Modell der
Differenz stärkt, wird nicht zuletzt diejenige strangeness, die Dominanzpositionen
innewohnt, mit ins Geschehen gezogen: Denn irreduzible Differenz ist eine Erfahrung, die im Prinzip jedem Subjekt zugänglich ist – so sie nicht verworfen, verdrängt
oder auf andere projiziert wird.
Mit Phelan geht es also um eine Politik, die die unhintergehbare Andersheit des
Anderen sowie die Andersheit des Selbst als notwendige Bedingung ihres Gelingens
ansieht. Entscheidend ist jedoch, dass auch dies eine Machtfrage eröffnet: Diejenigen, denen ihre strangeness als Markierung auferlegt ist – ein othering, das in Form
einer Kategorisierung, einer Stigmatisierung oder eines Ausschlusses auftreten kann
– stehen vor der Herausforderung, diese Markierung entgegen der Entwertung stolz
oder trotzig in Anschlag zu bringen. Hingegen sind diejenigen, die das Privileg haben, ihre strangeness als Normalität zu kaschieren oder sie an andere „abzutreten“,
aufgefordert, die Kosten zu realisieren, die ihre eigene Selbstnormalisierung für
andere bedeutet – und sie zu reduzieren. Dies als Machtfrage zu formulieren, verdeutlicht, dass es sich bei Phelans Verständnis politischer Veränderung keineswegs
19 Um die Doppeldeutigkeit des Begriffs strange, „fremd“ und zugleich „merkwürdig“, beizubehalten, verzichte ich darauf, ihn zu übersetzen. Phelan bezieht sich mit dem Begriff strange mittelbar auf Zygmunt Baumann und Julia Kristeva
(2001), ist aber optimistischer, dass strangeness machtvoll und selbstbewusst in gesellschaftspolitische Prozesse eingebracht werden kann.
57
um eine Arbeit am Selbst der dominanten Subjekte handelt, um keine Politik der
Selbstreflexion oder Ethik der eigenen Lebenspraxis. Veränderung liegt nicht in der
Selbsttransformation, sondern setzt da an, wo aus der Selbstverunsicherung die Konsequenz gezogen wird, politischen Raum für die strangeness anderer zu schaffen (vgl.
ebd., S. 154f.).
Dies stellt eine Herausforderung bestehender Auffassungen und Institutionalisierungen des Politischen dar. Denn damit wäre politische Partizipation nicht länger der Voraussetzung unterworfen, dass jemand zum politischen Subjekt wird, um
politisch handeln zu können, also die – unausgesprochenen und verbrieften, historisch und geo-kulturell spezifischen – Kriterien einer Subjektivität erfüllen muss,
der gesellschaftliche Gestaltungsmacht zugestanden wird. Phelan schlägt für eine
Bürger_innenschaft, die strangeness einbezieht, den Begriff queer citizenship vor und
führt diese als Alternative zum neutralen Begriff der sexual citizenship oder zum
minderheitenpolitischen Begriff der les-bi-schwul-trans citizenship ein. Denn letztere reduzieren das Politische auf sexuelle Rechte und sozio-kulturelle Integration in
bestehende gesellschaftliche Verhältnisse. Ihr hingegen geht es um ein Konzept, das
sich durch politische Partizipation auszeichnet. Indem sie hierbei sexuelle Politiken
und queer citizenship aus einer Würdigung der strangeness heraus entwickelt, bietet
sie ein Konzept an, das sich in andere politische Felder übertragen lässt und dazu
einlädt, Allianzen entlang der Politisierung von oder Begeisterung für verschiedenste
Formen der strangeness zu bilden. „Then queer citizens will not be differentiated by
‚sexual orientation’, but by their recognition of strangeness in themselves and excitement in encountering it in others“ (ebd., S. 155).
Befriedete Provokation
Vertrauter als Formen sozial gelebter und/oder anerkannter strangeness erscheint
mir jedoch das, was ich eingangs aktive Indifferenz genannt habe – also diejenigen
Praxen, mit denen potentielle Provokationen des hegemonialen Konsenses z.B. mittels projektiver Integration ruhig gestellt werden bzw. sich selbst ruhig stellen. Wenn
wir heute von einer Pluralisierung geschlechtlicher und sexueller Existenzweisen
sprechen können, dann deshalb, so mein skeptischer Einwand, weil das Erfolgsrezept
in einer Privatisierung liegt, die das Sexuelle zu einer „persönlichen Angelegenheit“
erklärt. Über die Figuren des „offenen Geheimnisses“ oder der „individuellen Besonderheit“ kann dem schwulen Lehrer oder der lesbischen Anwältin ihre sexuelle
Lebensform zugestanden werden, ohne dass sie Sanktionen fürchten müssten.20
20 Die Logik der Privatangelegenheit in Frage zu stellen, ist zweischneidig. Denn natürlich ist es auch ein Gewinn, dass
offen lebende Lesben/Schwule heute Kindergärtner_innen, Professor_innen, Ärzt_innen, Anwält_innen, Bürgermeis-
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Aktive Indifferenz setzt genau dort an, wo von dominanter Seite negiert oder von
minoritärer Seite nicht eingeklagt wird, dass eine bestimmte geschlechtliche/sexuelle Existenzweise mehr als nur die persönlichen Lebens- und Beziehungsformen
beeinflusst, inwiefern diese sich also auf die Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Institutionen und Normalitätsregime auswirkt bzw. sich auswirken soll
– kurz, inwiefern sie als Teil des Politischen betrachtet wird. Eine potentiell provokative Praxis – die Lesbe, die ihrer Schulklasse im Unterricht beibringt, dass lesbische
Lebensweisen eine Infragestellung der Institution Ehe und der an Blutsbande geknüpften Weitergabe von Vermögen sind, oder der female-to-male Transgender, der
schwanger wird und sein Kind als Mann zur Welt bringt – kann also durchaus in unterschiedliche Richtungen rezipiert werden: Eine solche Praxis kann als persönliche
Spinnerei abgetan oder aber zum Anlass werden, um die Berechtigung bestehender
Verwandtschaftsmodelle, Bildungsinhalte oder Erbschaftsregelungen in Frage zu
stellen. Das Problem scheint mir, dass in den seltensten Fällen diskutiert wird, inwiefern geschlechtliche/sexuelle Lebensweisen alternative Formen des Gesellschaftlichen propagieren – und wie sich eine solche diskutierte und gelebte Praxis auf bestehende Macht- und Herrschaftsrelationen auswirken würde. Zynisch gesprochen
sind es am ehesten noch die homophoben Diskurse von fundamentalistisch-rechter
Seite, die diese Verbindung herstellen, insofern sie auf einer naturalisierten Fundierung des Staates durch die heterosexuelle Familie bestehen, weil deren Anfechtung
angeblich Staat, Nation und Zivilisation gefährde. Aktive Indifferenz hingegen umgeht politische Stellungsnahmen und wird in der Tat häufig auch rechten und sogar
rassistischen, sexistischen, antisemitischen oder homophoben Aussagen entgegengebracht, insofern diese als persönliche Meinungsäußerungen verharmlost werden.
Statt sie auf diese Weise zu entpolitisieren, wäre es interessant, von sexualpolitischer
und queerer Seite in die entsprechenden politischen Felder mit aktiven Gestaltungsvorschlägen und gesellschaftspolitischen Perspektiven zu intervenieren.
Wenn Sabine Hark und Corinna Genschel (2003) sich für ein Konzept der sexual
citizenship stark machen, das nicht Teilhabe an bestehenden heteronormativen Institutionen und Praxen meint, sondern gesellschaftliche Entscheidungs- und Gestaltungsmacht, so zielen sie darauf ab, soziale Heterogenität produktiv zu machen. Statt
die Normalisierungserzählung zu unterstützen und der Privatisierung von geschlechtlichen und sexuellen Existenzweisen zuzustimmen, gehe es darum, gezielt damit zu
arbeiten, dass sich geschlechtliche/sexuelle Existenzweisen auf die Formierung und
Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Institutionen und Normalitätsregime auswirken bzw. sich auswirken sollen – kurz, es geht darum, Geschlecht und
ter_innen sind, ohne dass dies als Gefährdung des Gemeinwohls betrachtet wird, während ihnen in den 1960ern und
1970ern Berufsverbote drohten und sich in den 1980ern und 1990ern „offene“ Lebensweisen auf das künstlerisch-kulturelle und das aktivistische Feld beschränkten.
59
Sexualität als „Kategorien der Macht“ und als Teil des Politischen zu betrachten:
„Die queeren Kämpfe setzten […] den Anspruch auf sexualpolitische Gestaltung öffentlicher, politischer Ordnung und Räume auf die Tagesordnung“ (Hark/Genschel
2003, S. 139). Es gilt demnach zu analysieren, wie die Organisation gesellschaftlicher
Machtverhältnisse und die Gestaltung dessen, was als legitime öffentliche Praxis gilt,
entlang der Raster normativer Heterosexualität erfolgen. Aber auch darum, dass sich
Existenzweisen pluralisieren, so dass sich sexualpolitische Kämpfe heute nicht länger
entlang einer strikten Hetero-/Homo-Opposition organisieren können, sondern die
differentielle Integration, die neuen Ein- und Ausschlussmechanismen neoliberaler
Gesellschaften problematisieren müssen. Aus diesen Analysen heraus gilt es, neue
queer-politische Strategien zu entwerfen, die der Tatsache Rechnung tragen, dass
sich die Normalisierung divergenter geschlechtlicher/sexueller Lebensformen und
die These von der individuellen Gestaltbarkeit von Geschlecht und Sexualität sehr
wohl mit der Stabilisierung gesellschaftlicher Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse verbinden. Wie also sähen die neuen Konzepte und Praxen des Sexuellen aus,
die diese Entwicklung kontern?
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63
Phil C. Langer
Paradoxes Begehren
Zur Bedeutung heteronormativer Männlichkeitsbilder in
der Psychodynamik von HIV-Neuinfektionen1
Seit einigen Jahren nimmt die Zahl der HIV-Neuinfektionen in fast allen Industriestaaten deutlich zu. Da dies insbesondere homosexuell lebende Männer betrifft,
muss die Analyse der psychosozialen Hintergründe des Eingehens sexueller Risiken auch und gerade Fragen der problematischen Identitätskonstruktion schwuler
Männlichkeit(en) in einer heteronormativen Gesellschaft thematisieren. Anhand
von Einzelfallbeispielen2 werden im vorliegenden Beitrag die Bedeutung normativer Männlichkeitsbilder in der Psychodynamik von HIV-Infektionen in Bezug auf
schwule und bisexuelle Männer herausgearbeitet und deren Konsequenzen für die
präventive Praxis angedeutet. Konstatiert wird ein zumeist un- oder vorbewusst
existentes paradoxes Begehren nach eben der Gewalt, deren permanentes Einwirken
eine beschädigte Existenz evoziert. Im Kontext einer doppelt positiven Besetzung des
HIV-infizierten Körpers jenseits der geltenden Geschlechterdichotomie gilt es daher,
eine Entlastung schwuler Identität(en) von ihrer symbolisch unmöglichen und daher
materiell um so schwerer wiegenden Männlichkeit zu denken.
1 Der Beitrag entstand im Rahmen der an der Universität München durchgeführten Interviewstudie „Positives Begehren“ zum HIV-Risikoverhalten homosexuell lebender Männer in Deutschland, die durch die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung, den Verband der Privaten Krankenversicherungen, das Kompetenznetzes HIV/Aids und
das Pharmaunternehmen GlaxoSmithKline gefördert wurde. Er stellt ausgewählte Befunde einer aus zwölf Interviews
mit HIV-positiven und ungetesteten schwulen und bisexuellen Männern bestehenden Vorstudie zur Diskussion. Dank
gebührt an dieser Stelle insbesondere den Interviewpartnern für ihre engagierte Teilnahme, Cornelia Möser und Sascha
Hübner für die produktive Mitarbeit an der Studie sowie Ursula von Rüden für die konstruktive Kritik des vorliegenden
Textes.
2 Entlang den prozessbezogenen Prinzipien der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1998) diente die tiefenhermeneutisch
fundierte und an Einzelfällen orientierte Methodik der Vorstudie der Bestimmung relevanter Untersuchungskategorien;
sie kann nicht auf das methodische Vorgehen der auf 55 Interviews basierenden Gesamtstudie übertragen werden. Die
Falldarstellungen sind für den Zweck des Artikels gekürzt.
64
65
„Ich vergleich mich mit ’nem Contergan.“
„Aber es ist für mich immer noch so, es ist, man könnte Krankheit dazu sagen.
Krankheit insofern, ähm, ’ne unabänderliche Krankheit natürlich. Ja, ich kann,
ich, ich vergleich mich ’nem Contergan. ’N Contergan kann nichts dafür, dass er
ohne Ärmchen geboren wird. Er kann nichts dafür. Er kann es nicht ändern. Es is
so, und er muss jetzt damit klarkommen. Aber es, es ist ja nicht die Regel. Es ist ja
nicht das Normale. Das normale Bild von ’nem Mann“ (Lukas).
Die Antwort, die der Interviewpartner hier auf die Frage nach seiner Homosexualität
gibt, ist an Drastik kaum zu überbieten: Er bezeichnet sie als eine andauernde, fast
schicksalhafte Krankheit, die Ähnlichkeiten mit einer conterganbedingten Behinderung habe. Die Folgen, die er dabei beschwört, indizieren eine körperliche Schädigung, die mit gesellschaftlicher Stigmatisierung und Diskriminierung einhergeht.
Das Beruhigungsmittel Contergan, dessen Einnahme in den fünfziger und sechziger
Jahren zu zahlreichen Fehlbildungen geführt hat, wird zum personalisierten Signum
einer beschädigten und entfremdeten Existenz. Die im Bild des ohne Arme Geborenen aufscheinende körperliche Schädigung kann als äußerste Hilflosigkeit innerhalb
einer handlungsorientierten Gesellschaft gelesen werden. Als Bezugsrahmen gilt hier
das „normale Bild von ’nem Mann“. Es bezieht sich auf die Vorstellung einer naturalisierten gesellschaftlichen Normalität, die sich an den Merkmalsausprägungen der
Mehrheitsgesellschaft ausrichtet und die der Gesprächspartner innerhalb eines heteronormativen Sozialisationsprozesses als Interpretationsschemata sozialer Realität
verinnerlicht hat – und als niemals erreichbares Ich-Ideal nun gegen sich selbst wendet. Sie wird an dieser Stelle hinsichtlich ihrer (selbst-)destruktiven Konsequenzen
weder reflektiert noch als gewaltsamer gesellschaftlicher Zwangsmechanismus kritisiert, sondern als gegeben und richtig mitgetragen.
Lukas ist zur Zeit des Interviews 41 Jahre alt. Im Gespräch bezeichnet er sich als
bisexuell. Er lebt in wechselnden, offenen und zumeist schwulen Partnerschaften. Als
studierter Selbständiger ist er beruflich erfolgreich. Auch sein Privatleben erscheint
durch vielseitige Interessen und Aktivitäten sowie ein anerkanntes gesellschaftliches
Engagement ausgefüllt. Während des Interviews vermittelt er einen äußerst selbstbewussten Eindruck als Mensch, der genau wisse, was er wolle und wie er es bekomme.
Seit 2004 ist Lukas HIV-positiv.
Lässt sich ein Zusammenhang feststellen zwischen dem inkorporierten Männlichkeitsnormativ und seiner HIV-Infektion? Auf der Suche nach den Faktoren für seine
Infektion führt das Gespräch zunächst zu konkret benennbaren Verhaltensweisen
und Einstellungen, die jeweils auch in der gegenwärtigen Debatte um die steigenden
HIV-Neudiagnosen in Deutschland benannt werden. Die häufig wechselnden Ge66
schlechtspartner, die das Stereotyp einer promisken Homosexualität aufrufen, erscheinen bei Lukas als „meine Sexsucht“; die Anzahl der Sexualpartner, die er allein
in einem Jahr habe, könne er nicht einmal annäherungsweise angeben. Auch Multidrogenkonsum spielt als situativer Faktor in seinem sexuellen Leben eine Rolle und
war in der Infektionssituation beteiligt. Unumwunden gibt Lukas seine schon damals
bestehende Faszination für ungeschützten Geschlechtsverkehr zu Protokoll – trotz
des Wissens um die Ansteckungsmöglichkeiten und die potentiell tödlichen Folgen
von HIV. Je weiter das Interview fortschreitet, desto deutlicher wird indes, dass all
das Oberflächenphänomene einer viel tiefer greifenden, unbewusst wirksamen Dynamik sind, die mit einer als zutiefst problematisch empfundenen schwulen Identität
einhergeht und in der das Begehren nach der eigenen Männlichkeit als Begehren
nach der gewalttätigen Männlichkeit des Anderen aufscheint.
Um diese Dynamik verstehen zu können, ist es notwendig, sich seine Sozialisation zur „Zwangsheterosexualität“ (Butler) näher anzusehen. Er selbst spricht davon,
„dass ich also sexuell eigentlich orientiert wurde auf Heterosex. Ich wurde regelrecht
orientiert.“ Neben identifikatorischen Angeboten durch ein freizügiges Vorleben
eines heterosexuellen Lebens durch die Eltern geschieht dies vor allem durch die
Abgrenzung und Abwertung spezifisch homosexueller Lebensführungen im familiären Umfeld, durch Peers und im Kontext seiner „streng evangelischen“, „preußisch
christlichen, bibeltreuen Erziehung“. Eine Distanzierung von den negativen Konnotationen von Homosexualität als „was Schlimmes, ganz und gar Schlechtes“ ist
­Lukas trotz des damit verbundenen und bewusst wahrgenommenen Leidensdruckes
nicht gelungen: „Die Eltern und die Bibel: Die zwei Sachen. Also die ham mir das
Schwulsein vergällt. Bis heute.“ Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich,
dass seine sexuelle Identität nach seinem Coming Out mit vierundzwanzig Jahren,
das er als „großen Kampf “ bezeichnet und das mit einem Suizidversuch einhergeht,
von seinen Eltern niemals Anerkennung gefunden hat. Die paradox erscheinende
Übernahme der Fremdbewertung von Homosexualität als Krankheit und Behinderung in sein eigenes Bewertungsraster als internalisierte Homophobie mag damit
gleichzeitig als eine verzweifelte Suche nach Anerkennung, zumindest als hilfloses
und schutzbedürftiges Opfer, das sich den gesellschaftlichen Normen willfährig unterwirft, gelesen werden.
Zu dieser psychischen berichtet Lukas darüber hinaus von massiven physischen
Gewalterfahrungen, die er in Verbindung zu seiner Homosexualität sieht. So sei er
während seines Wehrdienstes von zwei nur etwas älteren Vorgesetzten schikaniert
und „richtig gequält“ worden. Beide habe er später in der schwulen Szene wiedergetroffen: „Es stellte sich heraus, dass sie – damals hatt’ ich ja wie jeder Soldat seine
Freundin in ’na Spindwand hängen, als Bildchen – dass die also eher ’ne kleine Rache
gegen die hübschen Heten gemacht haben.“ Höchst widersprüchliche Erfahrungen
67
wie diese, als Schwuler von Schwulen misshandelt zu werden, werden von Lukas
mehrfach thematisiert. Sie tragen nicht unerheblich zu einer Identitätsdiffusion bei,
die mit Selbstwertdefiziten und einem niedrigen Kohärenzgefühl einhergeht.3 Psychoanalytisch gesehen steht einem rigiden Über-Ich und als äußerst triebhaft empfundenen Es ein schwaches Ich gegenüber, das nicht mehr in der Lage zu einer balancierenden Integration und souveränen Handlungsführung ist.
Ein konsequentes Gesundheitsverhalten findet weder in den biographischen Erfahrungen noch in der aktuellen Selbstwahrnehmung eine tragfähige Basis. Im Gegenteil kommt es zu einer engen Verbindung zwischen seiner Suche nach Nähe, dem
Drang nach körperlichem Sex und dem Erlebnis konkreter Gewalt. Das autoaggressive Verhalten von Lukas spiegelt sich beispielsweise in seinen Verbindungen zu nationalistischen Kreisen, „wo sich auch ’n gewisses rechtes Spektrum sammelt“ wieder,
deren Nähe und Sex er nicht trotz, sondern wegen der damit verbundenen Risiken
sucht. Sie symbolisieren eine Autorität, die imstande ist, Anerkennung zu spenden.
Zugleich verkörpern sie die äußerste Form von Männlichkeit, an der er durch das
Einwirken ihrer Gewalt auf ihn partizipieren kann.
Am Ende dieser selbstdestruktiven Dynamik, die Lukas beschreibt, steht die HIVInfektion. Sie markiert bei ihm einen Prozess der Selbstabwertung als schwuler Mann
in einer heteronormativen Gesellschaft. Gleichzeitig bedeutet sie, paradoxerweise,
eine Selbstermächtigung als Schwuler: Evoziert nicht der mit HIV „gefickte“ Mann
die größtmögliche Macht – nun selbst im Akt die Möglichkeit zu haben, über Leben
und Tod zu entscheiden?
Wer hat Angst vor HIV? Zur Aktualität des Themas
Aber existiert diese Entscheidung über Leben und Tod heute, mehr als 25 Jahre nach
der ersten Beschreibung des Immunschwächesyndroms Aids, überhaupt noch? Ist in
Zeiten einer Behandelbarkeit der Infektion die Unterscheidung zwischen Leben und
Tod noch sinnvoll?
Die Aktualität des vorliegenden Beitrags ist vor dem Hintergrund deutlich steigender HIV-Neuinfektionen in Deutschland und beinahe allen Industriestaaten zu
sehen. Weltweit waren Ende des Jahres 2006 etwa 40 Millionen Menschen mit dem
HI-Virus infiziert (UNAIDS 2006). Obwohl die epidemiologische Gesamtsituation in Europa dank erfolgreicher Aufklärungskampagnen und tief greifender Verhaltensänderungen in Richtung einer selbstverständlichen Safer-Sex-Norm hinter
den Anfang der achtziger Jahre skizzierten Worst-Case-Szenarios zurückgeblieben
3 Zur Bedeutung des Kohärenzgefühls für gesundheitsbezogenes Handeln siehe Antonovsky 1997.
68
ist, nehmen auch hier die Zahlen der gemeldeten Erstdiagnosen seit einigen Jahren
stetig zu. 2006 wurden in Deutschland 2.611 neue HIV-Diagnosen gemeldet – ein
Anstieg von 81 % gegenüber dem Jahr 2001; insgesamt leben 56.000 Menschen mit
HIV und Aids (RKI 2006).
Auch wenn seit 1996 hochwirksame Medikamente zur Behandlung der HIV-Infektion zur Verfügung stehen, die durch verschiedene Blockaden des viralen Vermehrungszyklus die Aktivität des Virus langfristig weitgehend unterdrücken und
sich das geschwächte Immunsystem so restituieren kann, ist die Infektion nach wie
vor unheilbar. Die teilweise starken Nebenwirkungen der Medikamente und die mit
der Infektion einhergehenden psychischen und sozialen Konsequenzen lassen die
gerade im ärztlichen Bereich verbreitete Rede von HIV als chronischer Erkrankung
fragwürdig erscheinen.4
Auffällig ist, dass das Risiko, sich mit dem HI-Virus zu infizieren, in der deutschen
Bevölkerung sehr ungleichmäßig verteilt ist. Bezogen auf das Jahr 2006 erfolgten
62 % der bekannten Übertragungen über homosexuelle Kontakte. In allen westlichen Industriestaaten stellen schwule und bisexuelle Männer die Mehrzahl der Infizierten.5 Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Homosexualität und Aids
ist seit Beginn der Aids-Historie etabliert. Durch den stereotypisierten Konnex von
homosexueller Lebensweise und als pathologisch gesetzter Promiskuität und durch
die phantasierte Grenzüberschreitung (des diskursiv legitimierten „Normalen“ und
„Natürlichen“), die durch den anal-rezeptiven Geschlechtsakt symbolisiert wird, ist
der Frage ein Diskriminierungspotenzial inhärent:
„Zu beobachten sind […] ein quantitatives und ein qualitatives Argument dafür,
dass AIDS als Ergebnis homosexueller Sexpraktiken aufzufassen ist: Zuviel Sex,
oder falscher, gefährlicher – analer Sex. Die Kombination beider Kausalkonstruktionen bringt die Version von Sodom und Gomorrha zur Vollendung“ (Weingart
2002, S. 56).
So ist der Topos von Aids als Preis, den der Schwule für die Übertretung gesellschaftlicher Normen zu zahlen habe, im öffentlichen Diskurs immer noch aktuell;
die Erkrankung ist in der gesellschaftlichen Erzählung in moralischen Kategorien
von Schuld und Verantwortung zu lesen (vgl. Sontag 1989; Herz 2003).
4 Zum gegenwärtigen Stand des biomedizinischen Wissens bzgl. HIV/Aids siehe Hoffmann / Rockstroh / Kamps 2007.
5 Epidemiologisch korrekt müsste von „Männern, die Sex mit Männern haben“ (MSM) gesprochen werden, eine Kategorie, die bspw. auch sich als heterosexuell definierende Freier beinhaltet. In vielen anderen Regionen der Welt spielen
homosexuelle Infektionswege nur eine untergeordnete Rolle: im südlichen Afrika sind mehrheitlich heterosexuelle Kontakte für die Ausbreitung des Virus verantwortlich, in Osteuropa und Zentralasien intravenöser Drogenkonsum (vgl.
UNAIDS 2006).
69
Der Begriff der Überschreitung rekurriert auf die Existenz einer Grenze. Seine
auffällige Bedeutung in der Aids-Debatte reflektiert ihre Instabilität. So hat nicht erst
die Einführung der Kombinationstherapie die Grenze zwischen Leben und Tod nivelliert, sie ist bereits in Bezug auf den Status des Virus selbst fragwürdig; die sexuelle
Penetration und der Austausch von Körperflüssigkeiten stellt eine weitere Grenze,
die zwischen Körperinnerem und -äußerem, zur Disposition, bringt Phantasien der
Verschmelzung ins Spiel des Begehrens; auch epidemiologisch betrachtet entzieht
sich Aids als grenzübergreifende Pandemie globalen Ausmaßes den staatlichen Steuerungsmechanismen. Das allfällige Bemühen um Definition und Aufrechterhaltung
der Grenze – durch Einführung von Einreiseverboten für HIV-Infizierte in die USA,
durch Fetischisierung des Kondoms als alleiniges Mittel der Präventionsarbeit, durch
Re-Dramatisierung von Aids als Krankheit zum Tod in den Medien – ist Signum
einer Angst vor Kontrollverlust.6
Der signifikante Anstieg der Neuinfektionszahlen seit einigen Jahren ist Ausdruck
eines realen Kontrollverlustes. Die etablierten Safer-Sex-Normen scheinen nicht
mehr zu funktionieren, die sozialen Kontrollmechanismen innerhalb der schwulen
Szene lösen sich im Zuge der Diversifizierung der „Community“ auf. Dabei besteht in
Bezug auf schwule und bisexuelle Männer weitgehend Konsens, dass es sich in erster
Linie um ein sexuelles Risikoverhalten handelt: nicht Unkenntnis der Infektionswege
und Präventionsmöglichkeiten, sondern ein Eingehen von sexuellen Risikosituationen im Wissen um die Gefahr einer Infektion und – zumindest ansatzweise – um
die damit verbundenen körperlichen, psychischen und sozialen Folgen.7
Wie aber ist zu erklären, dass es gerade homosexuell lebende Männer sind, die sich
dem Risiko einer HIV-Ansteckung aussetzen? Welche spezifischen, auf die schwule
Lebenswelt bezogenen Aspekte von HIV und Aids sind zu untersuchen? Diese Fragen erfordern eine Analyse der oft unbewusst wirksamen psychosozialen Dynamiken
im Schnittpunkt von individuell-biographischen Erfahrungen und gesellschaftlichen
Strukturbedingungen. Sie beinhalten die Untersuchung der problematischen und
konfliktreichen Bildung schwuler Identität und zielen ab auf die Schwierigkeiten einer gelingenden Zusammenführung von Homosexualität und Männlichkeit.
6 Diese wird etwa in den sehr emotional geführten Debatten über das so genannte Barebacking als bewusstes und gewolltes sexuelles Risikoverhalten deutlich, stellt es doch die Vorstellung des rational handelnden Subjektes in Frage und
macht die Grenzen der Präventionsarbeit deutlich.
7 Die bislang vorliegenden quantitativen Untersuchungen zum Anstieg der neu diagnostizierten HIV-Infektionen bestätigen durchgehend den Befund eines mehr oder weniger bewussten sexuellen Risikoverhaltens (vgl. dazu Bochow/
Wright/ Lange 2004; RKI 2006; BZgA 2007). Die dabei bestimmten Faktoren wie Kondommüdigkeit, Therapieoptimismus, Drogenkonsum, Anstieg der Partnerzahlen erscheinen jedoch als Oberflächenphänomene, deren Zusammenhänge
innerhalb des methodischen Designs nicht zu klären sind (vgl. Hutter/ Koch-Burghardt/ Lautmann 2000).
70
„Ich hab die Seele eines kleinen Mädchens“
„Für mich ist Männlichkeit, haha, das ist sicher ganz komisch, für mich ist Männlichkeit ein passiver Mann, der, so so’n so’ne Wunschvorstellung, so’n so’n Bodybuilder, der für mich passiv sein kann. Das ist für mich Männlichkeit und ich
möchte immer gern die Männlichkeit in Person sein, aber im Grunde genommen
hab ich die Seele eines kleinen Mädchens. […] Und das ist auch eine Erfahrung,
die mir, ähm, die ich jetzt seit, äh, seit ein paar Jahren mit mir rum trage und so,
dass ich einfach, dass ich so schrecklich schwul bin“ (Frank).
Innerhalb weniger Sätze wird die emotionale Spanne des Interviewten in Bezug auf
das Thema Männlichkeit deutlich. Die Sequenz beginnt mit der mit einem Lachen
präsentierten „Wunschvorstellung“ einer für ihn im „Bodybuilder“ verkörperten
Form extremer Männlichkeit, die er begehrt, der sich ihm hingeben soll, die er penetrieren möchte und die ihm so eine Machtposition verschafft. Er ist es, der die
Verfügungsgewalt über Männlichkeit imaginiert; diese wird zum ohnmächtigen
Objekt, das er besitzen kann. „Komisch“ daran ist dabei natürlich die Verkehrung
herkömmlicher Männlichkeitsvorstellungen, die mit Aktivität und Macht besetzt
sind. Der „passive Mann“ ist dessen genaues Gegenteil, ein Nicht-Mann. Und doch
scheint die Identifikation mit dem von ihm Gefickten für Frank der einzige Zugang
zu seiner eigenen Männlichkeit zu sein: über den Besitz des Anderen – oder, genauer
gesagt: über sein Begehren nach dem Begehren des Anderen. Gleichwohl erkennt
er, der „immer gern die Männlichkeit in Person“ sein möchte, in sich selbst „die
Seele eines kleinen Mädchens“. Zwei unterschiedliche Begriffe von Männlichkeit
driften hier auseinander und erzeugen eine Irritation, die Franks konflikthaften und
ambivalenten Umgang mit seiner sexuellen Identität verdeutlicht. Zum einen bleibt
ihm natürlich die Männlichkeit des Bodybuilders, die er so affektiv besetzt skizziert,
verschlossen: Sie ist lediglich Funktion für die Konstruktion seiner eigenen männlichen Position. Zum anderen wird eine andere Männlichkeit in Szene gesetzt, die
eine psychosoziale Dimension besitzt und mit seiner schwulen Präferenz korreliert
und im Bild des „kleinen Mädchens“ figuriert wird. Die Seele als das wahre Innere,
das Authentische – während sein äußerlich gezeigtes Verhalten „verstellbar“ ist, wie
er an anderer Stelle sagt – offenbart ihn als mehrfachen Nicht-Mann: Nicht Frau,
auch nicht Mädchen, explizit ist es ein „kleines“ Mädchen, das als sein verinnerlichtes Selbstbild fungiert.
Es stellt eine Last dar, wie die metaphorische Wendung der mit sich herumgetragenen Erfahrung zeigt. Was diese Seele genau ausmacht, wird an dieser Stelle nicht
deutlich; entscheidend scheint lediglich die völlige Opposition zum „Mann“, der als
erstrebenswerter Bezugspunkt dient. Das begehrte Extrem des Bodybuilders kann
71
so als Kompensation seines Selbstwertdefizits gesehen werden. Es ist – auch sexuell
– eine zwanghafte Aktivität, die sich in seinem gesamten Verhalten äußert:
„Ich versuche nach außen mich, ich habe jetzt diesen Bart jetzt und, äh, und, ja,
ich würde gern sehr männlich erscheinen mit sehr tiefer Stimme, und an meinem
Gang hab ich ja schon gearbeitet, schon als Jugendlicher, also dass ich sehr männlich laufe und so, aber ich möchte halt im Akt möchte ich der aktive, wirklich
aktive Partner sein, das, das, das finde ich total gut.“
Der Bart, die Stimme, der Gang, die aktive Position beim Sex: Die Charakteristika,
die Männlichkeit für Frank symbolisieren, sind allesamt Äußerlichkeiten, die für Beobachter sichtbar und innerhalb der gängigen Gender-Dichotomie problemlos interpretierbar sind. Folglich sind es stereotype Verhaltensmerkmale, die ein traditionelles
Bild einer heterosexuell normativen Männlichkeit aufrufen. „Doing masculinity“ bedeutet für ihn lebenslange Arbeit, kein natürliches So-Sein, keine unmarkierte Position auf dem Tableau der Geschlechter. Die starke Wiederholung des Wirklich-aktivsein-Wollens ist Signum seiner Unsicherheit, die große Ähnlichkeiten mit der von
Garfinkel im Rahmen seiner so genannten „Agnes-Studie“ bei Transsexuellen hat.6
Die Inszenierung scheitert. Er „würde“ gern sehr männlich erscheinen; offenbar
glaubt er selbst nicht daran. Franks Stimme wird leiser, als er über die Erfahrung
seines Schwulseins spricht, er stockt, so, als ob er bei der Wiederherbeiholung der Erkenntnis erschrickt. Nur eine Silbe wird noch mal deutlich und laut hervorgehoben,
wenn er bemerkt, wie „schrecklich“ schwul er doch sei. Homosexualität verbreitet für
Frank einen Schrecken, der aus einer für ihn unmöglichen Männlichkeit resultiert.
Die in der Sequenz erscheinenden Identitätsfragmente von Männlichkeit und Weiblichkeit sind in sein Selbstbild nicht integrierbar. Die gesellschaftlich präfigurierten
Bilder von Männlichkeit haben handlungsleitende Funktion für ihn. Sie begründen
ein inkohärentes und von Selbstzweifeln getragenes Ich.
Frank ist 44 Jahre alt, vielseitig interessiert und künstlerisch erfolgreich. Er ist ungetestet, die letzte negative HIV-Diagnose liegt mehrere Jahre zurück. Seitdem hat
er beim Sex stets auf das Kondom verzichtet, was bereits zu zwei Syphilisdiagnosen
geführt hat. Vor HIV habe er „wirklich schiss“. Dass er „irgendwas nicht verarbeitet“
habe, reflektiert Frank mehrfach kritisch. Und doch bleiben für ihn die inkorporierten gesellschaftlichen Männlichkeitsbilder, an denen er immer wieder verzweifelt
scheitert, verbindlich.
8 Aus Furcht, als „unechte“ Frau erkannt zu werden, bemühte sich die von Garfinkel (1967) untersuchte Transsexuelle
Agnes um eine übertrieben dargestellte Weiblichkeit im Alltag; siehe dazu auch Kessler/ McKenna 1978.
72
Begehren, Macht und Männlichkeit: Schwule Gewalterfahrungen
Das Bild des Bodybuilders, das Frank in dem Gespräch anführt, ist für die existenten
Männlichkeitsvorstellungen in der schwulen Community beispielhaft.9 Es schließt
an ältere Images der Schwulenbewegung der siebziger Jahre an und dient als Signifikant von Maskulinität einer Abgrenzung vom gesellschaftlich wirksamen Konnex
von Homosexualität und Weiblichkeit:
„Die patriarchale Kultur hat eine simple Erklärung für schwule Männer: es fehlt
ihnen an Männlichkeit. (…) Wenn jemand von Männlichkeit angezogen wird,
dann muß diese Person weiblich sein – und wenn es ihr Körper nicht ist, dann
eben irgendwie ihre Psyche. Diese Argumentation ist nicht sehr stimmig (…),
aber omnipräsent. Entsprechend verursacht sie bei schwulen Männern Verunsicherung bezüglich ihrer Männlichkeit“ (Connell 2006, S. 165).
Die soziokulturelle Zwangsordnung von sex, gender und desire, die zur Etablierung
einer „heterosexuellen Matrix“ führt (vgl. Butler 1991), impliziert ein spezifisches
Männlichkeitsdefizit bei Schwulen:
„Es ist das Verhältnis von Identität und Begehren, das hier auf dem Spiel steht.
Während bei Heterosexuellen der Trieb quasi-natürlich aus der Identität folgen
soll – eine gesicherte Geschlechtsidentität garantiert das Interesse fürs andere Geschlecht – wird der Zusammenhang von Identität und Begehren innerhalb dieser
Logik für Homosexuelle genau umgekehrt konstruiert. Aus dem sexuellen Interesse für Männer wird eine verfehlte männliche Identität abgeleitet. Wer Männer
liebt, kann kein Mann sein. Denn einer paranoiden und zwangsheterosexuellen
Mehrheit gelingt es nicht, Begehren schwul zu denken. (...) Mit der Annahme
eines zwangsläufig (oder zwanghaft) immer heterosexuellen Triebes wird Schwulen ihr Geschlecht abgesprochen“ (Rehberg 2005).
Ein Versuch der Wiederaneignung von Geschlechtlichkeit besteht so in der Besetzung von heterosexuellen Männlichkeitsbildern für schwule Zwecke – eine Strategie,
die im öffentlichen Diskurs existente Fragmente einer klar zuzuordnenden und positiv konnotierten Männlichkeit als Form mit schwulen Inhalten zu füllen vermag.
Die ironische Distanz, die der Besetzung zugrunde liegt und ihre dekontextualisierte
9 Der Bodybuilding-Trend innerhalb der schwulen Community in den achtziger Jahren kann als Antwort auf die AidsEpidemie gesehen werden, da hier sowohl der gesunde homosexuelle Männerkörper gefeiert wurde als auch die Machbarkeit des Körperlichen selbst inszeniert werden konnte (vgl. Rehberg 2005).
73
Funktionalisierung ermöglicht, geht in der konkreten Realisierung zumeist verloren (vgl. Rehberg 2007). Das Spiel mit den männlichen Rollen mag im Kontext der
schwulen Community gelingen, mit einem Wechsel des Bezugsrahmens wirkt er in
der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft als absurde Parodie. Nicht zufällig ist das
queere Konzept von „Camp“ als ironisch-humorvolle, ästhetizistische Inszenierung
von Welt „esoterisch – eine Art Geheimcode“ (Sontag 1982, S. 322).
Natürlich sind in der schwulen Kultur auch nicht-männliche Bilder – etwa der Drag
Queen oder der Androgynität – als Identifikationsangebote verbreitet, die durch Affirmation des Andersseins die Stigmatisierung als Schwuler positiv umzuwerten und
die herrschende Geschlechterordnung zu dekonstruieren versuchen. Indes:
„Nicht die Dragqueens, sondern die ‚Castro Street Klone’, mit Jeans und T-Shirt,
Schnauzbärten und kurzgeschorenen Haaren, bestimmten Ende der 70er Jahre
den internationalen Stil in der Schwulenszenen. (…) Dennoch bestand kein Zweifel, daß eine kulturelle Abwendung von femininen Anteilen stattfand“ (Connell
2006, S. 239).
Innerhalb der sozialen Organisation von Männlichkeit, die Connell beschreibt, nehmen Schwule die unterste Stufe einer rigiden Hierarchie ein, an deren anderem Ende
die hegemoniale Männlichkeit
„als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis (steht), welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats verkörpert
und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frau gewährleistet
(oder gewährleisten soll)“ (ebd., S. 98).
Hegemoniale Männlichkeit wird damit von konkreten sozialen Rollen oder gesellschaftlichen Positionen entkoppelt und bildet als Definitionsmacht über die Wahrnehmung und Interpretation sozialer Wirklichkeit ein diskursives Scharnier zwischen dem kulturellen Ideal und der institutionellen Macht. Zweifellos kommt so
den normativen Vorstellungen von Männlichkeit eine entscheidende Bedeutung in
der sozialen Alltagspraxis zu. Sie begründet für die untergeordneten Männlichkeiten
eine konfligierende Dialektik, ermöglicht sie doch durch ihre Akzeptanz die Teilhabe
an gesellschaftlicher Macht, jedoch um den Preis einer verinnerlichten Unterordnung. Das Dilemma: Die Orientierung an (und teils die Übernahme von) klischeehaften Vorstellungen einer Hypermaskulinität, die in den Fallstudien zum Ausdruck
kam, bezeichnet die Hoffnung, durch Abgrenzung von einer schwulen Weiblichkeit
eine gesellschaftlich legitimierte Position im Feld der Männlichkeiten besetzen und
damit zu einer sicheren sexuellen Identitätsbildung kommen zu können, die jedoch
74
durch die Existenz der hegemonialen Männlichkeit überhaupt erst desavouiert
wurde.10
Pierre Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von „symbolischer Gewalt“:
Der Beherrschte (der Schwule) tendiere dazu, sich selbst gegenüber den herrschenden
Standpunkt (der hegemonialen Männlichkeit) einzunehmen.
„Insbesondere der Schicksalseffekt, den die stigmatisierende Kategorisierung […]
hervorruft, kann ihn dazu zwingen, die Wahrnehmungskategorie des Geraden
[der „heterosexuellen Matrix“ nach Butler; PCL] zu akzeptieren und auf sich anzuwenden. Was dann unweigerlich dazu führt, daß er die sexuelle Erfahrung, die
ihn vom Standpunkt der herrschenden Kategorien aus definiert, schamvoll erlebt“
(Bourdieu 2005, S. 202f.).
Schwules Leben hat damit unweigerlich – auch und gerade im radikalen Widerstand
gegen diese Dynamik – mit Erfahrungen der Gewalt – der symbolischen und/oder
der realen – zu tun. Nur selten wird sie bewusst erlebt oder zum Gegenstand einer
intentionalen Reaktion. Durch die notwendigerweise geschlechtsbezogene Sozialisation in einer patriarchalen und homosozialen Gesellschaft (vgl. Sedgwick 1985) werden insbesondere qua Familie, Peers und Medien (vgl. Bilden 1991) heteronormative
Bilder einer Männlichkeit verinnerlicht, die gerade für Schwule niemals unproblematisch zu verkörpern sind.
Als neuestes dieser Bilder wird seit einigen Jahren der schwule Skinhead als „das
populärste Männerideal der Post-Aids Ära“ identifiziert: „Man kann ihn in eine Logik der Überbietung einordnen, männlich, männlicher, am männlichsten…“ (Rehberg 2005). Aufgeladen mit Vorstellungen von äußerster Aggressivität und Gewalt,
jenseits des politisch und gesellschaftlich Akzeptablen, symbolisiert der Skin eben
jene Männlichkeit, der soziokulturell ein Maximum an Homophobie inhärent ist:
„Die Popularität dieser Figur für Schwule in einer mehrheitlich nichtschwulen
Gesellschaft ist ein Zeichen dafür, dass ihnen der Zugang zur ‚Männlichkeit’ immer noch verweigert wird und dass Assimilationsangebote für Schwule unter dem
Vorzeichen von Homophobie funktionieren. Der Homoskin ist an dieser Stelle die
10 Gleichwohl muss die Frage gestellt werden, inwieweit die gegenwärtige soziale Realität der idealtypisch behaupteten
Wirksamkeit partriarchalisch oder phallogozentrisch zu fassender Gesellschaftsstrukturen überhaupt noch entspricht.
Erfahren schwule Männer in Zeiten der Legitimität und Legalität gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften überhaupt noch gesellschaftliche Diskriminierung? Bestehen denn die heteronormativen Sozialisationsformen, die zur beschriebenen Dynamik einer höchst fragilen Männlichkeit führen, heute noch? Ohne eine abschließende Antwort darauf
geben zu wollen, sei auf eine Analyse von Gender-Aspekten in der deutschen Gegenwartsliteratur verwiesen, in der
gerade aufgrund eines imaginierten „anything goes“ sexueller Identitätspolitik ein konservativer Drive behauptet wird
(Langer 2004).
75
Markierung einer Grenze. Er ist die Figur der schwulen Anti-Assimilation, eine
schwule Protestfigur“ (ebd.).
Es ist nicht verwunderlich, dass in diesem Zusammenhang Gewaltphantasien in der
schwulen Szene mediale Verbreitung finden.11 Vergewaltigungsszenarien und Viktimisierungsvorstellungen reflektieren eine Faszination mit einem imaginierten, jeglicher Relativierung entzogenen Maskulinitätsideal und garantieren eine Partizipation
an ihm über die Identifikation mit dem Aggressor. Vielleicht ist es daher kein Zufall,
dass eine weit überdurchschnittliche Zahl HIV-Positiver in der schwulen SkinheadSzene zu beobachten ist.
Beobachtungen: Heteronormative Männlichkeitsbilder
und sexuelles Risikoverhalten
Die vorgestellten Fallbeispiele haben bereits Grundzüge der komplexen Dynamiken
des HIV-Risikoverhaltens schwuler Männer vor dem Hintergrund gesellschaftlich
wirksamer Männlichkeitsvorstellungen aufgezeigt. Insgesamt lassen sich aus den
Interviews drei Bedeutungsaspekte bezüglich des Zusammenhangs von heteronormativen Männlichkeitsbildern und HIV-Risikoverhalten in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften herausstellen: 1. das problematische Spannungsfeld zwischen
einer soziokulturell heterosexuellen Männlichkeit und einer als nicht-männlich
konnotierten Homosexualität, die Männlichkeit zu einem zentralen Thema schwuler Identitätskonstruktion werden lässt; 2. ein höheres sexuelles Risikoverhalten als
mögliche Folge der verinnerlichten heteronormativen Männlichkeitsbilder und der
damit verbundenen Selbstwertproblematik; 3. ein paradoxes Begehren nach eben jener imaginierten gewalttätigen Männlichkeit, die überhaupt erst zu dieser verhängnisvollen Dynamik führt.
Dabei ist anzumerken, dass diese Thesen keine Pauschalisierung hinsichtlich
schwuler Identitäten und Lebensführungen bedeuten sollen und im komplexen
Zusammenhang mit anderen biographischen, sozialen und situativen Faktoren von
Risikoverhalten gelesen werden müssen. Nicht jeder Schwule hat ein Problem mit
seiner Männlichkeit und nicht jedes Problem mit Männlichkeitsnormen führt zwangläufig zu einem sexuellen Risikoverhalten; umgekehrt spielt nicht bei jedem sexuellem Risikoverhalten der Faktor Männlichkeit eine Rolle. Dennoch zeigt sich hier
ein Phänomen, dessen Bedeutung für die aktuellen HIV-Neuinfektionen deutlich ist
und das bislang für die konkrete Präventionsarbeit kaum beachtet wurde. Dabei wer11 Als Beispiele dafür können die äußerst erfolgreichen Hardcore-Pornos von „Cazzo“ dienen, die mediale Phantasien
von teilweise brutaler sexueller Aggression in Szene setzen (z.B. „Skin Flick“, „Eingelocht“).
76
den psychosoziale Dynamiken in Szene gesetzt, die oft erkannt, aber kaum durchbrochen werden können: Heteronormative Männlichkeitsbilder stellen einen ernst
zu nehmenden Risikofaktor innerhalb schwuler Lebenskontexte dar.
Ad 1: Männlichkeit ist, wie ein Interviewpartner an einer Stelle bemerkt, „für alle
Schwule ’n Thema. […] Ich kenn wenig Schwule, die so ’ne ungebrochene Männlichkeit haben.“ (Simon) Nimmt man diese Formulierung auf, so bezeichnet Homosexualität eine gebrochene – verletzte, verwundete – Männlichkeit. Die Bruchstelle
ist in den gesellschaftlich vorherrschenden – und das heißt in Bezug auf den deutschen Studienkontext und soziokulturell ähnliche Gesellschaften: heteronormativen
– Männlichkeitsvorstellungen zu verorten, die durch vielfältige Sozialisationsprozesse und kulturelle Repräsentationen auch als Bezugspunkte spezifisch schwuler
Identitätsbildung fungieren. Der eben schon zitierte Simon macht das – „fast schon
neidisch“ – an seinem Bruder fest: „Der is verheiratet, hat zwei Kinder, und ich glaub,
der findet sich gut und schön und attraktiv und in Ordnung. Und der is nich schöner
und attraktiver als ich, denk ich, und ich, ich hab des nich, so’n ungebrochenes Verhältnis zu meiner Männlichkeit.“ Zwei Aspekte seines Männlichkeitsbildes werden
hier thematisiert: die Einbindung in den heterosexuellen Kontext von Ehe und Familie sowie die Selbstverständlichkeit eines an körperlichen Merkmalen von Schönheit
und Attraktivität begründeten Selbstwertgefühls. Konsequenterweise erhalten für
Simon am Körper abzulesende optische Markierungen eine wichtige Funktion bei
der Darstellung von Männlichkeit: „Fitnesswahn“, um „wenigstens sportlich aussehn
oder wie’n Mann [aussehen]“ zu wollen, und Kleidung als offensichtlichste Form von
Geschlechtsdarstellungen in der Öffentlichkeit: „Oder ich, ich zieh Zimmermannshosen an oder ’ne Trainingsjacke oder wie auch immer. Das man schon als Mann wahrgenommen werden will.“ (Simon) Die angeführten Beispiele orientieren sich sicher
nicht zufällig an Äußerlichkeiten und Oberflächen, sind es doch die Ansatzpunkte, an
denen die Geschlechtszugehörigkeit in der sozialen Alltagspraxis sichtbar und interpretierbar wird. Gleichzeitig sind sie am einfachsten – im Sinne eines „doing gender“
– darzustellen und damit funktionalistisch einsetzbar: Männlichkeit als Maskerade.12
Ad 2: Vor dem Hintergrund dieser heteronormativen Männlichkeitsimages wird
in der Mehrzahl der geführten Interviews ein massives Unbehagen bezüglich der
Wahrnehmung der eigenen Männlichkeit erkennbar, das sowohl explizit angesprochen und als Problem bewertet als auch durch para- und metasprachliche Äußerungen implizit deutlich wird.13 Dieses kann, das haben die Fallstudien exemplarisch
gezeigt, zu Gefühlen des Ungenügens und eines defizitären Selbstwertes führen.
12 Zum Maskerade-Konzept in Bezug auf Männlichkeit siehe insb. Benthien 2003; zur Konkretisierung in schwulen
Kontexten v.a. Woltersdorff 2007.
13 Etwa in Form eines verlegenen Lachens, das eine ironische Distanzierung ausdrücken soll, die letztlich jedoch scheitert, lange Pausen, eine hohe Emotionalität bei den folgenden Antworten.
77
Zwei Strategien, darauf zu reagieren, scheinen in den Gesprächen auf. Zum einen
kann durch die bewusste Inszenierung einer an gesellschaftlich wahrnehmbaren
Oberflächen sich festmachenden Maskulinität (etwa durch Kleidung oder Bodybuilding) der eigene Mangel zu kompensieren versucht werden. Da dies in hohem Maße
von der Anerkennung durch den Anderen abhängig ist und zugleich als nicht-authentisch gesehen wird, ist dieser Inszenierung die ständige Drohung des Scheiterns
eingeschrieben. Zum anderen ist in den Gesprächen auffällig, dass beinahe alle Interviewpartner sehr darauf bedacht sind, sich vehement von als feminin angesehenen
schwulen Typen (die „Tunte“, „Tucke“, „Drag Queen“) zu distanzieren:
fahrenen Männlichkeitsnormen entsteht, sondern vielfach ein Begehren nach dieser Männlichkeit und ihrer konkreten körperlichen Gewalt Ausdruck findet. So beschreibt Simon eine durchaus exemplarische Szene:
„Also ich hab schon auch ein Problem damit, mit diesen tuntigen Schwulen, (…)
äh, ich find das schon manchmal auch ein bisschen verstörend, also das is, ähm
ähm, und dass es da, äh äh, Schwule gibt in in der Community, die da, weiß ich
nich, auch tagsüber mit der Federboa rumlaufen müssen oder sonst irgendwas,
also das wirkt schon auch en bisschen verstörend für mich, und das ist auch immer etwas, wo ich mir denke, nee, ähm, zu denen will ich dann aber auch nicht gehören, also bitte, wenn ihr sagt: schwul – ich bin was anderes als das“ (Andreas).
Simon ist sich der Risikosituation bewusst. Zugleich reflektiert er, wie oben angedeutet, den zwanghaften Charakter des geltenden Männlichkeitsbildes, dem er sich
durch Nachvollzug entsprechender Symbole zumindest nach außen hin anzunähern
versucht. Innerhalb dieses Bewertungsrahmens verkörpert der „Typ“ auf der Sexparty durch äußere Attraktivität sein Männlichkeitsideal, dem er selbst niemals gerecht werden kann. Trotz des Wissens um die (und, wie kurz darauf deutlich wird,
der Angst vor der) Risikosituation und möglicher gesundheitlicher Folgen14 hat er
sich auf „was Unsafes“ eingelassen. Das Begehren des Anderen bedeutet Anerkennung und bringt eine nur als „Rausch“ zu beschreibende Steigerung des gebrochenen
Selbstwertgefühls. Der Begriff des Rausches deutet aber auch auf die Kurzfristigkeit
dieses Mehrwertes hin, seinen illusionären Charakter. Die temporäre Partizipation
an seiner imaginierten Männlichkeit, die den Anderen als Spiegel des Selbst benötigt,
erfolgt durch die Inkaufnahme dauerhafter Schädigungen. Entscheidend ist dabei
die Zusammenführung von Männlichkeitsvorstellung und ungeschütztem Sex. Gerade weil in der schwulen Community infolge von Aids Safer Sex als Verhaltensnorm besteht, bedeutet anonymer unsafer Sex einen Tabubruch, der als Abgrenzung
von einer sich in den letzten zwei Dekaden stark verändernden homosexuellen Lebenswirklichkeit verstanden werden kann. Die im öffentlichen Diskurs behauptete
gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität und die Mainstreamisierung der
Community bieten kaum mehr Möglichkeiten, aus der Selbstwahrnehmung als
„Anderer“ identitätsstiftende Bedeutung zu erlangen; unsafes Verhalten wird damit
potentiell zu einem im wahrsten Sinne des Wortes „positiven“ Bezugspunkt eines
Andersseins gegenüber einer normalisierten schwulen Lebenswelt, die Inszenierung
einer projizierten „rohen“ Männlichkeit.15
Durch die Abwertung von Weiblichkeit wird – im Einverständnis mit der heterosexuellen Dominanzgesellschaft, die Connell als „patriarchale Dividende“ bezeichnet
(Connell 2006) – eine „männlichere“ Position konstruiert, die ein höheres Maß an
sozialer Anerkennung und Selbstwert zu versprechen scheint (vgl. Sedgwick 1985).
Übersehen wird dabei nicht selten eine ihr zugrunde liegende Verinnerlichung von
homophoben Anteilen:
„Mysogynie und Homophobie sind deshalb keineswegs nur unterschiedliche
Effekte desselben Bedeutungsregimes; sie unterhalten (…) intime Beziehungen
zueinander: als ‚Abfallprodukte’, die die Durchsetzung bestimmter Männer- und
Männlichkeitsphantasien notwendig mit hervorbringt“ (Weingart 2002, S. 59).
Als eine mögliche Folge dieses verminderten Selbstwertgefühls hinsichtlich der
eigenen Männlichkeit kann sexuelles Risikoverhalten gesehen werden. Dass es bei
Schwulen spezifisch um sexuelles (und das ist in diesem Kontext immer gleichzusetzen mit: HIV-) Risikoverhalten geht, ist vor dem Hintergrund der über Sexualität
hergestellten geschlechtlichen Identität verständlich. Da im weiblich-schwulen Akt
des Penetriertwerdens das Männlichkeitsproblem symbolisiert ist, wird es auf dem
Spielfeld der Sexualität auch ausgetragen.
Ad 3: Es mutet paradox an, dass trotz vermeintlicher (Selbst-)Erkenntnis und
Reflexion dieser fatalen Dynamiken kein Widerstand gegen die als gewaltsam er78
„Ich war kürzlich auf ’ner Sexparty. Und da war’n Typ, der war supersexy und
männlich und attraktiv. Und ich hab mit dem auch was Unsafes gemacht, wo ich
denk, wenn er nich so attraktiv und männlich gewesen wär, dann hätt ich des
wahrscheinlich nich gemacht. Wo des irgendwo mich so hemmungslos gemacht
hat, wo ich so im Rausch war. Wow, dieser tolle Typ will mich.“
14 Gerade für HIV-Infizierte bestehen durch weiterhin ungeschützten Geschlechtsverkehr erhöhte Gesundheitsrisiken
für oft nur sehr schwer behandelbare Infektionen wie Hepatitis C, die derzeit HIV als angstbesetzte Krankheit abzulösen
scheinen (vgl. Adam 2006).
15 „Raw sex“ ist im Englischen der szenetypische Ausdruck für bewussten ungeschützten Geschlechtsverkehr.
79
Der „positive Körper“ – Die Faszination von HIV
und die Chancen der Prävention
Die letzte Konsequenz des skizzierten paradoxen Begehrens stellt die bewusste und
gesuchte HIV-Infektion aufgrund der damit verbundenen Faszination des infizierten
Körpers da. In der folgenden Interviewsequenz wird der Reiz, sich in einer Risikosituation in die Gewalt des anderen – HIV-positiven – Mannes zu begeben, erkennbar:
PCL: Reizt es, Opfer zu sein?
Tom: (7 Sekunden Pause) Ob es das Opfer is, das weiß ich nicht. (5 Sekunden
Pause) Aber vielleicht is es Ausgeliefertsein oder dieses, ja vielleicht Opfer in dem
Sinne, dass der andere dann sozusagen bestimmt oder den maßgeblichen Einfluss
hat.
PCL: Was ist geil daran?
Tom: Weil man sich selbst irgendwo da völlig aufgibt. Also man ist ja dann für
den andren ja nur noch Objekt. Nur noch sozusagen, ganz kratzig ausgedrückt,
man steht da nur zur Benutzung, zur Verfügung.
Diese Szene ist sicher nicht verallgemeinerbar. Sie zeigt jedoch in extremis die Bedeutung, die HIV in der schwulen Community hat. Über übliche Merkmale männlicher Macht hinaus kommt durch die bekannte HIV-Infektion von Toms Sexualpartner eine wesentlich neue Dimension ins Spiel: Er besitzt nicht nur symbolisch
den Phallus, dieser stellt darüber hinaus eine sehr reelle (und doch imaginäre, weil
unsichtbare, zeitlich verschobene, bloß potentielle) Todesdrohung dar. Der HIV-positive Mann verkörpert in diesem Sinne die größtmögliche Macht über den Anderen. Tom unterwirft sich dieser und degradiert sich zum rein passiven Objekt dessen
Begehrens. Innerhalb des sexuellen Spiels partizipiert er so an dessen imaginierter
Männlichkeit, die ja wiederum von seiner bereitwilligen Unterwerfung abhängig
ist. Gleichwohl ist sich Tom darüber im Klaren, dass er mit seinem intentionalen
Risikoverhalten die Safer-Sex-Norm, die innerhalb der schwulen Community gilt,
bricht. Der „rohe“ Sex, den er begehrt und für den der positive Mann steht, stellt für
ihn ein unentfremdetes Schwulsein dar, das nicht durch soziale Normierungs- und
Disziplinierungsmechanismen zurechtgemacht wurde, das ohne die Angst, die Aids
bedeutet, verwirklicht werden kann, und das gleichzeitig die gewalttätige Geschlechterdichotomie überschreitet: In der Simultaneität von traditionell männlichen und
weiblichen Attributen von Macht und Ohnmacht, Aktivität und Passivität, Normalität und Subversion, Leben und Tod wird ein Begehren reflektiert, das das schwule
Subjekt jenseits von den sozialen Zuschreibungen als Mann oder Frau verortet. Was
80
Weingart in Bezug auf Drogenkonsum konstatiert, könnte ebenso auf die obige Szene Anwendung finden: Unsafer Sex kann hier gelesen werden als Ekstase,
„als Zugang zu einer vermeintlichen Authentizität, als paradoxe Wiederaneignung
des entfremdeten Körpers mittels eines Fremdkörpers – in beiden Fällen steht die
Dichotomie von Eigenem und Fremdem, von Reinheit und Verschmutzung auf
dem Spiel“ (Weingart 2002, S. 40).
Wie ist Prävention angesichts dieser Dynamik noch möglich? Mentalitäten ändern
sich bekanntlich langsam. Wenn heteronormative Männlichkeitsbilder einen nicht
unerheblichen Einfluss auf das Risikoverhalten von Homosexuellen haben, so wäre
ein Erfolg versprechender Weg, andere Bilder einer gelingenden Männlichkeit innerhalb der schwulen Community zu etablieren. Angesichts der zunehmenden Eingliederung homosexuellen Lebens in die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft und der
damit einher gehenden Möglichkeit der Anerkennung des bislang „Anderen“ ist dies
in naher Zukunft nicht zu erwarten. Gerade weil schwule Lebensweisen immer größere Akzeptanz zu erfahren scheinen, vergrößert sich die Wahrscheinlichkeit, dass
heteronormative Interpretationsmechanismen auch in der schwulen Community
Geltung erlangen werden. Damit signifiziert das Praktizieren von unsafem Sex ein
Begehren nach Abgrenzung und Widerstand, nach dem Mehrwert eines „anderen“
Lebens. Es nötig zu einer Antwort auf die Frage, wie die inkorporierten heteronormativen Denkmuster durchbrochen werden können. Die Position, die der positive
Körper des Infizierten in Teilen der schwulen Szene einnimmt, ist auch als verzweifelter Aufschrei zu verstehen: nach einer gelingenden und souveränen schwulen
Identität.
Sofern Prävention die Hoffnung nach Veränderung bezeichnet, hat sie mit dem
Denken des Möglichen zu beginnen und sich nicht hinter dem Mantel des faktisch
Machbaren zu verstecken. Daher sei abschließend der 1984 ebenfalls an den Folgen
von Aids gestorbene Michel Foucault zitiert:
„Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als
man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen
und Weiterdenken unentbehrlich ist.“ Daher gehe es darum, zu wissen „in welchem Maße die Arbeit, seine eigene Geschichte zu denken, das Denken von dem
lösen kann, was es im Stillen denkt, und inwieweit sie es ihm ermöglichen kann,
anders zu denken.“ (Foucault 1986, S. 15f.)
81
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83
Christoph Treiblmayr
Von „bewegten Männern“
und „queeren Gender-Utopien“
Männliche Homosexualitäten
im deutschen Kino der 1990er Jahre
Männlichkeiten im Wandel
Homosexualitäten und insbesondere männliche Homosexualitäten1 wurden in der
Geschichte des Kinos nur selten gezeigt, und wenn, wurden sie zumeist bis zur Lächerlichkeit verzerrt, erregten Mitleid oder bewirkten Furcht. Seit den 1980er und
vor allem in den 1990er Jahren hat sich dies in vielen – vor allem westlichen – Ländern zunehmend verändert: Homosexualitäten sind ins Zentrum des öffentlichen
Interesses gerückt. Es lässt sich mit Siegfried Kaltenecker (2004) von einer regelrechten „homosexuellen Spektakularität“ im Kinofilm sprechen. Das deutsche Kino
der 1990er Jahre ist dafür ein gutes Beispiel.
Diese Entwicklung lässt sich nicht ohne eine allgemeine „Krise der Männlichkeit“
denken, die maßgeblich von der modernen Frauen- und Homosexuellenbewegung
ausgelöst und später in der „Männerbewegung“ explizit thematisiert wurde. In der
Geschlechterforschung herrscht weitgehend Konsens darüber, dass „Männlichkeit“
und „Weiblichkeit“ keine zeit- und kulturübergreifenden Konstanten, sondern kul1 Wie der vorliegende Beitrag verdeutlichen soll, sind die Varianten sexuellen Handelns sozial und kulturell bedingt und
somit wandelbare Phänomene. Die historische Forschung hat die Verschiedenheit der Erscheinungsformen gleichgeschlechtlicher Liebe und Sexualität von der Antike bis zur Gegenwart gezeigt und dabei auch deutlich gemacht, wie stark
Identitätskonstruktionen neben der Frage geschlechtlichen Begehrens auch von anderen Kriterien kultureller Zuschreibung wie Gender, Klasse, Rasse (race), Ethnizität etc. beeinflusst wurden und werden. Die Verwendung von Homosexualität im Plural soll dieser Vielfältigkeit und Komplexität Rechnung tragen (vgl. Eder 1998; Lingiardi 2002). Der politisch
gebrauchte Begriff „schwul“, den ich in der Folge ebenfalls verwende, ist ein gutes Beispiel für diese Zusammenhänge:
Die moderne Homosexuellenbewegung übernahm den in der Gesellschaft abwertend gebrauchten Ausdruck, um damit
zu signalisieren, dass man/frau sich als Mitglied der Bewegung den gesellschaftlichen Repressionen stellte und bereit war,
sich gegen sie zu wehren. Zugleich sollte damit aber auch eine politische Abgrenzung zu jenen Homosexuellen vollzogen
werden, die ihre sexuelle Orientierung als „homophil“ oder „homoerotisch“ umschrieben und damit nicht selten zugleich
verbanden, sich nicht für die eigenen Interessen zu engagieren (vgl. Stümke 1989, S. 162).
84
85
turelle Konstrukte und diskursive Deutungen2 sind, die von unterschiedlichen (historischen) Gesellschaften verschieden gestaltet und ausgefüllt werden. Männlichkeit und Weiblichkeit sind keine feststehenden Konstanten, sondern befinden sich
in einem Prozess permanenter Veränderung. Sie sind „alles andere als ‚natürlich‘,
sondern durch und durch ‚kultürlich‘“ (Martuschukat/Stieglitz 2001, S. 5). Studien
wie etwa die Arbeiten Judith Butlers (1991, 1995) zeigen, in welchem Maße nicht
nur Geschlecht als soziale Rolle (gender), sondern auch das, was bislang als biologisches Substrat, als Körpergeschlecht (sex) angesehen wurde, konstruiert wurde und
wird. Dies ist auch der Ausgangspunkt jener Denkansätze, die unter dem Stichwort
„queer“ zusammengefasst werden können. Der aus dem angloamerikanischen Kontext übernommene Begriff bedeutet unter anderem „fragwürdig“, „sonderbar“ oder
„Falschgeld“, dient aber hauptsächlich als Schimpfwort gegen alle, die den Normen
geschlechtlicher und sexueller Identifikation nicht entsprechen – und damit dient es
zur Herstellung genau dieser Normen (vgl. Genschel 1996). Über eine genaue Definition des von der Lesben- und Schwulenbewegung radikal umgedeuteten und von
der feministischen Theoretikerin Theresa de Lauretis erstmals in die Diskussion eingeführten Terminus herrscht – was Teil des Konzepts von „queer“ ist – kein Konsens;
Annamarie Jagose (2001, S. 15) definiert ihn folgendermaßen:
„Allgemein gesagt, beschreibt queer Ansätze oder Modelle, die Brüche im angeblich stabilen Verhältnis zwischen chromosomalem, gelebten Geschlecht (gender)
und sexuellem Begehren hervorheben. Im Kampf gegen diese Vorstellung von
Stabilität – die vorgibt, Heterosexualität sei ihre Ursache, während sie tatsächlich
ihre Wirkung ist – lenkt queer den Blick dahin, wo biologisches Geschlecht (sex),
soziales Geschlecht (gender) und Begehren nicht zusammenpassen.“
Entsprechend beschäftigen sich die vor allem an angloamerikanischen Universitäten in den 1990er Jahren entstandenen Queer Studies nicht nur mit lesbischen
und schwulen Themen, sondern schließen auch Aspekte wie „cross-dressing“, Her­
maphroditismus, geschlechtliche Uneindeutigkeit oder operative Geschlechtsanpassung in ihre Analysen ein.
Wenngleich Queer Studies an deutschsprachigen Universitäten institutionell noch
wenig verankert und auch insgesamt nicht unumstritten sind, macht die „queer-theoretische Entlarvung der stabilen Geschlechter und Sexualitäten“ (Jagose 2001, S. 15)
2 „Diskurs“ bedeutet in diesem Kontext, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt nur eine begrenzte Anzahl von Aussagen
zu einem bestimmten Thema gemacht werden können, obwohl rein grammatikalisch viel mehr möglich wären, die aber
– etwa aufgrund von sozialen Barrieren – nicht gemacht werden. Der Diskurs regelt und organisiert somit das „Sagbare
und Denkbare“. Da Identität als das Produkt eines Aushandlungsprozesses mit sozialen Strukturen und Zwängen interpretiert werden kann, wird durch den alltäglichen Gebrauch von Diskurs und die Konstruktion von Erzählungen über
das Selbst Identität und somit auch geschlechtliche Identität geformt und fortwährend neu verhandelt (vgl. Foucault
2000; Sarasin 2003).
86
umso deutlicher, dass Geschlecht und Geschlechterdifferenz als zentrale Kriterien
sozialer Organisation einem „Produktionsprozess“ unterliegen, der historisiert und
räumlich-zeitlich situiert werden kann, „um seine Triebkräfte zu benennen, seine
Verfahrensweisen zu analysieren, seine Alternativen zu bedenken und seine Folgen zu ermitteln“ (Frevert 1995, S. 13). Dennoch gibt es so etwas wie „hegemoniale
Männlichkeit“, um den Begriff des australischen Soziologen Robert Connell (2000)
zu gebrauchen. Unter hegemonialer Männlichkeit können männliche Attribute verstanden werden, die in einer Gesellschaft als erstrebenswertes Ideal gelten, aber auch
Normen und Praktiken von Männlichkeit, die von der politisch dominanten Klasse
hoch geschätzt werden und deren Macht stützen (vgl. Tosh 2004, S. 47 f.).
Man/frau kann hegemoniale Männlichkeit mit Connell „als jene Konfiguration
geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort
auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der
Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)“
(Connell 2000, S. 98).
Hegemoniale Männlichkeit ist keineswegs dauerhaft und starr, sondern veränderbar, „eine Position, die jederzeit in Frage gestellt werden kann“ (Connell 2000, S. 97).
Das Connellsche Konzept der hegemonialen Männlichkeit basiert auf dem feministisch geprägten Modell des Patriarchats und geht von der Grundannahme aus, dass
die politische und soziale Ordnung nach dem Abbild der Männer geschaffen wurde
und sich diese Ordnung in spezifischen Formen von Männlichkeit ausdrückt (ebd.,
S. 206-219). Connell macht die strukturellen und ideologischen Verbindungen zwischen Männlichkeit in all ihren Formen und die ungleiche Verteilung von Macht
zwischen den Geschlechtern, aber auch innerhalb des männlichen Geschlechts – z.B.
in Bezug auf untergeordnete homosexuelle Männlichkeit – sichtbar. Er plädiert für
eine relationale Betrachtungsweise, die den Blick für den „starken Druck […], unter
dem Geschlechterkonfigurationen geformt werden“ (ebd., S. 97), öffnet.
Wie er betont, ist in der hegemonialen Männlichkeit eine „,derzeitig akzeptierte‘
Strategie verkörpert“, sobald sich die Bedingungen für die Verteidigung des Patriarchats verändern, werde „dadurch auch die Basis für die Vorherrschaft einer bestimmten Männlichkeit ausgehöhlt. Neue Gruppen können dann alte Lösungen in
Frage stellen und eine neue Hegemonie konstruieren“ (ebd., S. 98).
So haben insbesondere die Frauenbewegungen die hegemoniale Männlichkeit immer wieder angegriffen und auch zu deren Transformation beigetragen. Die gegenwärtige hegemoniale Männlichkeit sieht Connell durch technisches Know-how oder
Befehlsgewalt, die auch zusammenwirkten, bestimmt. Daneben arbeitet er „komplizenhafte“, „marginalisierte“ und „untergeordnete Männlichkeiten“ heraus. Komplizenhafte Männlichkeiten würden den normativen Ansprüchen zwar nicht wirklich genügen, stützen sie aber, weil sie „an der patriarchalen Dividende teilhaben“
87
(ebd., S. 100). Unter marginalisierten Männlichkeiten versteht er Männlichkeiten
unterdrückter gesellschaftlicher Schichten und Ethnien. Zu den untergeordneten
Männlichkeiten zählt Connell neben heterosexuellen Jungen und Männern, die
mittels diffamierenden Vokabulars ausgegrenzt werden, vor allem die „homosexuellen Männlichkeiten“. Da er die „Homophobie“ und als Folge die scharfe Ablehnung
gleichgeschlechtlichen Begehrens und entsprechender Beziehungen unter Männern
für einen konstitutiven Aspekt hegemonialer Männlichkeit hält, schätzt er das Destabilisierungspotential der Schwulenbewegung entsprechend hoch ein.
Wolfgang Schmale (2003) datiert in Anlehnung an Connells Begrifflichkeit in
seiner „Geschichte der Männlichkeit in Europa“ die Genese dieses hegemonialen
Männlichkeitsmodells in die Zeit der Aufklärung und ordnet sie dem Aufstieg der
bürgerlichen Gesellschaft zu. Breitenwirksame Momente eines hegemonialen Konzepts hat es zwar schon vorher gegeben, aber erst das aufklärerische, systematische
Denken und vor allem die grenzüberschreitende, breit angelegte Kommunikation wie
sie durch die Erfindung der Druckerpresse möglich wurde, führten zur Massenwirksamkeit dieses Modells. Da das bürgerliche Modell als „umfassendes Gesellschaftsmodell“ zu verstehen ist, das sich nie auf den städtischen Bereich beschränkt hat,
erfasste es auch die ArbeiterInnenklasse und setzte sich vor allem im 19. Jahrhundert
– eng an Kapitalismus, Nationalismus und Imperialismus gekoppelt – ungebremst
fort. Von der herrschenden bürgerlichen Klasse wurde über die „gesellschaftlich entscheidenden Kommunikationskanäle“ wie das Schul- und Bildungswesen oder das
auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhende Militär das Aufklärungsbild von Männlichkeit „persuasiv verbreitet“ (ebd., S. 153). Während vorher Jahrhunderte lang die
ständischen Unterschiede weit schwerer wogen als das biologische Geschlecht, traten
nun hinter der Kategorisierung als Mann oder Frau alle anderen Differenzierungskategorien zurück. Hegemonial ist das verbreitete Modell von Männlichkeit, weil es
einerseits mit dem Anspruch biologischer Unbedingtheit und Unentrinnbarkeit auftritt und andererseits alternative Männlichkeiten nur noch in stigmatisierter Form
oder aber im Modus der Opposition möglich sind. Zudem durchzieht es die gesamte
Gesellschaft: Verschiedene Männlichkeiten werden hierarchisch konfiguriert, und
Frauenrollen und Weiblichkeit werden in Beziehung zu Männlichkeit gesetzt, die
Gesellschaft wird dichotomisch in öffentliche und private Räume zerteilt. „Alles,
wirklich alles: ideell, materiell, körperlich, moralisch, habituell, wird dichotomischgeschlechtlich und asymmetrisch durch überlegene Männlichkeit markiert“ (ebd.,
S. 154). Soldatische Tugenden, bestimmte soziale und politische – „staatsbildende“
– Fähigkeiten, die Rolle als Familienernährer und Heterosexualität bestimmten das
Männlichkeitsbild dieses Modells.
In der deutschen Geschichte zeigt sich dies daran, dass mit der Reichsgründung
1870 auch eine Neudefinition von Homosexualität als das „Andere“ des gereinigten
88
nationalen Volkskörpers erfolgte und die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gültigen
rechtlichen Rahmenbedingungen für „homosexuelles Verhalten“ festgelegt wurden:
etwa der einschlägige Paragraph 175 des neuen Strafgesetzbuches, der – mit einigen
Novellierungen und Umformulierungen – in der Bundesrepublik Deutschland bis
1969 Gültigkeit hatte (vgl. Schulz 1994, S. 7 ff.). Der homosexuelle Mann wurde, wie
Michel Foucault (1992) feststellt, zur Spezies. Foucault zufolge wurde nach 1840 die
Sexualität in das Zentrum der Auffassung des Menschen gestellt, es entwickelte sich
ein „Sexualitätsdispositiv“, das er im Wesentlichen einem frühneuzeitlichen „Allianzdispositiv“ gegenüberstellt. Der Begriff des „Dispositivs“ wurde von Foucault
(1978) als Analyseinstrument entwickelt, um einen Diskurs oder ein bestimmtes
Selbstverständnis zu fokussieren und nach seiner jeweiligen Akzeptanz zu fragen.
Er versteht unter einem Dispositiv „ein entschieden heterogenes Ensemble, das
Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz,
das zwischen diesen Elementen geknüpft ist“ (ebd., S. 119 f.).
Das Alllianzdispositiv stützte sich nach Foucault (1992) auf ein System des Heiratens und der Verwandtschaft, das sich zwischen die Sexualbeziehungen geschaltet
hat und dessen zentraler Ort die Familie war. Der zentrale Angriffspunkt des Sexualitätsdispositivs hingegen ist der Körper. Es entwickelte sich, so Foucault, weil die Sexualität gleichzeitig den Zugang zum individuellen Körper und zur Bevölkerung ermöglichte, weil das Leben erst über die Erzeugung und Organisation einer Sexualität
wirksam auf ökonomische Zwänge hin gestaltet werden konnte. Über eine Vielzahl
unterschiedlicher Elemente wie Aussagen, Regeln, Praktiken, Institutionen etc. regt
das Dispositiv Individuen dazu an, sich als Wesen mit einer Sexualität zu verstehen
und sich über diese zu definieren – und damit eine Verhaltensweise wie etwa Homosexualität zu isolieren. Neuere Forschungen, wie etwa jene von Paul Derks (1990),
setzen den Zeitraum der Entstehung des Sexualitätsdispositivs schon früher, 1750
beginnend an, halten aber auch seine zentrale Bedeutung bei der Hegemonialisierung des heterosexuell, körperlich und militärisch strukturierten Männlichkeitskonzepts fest.
Auch wenn dieses Modell – wie etwa Jacques LeRider (1990) für die Wiener Moderne festhält – in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts immer
wieder Modifikationen und Krisentendenzen aufweist, bleibt es in der Folge doch
hegemonial und erlebt schließlich seine äußerste Radikalisierung im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich zwar im Zusammenhang mit der
Kriegsbewältigung und der Rekonstruktion der Gesellschaft eine deutliche „Remaskulinisierung“ Deutschlands nachweisen, aber auch eine Abkehr vom militärischen
89
Männlichkeitsbild (vgl. Moeller 2001) und die Formulierung neuer Männlichkeits­
ideale, die sich an „zeitlosen“ Werten orientierten (vgl. Biess 2002).
Während die Wirkungsmacht des hegemonialen Modells bei diesen Prozessen
noch hoch war, lässt sich gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts seine allmähliche Zersetzung oder zumindest Infragestellung beobachten. Diese muss mit dem
Schlagwort der „68er Bewegung“ und den damit in Zusammenhang stehenden Befreiungsbewegungen in Verbindung gebracht werden. Die „68er Bewegung“ legte
die Grundlagen für einen „Demokratisierungsschub, der die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse erschütterte“ (Schmale 2003, S. 247) und Bereiche, die vorher
als „typisch“ männlich galten wie viele Berufe, Politik, Wissenschaft etc., für Frauen
zugänglich machte. Die Homosexuellenbewegungen begannen in etwa zeitgleich
und in kommunikativem Austausch mit den feministischen Bewegungen, neue Orientierungsangebote zu erarbeiten und sich der im 19. Jahrhundert grundgelegten
Ausgrenzungslogik zu widersetzen. In enger Vernetzung mit beiden sozialen Bewegungen entstand darüber hinaus im Westdeutschland der 1970er Jahre die „Männerbewegung“, die sich – ähnlich wie die Homosexuellenbewegungen und die feministischen Bewegungen – nicht als eine große gesellschaftspolitische Bewegung, sondern
als „Sammelsurium verschiedener Aktivitäten und Bewegungen von Männern“ mit
dem gemeinsamen Ziel verstehen lässt, „Antworten auf die Herausforderungen eines
gewandelten Geschlechterverhältnisses zu finden“ (Lenz 1997). Je nach ideologischer
Ausrichtung verschieden akzentuiert und mit differenten Wirkungsabsichten sind
Themen wie Geschlechterrollenbilder, Homophobie, Sexismus, patriarchale Gesellschaftsstrukturen, psychische Probleme und Opfererfahrungen von Männern,
Vaterschaft, männerspezifische Gesundheitsthemen oder Militär und Wehrpflicht
zentrale thematische Bereiche dieser Bewegung (vgl. Ax 2000). Doch nicht nur der
Widerstand der „betroffenen Gruppen“ selbst und ihre eigene und öffentliche Wahrnehmung – wie sie etwa in der Herausbildung der „Männerbewegung“ zum Ausdruck kommt – hatte sich verändert. Wie der Anthropologe Matti Bunzl (2004) feststellt, sind die beschriebenen Entwicklungen im gesamteuropäischen Kontext eng
mit dem Auftreten eines „postmodern“ geprägten, neuen Europas verbunden. Dieses
zeichne sich vor allem durch seine pluralistische Grundhaltung aus und verweise auf
strukturelle Transformationen des nationalstaatlichen Konzepts, die zu einer Umkehrung der früheren Ausgrenzungsprinzipien geführt habe. Während Homosexuelle – ähnlich wie Juden, deren Geschichte er in dieser Hinsicht parallel führt – im
19. Jahrhundert dem nationalen Phantasma ethnischer und sexueller „Reinheit“ als
das konstitutiv Andere eingeschrieben waren, wurden sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu „celebrated icons of postnational pluralism“ (ebd., S. 218). Wolfgang
Schmale (2003) spricht im Zusammenhang mit diesen Pluralisierungstendenzen
von „polymorphen Männlichkeiten“ in der postmodernen Gesellschaft: polymorphe
90
Identitätsbildungen, soziokulturelle Pluralisierungsprozesse und nicht zuletzt politisch verordnete Gleichberechtigungsnormen lassen der hegemonialen Männlichkeit
immer weniger Raum.
„Bis mindestens Anfang der 1980er Jahre entwickeln sich neue oder alternative
Männlichkeiten im Rahmen der konfliktreichen Auseinandersetzung mit dem
hegemonialen Männlichkeitsmodell, von dem zu Beginn des 21. Jahrhunderts
noch wesentlich mehr als nur Spuren übrig geblieben sind. Aber seit den 1960er
Jahren existieren andere Entwürfe von Männlichkeit, die keinen hegemonialen
Charakter haben bzw. haben können. Die bürgerliche Gesellschaft und die anderen Vorausbedingungen des hegemonialen Modells kommen der Männlichkeit
abhanden“ (ebd., S. 238 f.).
Der Mann „in der Krise“ kann sich nicht mehr auf tradierte, überkommene Rollenbilder und klar definierte Handlungs- und Herrschaftsräume verlassen. Die Vorstellungen von Mannsein und Männlichkeit ändern sich, neue Verhaltensmuster stehen
zur Diskussion.
Wie eingangs festgestellt, sind diese Entwicklungen mit einer noch nie da gewesenen Repräsentation männlicher Homosexualitäten in den Massenmedien verbunden, wofür das deutsche Kino der 1990er Jahre und die dort verhandelten Rollenmuster und Identifikationsangebote ein Paradebeispiel sind. Dabei erscheinen mir
vor allem zwei Aspekte interessant, auf die ich eingehen möchte: Einerseits die Beschäftigung mit dem „Neuen Mann“ und seinem ihm filmisch „zur Seite gestellten“
homosexuellen Pendant als zentrales Repräsentationsmuster, wie sie in den Produktionen der „Neuen Deutschen Beziehungskomödie“ vorkommt. Ich werde dieses
Genre anhand von Sönke Wortmanns „Der Bewegte Mann“ aus 1994 vorstellen.
Andererseits gehe ich auf die Produktionen des „New Queer Cinema“ ein, wozu ich
das Erstlingswerk des damals 25-jährigen Michael Stock „Prinz in Hölleland“ aus
1993 zähle. Wenngleich beiden Filmen der nationale und zeitliche Entstehungszusammenhang gemein ist, kommen sie doch aus sehr unterschiedlichen filmischen
Darstellungstraditionen und sozialen Zusammenhängen und sind in dem, was ihr
„Deutschsein“ ausmacht, ebenso wie in ihrer Breitenwirksamkeit sehr verschieden.
So erzählt Wortmanns in deutscher Starbesetzung gedrehte und kommerziell äußerst
erfolgreiche Komödie die Geschichte eines heterosexuellen Liebespaares im „wiedervereinigten“ Deutschland, dessen bürgerlichem Glück vor allem die Untreue und
Unstetigkeit des männlichen Beziehungspartners entgegensteht. In dieser Situation
tritt die Figur des „besten schwulen Freundes“ in ihr Leben. Über viele komödiantische Verirrungen und Verwicklungen, die latent und manifest homosexuelle Komponenten enthalten, findet das Paar schließlich wieder zueinander und seine Liebe
91
mit einem Kind besiegelt. Stocks sozialkritischer Film unterschiedet sich nicht nur
im Schauplatz der Handlung – einer Wagenburg-Siedlung im Berlin-Kreuzberg der
Nachwendezeit – erheblich von dem in Köln angesiedelten „bewegten Mann“. Vor
allem in kleineren Off-Kinos gezeigt, schildert er das Leben einer vor Gruppe von
Autonomen, die bürgerliche Wertvorstellungen und „geregelte Bahnen“ ablehnen
und sich in ihrem Alltag an der Auseinandersetzung mit ihnen ebenso „abarbeiten“
wie mit Drogenkonsum, der deutschen Geschichte oder ihren Realisationen mannmännlicher Liebe und Sexualität. Der düsteren Grundstimmung des Films entspricht
auch sein tragisches Ende: dem Drogentod einer der Hauptfiguren.
Um die Unterschiede zwischen den beiden besprochenen Filmen stärker herausarbeiten und damit auch die in den Filmen vorzufindenden filmischen Repräsentationen und Konstruktionen von Homosexualitäten in einen größeren Kontext stellen
zu können, ist es zunächst notwendig, einige Bemerkungen zur Lage des deutschen
Films der ersten Hälfte der 1990er Jahre und seines kulturgeschichtlichen Hintergrunds zu machen.
Der deutsche Film der 1990er Jahre – ein „Bauchladen“
Katja Nicodemus spricht vom deutschen Film der 1990er Jahre als einem „Bauchladen“, einem „Sammelsurium, in dem die Strömungen und Tendenzen, die inhaltlichen wie ästhetischen Richtungen und Autorenhaltungen der vorangegangenen
Jahrzehnte isoliert nebeneinander standen.“ (Nicodemus 2004, S. 319) Dabei waren
vor allem Entwicklungen in der BRD der 1980er Jahre von besonderer Relevanz. Der
Tod Rainer Werner Fassbinders 1982 markiert gemeinhin das Ende des sowohl in
Deutschland (zumindest bei FilmwissenschaftlerInnen und KritikerInnen) als auch
international angesehenen „Neuen Deutschen Kinos“, wenngleich auch einzelne FilmemacherInnen in den 1990ern noch aktiv waren. Während über das formal und
ästhetisch innovative Potential und die gesellschaftskritische Dimension dieser Strömung, die mit Namen wie Wim Wenders, Margarete von Trotta, Werner Herzog,
Werner Schroeter, Volker Schlöndorff, Alexander Kluge und anderen in Verbindung
gebracht wird, weitgehend Einigkeit herrscht, kann man/frau über die Gründe ihres allmählichen Verschwindens verschiedener Meinung sein (vgl. Rentschler 2000;
Elsaesser 1999). Ein wichtiger Faktor ist sicherlich in der Kulturpolitik des ab März
1983 regierenden CSU-Innenministers Friedrich Zimmermann zu sehen, der nach
seiner Amtsübernahme in der neu gebildeten Regierung Kohl einen „konservativen
Angriff auf das Kunstkino“ (Hake 2004, S. 291) startete und dem „Autorenkino“ mittels Kürzungen öffentlicher Gelder und der Ablehnung bereits bewilligter Darlehen
für umstrittene Projekte regelrecht den Krieg erklärte. Der „Steuerzahler“, so Zim92
mermanns Credo, habe „ein wohlbezahltes Recht auf Unterhaltungskino“ (Rentschler 2004, S. 284), was auch in der Filmförderung zum Ausdruck kommen müsse.
Dazu kam, dass die deutsche Filmindustrie in den 1980er Jahren – wie jene in vielen
anderen westlichen Ländern auch – nicht nur von teuren amerikanischen Produktionen be- und verdrängt wurde, sondern sich auch das Medium insgesamt einem
veränderten Stellenwert in der öffentlichen Sphäre gegenübergestellt sah: Film wurde durch die Verbreitung auf Videokassetten immer mehr zu einem jederzeit verfügbaren Konsumartikel, Kinos zu „antiquierten Vergnügungsstätten“ (Rentschler
2004, S. 281). Während einige ProduzentInnen und RegisseurInnen wie Wolfgang
Petersen, der mit seinen Filmen wie „Das Boot“ (1981) oder „Die unendliche Geschichte“ (1984) internationale Kassenerfolge erzielte, auf die so genannte „Krise des
Kinos“ mit größeren Budgets reagierten, um auch international konkurrenzfähig zu
bleiben, versuchten anderen FilmemacherInnen, die Synergieeffekte von Film und
Fernsehen zu nutzen. Insbesondere seit der Privatisierung des Fernsehens in den
frühen 1980er Jahren wuchs die ökonomische Bedeutung der Kabelprogramme und
Medienkonzerne wie der Kirch-Gruppe – gerade auch bei der Finanzierung einheimischer Produktionen – zunehmend und spielte nicht nur eine bedeutende Rolle
bei der Kommerzialisierung des Filmschaffens, sondern ließ die Grenzen zwischen
Fernseh- und Kinofilm zunehmend verschwimmen. Dazu kam eine vermehrte Zusammenarbeit zwischen Filmakademien, Fernsehstationen und kommerziellen ProduzentInnen, die erheblichen Einfluss auf die Filmakademien und die dort ausgebildeten Filmschaffenden ausübte, die oft bereits ihre Abschlussfilme mit Hinblick
auf kommerzielle Verwertbarkeit und Marktkonformität drehten. An den deutschen
Filmhochschulen und Filmakademien war eine neue Generation von Filmschaffenden herangewachsen, die unter veränderten Förderbedingungen, zunehmender
Konkurrenz amerikanischer blockbuster und starkem ökonomischen Druck versuchen musste, die Gunst des Publikums wieder für den deutschen Film zu gewinnen.
Wie im „Jungen Deutschen Kino“ der 1960er Jahre rebellierten die jungen FilmemacherInnen der 1990er Jahre wie Sönke Wortmann, Doris Dörrie, Rainer Kaufmann, Dominik Graf, Joseph Vilsmaier, Helmut Dietl, Detlev Buck und andere in
diesem „Generationenkonflikt“ gegen ihre kinematographischen Mütter und Väter,
mit möglicherweise einem – wie Thomas Elsaesser (1999, S. 3) feststellt – entscheidenden Unterschied: „(…) they do so mostly by ignoring them altogether, rather
than baiting their elders with manifestos and polemics“. Auch wenn sie ihre Rebellion nicht mit großen Gesten und Manifesten proklamierten, wies die neue Generation von RegisseurInnen den gesellschaftskritischen und aus ihrer Sicht oft elitären
und „besserwisserischen“ Anspruch des „Autorenkinos“ zurück und verstand sich
kaum mehr als „Gegenkultur“ in dessen Sinn. Vielmehr setzten eine Wiederkehr des
Genrekinos und ein regelrechter „Komödienboom“ ein, der vor allem an der US-ameri93
kanischen Filmindustrie orientiert war. Dies zeigte sich nicht nur an der veränderten,
stark kommerziell ausgerichteten Haltung der jungen RegisseurInnen, sondern auch
an der führenden Rolle US-amerikanischer Verleihfirmen im Vertrieb und bei der
Vermarktung der deutschen Produktionen (vgl. Rentschler 2000, S. 260). Diese hatten sehr schnell das kommerzielle Potential der deutschen „Komödienwelle“ der
1990er Jahre erkannt und ihre Talent-Scouts nach München und Berlin gesandt, um
Kapital und Koproduktionen anzubieten. Tatsächlich gelang es der deutschen Filmindustrie mit Hilfe amerikanischer Unterstützung, nach der „Krise der Kinokultur“
in den 1980er Jahren wieder mit ihren Filmen die Kinosäle zu füllen. Sicherlich befriedigte Hollywood in den neunziger Jahren weiterhin das Bedürfnis nach Spezialeffekten und spektakulären Produktionen und führte mit Filmen wie „Pretty Woman“
(1990), „Home Alone“ (1991), „Basic Instinct“ (1992), „Jurassic Park“ (1993), „While
You Were Sleeping“ (1994), „The Lion King“ (1995), „Independence Day“ (1996) etc.
die Liste der Kassenschlager an. Vor allem die Formate der „Neuen Deutschen Beziehungskomödie“, als deren Paradebeispiel ich den „bewegten Mann“ ansehen würde,
waren zu Beginn des Jahrzehnts jedoch eine regionale und lokale Alternative zu den
Hollywood-Trends, denen sie nicht nur in den dort dargestellten „Lifestyle-Konzeptionen“ nacheiferten. Dazu kam, dass die Kinoindustrie dem Kinosterben der 1980er
Jahre ab Beginn der 1990er Jahre mit der zunehmenden Errichtung technisch hoch
ausgereifter Multiplex-Kinos entgegenzuwirken begann, die mit großen Leinwänden, luxuriösen Sitzen und hochqualitativen Sound- und Vorführtechniken in ein
größeres System von Restaurants, Bars und Unterhaltungszentren eingebettet waren
und Teil einer „Erlebnis- und Spaßkultur“ wurden. Sicherlich waren diese „Unterhaltungszentren“ vor allem auf amerikanische blockbuster ausgelegt, die auch die gesamten 1990er Jahre hindurch den deutschen Markt mit einem Marktanteil zwischen
77 und 80 Prozent dominierten. Dennoch boten sie auch den kleineren deutschen
Produktionen die Gelegenheit, ein großes Publikum zu erreichen. Zumindest der
kommerziell orientierte deutsche Film schien sich zunehmend zu erholen. So stieg
auch die Zahl der abendfüllenden Spielfilme von ungefähr sechzig Filmen pro Jahr in
den frühen 1990er Jahre auf achtzig pro Jahr in den frühen 2000er Jahren (vgl. Hake
2004, S. 308). Die deutsche Kino- und Filmindustrie jubelte nach den schwierigen
Zeiten der 1980er Jahre aufgrund der Erfolge der Unterhaltungsfilme in der ersten
Hälfte der Dekade wieder, was seinen Höhepunkt 1997 fand, als im ersten Quartal
des Jahres der deutsche Marktanteil ein historisches Hoch von 31,5 Prozent erreichte
(vgl. Nicodemus 2004, S. 332).
So erfolgreich die deutschen Komödien im Inland waren, so wenig verkauften sie
sich im Ausland oder erlangten internationale Reputation, wie es etwa Rentschler
eindeutig zusammenfasst:
94
„Despite its resonance at home, the new German genre cinema, in the mind of its
detractors, is bland and provincial, infantile and harmless. Ideological opponents
castigate this cinema for its lack of oppositional energies and critical voices, seeing
it as an emanation of an over determined German desire for normalcy as well as
of a marked disinclination towards any serious political reflection or sustained
historical retrospection.“ (Rentschler 2000, S. 263)
Die hier angesprochene Kritik verweist stark darauf, welche sozialpsychologische
Funktion der Komödienboom bei der Erfüllung des von Rentschler (2000) angesprochenen Bedürfnisses nach „Normalität“ in der deutschen Gesellschaft nach den historischen Ereignissen von 1989/90 hatte. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November
1989 markierte nicht nur das Ende der Nachkriegszeit, sondern auch den Beginn der
„deutschen Wiedervereinigung“, die weit reichende und schwierige Veränderungen
in allen gesellschaftlichen Bereichen mit sich brachte. Einerseits lenkten die Debatten
über die zukünftige Rolle Deutschlands innerhalb Europas die Aufmerksamkeit erneut auf den Stellenwert und die sich verändernde Bedeutung von Nation und Nationalkultur. Anderseits traten nach der anfänglichen Euphorie auch die Unterschiede
zwischen den alten und den neuen Bundesländern immer stärker in den Vordergrund. Ökonomische Probleme, soziale Spannungen und gegenseitiges Unverständnis verfestigten sich zunehmend in den Stereotypen von „Ossis“ und „Wessis“. Im
deutschen Kino zu Beginn der 1990er Jahre lösten diese Vorgänge jedoch erstaunlich
wenig direktes Echo aus, Katja Nicodemus (2004, S. 320) spricht von einem „blinden
Fleck“. Nicht nur schien die Kinokultur der DDR im „wiedervereinigten“ Deutschland fast spurlos aufgegangen, der Nachhall des Mauerfalls erreichte es insgesamt
bestenfalls in Form von Parodie und Klischee.3 Die stattdessen einsetzende, von wirtschaftlichen Interessen geprägte Renaissance des Unterhaltungskinos zielte vor allem
auf die „harmonisierenden Effekte des Genres“ ab und sollte dem Publikum Ablenkung von den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problemen des „wiedervereinigten“ Deutschlands bieten. Der explizite Rückzug in das scheinbar „unpolitische
Private“ und die humoristische Beschäftigung mit – gleichzeitig oft als Verunsicherung und Bedrohung empfundenen –, veränderten Geschlechterverhältnissen und
Vorstellungen von Männlichkeit waren dafür willkommene Themen.
3 Wie etwa in Peter Timms „Go, Trabi, Go“ (1990), in dem sich eine ostdeutsche Familie den Traum einer Reise nach
Italien erfüllt, um dann in Wolfgang Bülds und Reinhard Klooss Fortsetzung „Das war der wilde Osten“ („Go, Trabi,
Go 2“, 1992) mit einer Gartenzwergproduktion zu Millionären zu werden. Gewisse Ausnahmen dazu stellen die Dokumentarfilme der Zeit zwischen 1989 und 1993 dar, die mitunter ein feineres Gespür für diese Fragen fanden (vgl. dazu:
Hughes/Brady 1995, bes. S. 277 ff.).
95
„Der bewegte Mann“ und sein homosexuelles Pendant
Sieht man/frau Sönke Wortmanns „Der Bewegte Mann“ vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund, ist er integraler Bestandteil des „Aufbruchs zu neuen deutschen
Erfolgen“4 mit allen seinen Charakteristika. So gehört Wortmann jener Generation
von RegisseurInnen an, die zu Beginn des Jahrzehnts unter veränderten Förderbedingungen und kommerziellen Vorzeichen angetreten waren, sich von dem als oft
langatmig und exklusiv empfundenen „Autorenkino“ abzugrenzen. Nach Absolvierung der Hochschule für Fernsehen und Film München im Jahr 1989 wurde bereits
sein Kinodebüt als Regisseur „Allein unter Frauen“ ein Leinwanderfolg. „Der bewegte Mann“, die Verfilmung zweier Comics des offen schwul lebenden Cartoonisten
Ralf König (1987, 1988) aus 1994 wurde mit 6,5 Millionen KinobesucherInnen und
einem Einspielergebnis von etwa 70 Millionen DM bei rund 10 Millionen DM Produktionskosten nicht nur einer der kommerziell erfolgreichsten deutschen Filme der
1990er Jahre, sondern wurde auch mit mehreren Preisen wie dem Bundesfilmpreis
in Gold ausgezeichnet (vgl. Blothner 1997, S. 41; Rauch 2000, S. 108). Der stark an
Fernseh- und vor allem US-amerikanische Sitcom-Ästhetik erinnernde, für Constantin-Film unter Bernd Aichinger produzierte Kassenschlager spielt in Köln, das
neben Berlin die größte homosexuelle Szene in Deutschland aufweist. Ähnlich wie
andere Vertreter des Genres „Neue Deutsche Beziehungskomödie“ wie Rainer Kaufmanns „Stadtgespräch“ aus 1995 oder Rolf Silbers „Echte Kerle“ aus 1996, liefert er
einen Streifzug durch die Welt homo- und heterosexueller Befindlichkeiten und Beziehungen im „wiedervereinigten“ Deutschland des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts.
Wie David N. Coury (1997) herausgearbeitet hat, ist die „Neue Deutsche Komödie“ in Abgrenzung zum „Autorenkino“ des „Neuen Deutschen Films“ von einer
Rückkehr zu den traditionellen Elementen des klassischen Kinos wie Kausalität, linearen Erzählstrukturen, Geschlossenheit und vor allem Happy End gekennzeichnet.
Dieser Befund gilt auch für den „bewegten Mann“, dessen Handlung im Kölner Gloria-Theater einsetzt, in dem die beiden Hauptfiguren Axel und seine Freundin Doro
– gespielt von den deutschen Stars Til Schweiger und Katja Riemann – im Service
arbeiten. Dort erwischt Doro den als „triebgesteuert“ und doch liebenswert gezeichneten Macho Axel auf der Toilette beim Seitensprung mit einer anderen Frau. Hier
wird bereits die Problematik deutlich, die sich in der Folge durch die ganze Komödie
ziehen wird: Axel ist ein Peter Pan, der sich den Anforderungen seiner Freundin, ein
treuer Partner und später guter Vater zu sein, immer wieder zu entziehen versucht.
Er ist einer jener schönen, gestylten und körperbewussten Männer – man/frau sieht
4 So lautet der Untertitel eines von Amend/Bütow am Höhepunkt des Kömodienbooms 1997 herausgegebenen Sammelbandes zum deutschen Film der 1990er Jahre.
96
ihn im Verlauf des Films mehrmals mehr oder weniger nackt –, wie sie in der Werbung und den Medien der 1990er Jahre verstärkt auftauchen und als soziokulturelle
Reaktion auf die skizzierte Krise der Männlichkeit angesehen werden können. So
führt Rainer Gries (2004) aus, wie mit dem Abbau des hegemonialen Männlichkeitsbilds auch ein weiteres, langlebiges Prinzip abgebaut wurde: die traditionelle Dominanz von Frauenbildern in den Medien und den Produktmedien. Männliche Figuren
laufen weiblichen Figuren in der Werbung seit den 1990er Jahren zunehmend den
Rang ab, Männerbilder scheinen quantitativ und qualitativ zu dominieren, was auch
für die Inszenierung maskuliner Körper gilt. Es lässt sich geradezu von einem Siegeszug nackter oder teilnackter männlicher Körper sprechen. Die in den 1960er Jahren
einsetzenden Diskurse um die Enttabuisierung des Geschlechtlichen, die Liberalisierung der Sexualität und um Dekonstruktion des Weiblichen wie Männlichen hätten – so Gries (2004) – ein zweites Sexualitätsdispositiv herausgebildet, auf das die
Präsenz des männlichen Köpers reagiert hätte. Frauen hatten sich in Folge der „68er
Bewegung“ viele gesellschaftliche Bereiche erschließen können, die sich von monozu gemischtgeschlechtlichen Sphären wandelten, „Männlichkeit“ im Unterschied zu
„Weiblichkeit“ zu definieren, wurde schwieriger. In diesem Sinn ist die Figur des Axel
Ausdruck jener gegen Ende des 20. Jahrhunderts einsetzenden Idealisierung eines
männlichen Körperbilds, das „das Modell des harten Mannes als ästhetische Variante wiederholt und einen Flucht- bzw. Reaktionsweg“ (Schmale 2003, S. 262) aus
diesen bzw. auf die beschriebenen Transformationen darstellt.
Als Doro, die sich vor allem nach Romantik und bürgerlicher Sicherheit sehnt und
vom Feminismus völlig verschont geblieben scheint, Axel nach dem Seitensprung
auf der Toilette in der Eingangssequenz aus der Wohnung wirft, muss er erst einmal ein Dach über dem Kopf für die Nacht finden. Über einen Bekannten aus einer
Männergruppe lernt er den schwulen Norbert – gespielt von Joachim Król – kennen,
der ihn vorübergehend bei sich aufnimmt und sich in ihn verliebt, was Axel genauso
wenig realisiert wie die Tatsache, dass Norbert stark an seiner unglücklichen Liebe
leidet. Im Verlauf der Handlung kommt es nun zu einer zunehmenden Annäherung,
die während eines gemeinsamen Diaabends zu der einzigen sexuellen Begegnung
zwischen den beiden führt: Sie sehen sich im Bett liegend gemeinsame Urlaubsdias
von Axel und Doro an. Während Axel von „seiner Doro“ schwärmt, kann man/frau
vermuten, dass sich Norbert, der sich unter einem Vorwand ausgezogen hat, unter der Bettdecke Axel sexuell nähert. Als in dieser Situation Doro an der Tür zu
hören ist, gerät Axel in Panik und zwingt Norbert, sich im Schrank zu verstecken
(siehe Filmstill 1). Doro vermutet nun, Axel habe eine andere Frau in der Wohnung,
und findet Norbert im Schrank. Interessant ist die Auflösung dieser volksstückartiggrotesken Szene: In dem folgenden Dialog dementiert Axel eindringlich, „schwul“
zu sein, und Doro offenbart ihm ihre Schwangerschaft. Norbert steht schweigend
97
Filmstill 1: Axel (Til Schweiger) zwingt Norbert (Joachim Król), sich im Schrank zu verstecken. Quelle: Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen (Berlin)
und passiv daneben, jegliches Recht auf Mitsprache an der offensichtlich nur von
ihm (und bestenfalls Doro) „falsch verstandenen“ Situation wird ihm genommen,
und er zieht ob des neu gestärkten, heterosexuellen Liebesglücks betroffen ab.
Die Sequenz ist für die Figurencharakterisierung Norberts und die dahinter stehenden Konzeptionalisierungen äußerst aufschlussreich. Hier wird auf ein zentrales
Motiv der Schwulen- und Lesbenbewegung Bezug genommen: „coming out of the
closet“ – also das Verlassen des „Schranks“ („Verstecks“) und das Öffentlichmachen
seiner/ihrer homosexuellen Neigungen. Das coming out of the closet, das uns hier
gezeigt wird, hat mit dem teils gesellschaftsverändernden Anspruch der Schwulenund Lesbenbewegung der 1970er und frühen 1980er Jahre aber kaum mehr etwas zu
tun. Norbert ist, wie Connell (2000, S. 183) den Typus des „sehr normalen Schwulen
beschreibt“, ein „Erbe der homosexuellen Emanzipation und der ‚rosa Kapitalisten’
der 70er Jahre (der Generation, die jetzt durch AIDS verwüstet wird)“. Er ist eine
Seele von Mensch, der sein Begehren brav zurückpfeift, wenn es darum geht, die
heterosexuelle Beziehung zwischen Axel und Doro zu retten. So begleitet er in den
letzten Sequenzen der im Screwball-Tempo5 gehaltenen Komödie sogar die hoch5 Unter Screwball-Comedy vesteht man/frau eine Komödiengattung, die ihre Hochblüte im US-amerikanischen Kino
der 1930er Jahre hatte und mit Regisseuren wie Howard Hawks, Frank Capra, Ernst Lubitsch, Gregory LaCava u.a. in
Verbindung gebracht wird. Mit hohem Tempo, viel Wortwitz und einem meist parodistischen Grundzug wird in ihnen
98
schwangere Doro ins Krankenhaus, als bei ihr überraschend die Wehen einsetzen,
weil sie Axel in Norberts Wohnung wieder beim Seitensprung erwischt hat und dieser aufgrund eines zuvor eingenommenen Potenzmittels nicht bei Sinnen ist. Dies
sichert ihm nicht nur das Vertrauen Doros, sondern erneut auch Axels Freundschaft.
In der letzten Einstellung des Films schließlich verlassen Axel und Norbert gemeinsam das Krankenhaus, in dem Doro und ihr Baby liegen – eine Neuadaption des
alten Buddy-Genres. Axel scheint durch Norbert geläutert, und auch wenn ungeklärt bleibt, ob sich dieser nun in seiner künftigen Rolle als treu sorgender Ehemann
und Familienvater zurechtfinden wird oder dazu weiterhin Norberts Hilfe bedarf,
findet die Komödie ein klassisches Happy End. Sicherlich ist die Figur des freundlichen, aber unglücklichen Homosexuellen, der uns hier begegnet, keine Erfindung
der deutschen Komödie der 1990er Jahre. Anders als ihre filmischen Vorgänger,
die sich seit Richard Oswalds 1919 in Deutschland entstandenem „Anders als die
Anderen“, dem weltweit ersten Film zur Thematik, immer wieder vereinzelt in der
Filmgeschichte finden, scheint Norbert hier jedoch zu Ende des 20. Jahrhunderts in
der „Mitte“ der deutschen Gesellschaft angekommen. So wie die „Neue Deutsche Beziehungskomödie“ der Vermeidung und vor allem auch Kaschierung von Konflikten
in einem vom Neoliberalismus geprägten „wiedervereinigten“ Deutschland dient, ist
auch sein gleichgeschlechtliches Begehren kein Ausschließungsgrund mehr, solange
er sich der ihm zugedachten Rolle entsprechend verhält und in der heterosexuellen
Liebe zwischen Doro und Axel gewissermaßen als Katalysator dient.
Ralf König hat sich über das Ergebnis der Verfilmung seiner Comics mehrfach
unzufrieden gezeigt, da er seine homosexuellen Figuren als zu stereotyp gezeichnet
und seine überspitzten Darstellungen der heterosexuellen Akteure als zu stark verflacht und in die Heteronormativität gerückt sah. Ich würde dem zustimmen und
ergänzen, dass die gezeigten Klischees über Homosexualität sowie das Beharren auf
die letztendlich beibehaltene Trennung Homo- versus Heterosexualität den Effekt
haben, die Stellung der dominanten heterosexuellen Gruppe als „normal“ erscheinen
zu lassen. Dennoch ist der Film ein Anzeichen für eine starke Auseinandersetzung
mit Männlichkeitskonzeptionen und bringt nicht zuletzt ein gesellschaftliches Klima
zum Ausdruck, in dem Homosexualitäten – wenn auch in gezähmter Form – einem
Massenpublikum gezeigt werden können, das im selben Jahr miterlebt hat, wie der
Paragraph 175 nach mehr als 123 Jahren aufgehoben und durch eine geschlechtsneutral gefasste, erweiterte Jugendschutzbestimmung ersetzt worden war.
eine heterosexuelle Beziehungsgeschichte erzählt, wobei häufig selbstbewusste und energische Frauenfiguren leichtfertigen, in den Tag hinein lebenden Männerfiguren gegenübergestellt sind. Die Herkunft des Begriffes selbst ist nicht eindeutig nachgewiesen, vermutlich wurde die englische Slangbezeichnung screwball für eine Person mit eigenartigen bzw.
skurrilen Angewohnheiten aufgrund der Figurencharakterisierung der männlichen Protagonisten übernommen (vgl.
Wulff 2003).
99
Jenseits der Geschlechtergrenzen – „Prinz in Hölleland“
Wenn Katja Nicodemus (2004) vom deutschen Film der 1990er Jahre als von einem
„Bauchladen“ spricht, so finden sich darin immer wieder verborgene Schätze. Dazu
würde ich den zweiten Film, auf den ich eingehen möchte, zählen. Er führt in mehrerlei Hinsicht in eine völlige andere Welt und steht stellvertretend für die Produktionen des „New Queer Cinema“, die ich als zweites zentrales Repräsentations- und
Konstruktionsmuster männlicher Homosexualitäten im deutschen Kino der 1990er
Jahre erachte. Wie eingangs festgestellt, ist eine Definition von „queer“ problematisch, da die darauf aufbauenden Konzeptionen die explizite Zielsetzung verfolgen,
durch die Verweigerung eindeutiger Zuschreibungen die binäre Opposition von Homosexualität und Heterosexualität zu unterlaufen. Auf das Medium Kino umgelegt,
meint der Terminus „New Queer Cinema“ eine Reihe von selbstbewussten, offen
sexualisierten schwulen, lesbischen, bisexuellen und transgender Filmen in den frühen 1990er Jahren, die mit Namen wie Todd Haynes, Tom Kalin, Gus Van Sant, Isaac
Julien, Derek Jarman, Gregg Araki, Monica Treut und anderen verbunden werden.
Die Filmtheoretikerin Ruby Rich (1992, S. 32) hat die Filme dieser RegisseurInnen
programmatisch folgendermaßen definiert:
„The new queer films and videos are not all the same, and do not share a single aesthetic vocabulary or strategy or concern. Yet, they are nonetheless united
by a common style. Call it ,Homo Pomo‘: there are traces in all of them of appropriation and pastiche, irony, as well as a reworking of history with the social
constructionism very much in mind. Definitively breaking with older humanist
approaches and the films that accompanied identity politics, these works are irreverent, energetic, alternatively minimalist and excessive. Above all, they are full
of pleasure.“
Filme wie Haynes „Poison“ aus 1991, Gus Van Sants „My Own Private Idaho“ oder
Jarmans „Edward II“ aus demselben Jahr sind Paradebeispiele einer postmodernen
Ästhetik, was sie jedoch von anderen postmodernen Filmen unterscheidet, ist, wie es
José Arroyo (1997, S. 79) formuliert, „how their aesthetic relates to AIDS as a sociopolitical and discursive context. They represent a view of time and a view of sexuality
which explicitly or subtextually conveys a changed sense of mortality.“
Gerade in diesem Punkt lässt sich in mehrfacher Hinsicht an Stocks Erstlingswerk
anschließen. Doch zunächst zum Plot des Films, der in der Nachwendezeit in einer
von Autonomen bewohnten Wagenburg-Siedlung in Berlin-Kreuzberg, nahe dem
Kotbusser Tor, angesiedelt ist. Bereits in der Eingangssequenz werden die zwei Handlungsstränge entfaltet, die in dem narrativ sehr komplexen Film gegenübergestellt
100
sind: einerseits die vom Narren Firlefanz (Wolfram Haack) in Art eines märchenhaften Puppenspiels erzählte Geschichte von der Liebe des Prinzen zum Müllersohn,
die gemeinsam vor dem König, der die unnatürliche Liebe seines Sohnes nicht akzeptieren kann, in den Wald fliehen. Sobald sie im Wald sind, verfällt der Prinz den
Verführungen des Zauberers in Form eines Halluzinationen hervorrufenden weißen
Pulvers. Der Müllersohn jedoch rettet den Geliebten aus dem Wald und bringt ihn
zurück zum König, der sofort ihre Hochzeit organisiert. Obwohl diese Geschichte auf
einer Puppenbühne dargestellt wird, begleitet sie auch Szenen aus dem Mainplot: Sie
allegorisiert die Geschichte von Firlefanzens Freunden, allen voran dem heroinabhängigen Jockel (gespielt von Stock selbst) und seinem sensiblen, besorgten Freund
Stefan (Stefan Laarmann), die mit dem Tod Jockels an mit Strichnin versetztem Heroin endet. Zum Freundeskreis der beiden zählen Micha (Andreas Stadler), der sowohl mit Jockel als auch mit Stefan sexuelle Beziehungen unterhält – und sein kleiner
Sohn Sascha (Niels-Leevke Schmidt), der stets mit dem Narren unterwegs ist. Die
Spannung zwischen dem glücklichem Ende des Märchens und dem tragischen dieses
Hauptplots bereitet die Bühne für die anderen Spannungen, die in dem Film ausgebreitet werden: Hierzu zähle ich zum einen die HIV/AIDS-Thematik bzw. den von
Arroyo (1997) für das „New Queer Cinema“ behaupteten „changed sense of mortality“. So ist auffällig, dass sowohl Nadeltausch beim Drogenkonsum als auch ungeschützter Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern in sehr offen dargestellten
Sexszenen gezeigt werden, HIV/AIDS aber niemals explizit thematisiert wird. Dies
ist insofern verwunderlich, als HIV/AIDS nach der Entdeckung der Krankheit zu
Beginn der 1980er Jahre und deren rasanten Ausbreitung im Laufe des Jahrzehnts
sowohl in der „Szene“ als auch in der massenmedialen Berichterstattung ein Dauerthema waren. Ich meine, dass die Immunschwächeerkrankung gerade durch die
Verweigerung, sie zu benennen, in dem Film aber eine Omnipräsenz gewinnt, die
viel stärker ist, als sie mit expliziter Thematisierung zu erreichen wäre. So erschweren
die teilweise wenig integrierten und in ihrer Brutalität verstörend wirkenden Sexszenen identifikatorische Lesarten und führen die Thematik gewissermaßen durch die
„Hintertür“ ein.
Alice Kuzniar (2000) hat in ihrem Standardwerk zum „Queer German Cinema“
den Film unter dem Titel „A Gay Melancholia“ aufgenommen. Sie stellt Stock ebenfalls in die Tradition des internationalen „New Queer Cinema“, arbeitet in ihrem
Buch jedoch für das deutsche Kino Traditionslinien „queeren“ Filmemachens heraus,
die bis in die Weimarer Republik zurückreichen. Ausgehend von Richard Oswalds
„Anders als die Anderen“ aus 1919 verortet sie Stock in einer spezifisch deutschen
Traditionslinie, die über Zarah Leander als „camp icon“, Fassbinder, Rosa von Praunheim – dem Lehrer Stocks –, Werner Schröter, Ulrike Ottinger, Monika Treut bis zum
„New Queer Cinema“ reicht, das sie mit dem Verschwinden des „Neuen Deutschen
101
Kinos“ mit Fassbinders Tod 1982 als „arguably the strongest movement in German
film-making“ (ebd., S. 3) begreift. Ausgehend von der Tatsache, dass Stock, der wie
erwähnt auch die tragische Hauptfigur Jockel spielt, mit dem Film den Drogentod
eines Freundes verarbeitet, sieht sie den Film unter anderem als Ausdruck seiner
künstlerischen Trauerarbeit, was zentral für den melancholischen Grundton sei.
Durch die Verknüpfung von autobiographischem, dokumentarischem – Stock arbeitet größtenteils mit LaiendarstellerInnen – und fiktionalem Material zu einer Szenestudie, die zwischen Amateurvideo- und Fernsehspiel-Qualität schwankt, erhält
der Film einen besonderen Wert als zeitgeschichtliches Dokument. In einer an vielen
Stellen an Fassbinder erinnernden Ästhetik zeigt er heute nicht mehr existierende
Orte „schwuler Punkkneipenkultur“ wie das „Café Anal“ oder die „Oranienbar“ in
Berlin-Kreuzberg. Das Berlin der Nachwendezeit, das hier dargestellt ist, symbolisiert nicht die deutsche Wiedervereinigung, sondern die kulturelle und soziale Desintegration in Deutschland. Die BewohnerInnen der Wagenburg in Kreuzberg leben
im Niemandsland zwischen Ost und West, das neu geeinte Deutschland ist für sie ein
Hölleland, sie repräsentieren eine Jugend ohne Zukunft. Auch der politische Wille
zur Veränderung, wie er in der 68er Bewegung vorhanden war, ist dieser Generation „zwischen Ost und West“ trotz des plakativen Anspruchs abhanden gekommen,
was etwa symbolträchtig zum Ausdruck kommt, wenn Micha und Jockel auf dem
Weg zum Drogendealer gegen die stattfindende Anti-Rassismus Demonstration gehen. Die ProtagonistInnen sind von der deutschen Gesellschaft verlassen, die nicht
nur als homophob, sondern auch als tief greifend rassistisch dargestellt wird. Nicht
von ungefähr wird Jockel bei einem Ausflug von Neonazis zusammengeschlagen, bevor er an mit Strychnin versetztem Heroin stirbt. Dieses haben die Lieferanten ihres
Drogendealers nach dessen Ermordung für die – wie es heißt – „kleinen Arschficker“
dagelassen. Besonders spannend ist die Tatsache, dass der Film nicht nur eine Anklage gegen das Deutschland der Nachwendezeit ist, sondern sich auch beharrlich weigert, positive Bilder von Homosexualität zu zeigen oder Identifikationsangebote für
die RezipientInnen zu machen. So ist Jockel nicht nur heroinabhängig, er ist zudem
nach Sex süchtig, in diesem Sinn zeigt der Film – vor allem auch der gay community
– die Schattenseiten der sexuellen Revolution. Jockels Freund Stefan will ihn zwar
retten – was misslingt –, der Film parodiert jedoch meiner Auffassung nach dessen
rechthaberische Selbstgefälligkeit ebenso, wie er den Narren Firlefanz (siehe Filmstill
2) – der einem mittelalterlichen Mysterienspiel entsprungen zu sein scheint – am
Ende scheitern lässt.
Dennoch scheint mir der Narr eine der interessantesten Figuren des Films zu sein.
Sein Kostüm erscheint als queere gender performance, er ist weder eindeutig männlich noch weiblich, Kind oder Erwachsener, real oder fiktional und protestiert damit
gegen eine rigide Geschlechtertrennung.
102
Filmstill 2: Narr Firlefanz (Wolfram Haack)
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Michael Stock
Alice Kuczniar (2000, S. 177) interpretiert unter Bezugnahme auf Lacan sowohl
sein Kostüm als auch sein Psyeudonym als eine Maske, „whose function, Lacan notes, is ‚to dominate the identifications through refusals of love‘. (…) Like a child but
unlike all the adult characters in the film, Firlefanz does not engage in sex: his mask
is a strategy to counter the refusals of love or rejections that Micha, Stefan, and Jockel
at one time or another experience in the course of the film“.
Von allen Figuren ist er zwar am nächsten bei der Realität – oder besser gesagt
am realistischen –, er braucht aber seine Maske, die ihn schützt, um die Blicke der
anderen zu reflektieren und sich zu schützen. Er zeigt uns, wie ineffizient Sprache
ist, die Welt zu beschreiben oder gar zu verändern, woran auch seine Überschwänglichkeit und sein barockes Spektakel nichts ändern können. Nur als er in der letzten
Sequenz seinen Kopf in eine Galgenschlinge legt, ist er nackt und ohne seine Maske.
Wenn ihm sein ständiger Begleiter, der kleine Sascha, dann den Schemel unter den
Füßen wegzieht und ihn dadurch erhängt, scheint dieser seinen Wahnsinn geerbt zu
haben. Eine positive Zukunft scheint für ihn genauso wenig vorstellbar wie für seine
Vätergeneration.
103
Irreversible Errungenschaften?
Wie gezeigt werden sollte, wurde das mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft
in Europa herausgebildete Modell hegemonialer Männlichkeit gegen Ende des 20.
Jahrhunderts immer mehr herausgefordert und begann, nicht zuletzt unter dem
Eindruck des Feminismus und der Schwulen- und Lesbenbewegung, zu „bröckeln“.
Das deutsche Kino der 1990er Jahre reagierte auf die Verunsicherung und die Orientierungslosigkeit, die sich vielfach aus diesen Entwicklungen ergaben, mit einer
historisch nie da gewesenen Fülle von Repräsentationen männlicher Homosexualitäten. Daraus hat sich ein kinematographischer Erfahrungsraum ergeben, der einem
potentiellen Kinogeher oder einer potentiellen Kinogeherin im Beobachtungszeitraum zur individuellen Funktionalisierung von Spielfilmhandlungen zur Verfügung
stand. Diesen habe ich anhand zweier – aus meiner Sicht zentraler – Produktionen
nachzuzeichnen versucht. Dabei sollte keinesfalls der Eindruck erweckt werden, als
hätte es gegen Ende des Jahrtausends in der deutschen Gesellschaft keine (je nach
Geschlecht, Klasse, Rasse (race) etc. unterschiedliche) Diskriminierung Homosexueller oder anderer, den Normen geschlechtlicher Identifikation nicht entsprechender Personen gegeben, oder als wäre Geschlechterdemokratie im Sinne einer
nicht-hierarchisierenden Anerkennung von Differenz (vgl. Maihofer 1995) verwirklicht gewesen. Auch muss nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass
sich die stellvertretend vorgestellten Filme erheblich in den Darstellungstraditionen,
aus denen sie kommen, ihrer Verarbeitung des zeitgenössischen Hintergrunds der
deutsch-deutschen Wiedervereinigung, ihrer Darstellung mann-männlicher Liebe
und vor allem auch in ihrer Breitenwirksamkeit unterscheiden. Dennoch sind sie
beide visualisierter Ausdruck dessen, was Connell (2000, S. 214) als „irreversible Errungenschaft der letzten 25 Jahre“ bezeichnet: „die Existenz einer dauerhaften Alternative zur hegemonialen Männlichkeit“. In diesem Sinne verweisen sowohl die einer
queer-Ästhetik verpflichteten BewohnerInnen der Wagenburg-Siedlung in BerlinKreuzberg als auch die „gezähmten“ schwulen Figuren im „bewegten Mann“ – mit
den fiktiven Mitteln des Kinos – auf eine Pluralisierung von Männlichkeitsentwürfen
im ausgehenden 20. Jahrhundert, die ein historisches Novum und vielleicht auch
eine Vorausschau auf Entwicklungen darstellt, die sich im Laufe des 21. Jahrhunderts
fortsetzen könnten.
104
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107
Christine M. Klapeer
Für eine neue Grammatik
der Anerkennung
Eine kritische Inspektion
unterschiedlicher Anerkennungskonzeptionen für eine
Theorie und Politik im LGBT-Kontext
„,Anerkennung‘ ist zu einem Schlüsselbegriff unserer Zeit geworden. Eine ehrwürdige Kategorie der Hegelschen Philosophie, wieder zum Leben erweckt durch die politische Theorie, scheint dieser Begriff heute von zentraler Bedeutung für die Analyse
von Kämpfen um Identität und Differenz zu sein“ (Fraser/Honneth 2003a, S. 7).
So beginnen die US-amerikanische feministische Theoretikerin Nancy Fraser und
der deutsche Philosoph Axel Honneth ihre „politisch-philosophische Kontroverse“
zur Tauglichkeit und zum Einsatz des Begriffs der Anerkennung für die Analyse aktueller politischer Kämpfe und Bewegungen. Auch innerhalb eines LGBT1-Kontextes
spielt eine „Politik der Anerkennung“ eine maßgebliche Rolle in den unterschiedlichen politischen Artikulationsprozessen – sei es in Form einer juridischen Anerkennung durch eine nachträgliche Inklusion in das Institut der (Zivil-)Ehe bzw. einer
Gewährung von PartnerInnenschaftsrechten; oder sei es in Form einer sozialen und
kulturellen Anerkennung von schwulen oder lesbischen Identitäten als „gleichwertige“ Identitäten. Gleichzeitig haben wir es in Abgrenzung zu identitätsbezogenen
Anerkennungskonzepten mit queeren Forderungen zu tun, die eine sexuelle und
geschlechtliche Uneindeutigkeit und eine Pluralität sexueller und geschlechtlicher
Ausdrucksformen und Lebenskonzepte als zentralen Fokus von Anerkennung bestimmen.
1 Kurzbezeichnung für „Lesbian/ Gay/ Bisexual/ Transgender“
108
109
Trotz dieser höchst vielschichtigen und weit verzweigten Debatten um divergierende Anerkennungsstrategien innerhalb der LGBT-Bewegungen gibt es bisher jedoch
kaum Versuche, unterschiedliche Anerkennungsbegriffe aus der politischen Philosophie auf ihre Brauchbarkeit für die Analyse lesbischer und schwuler Emanzipation sowie Überwindung heteronormativer Strukturen zu untersuchen. Der folgende
Beitrag hat daher zum Ziel, die anerkennungstheoretischen Positionen von Fraser
und Honneth im Hinblick auf ihre Eignung für eine Analyse von Exklusionen und
Diskriminierungen von Lesben und Schwulen zu diskutieren. In diesem Kontext soll
gezeigt werden, welche relativen Vorteile das stärker strukturell und partizipatorisch
angelegte Anerkennungskonzept von Nancy Fraser, im Gegensatz zum intersubjektivitätstheoretisch fundierten von Axel Honneth, für eine Untersuchung heterozentristischer Strukturen auf der Ebene staatlicher Institutionen/Politik und demokratischer Prozesse offeriert und warum damit im Kontext einer kritisch-queeren
Herangehensweise heteronormative Wertemuster sowie daraus resultierende Ungleichheiten wirksam aufgedeckt werden können.
Vor dem Hintergrund aktueller Diskurse und Artikulationen innerhalb der LGBTCommunity sowie im Hinblick auf den Verlauf realpolitischer Debatten um die
Gleichstellung von Lesben und Schwulen (in Deutschland und Österreich) möchte
ich darüber hinaus den Blick auf die weitreichende und strukturierende Bedeutung
der normativen Ebene einer Legitimierung von politischen Forderungen von Lesben
und Schwulen schärfen. Denn es ist bedeutsam, wie und nicht nur dass von einer
Anerkennung lesbischer und schwuler Existenzweisen gesprochen wird. Insofern
beinhaltet mein Beitrag ein Plädoyer für eine neue Grammatik der Anerkennung
auch auf der Ebene des politischen Diskurses, in der Anerkennung nicht auf eine
individuell-subjektive Ebene der „Selbstverwirklichung“ von LGBT-Personen beschränkt bleibt, sondern auf einer strukturell-demokratiepolitischen Ebene als eine
Egalisierung von Zugangs- und Partizipationsbedingungen begriffen wird.
Die anerkennungstheoretische Kontroverse zwischen
Axel Honneth und Nancy Fraser
Axel Honneth und Nancy Fraser entwerfen in der Publikation „Umverteilung oder
Anerkennung. Eine politisch-philosophische Kontroverse“ (ebd.) – auch in Rekurs
auf ihre jeweiligen früheren Beschäftigungen mit dem Begriff der Anerkennung
– unterschiedliche Anerkennungskonzeptionen mit unterschiedlichen theoretischen
Prämissen und Implikationen für die Analyse sozialer Bewegungen und deren Forderungen. Im Folgenden werden diese Anerkennungskonzepte kurz skizziert und in
ihren wichtigsten Kernthesen vorgestellt, um daran anschließend die (relativen) Vor110
teile der Fraser’schen Anerkennungskonzeption für eine strukturelle Kritik an heteronormativen/ heterozentristischen staatlichen Institutionen und demokratischen
Prozessen argumentierbar zu machen.
Honneth nähert sich dem Begriff der Anerkennung auf Basis eines intersubjektivitätstheoretischen Ansatzes und begreift wechselseitige soziale Anerkennung, u.a. in
Rekurs auf G. F. W. Hegel als Grundvoraussetzung menschlicher Identitätsbildung.
Seine Anerkennungskonzeption beschäftigt sich vor allem auch mit dem anthropologischen Grundbedürfnis von Intersubjektivität und damit, welche soziale/politische Notwendigkeit daher der Anerkennung in einer (bürgerlich-kapitalistischen)
Gemeinschaft zukommt. Bereits Hegel bestimmte die intersubjektive Anerkennung
der Besonderheit aller Einzelnen in einem organischen Zusammenhalt in seiner
Konzeption eines „sittlichen Gemeinwesens“ als Bedingung subjektiver Freiheit. Für
Hegel ist die Entwicklung der persönlichen Identität eines Subjekts prinzipiell an
die Voraussetzung von bestimmten Arten der Anerkennung durch andere Subjekte
geknüpft. Reziproke und intersubjektive Anerkennung erachtet er damit als subjektkonstituierend, d.h., man wird erst zu einem individuellen Subjekt, indem man ein
anderes Subjekt anerkennt und von diesem anerkannt wird.2
Individuen sind damit, so die an die Schriften des jungen Hegel anschließende
These von Honneth, auf die intersubjektive Anerkennung ihrer Identität, ihrer Fähigkeiten und Leistungen angewiesen, um zu einer intakten Selbstbeziehung und
einem Selbstbewusstsein gelangen zu können. Gesellschaftstheoretisch leitet Honneth daraus die zentrale These ab, dass sich soziale Auseinandersetzungen und Konflikte daher auf die Verletzung von moralischen Ansprüchen und damit mangelnden Anerkennung zurückführen lassen. Axel Honneth bestimmt folglich psychische
Deprivation, „Phänomene der Demütigung und der Missachtung“ und damit mangelnde Anerkennung der jeweiligen Identität als „Kern aller Unrechtserfahrungen“
(Honneth 2003, S. 158) und gleichzeitig auch als Motivation und Grundlage sozialer
Kämpfe und Konflikte. Seiner Ansicht nach sind gerade soziale Proteste als „Zeugnisse moralischen Unbehagens“ zu lesen, in denen „Empfindungen verletzter Anerkennung, Achtung oder Ehre semantisch eine zentrale Rolle“ spielen (ebd., S. 159).
Nach Honneth existiert in unseren gesellschaftlichen Realitäten bereits so etwas wie
eine historisch ausdifferenzierte „institutionalisierte Anerkennungsordnung“, an deren Defizite und Asymmetrien sich dann jeweils soziale Konflikte entzünden, „die
im Regelfall auf die moralische Erfahrung eine[r] für unbegründet gehaltenen Missachtung zurückgehen“ (ebd., S. 161).
2 Vgl. dazu die frühen Arbeiten von G. W. F. Hegel: [1802/1803]: System der Sittlichkeit [Critik des Fichteschen Naturrechts]; [1805/1806]: Jenaer Realphilosophie; [1807]: Phänomenologie des Geistes.
111
Honneth versteht hier soziale Bewegungen jedoch keineswegs als privilegierte
Orte oder Orientierungspunkte für eine fundierte Gesellschaftskritik an mangelnden/fehlenden Anerkennungsbeziehungen, sondern äußert sich kritisch gegenüber
diesen „moralischen Quellen“ und plädiert daher für eine „kategoriale Transformation“ auf Basis eines ethischen Systems, in dem alle Erfahrungen der Missachtung und
Demütigung erfasst werden können (ebd., S. 157f).
Bezugspunkt für eine Konzeption von Gerechtigkeit wird damit die Qualität der
gesellschaftlichen Anerkennungsbeziehungen und die Ermöglichung individueller
Selbstverwirklichung, die nach Honneth das „eigentliche Ziel der Gleichbehandlung
aller Subjekte in unseren Gesellschaften“ (ebd., S. 210) ausmacht. Die Gerechtigkeit
und das Wohl einer Gesellschaft bemisst sich an dem „Grad ihrer Fähigkeit, Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung sicherzustellen, unter denen die persönliche Identitätsbildung und damit die individuelle Selbstverwirklichung in hinreichender und guter Weise vonstatten gehen kann“ (ebd., S. 206). Honneth bestimmt
in diesem Kontext drei Anerkennungssphären, die eine wechselseitige Anerkennung
garantieren sollen:
1. nennt er die affektive Anerkennung durch Liebe und Fürsorge in „Intimbeziehungen“, welche zum einen die Fürsorge von Kindern meint, damit diese den
„Weg von der organischen Hilflosigkeit zur Entwicklung von Selbstvertrauen“
beschreiten können (ebd., S. 163); zum anderen nennt Honneth die bürger­liche
Liebesheirat als „institutionelle Ausdrucksform einer besonderen Art von Intersubjektivität“, welche als „gesonderte Art der Sozialbeziehung (…) durch das
Prinzip der wechselseitigen Zuneigung und Fürsorge gekennzeichnet“ ist (ebd.,
S. 164).
2. lernen sich Menschen im Rahmen von Rechtsbeziehungen als Rechtspersonen
zu verstehen und erhalten durch das dem Gleichheitsgrundsatz verpflichtete
Rechtssystem Anerkennung; und
3. verortet Honneth eine weitere Anerkennungsebene im Feld der „weitmaschigen
Sozialbeziehungen“, in dem sich Menschen im Rahmen eines Leistungsprinzips
als „Subjekte begreifen lernen, die Fähigkeiten und Talente besitzen, die von
Wert für die Gesellschaft sind“ (ebd., S. 168).
Für Honneth sollen – analog zu Hegel – diese Anerkennungssphären den einzelnen Subjekten nicht nur die „Ausbildung einer positiven Selbstbeziehung“ und
„Einzigartigkeit der eigenen Persönlichkeit unter sozialer Zustimmung“ garantieren,
sondern auch den „höchsten Grad der individuellen Freiheit“ ermöglichen (ebd.,
S.169).
Mit seiner auf den Begriff der Anerkennung gegründeten Gesellschaftskritik rekurriert Honneth bei der normativen Rechtfertigung von Anerkennungsforderungen
teleologisch auf die Konzeption eines „guten Lebens“, wenngleich er diesen Entwurf
112
als „hypothetisch generalisierten Entwurf des guten Lebens“ fasst (ebd., S. 213). Als
Grundprämisse eines „guten Lebens“ begreift er die „Schaffung einer moralischen
Verfassung von Gesellschaften“, in der eine möglichst intakte Identitätsbildung sowie alle intersubjektiven Bedingungen der persönlichen Integrität aller Subjekte gleichermaßen geschützt werden (ebd., S. 217ff).
Nancy Fraser fasst Anerkennung in Abgrenzung zu Axel Honneth nicht als Frage
des „guten Lebens“ oder der Selbstverwirklichung, sondern schlägt vor, diese – in
Rekurs auf Immanuel Kant – deontologisch und als Angelegenheit der Gerechtigkeit
zu begreifen. Denn nach ihrer Ansicht sollte die Frage nach mangelnder Anerkennung nicht dahingehend beantwortet werden, in wie fern die Selbstverwirklichung
beeinträchtigt ist, sondern im Hinblick darauf, dass „es ungerecht ist, wenn einigen
Individuen und Gruppen der Status eines vollwertigen Partners in der sozialen Interaktion vorenthalten wird“ (Fraser 2003, S. 44).
Anerkennung als eine Angelegenheit der Gerechtigkeit zu betrachten, bedeutet
für Fraser, diese als Problem des Status zu behandeln, was nach ihrer Auffassung eine
Untersuchung der institutionellen Strukturen anhand ihrer Auswirkungen auf den relativen Rang der sozialen AkteurInnen ermöglicht. In Frasers strukturellen Deutung
von Anerkennung als Bereitstellung adäquater sozialer/politischer/ökonomischer
Rahmenbedingungen für „gleiche“ Partizipation bedeutet mangelnde Anerkennung
demnach nicht, „durch die Herabwürdigung seitens anderer eine beschädigte Identität oder beeinträchtigte Subjektivität zu erleiden“, sondern „durch institutionalisierte kulturelle Wertmuster daran gehindert zu werden, als Gleichberechtigte am
Gesellschaftsleben zu partizipieren“ (ebd., S. 45). Fraser präzisiert ihre strukturelle
Herangehensweise auch insofern, als mangelnde Anerkennung nicht einfach „durch
missbilligende Einstellungen oder frei schwebende Diskurse bewirkt“, sondern durch
„gesellschaftliche Institutionen erzeugt“ wird. „Sie entsteht“, so Fraser, „sobald Institutionen die soziale Interaktion nach Maßgabe kultureller Normen strukturieren, die
partizipatorische Parität verhindern“ (ebd.).
Anders als Honneth sieht Fraser soziale Bewegungen als zentrale AkteurInnen in
einem demokratischen Prozess der politischen/öffentlichen Artikulation und Verhandlung von Anerkennung(sansprüchen). Fraser stellt jedoch gerade in Hinblick
auf unterschiedliche Anerkennungsforderungen, die sich auch im Rahmen einer zunehmenden Bedeutung von Identitätspolitiken stellen, eine zentrale demokratiepolitische Frage, nämlich welche Identitäten und Gruppen überhaupt legitimerweise das
Recht auf Anerkennung in politischen Gemeinschaften anmelden sollen und können.
In diesem Kontext plädiert sie für die Entwicklung von Bewertungsstandards, die es
ermöglichen sollen, Forderungen über verschiedene, sich mitunter konkurrierende
Werthorizonte hinweg beurteilen zu können. Fraser schlägt in diesem Kontext ihr
113
Bewertungsschema der „partizipatorischen Parität“ vor. Nur jene Identitäten oder
politische Bewegungen könnten ein demokratiepolitisches Recht auf Anerkennung
anmelden, deren Forderungen die normativen Bedingungen einer „partizipatorischen Parität“ befördern oder ihr nicht widersprechen. „Partizipatorische Parität“
fasst Fraser wie folgt:
„Zum einen muß die Verteilung materieller Ressourcen die Unabhängigkeit und
das ‚Stimmrecht‘ der Partizipierenden gewährleisten. (...) Von vornherein ausgeschlossen sind deshalb auch die gesellschaftlichen Strukturen, die Verelendung,
Ausbeutung und schwerwiegende Ungleichheiten in Sachen Wohlstand, Einkommen und Freizeit institutionalisieren und dabei einigen Menschen die Mittel und
Gelegenheiten vorenthalten, mit anderen als Ebenbürtige zu interagieren.
Die zweite Bedingung verlangt dagegen, daß institutionalisierte kulturelle
Wertmuster allen Partizipierenden den gleichen Respekt erweisen und Chancengleichheit beim Erwerb gesellschaftlicher Achtung gewährleisten. (...) Daher werden von vornherein alle institutionalisierten Werteschemata ausgeschlossen, die
einigen Leuten den Status des vollberechtigten Partners in der Interaktion vorenthalten – sei es, indem ihnen (...) eine ‚Andersartigkeit‘ zugeschrieben wird, sei es,
indem man es verabsäumt, ihnen ihre Besonderheit zuzubilligen“. (Fraser 2003,
S. 55)
Zur Präzisierung ihres Bewertungsschemas der „partizipatorischen Parität“ ergänzt
Nancy Fraser dieses durch die Bedingung, dass die angestrebten gesellschaftlichen
Veränderungen bestehende Disparitäten nicht verschärfen bzw. keine neuen hinzutreten lassen dürfen.
Die relativen Vorteile der Fraser’schen Anerkennungskonzeption
und theoretische Erweiterungen ihres Modells
Trotz der Bedeutung von Honneths Ansatz für die Frage nach einer anthropologischen Notwendigkeit von Intersubjektivität und Reziprozität bei der Konstituierung
eines Selbstbewusstseins und Herausbildung einer Identität sowie der mangelnden
Einbindung von Lesben und Schwulen in bestimmte Sphären der interpersonellen
Anerkennung, möchte ich im Folgenden auf Grund von zwei Motiven die Stärken
der Fraser’schen Anerkennungskonzeption herausarbeiten: Zum einen bietet sich
das Fraser’sche Modell als mögliches Verbindungselement zwischen demokratietheoretischen Ansätzen und aktuellen sexual citizenship-Debatten innerhalb eines
queeren Theoriekontexts an und könnte somit auch wichtige Impulse für eine stär114
kere staats- bzw. demokratietheoretische Auseinandersetzung mit LGBT-Politiken
sein. Das Fraser’sche Anerkennungsmodell könnte im Rahmen dessen als Grundlage
fungieren, um Fragen des „political membership“ von Lesben und Schwulen auf einer anerkennungstheoretischen Ebene zu bearbeiten, ohne (staatsbürgerliche) Anerkennung auf zivile, politische und soziale Rechte zu reduzieren, dabei aber gleichzeitig eine identitätskritischen Perspektive zu wahren. Das zweite Motiv betrifft
die Praxisrelevanz von Frasers Anerkennungsmodell, haben wir es innerhalb der
Lesben- und Schwulenbewegungen doch mit einigen – politisch-öffentlich jedoch
prominenten – problematischen Anerkennungsdiskursen zu tun, welche stark auf
Selbstverwirklichung, gleiche Rechte und individuelle Anerkennung fokussiert sind.
Fraser’s partizipatorisch angelegtes Anerkennungskonzept kann hier sicher effektiver
als Korrektiv herangezogen werden als jenes von Honneth und vielleicht wichtige
Anregungen für eine neue Grammatik der Anerkennung innerhalb der LGBT-Bewegungen bereitstellen.
Institutionalisierte Heterosexualität im Fokus eines strukturell
gefassten Anerkennungskonzepts
Bei der Diskriminierung von Lesben und Schwulen steht mit Nancy Fraser nicht die
verhinderte Selbstverwirklichung im Zentrum, sondern bestimmte „institutionalisierte Muster kultureller Wertsetzung, an deren Zustandekommen sie nicht gleichberechtigt beteiligt waren und die ihre besonderen Merkmale oder die ihnen zugeschriebenen Merkmale verächtlich machen“ (Fraser 2003, S. 44). Der Blick verlagert
sich mit dem Fraser’schen Anerkennungsbegriff vom „deformierten“ (lesbischen/
schwulen) Individuum zur komplexen institutionalisierten Heterosexualität.
Diese Perspektivenverschiebung liegt damit auch im Zentrum einer queeren Analyse von heteronormativen Strukturen, wenn des darum geht, die diffizilen und vielfältigen Mechanismen der Produktion sexueller Devianz aufzuzeigen. Anerkennung
bedeutet, Fraser konsequent angewendet, danach zu fragen, wie heteronormative,
institutionelle Wertmuster in staatliche Strukturen und demokratische Prozessen
eingeschrieben sind und gleiche Partizipation, Artikulation und Teilnahme von Lesben und Schwulen an politischen, sozialen und ökonomischen Prozessen verhindern. Und an diesem Punkt wird deutlich, dass hier Sexualität bzw. eine spezifische
sexuelle Praxis nicht nur als eine Form der individuellen Vorliebe oder Teil eines
Selbstverwirklichungsprozesses betrachtet werden kann, sondern als politische Analysekategorie verstanden werden muss. Obwohl Nancy Fraser selbst diesen Schritt
nur bedingt mitgeht und sich im Hinblick darauf ihr Anerkennungskonzept auch
als ergänzungsbedürftig erweist, kann Sexualität in einem strukturell gefassten An115
erkennungskonzept jedoch als „prominenter Schauplatz politischer Auseinandersetzungen“ begriffen werden, auf dem „gesellschaftliche Verhältnisse (neu) geordnet
sowie demokratische Rechte und politische, ökonomische und kulturelle Ressourcen
verteilt werden“ (Hark/Genschel 2003, S. 134). Wird Sexualität in diesem Kontext
ebenso wie Geschlecht, geopolitische Herkunft, „Rasse“ und Klasse als herrschaftskritische Kategorie in eine anerkennungstheoretische Auseinandersetzung eingeführt,
dann wird deutlich, dass Heterosexualität eben nicht als sexuelle Praxis im Bereich
der „Intimbeziehungen“ begriffen werden kann, sondern als „institutionalisierte[s]
Muster kultureller Wertsetzung“ (Fraser 2003, S. 44), das Individuen an der „sozialen Peripherie oder im Zentrum“ platziert, und „sie in einer bestimmten und bestimmenden Relation zu institutionellen und ökonomischen Ressourcen, zu sozialen Möglichkeiten, rechtlichem Schutz und sozialen Privilegien“ (Hark/Genschel,
S. 136) positioniert. Und umgekehrt sind damit auch „Intimbeziehungen“ – und das
haben insbesondere (lesbisch-)feministische Arbeiten gezeigt – nicht frei von diesen
„institutionalisierte[n] Muster[n] kultureller Wertsetzung“, sondern können diese
wiederum (re-)produzieren und stabilisieren.
Anerkennung als Partizipation und „political membership“
Die Verbindung von Anerkennung mit Partizipation bei Nancy Fraser korrespondiert in einem durchaus engen Sinn mit dem Konzept von acknowledgment der USamerikanischen Politikwissenschafterin Shane Phelan. In ihrer kritischen Analyse
des staatsbürgerlichen Status von LGBT-Personen fasst Phelan Anerkennung ebenfalls als Partizipation und „capacity to articulate one’s interest as a matter for public
concern“ (Phelan 2001, S. 13). (Staatsbürgerliche) Anerkennung bedeutet für Phelan gleiche und qualifizierte Teilnahme an öffentlichen und politischen (Aushandlungs-)Prozessen, gleichsam als Garantie eines vollwertigen „political membership“.
„Political membership“ sei jedoch, wie Phelan betont, nicht einfach mit politischen
Rechten, rechtlicher Gleichstellung und Akzeptanz gleichzusetzen, sondern „it must
include willingness to defend those rights, claims, authority and status [of LGBT’s];
it must include willingness to ‚recognize, honor, respect‘ in public life“ (ebd., S. 15).
Anerkennung im Sinne eines „political membership“ bedeutet daher auch „that one
[is being] recognized not in spite of one’s unusual or minority characteristics, but
with those characteristics understood as part of a valid possibility for the conduct
of life. Emergence into publicity [meint hier: politische Öffentlichkeit, Anm. d. Autorin] as an equal means that one appears on the terms by which one understands
oneself – that one be an active constructor of one’s public appearance“ (ebd., S. 15f).
Insofern muss es in einer theoretischen Beschäftigung mit mangelnder Aner116
kennung von Lesben und Schwulen, so meine Zusammenführung von Phelan und
Fraser, auch um eine Analyse der spezifischen Anerkennungsmechanismen und
–voraussetzungen gehen: Welche Anerkennungsforderungen von welchen Gruppen
werden gehört und als teilnahmeberechtigt (eligible) aufgenommen? Wer wird als
legitmeR SprecherIn für Anerkennungsforderungen anerkannt? Wie werden in demokratischen Prozessen LGBT-Forderungen „handhabbar“ gemacht und wiederum
modifiziert?
Anerkennung als Statusangelegenheit
Im Kontext einer Deutung von Anerkennung als „political membership“, das weit
über eine rechtliche Anerkennung hinausgeht, wird auch wiederum Frasers Vorschlag, Anerkennung als Gerechtigkeit und damit als Frage des Status zu begreifen,
bedeutsam. Denn versteht man z.B. (traditionelle und institutionalisierte) Ehe- und
Familienverhältnisse auch als Statusangelegenheiten, dann wird deutlich, dass dieser „Status Heterosexuelle als ‚Keimzelle‘ der Gesellschaft und der reproduktiven
Familie [privilegiert] und auf dem Ausschluss von Lesben und Schwulen aus dem
Verwandtschaftssystem [basiert], ebenso wie es diesen aufrechterhält“ (Phelan 2000,
S. 133). Gerade in der Verknüpfung von (Ehe-)Vertrag und Status wird das komplexe
Zusammenwirken zwischen institutionalisierter Heterosexualität und eigentlich als
privat angenommener Verhältnisse – wie Familie und Verwandtschaft – deutlich.
Denn, so Shane Phelan,
„die Ehe [schafft] nicht nur zwischen den VertragspartnerInnen selbst sowie zwischen ihnen und ihren Nachkommen Statusverhältnisse, sondern auch zwischen
den VertragspartnerInnen und jenen, denen der Zugang zu diesen Verhältnissen
nicht gestattet ist. Ein bestimmtes Verwandtschaftsverhältnis wird vom Staat reguliert und überträgt jenen, die in dieses eintreten, unterschiedliche Rechte als
BürgerInnen“ (ebd.).
Insbesondere im Zusammenhang mit der Aufdeckung der machtpolitischen und gesellschaftsstrukturierenden Funktion der Ehe, die eben mehr ist als eine bloße rechtliche Privilegierung einer bestimmten Beziehungsform, können hier feministische
Theorien und Bewegungspraxen als kritisches Korrektiv dienen. Denn eine Vielzahl
von Gleichstellungskampagnen und BefürworterInnen einer „Homo-Ehe“ lassen die
Entstehungsbedingungen und Verhältnisse der modernen heterosexuellen Familie
weitestgehend außer acht und gehen davon aus, dass das „zeitgenössische Ideal einer
kameradschaftlichen Ehe“ (ebd., 136) der Realität entspricht. Die historische Funktionalität der Ehe für die patriarchale Organisation der Geschlechterverhältnisse, in der
117
Männern die Kontrolle über die weibliche Gebärfähigkeit, ihrer Sexualität und ihrer
Arbeitskraft zugesichert wird, bleibt dabei ausgeblendet (Rumpf 1996, S. 16). Insofern kann hier auch eine durchaus kritische Perspektive auf Honneths erste Anerkennungsdimension, „Liebe und Fürsorge in Intimbeziehungen“, geworfen werden und
die Frage nach der machtpolitischen Funktion dieser Sphäre für die Konstituierung
eines modernen heterozentristischen Geschlechterdispositivs gestellt werden. Denn
inwieweit produziert diese durch die Ehe institutionalisierte Anerkennungssphäre
bestimmte ideale bzw. „sittlich privilegierte“ Formen der „Intimbeziehungen“?
Die Fraser’sche Perspektive in diesem Zusammenhang konsequent weiterzudenken, bedeutet demnach auch, die vergeschlechtlichten Wirkungsweisen eines heterosexuellen Regimes erneut zu überprüfen und die spezifischen Zusammenhänge
zwischen einem hierarchischen Geschlechterverhältnis und hegemonialer Heterosexualität in den Blick zu nehmen. Nicht zuletzt betont Hanna Hacker in Bezug auf die
unterschiedlichen vergeschlechtlichten Möglichkeiten, in einen politischen Artikulationsprozess einzutreten, dass „staatliche Subventionierung homosexueller Gleichberechtigungsbestrebungen ein Geschlecht hat – verglichen mit ‚schwulen‘ Vorhaben
erhielten ‚lesbische‘ Projekte grundsätzlich weniger Gelder der öffentlichen Hand“
(Hacker 2000, S. 4). Wie können daher auch innerhalb einer politischen Bewegung
diese Artikulationsprozesse anders und demokratischer gestaltet werden?
Anerkennung als Demokratisierung und Denormalisierung
Mit Frasers Bewertungsschema der „partizipatorischen Parität“ und der damit verbundenen „Klausel“ – legitime Anerkennungsforderungen dürfen bestehende Disparitäten nicht verschärfen und es dürfen keine neuen Disparitäten hinzutreten – ergibt sich eine neue Perspektive auf aktuelle Anerkennungsforderungen innerhalb
der Lesben- und Schwulenbewegungen. Wendet man die Kriterien der „partizipatorischen Parität“ beispielsweise auf die Forderung nach einer rechtlichen Anerkennung von „gleichgeschlechtlichen PartnerInnenschaften“ an, so ergibt sich daraus
eine neue Bewertung dieser prominenten Anerkennungsforderung.
Auch wenn Fraser selbst von der These ausgeht, dass sowohl eine Inklusion in das
bestehende Eheinstitut als auch eine Dezentralisierung und Entprivilegisierung der
heterosexuellen Ehe ihren Kriterien der „partizipatorischen Parität“ entsprächen,
möchte ich hier zum einen Fraser anhand ihres eigenen Analysemodells widersprechen, aufgrund dieses analytischen Desiderats jedoch auch eine Erweiterung dieses
Modells um die Dimension der „Denormalisierung“ (Engel 2002) vorschlagen. „Denormalisierung“ verstehe ich nach Antke Engel als
118
„Anfechtung der sozialen Integrationsnorm bzw. eines assimilatorischen Inklusionsideals (...), aber auch als Abbau struktureller und institutionell abgesicherter
sozialer Hierarchien. Oder aber, Denormalisierung unterläuft die hegemoniale
Ordnung und ihre Verankerung in Diskursen, sozialen Praktiken, Organisationsformen und Institutionen, indem die Prämissen kohärenter Identitäten, eindeutiger Bedeutungen und universell geteilter Werte zurückgewiesen werden“ (ebd.,
S. 205).
Mit dieser Definition wird deutlich, dass die Bedingung der „Denormalisierung“
nicht im Widerspruch zu den Fraser’schen Bedingungen für eine „partizipatorische
Parität“ steht, sondern als deren Vertiefung bzw. Erweiterung begriffen werden kann.
Insofern müssen etwa Politiken, die auf den ersten Blick als Maßnahmen der Anerkennung im Sinne der „partizipatorischen Parität“ gewertet werden können, in Hinblick auf ihre normalisierende und festschreibende Funktion überprüft werden. Wo
werden in der rechtlichen und politischen Benennung von Unterschieden und dem
Versuch einer entsprechenden Anerkennung Differenzmarkierungen stabilisiert und
damit neue Disparitäten produziert?
Mit einer Erweiterung der „partizipatorischen Parität“ um die Bedingung einer
„Denormalisierung“ wird daher auch deutlich, dass nur eine Dezentralisierung und
Entprivilegisierung der heterosexuellen Ehe den Kriterien „partizipatorischer Parität“ entspricht. Sowohl eine Zivilehe, eine „ehe light“ in Form eines Zivilpaktes für
Homosexuelle und Heterosexuelle, als auch eine eingetragene PartnerInnenschaft
für Lesben und Schwule produzieren neue Grenzziehungen und Differenzmarkierungen, die auf eine Vertiefung bestehender Institutionen und Normen abzielen.
„Die Forderung nach einer Anerkennung gleichgeschlechtlicher Zweierbeziehungen zielt auf die bestätigende Vertiefung bestehender Institutionen und Normen. Sie definiert, was ‚gut‘ ist, nämlich das schon Bestehende, und fordert lediglich den nachholenden Einschluß. Indem die politische Aufmerksamkeit auf die
Anerkennung des Paares gelenkt wird, wird unterstellt, daß unsere Vorstellungen
vom ‚guten Leben‘ sich decken mit den bereits etablierten und abgesicherten Vorstellungen“ (Hark 2000b, S. 60).
Dass Lebenszusammenhänge jenseits der „Zweierkiste“, wie Mehrfachbeziehungen,
Wohn- und Vertrauensgemeinschaften und FreundInnenschaftsnetzwerke, auch
mit einer Ausdehnung des Eherechts auf Lesben und Schwule weiterhin nicht als
„richtige Versorgungsgemeinschaften“ angesehen werden und sich die Disparitäten
zwischen „Verheirateten“ und „Nichtverheirateten“ sogar noch verschärfen (können), hat beispielsweise die Wiener Lesbenberatung Lila Tipp anlässlich der österrei119
nomische Folgen haben. Gerade im Rahmen einer Privatisierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen kommt es von Seiten des Staates zu einer verstärkten politischen
Forderung nach einer „Refamiliarisierung“ (Sauer 2001) innerhalb der Gesellschaft,
sollen doch mit dem Entfallen sozialstaatlicher Betreuungsleistungen zunehmend
PartnerInnen innerhalb der familialen Privatheit für diese sozialen Versorgungspflichten herangezogen werden.
Lesbenberatung Lila Tipp; Transparent an der Rosa Lila Villa in Wien im Rahmen einer
Aktion zur Abschaffung aller Eheprivilegien im Sommer 2004
chischen „Homo-Ehe“-Debatte im „medialen Sommerloch“ 2004 deutlich benannt.
Das „Manifest“ mit dem Titel „Weg mit der Ehe!“ kann demnach als eine Form der
Intervention gedeutet werden, die den Kriterien einer „partizipatorischen Parität“
entspricht, wenn es heißt:
„Die Lesbenberatung im Rosa Lila Tip, Rosa Lila Villa, lehnt die Lesbenehe, die
Homoehe, die Schwulenehe, den Zivilpakt (ZIP) und auch den Ehebund für Heterosexuelle prinzipiell ab. Gleiche Rechte und Pflichten (Mietrecht, Aufenthaltsrecht, Versicherungsrecht, Erbrecht, Steuerrecht u.s.w...) sollten allen Menschen
zustehen, egal welche Form der PartnerInnenschaft sie gerade leben. (...) Die ‚Homoehe‘ oder den Zivilpakt für alle Zweierbeziehungen zu fordern greift viel zu
kurz und diskriminiert immer noch all jene, die anders leben wollen oder müssen!“ (Lesbenberatung/Schönpflug 2004)
Mit Blick auf die neoliberalen Entwicklungen, den Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und die zunehmende Re-Privatisierung von sozialen Fragen, Betreuungspflichten und Dienstleistungen ist in diesem Kontext auch auf der Ebene der sozialen
Absicherung danach zu fragen, wie sich Disparitäten zwischen „Verheirateten/Verpartnerten“ und „Nichtverheirateten/Nichtverpartnerten“ nicht nur auf der Ebene
der „statusmäßigen Benachteiligung“ verschärfen, sondern auch weitreichende öko120
Insofern beinhaltet die Anerkennungskonzeption von Nancy Fraser sowie das Bewertungsschema der „partizipatorischen Parität“ eine doppelte Perspektive: Zum
einen ermöglicht es staatliche Politiken, Institutionen und demokratische Prozesse
ob ihrer adäquaten Anerkennung zu überprüfen, also ob Anerkennung die Dimensionen des „political membership“ ausreichend erfüllt; zum anderen befördert es aber
auch eine kritische Arbeit mit Anerkennungsdiskursen innerhalb der Lesben- und
Schwulenbewegungen selbst. Frasers Anerkennungskonzeption enthält insbesondere in Hinblick auf eine Transformation von LGBT-Politik einen interessanten, identitätskritischen Gestus und verweist auf die Idee einer neuen Form der Bündnispolitik.
Mit Chantal Mouffe könnte in diesem Zusammenhang nämlich gefragt werden, wie
LGBT-Politik mehr im Sinne einer kollektiven Arbeit und „gemeinsame[n] Identifikation mit einer radikal-demokratischen Interpretation der Prinzipien von Freiheit
und Gleichheit“ (Mouffe 1993), verstanden und artikuliert werden könnte.
Die Praxisrelevanz der Fraser’schen Anerkennungskonzeption
Jenseits der hier diskutierten analytischen Stärken der Fraser’schen Anerkennungskonzeption für eine Untersuchung des Status von Lesben und Schwulen auf einer
strukturellen Ebene, möchte ich im Folgenden – im Sinne einer Verbindung von
Theorie und Praxis – auch die politisch-praktische Bedeutung eines auf Partizipation
und strukturelle Ungleichheit fokussierten Modells von Anerkennung zeigen. Dies
erscheint mir deswegen als besonders relevant, weil gerade innerhalb eines liberalen
politisch-öffentlichen Diskurses – und auch in einigen LGBT-Bewegungssegmenten
selbst – problematische Anerkennungsbegriffe fluktuieren. Zum einen wird Anerkennung vielfach auf eine Ebene der individuellen Anerkennung eines lesbischen
oder schwulen Subjektes beschränkt und als Ermöglichung einer ungehinderten
Selbstverwirklichung interpretiert. Heterosexistische bzw. heteronormative Herrschaftsverhältnisse bleiben darin ausgeblendet und werden gleichsam psychologisiert
und individualisiert oder als therapeutisch zu verwaltendes Phänomen interpretiert.
Darüber hinaus wird hier auch die in Queer Theory/Politics immer wieder gestellte
Frage nach einem Zusammenhang zwischen (staatlich-institutionalisierter) Aner121
kennung und einer Verdinglichung homosexueller Identität aufgeworfen. Drittens
möchte ich ferner auf die problematische Reduktion von Anerkennung auf „gleiche
Rechte“ eingehen, wird Anerkennung in diesem Kontext doch jenseits der partizipativen Dimension des „political membership“ gefasst.
Anerkennung als therapeutische Verwaltung struktureller Defizite?
Innerhalb der Lesben- und Schwulenbewegungen ist aktuell eine verstärkte politische Orientierung an einer „Ethik der intakten Identität“ (Fraser 2003, S. 256) zu
beobachten und der Ruf nach einer gleichen Entfaltungsmöglichkeit und Selbstverwirklichung für Schwule und Lesben – etwa durch die Gewährung von PartnerInnenschaftsrechten – nimmt einen breiten Raum in den öffentlichen Debatten ein.
Anerkennung wird in diesem Kontext mit einem Recht auf eine ungehinderte lesbische und schwule Selbstverwirklichung verbunden. Die problematische Implikation einer Verbindung von LGBT-Politik mit einer Politik der Selbstverwirklichung
möchte ich hier als Psychologisierung und Individualisierung von politisch-sozialen
Strukturen bezeichnen. Daraus folgt meine These, dass eine Konzeption von Anerkennung als Selbstverwirklichung in einem LGBT-Kontext zwei spezifische Effekte
hat bzw. haben kann, die jeweils miteinander korrelieren:
Erstens schafft sie eine spezifische Handlungsohnmächtigkeit der politischen Subjekte und verbindet sich mit einer neoliberalen Umstrukturierung und Individualisierung von Subjektivität, in der sich Homosexualität als „individuelle Selbstverwirklichung“ bei gleichzeitiger Stabilität heteronormativer Strukturen realisieren lässt.
Die Herstellung einer gewissen politischen „Handlungsohnmacht“ sehe ich in der
zunehmenden Psychologisierung heteronormativer Diskriminierungsstrukturen
und deren Reduzierung auf eine individuelle und interpersonelle psychische Dynamik zwischen Individuen. Es geht dann mithin um das „persönliche Leiden“ und
„Elend“ der so genannten „Betroffenen“, womit die politische Handlungsfähigkeit als
Subjekte hinter ihrem Status als Opfer von mangelnder Anerkennung zurück tritt.
Gerade mit dem Verweis auf überdurchschnittlich hohe Selbstmordraten von lesbischen und schwulen Jugendlichen wird auch innerhalb einzelner lesbischer/schwuler Bewegungssegmente dieser Psychologisierung politischer Strukturen Rechnung
getragen und ein Konzept der Anerkennung propagiert, das auf dem persönlichen
Leiden der Betroffenen aufbaut. Insofern fungieren gerade „Opferstatistiken“ oft als
machtvolle Demonstration einer „beschädigten lesbischen und schwulen Identität“
und legitimieren Forderungen nach rechtlicher und gesellschaftlicher Anerkennung.
Wenn Lesben und Schwule jedoch nur mehr in einem begrenzten Rahmen „subjektives Leiden“ und eine „de-formierte Identität“ vorweisen können, wie können
122
dessen ungeachtet politische Kämpfe um Anerkennung in einem LGBT-Kontext
konzeptualisiert und legitimiert werden? Oder um die Frage noch zugespitzter zu
formulieren: Sind Strukturen auch dann heteronormativ, wenn Lesben und Schwule
in keinem „de-formierten Dasein“ ihr Leben fristen müssen?
Zweitens verweist auch die Verwendung des Begriffes der Homophobie in einem
auf den ersten Blick emanzipatorischen Diskurs um Homosexualität auf diese Psychologisierung eigentlich politisch-sozialer Strukturen. Helga Pankratz betont in
einem Aufsatz sehr treffend, dass Homophobie „keine echte politische Kategorie“
ist, sondern eine „psychologische oder therapeutisch-diagnostische“ (Pankratz 2004,
S. 17). Die „inflationäre Verwendung des Begriffes ‚Homophobie‘ bzw. ‚homophobe
Gesellschaft‘ zur Charakterisierung des sozialen Spannungsfeldes, in dem Homosexuelle ihr Leben führen“, verschleiere demnach „entdifferenzierend“ die strukturelle
Ungleichheit, und die „Psychologisierung gesellschaftlicher Sachverhalte“ lenke davon ab, dass es sich um „soziale – hochgradig politische – Prozesse zwischen Bevölkerungsgruppen bzw. zwischen den Geschlechtern“ handelt (ebd.). Der Schauplatz
eines eigentlich gesellschaftlichen Konflikts und die unterschiedlichen Wirksamkeiten eines Herrschaftsverhältnisses werden demnach in die Psyche der einzelnen
Individuen verlagert. Damit werden – wie im Fall der Homophobie – die TäterInnen
schnell zu Opfern ihrer „konservativen Umwelt“ oder von „mangelnder Aufklärung“
stilisiert. Eine Anerkennung von Lesben und Schwulen in Form von Liebe, Fürsorge
und gesellschaftlicher Wertschätzung wird in dieser Logik dann auch ohne eine Änderung heterozentristischer Spielregeln und Privilegien möglich – gleichsam in Form
einer therapeutischen Verwaltung oder Kurierung eigentlich struktureller Defizite.
Die Diskriminierung von Lesben und Schwulen wird damit zu einer zu kurierenden „Psychopathologie“ und Autonomie wird eingetauscht gegen die Scheinlösung einer (institutionell) bestätigten Identität. Vielleicht kann in diesem Kontext mit
Foucault gefragt werden, ob die neoliberale Technik einer „Sorge um Anerkennung“
nicht auch wiederum jene Unsicherheiten produziert, in der das Selbst aufgrund der
Notwendigkeit einer Anerkennung durch öffentliche Institutionen standardisiert,
normiert und kolonisiert werden kann. Diese Form von „Therapiepolitik“ fügt sich
nämlich nahtlos in ein Konzept von Anerkennung, in dem das Postulat der „gleichen
Wertschätzung“ und „individuellen Selbstverwirklichung“ an die Stelle von Verteilungsgerechtigkeit oder Dezentralisierung heterosexistischer Strukturen tritt.
Anerkennung als Verdinglichung von homosexueller Identität?
Die zweite Problematik, die ich hier aufwerfen möchte, betrifft das prekäre Verhältnis zwischen Anerkennung und Identität. Anerkennung wird sowohl innerhalb der
123
Lesben- und Schwulenbewegungen als auch im Rahmen von politischen Gleichstellungsversuchen noch immer sehr erfolgreich mit einer schwulen und lesbischen
Identität verknüpft. Die Schwierigkeiten, die sich aus einer auf eindeutige lesbische/
schwule Identitäten rekurrierenden Anerkennungspolitik ergeben, wurden in den
letzten Jahren insbesondere in einem queeren Theoriekontext bearbeitet. Die zentrale Kritik richtet sich u.a. gegen jene lesbischen/schwulen Aktionsformen und Bewegungsformationen, in denen grundlegende Gemeinsamkeiten, wie eine „Identität“,
als Voraussetzung für kollektives Handeln angesehen werden. Denn gerade identitätspolitisch organisierte Bewegungen und Minderheitenpolitiken würden diejenigen sozialen und politischen Prozesse ignorieren, in denen (sexuelle) Identitäten und
(marginalisierte) Gruppen überhaupt erst hervorgebracht werden. Nicht Identitäten
seien deshalb zu politisieren, so die Konsequenz aus queerer Sicht, sondern gesellschaftliche Praktiken und Rahmenbedingungen, in denen diese entstehen und stabilisiert werden.
Eine auf Identitäten rekurrierende Anerkennung läuft also Gefahr, homosexuelle Identität als essentialistisch „vor dem Gesetz“ (Butler 1991, S. 17) oder auch
als von politischen, sozialen und kulturellen Prozessen und Funktionalisierungen
unabhängiges Phänomen zu betrachten. Homosexualität wird dabei gleichsam als
authentisches „Persönlichkeitsmerkmal“ definiert und eine stabile Klasse von um
Anerkennung ringenden Homosexuellen einer stabilen Klasse von Heterosexuellen
gegenübergestellt (Hark 2000a, S. 40f). Die Opposition von Hetero/Homo bleibt in
diesem Kontext intakt, eine „lesbische“ und „schwule“ Identität wird umgekehrt sogar zur Voraussetzung, um legitimerweise und „authentisch“ auf das eigene „Leiden“
aufmerksam machen und die nachhaltige Missachtung durch Anerkennung aufzeigen zu können. Gleichzeitig wird in dieser Anerkennungsdebatte vernachlässigt, dass
Homosexualität keine „natürliche Differenz ist, die aufgrund irrationaler Vorurteile
stigmatisiert“ wird, sondern „ein für die Herstellung der moralischen Ordnung von
Gesellschaften notwendiges Feld“ (ebd., S. 40). So betont Eve Kosofsky Sedgwick,
dass die Kategorie „homosexuell“ nicht aufgrund ihrer Bedeutung für jene, die sich
selbst damit bezeichnen, so eine enorme Stabilität beweist, sondern vor allem aufgrund ihrer Funktion für jene Identitäten, die sich in Abgrenzung zu ihr definieren
(müssen) (Sedgwick 1993, S. 55).
Insofern müssen auch das spezifische Ineinandergreifen von lesbischen und
schwulen „Subjektivierungsmechanismen“ sowie die damit verbundenen Herrschaftsverhältnisse untersucht werden, denn die Formierung lesbischer und schwuler Identitäten ist nicht nur das Ergebnis von politischen, ökonomischen und sozialen Prozessen, sondern sie unterhält „komplexe und zirkuläre Beziehungen“ zu
vielfältigen Formen von Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismen (Foucault
1987, S. 247). In einer auf Identität basierenden Politik der Anerkennung wird somit
124
verkannt, dass die Entwicklung einer eindeutigen lesbischen und schwulen Identität
einen Subjektivierungsmechanismus voraussetzt. Es ist nicht zuletzt in diesem Kontext zu fragen, welche spezifischen sexualpolitischen Subjekte Lesben und Schwule
werden müssen, um überhaupt erst in einen politischen Artikulationsprozess um
Anerkennung eintreten können.
Die Reduktion von Anerkennung auf gleiche Rechte?
Anerkennungsansprüche verbinden sich innerhalb eines LGBT-Kontextes auch sehr
stark mit einem rechtsdiskursiven Lobbyismus und der Forderung „Gleiches Recht
für gleiche Liebe“. Die Gewährung von PartnerInnenschaftsrechten bzw. eine Inklusion in das bestehende Rechtsinstitut der Zivilehe stellen in diesem Kontext noch
immer sehr prominente Anerkennungsforderungen dar. Der Schwerpunkt bei der
Begründung von Rechten für Lesben und Schwule liegt hier wiederum auf einem
wie auch immer definierten „Persönlichkeitsmerkmal“. Rechte werden verfolgt „als
ob Gleichheit von Lesben und Schwulen innerhalb der existierenden sozialen Ordnung realisiert werden könnte, ohne daß dafür zunächst das heterosexuelle Privileg
dezentriert werden muß“ (Hark 2000a, S. 41). Insofern so, Sabine Hark, verfehlt die
„Fokussierung auf gleiche Rechte den Punkt, daß Homosexualität unvermeidlich reguliert und stigmatisiert werden wird, während Heterosexualität seine privilegierte
Position als unhinterfragte, institutionalisierte kulturelle Norm behält“ (ebd.).
Die Reduktion von Anerkennung auf „gleiche Rechte“ vernachlässigt somit auch
die konstituierende und normierende Funktion des Rechts und welche Konstruktion von Homosexualität überhaupt nötig ist, um rechts- bzw. anerkennungstaugliche
lesbische, schwule Subjekte zu schaffen. An dieser Stelle soll keineswegs die weitreichende praktische Relevanz und symbolische Funktion von Rechten für LGBT’s
negiert, sondern darauf hingewiesen werden, dass gleiche (formale) Rechte, noch
keineswegs eine tatsächliche substanzielle Anerkennung beinhalten, wie auch die
lange Geschichte der Frauenbewegungen zeigt.
Fazit: Für eine neue Grammatik der Anerkennung
In diesem Beitrag habe ich zu zeigen versucht, welche produktiven Einsatzmöglichkeiten sich durch die Anwendung der Fraser’schen Anerkennungskonzeption sowohl auf einer theoretischen ebenso wie einer politisch-praktischen Ebene eröffnen.
Auf einer theoretischen Ebene, und hier insbesondere auf eine demokratie- bzw.
staatstheoretischen Ebene, kann Fraser’s Annerkennungsmodell als Grundlage fun125
gieren, um mangelnde Anerkennung von Lesben und Schwulen als struktur- und
demokratiepolitisches Problem zu begreifen, dem nicht einfach durch diverse rechtliche Gleichstellungsmaßnahmen beizukommen ist. Anerkennung von Lesben und
Schwulen ist in diesem Kontext auch nicht nur als eine Frage des demokratischen Inputs (ungleiche Partizipationschancen) und Outputs (benachteiligende Politikergebnisse) zu fassen, sondern auch des „Within-puts“, also unter welchen (Rahmen-)Bedingungen können Anerkennungsforderungen artikuliert werden, wie werden diese
normiert und in den Arenen staatlicher Prozesse schließlich transformiert. Es stehen
hier also insgesamt der Prozess und die Bedingungen der diskursiven Praxis der Anerkennung selbst im Zentrum einer Analyse. Eine neue kategoriale Grammatik der
Anerkennung beinhaltet somit auch die Frage nach dem „political membership“ von
Lesben und Schwulen sowie nach der Möglichkeit einer aktiven Selbstkonstruktionund Artikulation im öffentlich-politischen Raum jenseits eines identitätsgebundenen Minderheitenstatus.
Darüber hinaus liefert Nancy Fraser auf einer politischen Ebene zentrale Impulse für
ein Überdenken der weitreichenden strukturierenden und normativen Dimension
von unterschiedlichen Anerkennungsbegriffen im Feld der LGBT-Bewegungen und
gibt Anlass, über Fragen der Partizipation und Teilnahme von Lesben und Schwulen
an demokratischen Prozessen nachzudenken bzw. auch demokratische Prozesse und
politische Strukturen ob ihrer mangelnden Anerkennung in den Blick zu nehmen.
Gerade mit der Darstellung einiger problematischer Anerkennungsdiskurse innerhalb einer politischen Auseinandersetzung um den Status von Lesben und Schwulen sollte deutlich werden, dass auch hier eine neue Grammatik der Anerkennung
notwendig ist, in der Anerkennung weder auf eine individuelle Wertschätzung und
Selbstverwirklichung noch auf „gleiche Rechte“ reduziert und eine eindeutige lesbische/schwule Identität nicht als Grundlage von Anerkennungsforderungen vorausgesetzt wird. Der strukturelle Fokus des Fraser’schen Anerkennungskonzeptes
kann in diesem Kontext somit als kritische Gegenposition zu einer tendenziell zu
konstatierenden Individualisierung von eigentlich gesellschaftlichen Konflikten bzw.
heteronormativen Verhältnissen verstanden werden.
Darüber hinaus liegt der Fokus der Fraser’schen Annerkennungskonzeption auch
nicht auf einer Überwachung und Verurteilung der Überzeugung jener Personen, die
durch heterosexistische Einstellungen Lesben und Schwulen ihre Anerkennung verweigern, sondern es geht darum, kulturelle Werteschemata der Verächtlichmachung
von Lesben und Schwulen ihrer institutionellen Grundlagen zu berauben und eine
vollberechtigte Teilnahme in einer demokratischen Öffentlichkeit und Prozessen zu
garantieren. Damit wird mangelnde Anerkennung auch nicht vom Vorhandensein
einer beweisbaren, beeinträchtigten Selbstverwirklichung abhängig gemacht.
126
Und schließlich erscheint Nancy Fraser’s Ansatz aufgrund seiner Vereinbarkeit
mit einem wertepluralistischen Ansatz im Rahmen einer trans- und interkulturalistischen Perspektive besonders fruchtbar zu sein. Denn lesbische/schwule Forderungen
nach Anerkennung können nach dem Fraser’schen Modell auch im Rahmen eines
Wertepluralismus gerechtfertigt werden, ohne dass die Idee der jeweiligen Konzeptionen eines „guten schwulen/lesbischen/queeren Lebens“ von allen geteilt werden
muss. Die Gruppen oder Individuen können – nach Maßgabe ihrer adäquaten Beteiligung an demokratischen Prozessen – für sich selbst definieren, was ein „gutes
Leben“ beinhaltet. Vielleicht kommt dieser Ansatz daher der radikaldemokratischen
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Sushila Mesquita
Heteronormativität
und Sichtbarkeit
„Es besteht kein Zweifel, daß Schwule und Lesben von der Gewalt öffentlicher Tilgung bedroht sind, aber wenn wir uns entscheiden, uns gegen die Gewalt zu verteidigen, müssen wir uns davor hüten, sie durch eine andere Form von Gewalt zu
ersetzen. Welche Version von ‚lesbisch‘ oder ‚schwul‘ sollte sichtbar gemacht werden,
und zu welchen internen Ausschließungen würde dies führen?“ (Butler 1996, S. 23)
Für Frauen, Lesben, Schwule, transgender-Personen, Migranten und Migrantinnen,
für all jene, deren Existenz innerhalb der hegemonialen Öffentlichkeit verleugnet,
ausgelöscht, unsichtbar gemacht, pathologisiert oder kriminalisiert wurde und wird,
stellt der Kampf um Sichtbarkeit ein zentrales politisches Anliegen dar.
Ich möchte in diesem Artikel keineswegs bislang Erreichtes schmälern, den Fokus
aber einerseits auf die höchst ambivalente Kategorie der Sichtbarkeit selbst richten
und andererseits am Beispiel von Lesben, Schwulen und transgender-Personen danach fragen, unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Konsequenzen und auf
welche Arten welche Lebensentwürfe derzeit öffentliche Sichtbarkeit erlangen können.
Ambivalenzen der Sichtbarkeit
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
Um das komplexe Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in aller Prägnanz
zu veranschaulichen, möchte ich auf bell hooks’ Aufsatz „Weißsein in der schwarzen
Vorstellungswelt“ zurückgreifen (hooks 1992). Sie macht darin u.a. deutlich, dass es
höchst unterschiedliche Arten der Unsichtbarkeit gibt. So spricht hooks etwa von
einer „gefahrlosen Unsichtbarkeit“ von Weißen und spielt dabei auf eine privilegier128
129
te Position an, die die Kontrolle über „den Blick“ innehat, und die bestimmt, wer
sieht und wer gesehen wird. Eine Unsichtbarkeit in diesem Sinne entspricht daher
gerade nicht einer Nicht-Repräsentation – weder im politischen Sinne, noch was die
Zirkulation von Bildern anbelangt. Die weiße Unsichtbarkeit bezieht sich vielmehr
auf die Unsichtbarkeit der Norm1 und ihrer Privilegien und steht damit einer spezifischen erzwungenen Unsichtbarkeit von Schwarzen und anderen marginalisierten
Subjekten diametral entgegen, die sich selbst zum Teil unsichtbar machen müssen,
um Repressionen zu entgehen.2
Insofern stellt die Frage, wer derzeit überhaupt sichtbar sein kann, zugleich einen
wichtigen Ausgangspunkt und eine große Herausforderung für Politiken der Sichtbarkeit dar, wie auch Jaspir K. Puar betont:
„Die Forderung nach Erkennbarkeit, die alle politischen Strategien der Sichtbarkeit erheben, gehört zum Kern eines Widerspruchs, mit dem Theorien transnationaler Sexualitäten fertig werden müssen. Für einige queere ImmigrantInnen ist
Sichtbarkeit (…) nicht nur lästig, sondern gefährlich“ (Puar 2005, S. 126).
Zusammenfassend ist also zu konstatieren, dass sowohl Sichtbarkeit als auch Unsichtbarkeit in manchen Fällen als Privilegien, in anderen als Ausschlussmechanismen von der aktiven Teilhabe an gesellschaftlicher und politischer Gestaltung fungieren können. Sichtbarkeit ist weder für alle Subjekte auf dieselbe Weise erreichbar,
noch für alle gleichermaßen erstrebenswert.
Sichtbarkeit und politische Macht3
Es ist zwar offensichtlich, dass der Nicht-Repräsentation bzw. der einseitigen, viktimisierenden und kriminalisierenden Repräsentation innerhalb der hegemonialen
Öffentlichkeit etwas entgegengesetzt werden muss, geht es doch nicht zuletzt um die
1 Unsichtbar sind genau genommen jedoch nur die naturalisierten Voraussetzungen und Bedingungen, denn Teil der
Wirkmächtigkeit von Normen ist gerade die Allgegenwart. Richard Dyer bringt dieses paradoxe Verhältnis von Unsichtbarkeit bei gleichzeitiger Allgegenwart in Bezug auf whiteness folgendermaßen auf den Punkt: „The invisibility of whiteness as a racial position in white (which is to say dominant) discourse is of a piece with its ubiquity“ (Dyer 1997, S. 3).
2 Für eine Problematisierung von Sichtbarkeit bzw. Sichtbarmachung von MigrantInnen vgl. u.a. Schmeiser/Marth
2004.
3 Eine sehr aufschlussreiche Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Sichtbarkeit und politischer Macht findet sich
bei Johanna Schaffer, die anhand ihrer Analyse zweier staatlich unterstützter politischer Kampagnen zur Förderung von
Toleranz gegenüber MigrantInnen in Deutschland eindrucksvoll aufzeigt, dass auch emanzipatorisch orientierte Initiativen aufgrund von diversen „Fallen und Stolpersteinen eines dominanten Darstellungssystems“ (vgl. Schaffer 2004, S.
210) nicht davor gefeit sind, „bestimmte Existenzweisen erneut zu minorisieren“ (a.a.O., S. 215), und selbst der Anspruch,
„einen aktiven, teilhabenden und vor allem auch gleichberechtigten (…) BürgerInnenstatus ethnisierter Subjekte visuell
zu signifizieren“ (a.a.O.), in diesen Fällen nicht eingelöst werden kann. Vgl. weiters u.a. die auf Performance ausgerichtete
Untersuchung Peggy Phelans (1993).
130
Ausweitung der Vorstellungen dessen, was als anerkanntes Subjekt gilt – und dazu
gehört auch der Anspruch auf BürgerInnenrechte.4 Allerdings – und hier lauert die
nächste große Herausforderung – geht es nicht nur um das Wer der Darstellung,
sondern auch um das Wo:
„Fragen nach Sichtbarkeit versus Unsichtbarkeit oder negativer, d.h. abwertender,
entmächtigender versus positiver, d.h. ermächtigender Bilder fassen die Problematik einer Herrschaftsstrukturen artikulierenden Repräsentationsgrammatik
nicht hinreichend“,
bemerkt Johanna Schaffer (2004, S. 218) kritisch und verweist dabei auf Eve Kosofsky Sedgwicks Beobachtung der „Gleichzeitigkeit einer höchst regulativen Sichtbarkeit einerseits und diskursiver Auslöschung andererseits“ (a.a.O.).5 Darunter fasst
sie das Vorhandensein eines relativ großen Ausmaßes an visueller Repräsentation
nicht-hegemonialer Subjekte im Bereich des Kulturellen – und hier hauptsächlich
in der Verkörperung des Spektakels – bei völliger Unterrepräsentation im Feld des
Politischen. Johanna Schaffer zu Folge werden dabei nicht nur die strukturellen Bedingungen der Teilhabe an gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozessen nicht gewährleistet, sondern zudem auch die Kämpfe um die Teilhabe „diskursiv
gelöscht“ (vgl. a.a.O.).
Sichtbarkeit, auch solche die als durchwegs „positiv“ wahrgenommen wird, ist
folglich nicht automatisch gekoppelt an politische Repräsentation und stellt in dieser
Hinsicht nicht per se einen Gewinn dar. Es mag zwar offensichtlich sein, dass eine
diskursive und bildliche Unsichtbarkeit innerhalb der hegemonialen Öffentlichkeit
mit einer mangelhaften bis nicht vorhandenen Repräsentation im Feld der Politik
einhergeht. Die Unzulässigkeit des vorschnellen Umkehrschlusses – eine simple
Steigerung der Sichtbarkeit bedeute gleichzeitig auch einen Zuwachs an politischer
Macht – macht auch Peggy Phelan in folgendem Zitat auf höchst plakative Weise
deutlich:
„If representational visibility equals power, then almost-naked young white women should be running Western Culture. The ubiquity of their image, however,
has hardly brought them political or economic power“ (Phelan 1993, S. 10).
4 Zu produktiven konstruktivistischen Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Repräsentation in seiner dreifachen
Bedeutungsdimension als Darstellung, Vorstellung und Vertretung vgl. Lummerding 1994, Engel 2002, sowie Hall 1997
und 2004.
5 Vgl. Sedgwick 1991, S. 6, Anm.8: „(…) intensive regulatory visibility on the one hand, (…) discursive erasure on the
other“.
131
Nachdem Fragen nach dem Wer und dem Wo bereits angerissen worden sind, werde
ich nun mit Fokus auf das Was, das Wie und das Wozu weitere allgemeine Problematisierungen der Kategorie der Sichtbarkeit vornehmen.
siert wird bezeichnenderweise der ‚Bodensatz der Gesellschaft‘: Irre, Hysterikerinnen, Perverse, sexuelle und geschlechtliche AbweichlerInnen. In der Praxis der
Prüfung wird jedes als abweichend klassifizierte Individuum gezielt zu einem Fall
gemacht – der Sichtbarkeit unterworfen – und der Aufmerksamkeit wissenschaftlicher Diskurse überantwortet“ (Hark 1999, S. 43).6
Wissen-Macht-Sehen
Um Bedeutung, Beschaffenheit und Ausmaß des Zusammenspiels zwischen Sehen,
Macht und Wissen zu umreißen, lohnt ein kurzer Rekurs auf Michel Foucault. Ihm
zu Folge muss Sichtbarkeit als Resultat einer epochenspezifischen Verstrickung von
Macht und Wissen verstanden werden. Anders ausgedrückt ist das, was innerhalb
einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raumes überhaupt gesehen werden
kann, abhängig von der jeweils gültigen Organisation des Wissens. „In dem, was wir
sehen können, liegt viel mehr Regelmaß, viel mehr Zwang, als wir annehmen. Sehen
ist immer Denken, da das, was sichtbar ist ein Teil dessen ist, was ‚Strukturen vorausgedacht haben’. Umgekehrt ist Denken immer Sehen“, konstatiert John Rajchman mit
Bezug auf Foucault (vgl. Rajchman 2000, S. 42f.).
Diese fundamentale Verschränkung bestimmt folglich nicht nur, was gesehen werden kann, sondern auch wie etwas gesehen wird. Sie selbst jedoch bleibt weitgehend
unsichtbar. Foucault arbeitet in seinen Untersuchungen von Gefängnissen und Kliniken (vgl. Foucault 1977 und 1988) genau diese spezifischen Techniken und Apparate
der Sichtbarmachung und ihre Einbettung in einen immensen Korpus von Wissen
systematisch heraus. Dadurch gelingt es ihm, den Zusammenhang der Sichtbarkeit
bzw. Sichtbarmachung von Abnormalität mit der Stützung einer spezifischen Normalität, die selbst jedoch in weit geringerem Ausmaß sichtbar ist, zu verdeutlichen.
Dieser relativ neue Fokus auf die Kategorie der Normalität steht in Zusammenhang
mit dem Aufkommen der Bio-Macht im 18. Jahrhundert, einer aufs Leben gerichteten
Machttechnologie, die an den beiden Polen der Regulierung der Bevölkerung und
der Disziplinierung der Individuen ansetzt, um „das Lebende in einem Bereich von
Wert und Nutzen“ zu organisieren (Foucault 1983, S. 171). Michel Foucault zu Folge
muss diese Form der Macht „eher qualifizieren, messen, abschätzen, abstufen, als sich
in einem Ausbruch manifestieren. Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen
Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der
Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet“ (a.a.O., S. 172).
In diesem Zusammenhang beobachtet auch Sabine Hark die Herausbildung einer
„vollständig gewandelten Ökonomie der Sichtbarkeit“:
„Diese Umkehrung der Ökonomie der Sichtbarkeit in der Machtausübung macht
gerade diejenigen sichtbar, die den Rand der Gesellschaft bevölkern. Individuali132
In diesem Sinne sind Schwule und Lesben, bzw. andere „norm-abweichende“ Subjekte, seit mehr als einem Jahrhundert alles andere als unsichtbar7 – ihre spezifische
Sichtbarkeit erfüllte im Gegenteil einen bestimmten Zweck, nämlich den der Absicherung und Bestätigung von Normen.
Inwiefern dies für die heutige Zeit, in der sich die schwul/lesbische Sichtbarkeit –
zumindest in Europa und Nordamerika – definitiv weit über die sexualwissenschaftliche Literatur hinaus verbreitet hat, noch gültig ist, möchte ich nun näher befragen.
Veränderte Sichtbarkeiten?
Es gibt kaum noch eine TV Serie, die ohne Schwule oder Lesben – wohlweislich
zumeist in Nebenrollen – auskommt, die Werbeindustrie hat die Kaufkraft dieser
potenten Zielgruppe für sich erkannt und wirbt zum Teil offensiv und explizit, die
Christopher-Street-Day(CSD)-Paraden locken alljährlich Zehntausende auf die Straßen der westlichen Metropolen.
Halten wir fest: Angesichts der Allgegenwart von Bildern heterosexueller Paare
erscheint verständlicherweise jeder Zuwachs an Sichtbarkeit für Lesben und Schwule
auf den ersten Blick verheißungsvoll, rückt dieser doch potentiell alternative Begehrensformationen und Lebensentwürfe ins Blickfeld. Zu berücksichtigen gilt hierbei,
wie bereits dargelegt wurde, allerdings nicht nur, in welchen Bereichen und bezogen
auf welche Subjekte ein Zuwachs an Sichtbarkeit derzeit vonstatten geht bzw. gehen
kann, sondern auch, dass – wollen wir Michel Foucault folgen – die Sichtbarkeit von
Lesben und Schwulen bislang eine bestimmte Funktion zu erfüllen hatte.
Mit dieser gehörigen Portion Misstrauen im Gepäck möchte ich mich nun möglichen Bedingungen für eine eventuell sich verändernde Sichtbarkeit zuwenden.
6 Ein besonders anschauliches Beispiel für die Verschränkung von Sichtbarkeit, Pathologisierung und Normalisierung
stellt die fotographische Dokumentation der Arbeit des Psychiaters Jean Martin Charcot mit Hysterikerinnen in der
Pariser Salpetrière dar. Siehe dazu u.a. Didi-Huberman (1997).
7 Ich kann aufgrund der Komplexität des Gegenstands in diesem Artikel lediglich wiederholt betonen, dass zwischen
schwuler und lesbischer, wie auch zwischen der Sichtbarkeit anderer normabweichender Subjekte unterschieden werden
muss – nicht zuletzt deshalb, weil Schwule aufgrund der Kriminalisierung männlicher Homosexualität eher mit einer
stigmatisierten Sichtbarkeit, Lesben mit ihrer Unsichtbarmachung zu kämpfen hatten und haben. Zur Vergeschlechtlichung des Sehens und des Blickes. Vgl. zudem u.a. Mulvey 1980 und de Lauretis 1999.
133
Generell und grob gesprochen scheint zu gelten, dass sich die Darstellungsweisen
von Schwulen und Lesben in Mainstream-Medien nicht zuletzt dank des Postulats
der political correctness im Sinne eines neoliberalen Toleranzpluralismus augenfällig
verschoben haben. Die Erfolge der Lesben- und Schwulenbewegung im Kampf um
eine entstigmatisierte Sichtbarkeit sollen hier keinesfalls geschmälert werden. Doch
darf die Integrationskraft von besagtem neoliberalen Toleranzpluralismus, der unter
dem Motto „du darfst so leben, wie du bist, wenn du damit erfolgreich bist und selbst
dafür die Verantwortung übernimmst“ (vgl. Woltersdorff 2004, S. 146) bestimmte
vormals pathologisierte oder marginalisierte Lebensweisen und Subjektpositionen
in den Bereich gesellschaftlicher Akzeptanz zu erheben im Stande ist, nicht unterschätzt werden. Seine Wirkung beschränkt sich im Übrigen nicht auf Schwule und
Lesben: Auffällig ähnliche integrative Tendenzen konstatiert Bärbel Tischleder für
die Darstellung von AfroamerikanerInnen im Hollywood Kino:
„Eine ‚normale‘, unauffällige Körperlichkeit, Mittelschichts-Merkmale, suburban
homes und family values bilden immer häufiger Charakteristika und Setting von
nicht-weißen Protagonisten, und dies legt die Vermutung nahe, daß die kontrastive Signifikanz von Hautfarben im amerikanischen Film zunehmend aufweicht.
(…) Hollywood scheint Washington klar voraus“ (Tischleder 2001, S. 114).
Dennoch ist auch hier Vorsicht angebracht, denn, so Tischleder: „Die Politik von
Hollywoods Körperdarstellungen (…) ist heute nicht mehr explizit rassistisch, sondern manifestiert sich in naturalisierten Darstellungsmustern, deren rassische Strukturen implizit und unauffällig sind“ (a.a.O., S. 123).
Auf den ersten Blick lassen sich auch in der Darstellung von Lesben und Schwulen nicht nur kaum noch eindeutig pathologisierende Elemente erkennen.8 Auch in
Sachen öffentlicher Präsenz kann für die letzten zehn Jahre ein signifikanter Anstieg
konstatiert werden. Bei genauerem Hinsehen erscheinen diese – oberflächlich betrachtet – durchwegs erfreulichen Entwicklungen, so meine näher auszuführende
These, jedoch nicht unbedingt nur als Teilerfolge im Kampf gegen Heteronormativität. Vielmehr sind diese „Teilerfolge“ u.a. auch nicht unmaßgeblich auf Transformationen von Heteronormativität und ihren Wirkweisen unter neoliberalen Bedingungen zurückzuführen.
8 Doch taucht mit Foucault im Hinterkopf – nicht nur bezüglich der Darstellungsweise, sondern auch, was die Funktion
von Lesben und Schwulen betrifft – zunächst die Frage nach Kontinuitäten und Wandel, nach Spuren früherer Repräsentationen, die möglicherweise nicht sofort erkennbar sind, auf. Vgl. hierzu die grundlegenden Arbeiten von Richard Dyer
(1993) und – bezogen auf die Kontinuitäten rassistischer Repräsentationen – Stuart Hall (2004b).
134
Rigide Normativität und flexible Normalisierung
Um diese komplexen Zusammenhänge näher zu erläutern, möchte ich auf das Konzept der flexiblen Normalisierung und rigiden Normativität, wie es Antke Engel herausgearbeitet hat, zurückgreifen (vgl. Engel 2002, S. 72ff.).9 Dieses ermöglicht, die
paradoxe historische Gleichzeitigkeit von rigiden gesellschaftlichen Ausschlüssen
und normalisierenden Einschlüssen zu erklären und zu fassen. Denn, wie Engel
herausstreicht, stehen durch gesellschaftliche Instanzen abgesicherte und sanktionierte normative Vorgaben beispielsweise bezogen auf Zweigeschlechtlichkeit und
Heterosexualität als einzig „natürliche“ Lebensform relativ widerspruchslos neben
„flexiblen Prozessen sozialer Normalisierung“, die Individuen durchaus Gestaltungsmacht bezüglich ihrer Lebensentwürfe einräumen, sofern sie für diese selbst Verantwortung tragen (vgl. a.a.O., S. 75).
Die Annahme dieser Gleichzeitigkeit bzw. dieses Nebeneinanders nivelliert jedoch
nicht etwa die unterschiedliche Wirksamkeit repressiver und produktiver Formen
der Macht im Sinne Foucaults – etwa das Fortbestehen von regulierenden und disziplinierenden neben subjektivierenden und individualisierenden Mechanismen.
Sie soll vielmehr dabei behilflich sein, die Möglichkeit eines „(ständig drohenden)
Umschlagens zwischen Ausschließung und Normalisierung qua Individualisierung“
(a.a.O., S. 76f.) zu diagnostizieren und das Zusammenspiel bzw. Ineinandergreifen
beider Mechanismen zu verdeutlichen. Auf Sabine Hark (Hark 1999) Bezug nehmend, fasst Antke Engel folgendermaßen zusammen:
„Die Norm kann Phänomene in ihrer Einzigartigkeit wahrnehmen, indem sie sie
auf einer Skala in je spezifische Relation zur Norm setzt; sie integriert Unterschiedliches in ein Normalitätskontinuum. Die Norm selbst aber definiert sich über die
Abweichung; sie bedarf des ,ganz Anderen‘ und damit der Ausschließung, um in
ihrer Spezifik zu erscheinen“ (Engel 2001, S. 351).
Mit anderen Worten operiert die Norm einerseits mittels der Herstellung gradueller
Abweichungen im Bereich des Tolerierbaren. Schließlich stellt sie ein Ideal dar, das
genau genommen von niemandem tatsächlich zur Gänze ausgefüllt werden kann.
Andererseits produziert sie jedoch „Grenzen gegenüber interventions- und regulationsbedürftigen Devianzen“, die sich zwar auch noch im Bereich der Norm, allerdings
zu weit entfernt vom Durchschnitt befinden (vgl. Hark 1999, S. 69).
9 Engel bezieht sich damit sowohl auf Jürgen Link (1998), als auch auf Sabine Hark (1999), grenzt ihr Modell jedoch in
wesentlichen Punkten von beiden ab. Vgl. dazu auch Engel 2001, S. 352f., Fn. 10 und 11.
135
In diesem Sinne kann nicht von einer strikten gesellschaftlichen Zweiteilung in
anerkannte und verworfene Subjekte ausgegangen werden10 – alle Subjekte stehen
in einem bestimmten Verhältnis zur Norm, viele sind gleichzeitig Mechanismen der
Repression und der Normalisierung ausgesetzt (vgl. a.a.O., S. 78). So gesehen wird
die scheinbare Widersprüchlichkeit einer Flexibilisierung und Pluralisierung von
Normen bezüglich Sexualität und Geschlecht bei weiterhin vorhandener massiver
Homophobie erklärbar.
Die Grenze zwischen gesellschaftlichem Ein- und Ausschluss verläuft demgemäß
nicht mehr dezidiert entlang der Achse Heterosexualität/Homosexualität, sondern
zwischen den je „respektablen“ Ausgestaltungen der Lebensentwürfe. Heteronormativität wirkt auch auf Heterosexuelle.
Die bedingte Normalisierung von Schwulen und Lesben ist zwar insofern durchaus
zu begrüßen, als sie erhebliche Freiheitsgewinne mit sich bringt. Aber – und hier
kommt die rigide Normativität ins Spiel – diese Freiheitsgewinne sind einerseits zumeist beschränkt auf bestimmte Bereiche, vornehmlich auf die der Produktion und
Konsumption, und andererseits auf bestimmte Subjekte, nämlich auf die, die in die
neoliberale Verwertungslogik integrierbar sind, einen „Marktwert“ besitzen, bzw.
deren Lebensstil als „respektabel“ angesehen wird.
Es kommt also lediglich zu Verschiebungen, nicht aber zu einem Abbau von
Macht- und Herrschaftsverhältnissen, weshalb diese neoliberalen Tendenzen mehr
als nur argwöhnisch betrachtet und schwul/lesbische Politiken, die versuchen,
in ihrem Fahrwasser zu argumentieren, zu Recht kritisiert werden. So spricht die
Queer-Theoretikerin Lisa Duggan in diesem Zusammenhang etwa von einer „neuen
Homonormativität“, die zur Absicherung von heteronormativen Macht- und Herrschaftsstrukturen beiträgt:
„[Es] läßt sich eine schwule konservative Politik erkennen, die ihre eigenen normativen Intimitäts- und Sexualitätsstandards errichtet, entlang derer die ,guten‘
Schwulen den schlechten Queers und anderen sexuell ‚unverantwortlich‘ Handelnden (diese inkludieren oft auch rassisierte [racialised] heterosexuelle ‚Andere‘,
wie z.B. sozialhilfebeziehende Mütter) entgegengestellt werden“ (Duggan 2000, S.
92f.).11
Auch bei Michael Warner findet sich eine vehemente Kritik der derzeitigen Ausrichtung großer Teile der US-amerikanischen Lesben- und Schwulenbewegung am
Ideal der „Respektabilität“, die sich bedingt auch auf den westeuropäischen Kontext
10 Siehe dazu die pointierte Kritik Antke Engels an Judith Butler (Engel 2002, S. 23f.) und an Sabine Hark (a.a.O., S.
78).
11 Vgl. dazu auch Duggan (2003).
136
übertragen lässt (vgl. Warner 1999, S. 24f.). Diese Ausrichtung ist laut Warner geprägt vom Versuch der Entkoppelung der sexuellen Orientierung bzw. Identität von
sexuellen Aktivitäten oder Praxen, die in Beschränkungen der politischen Bemühungen auf die Herstellung einer legitimen bürgerlichen „Normalität“ von Lesben
und Schwulen – am sichtbarsten in der Forderung nach Homo-Ehe – zuungunsten
einer Politik, die sich gegen die Skandalisierung bestimmter sexueller Praxen im allgemeinen richtet, münden.
Inwieweit lassen sich die oben beschriebenen, eng mit neoliberalen Integrationsmechanismen verwobenen, Tendenzen nun tatsächlich in der medialen Repräsentation von nicht-heterosexuellen Subjekten ausmachen? Und inwiefern stellt die
derzeitige Sichtbarkeit von Lesben, Schwulen und transgender-Personen in Mainstream-Medien tatsächlich eine Unterminierung von Heteronormativität dar, indem
sie der Heterosexualität etwa den Anspruch streitig macht, sich als „einzig existierende und vorstellbare Wirklichkeit“ zu profilieren?12 Oder umgekehrt: inwieweit trägt
sie zu deren Stabilisierung bei?
Normalisierung und Karnevalisierung
Ich möchte im folgenden zwei Arten der Wirkweise von Heteronormativität auf
das Feld der Sichtbarkeit veranschaulichen, die ich an zwei unterschiedlichen Formen des Othering – also der Zuschreibung von Differenzen – von Lesben, Schwulen
und transgender-Personen festmache. Bei beiden handelt es sich um Formen der
Sichtbar- und Lesbarmachung von Differenzen zur Hetero-Norm, die kaum eine
Infragestellung dieser Norm „als einzig existierende und vorstellbare Wirklichkeit“
zu­lassen.13
Anders ausgedrückt sehe ich in Normalisierung und Karnevalisierung hegemoniale bzw. dominante Lesarten von „norm-abweichenden“ Subjekten, mittels derer ein
stabilisierendes Verhältnis zur Norm auf der einen Seite über eine Anpassung mit
Abstrichen und auf der anderen über die Zuschreibung des Status eines konstitutiven
Außen hergestellt wird.
12 Corinna Genschel, Caren Lay, Nancy Wagenknecht und Volker Woltersdorff streichen in ihren Anschlüssen an die
deutsche Ausgabe der viel zitierten Einführung in die Queer Theory von Annamarie Jagose (2001) heraus, dass Heterosexualität als Heteronormativität als gesellschaftsstrukturierendes Prinzip wirkt: „Normativ ist dabei die Tatsache, daß sich
eine heterosexuelle Gesellschaft als die einzig existierende und vorstellbare Wirklichkeit profilieren kann“ (Jagose 2001,
S. 168). Vgl. diesbezüglich auch Warner (1999).
13 Ich möchte diese Aussage allerdings in zweierlei Hinsicht einschränken: Erstens gehe ich mit Stuart Hall von der
Polysemie – also der Mehrdeutigkeit – televisueller Texte sowohl auf der Text – als auch auf der Rezeptionsseite aus.
Daher besteht neben der dominanten bzw. bevorzugten Lesart immer die Möglichkeit einer (von der Produktionsseite her
unintendierten) oppositionellen Lesart, sowie einer ausgehandelten Lesart als Mischung aus den beiden anderen (vgl. Hall
2004a). Zweitens möchte ich Normalisierung und Karnevalisierung keinesfalls als einzige Lesarten „norm-abweichender“
Subjekte verstanden wissen.
137
Letzteres fungiert dabei als das „ganz Andere“, das insofern wesentlich zur Abstützung der vorherrschenden Position beiträgt, als es deren Grenzen markiert. Das
konstitutive Außen darf aber weder als außerhalb des Diskursiven noch als außerhalb des Sichtbaren verstanden werden, sondern ist – in Judith Butlers Worten – die
„Konstruktion eines ‚Außen‘, das nichtsdestoweniger vollständig ‚innen‘ ist. (...) Das
‚Undenkbare‘ gehört also vollständig in die Kultur hinein; vollständig ausgeschlossen
ist es hingegen von der herrschenden Kultur“ (Butler 1991, S. 121).
Normalisierung und Karnevalisierung fungieren meiner Meinung nach als Folien
bzw. Raster, über die Differenzen zur Hetero-Norm lesbar, verstehbar und kategorisierbar werden. Diese beiden Arten korrespondieren insofern mit den zuvor beschriebenen Mechanismen der rigiden Normativität und der flexiblen Normalisierung,
als der normalisierenden Lesart Grenzen gesetzt sind, an denen die Karnevalisierung
einsetzt. Das bedeutet, dass auch diejenigen Subjekte sicht- und lesbar sind, die sich
(noch) nicht ins Feld des Normativen integrieren lassen.
Normalisierung
Ich werde im Folgenden anhand von zwei mehr oder weniger zufällig ausgewählten
Beispielen zu illustrieren versuchen, was ich unter Normalisierung im Bereich der
Darstellung in Mainstream-Medien verstehe. Meine Auswahl ist insofern zufällig,
als ich die beiden populären US-amerikanische Network-TV14 Sitcoms Will & Grace
und It’s all relative herangezogen habe, die beide samstagnachmittags im ORF ausgestrahlt worden sind. Nicht zufällig ist allerdings die Tatsache, dass es sich dabei
um „schwule“ Serien handelt: Die einzige Network-TV Sitcom mit einer lesbischen
Hauptdarstellerin, Ellen, wurde kurz nach dem Coming Out der Hauptdarstellerin
Ellen DeGeneres (sowohl in der Serie als auch im „echten Leben“) aus Mangel an
Werbeeinschaltungen 1998 – bezeichnenderweise im Jahr, in dem Will & Grace erstmals ausgestrahlt wurde – vom Sender ABC eingestellt.15
14 Network-TV ist im Unterschied zu Cable TV nicht kostenpflichtig und wird hauptsächlich über Werbeeinschaltungen finanziert. Das hat nicht nur Unterschiede bezüglich der Reichweite zur Folge, sondern auch bezüglich der Darstellungsformen. Auf AbonnentInnen angewiesene Cable TV Sender wie Showtime oder HBO verfügen über innovativere, weit liberaler ausgerichteten Sendeformate, in denen u.a. auch lesbische und schwule Sexualität explizit dargestellt
wird, wie das beispielsweise in den Drama Serien Queer as Folk oder The L Word der Fall ist. Eine Analyse von The L
Word würde aufgrund der Komplexität und Ambivalenz, die deren Einzigartigkeit bei der Darstellung lesbischer Lebensweisen mit sich bringt, den Rahmen dieses Artikels sprengen. Mir bleibt daher an dieser Stelle lediglich der Verweis auf
den Sammelband Akass/McCabe (2006), in dem die Serie von verschiedenen Perspektiven her in differenzierter Weise
untersucht wurde.
Will & Grace lief von 1998 bis 2006 auf NBC und gilt als eine der erfolgreichsten Sitcoms überhaupt - sowohl was
ZuseherInnenzahlen als auch was Werbeeinschaltungen angeht. It’s all relative /Absolut relativ lief von 2003 bis 2004 auf
ABC und wurde noch vor Ende der ersten Staffel abgesetzt.
15 Auch an dieser Stelle kann ich nur auf die große Diskrepanz zwischen der Darstellung von Schwulen und Lesben verweisen, nicht jedoch näher auf die vielschichtigen Gründe eingehen. Derzeit gibt es in den USA jedenfalls keine einzige
aktuelle Network-TV Serie mit einer lesbischen Darstellerin.
138
Als kleine, aber nicht unbedeutende Randnotiz sei außerdem erwähnt, dass die
damalige Intendantin des ORF, Monika Lindner, die Ausstrahlung der schwulen Folgen der MTV Dating Serie Dismissed unterbunden und sich der Zeitschrift NEWS
zufolge intern gegen eine Ausstrahlung von The L Word mit der Begründung, „sie
strahle kein Programm aus, in dem eine Lebensweise propagiert werde, der keine
Kinder entspringen können“16, ausgesprochen hat. Will & Grace und It’s all relative
sind paradoxerweise nicht nur nicht unter diese Beschränkung gefallen, obwohl es
in beiden Sitcoms je zwei schwule Hauptcharaktere gibt. Die Serien wurden noch
dazu zu einer „familienfreundlichen“ Zeit ausgestrahlt. Ich möchte diesem vermeintlichen Paradoxon im Folgenden nachgehen um herauszufinden, warum gerade diese
Serien bzw. Darstellungsweisen von Schwulen „durchgegangen“ sind. Dabei geht es
mir allerdings weniger um eine detaillierte inhaltliche Aufarbeitung der Sitcoms als
vielmehr um eine grobe Analyse von deren Aufmachung, die meines Erachtens nicht
nur hinsichtlich der Art der Darstellung sondern auch hinsichtlich der Funktion der
schwulen Charaktere äußerst aufschlussreich ist.
Die beiden Serien haben – außer, dass sie jeweils zwei schwule Hauptcharaktere beinhalten – auf den ersten Blick wenig gemein:
Will & Grace dreht sich um das nicht ganz spannungslose (Zusammen-)Leben des
schwulen Anwalts Will mit seiner Ex-Verlobten, der Innenarchitektin Grace, und
um die regelmäßigen Aufeinandertreffen mit Jack, dem meist beschäftigungslosen
schwulen Schauspieler und Lebenskünstler, und Karen, der Millionärsgattin mit Alkoholproblemen.17
Ausgangspunkt von It’s All Relative ist die Liaison der adoptierten Tochter eines
schwulen Paares, der Harvard-Studentin Liz, mit Bobby, dem Sohn einer irisch-katholischen Barbesitzer-Familie. Wie bei Will & Grace – und natürlich nicht untypisch
für Sitcoms – setzt auch diese Serie auf das Strapazieren von Stereo­typen18, jedoch
nicht nur, was das schwule Paar, sondern auch was die ziemlich homophobe Familie des Sohnes – mittels klassenspezifischer Klischees – betrifft. Was dieser Sitcom
jedoch zugute gehalten werden kann ist, dass sie zumindest versucht, klassische Ver-
16 Vgl. dazu den Kommentar „Willkommen im 21. Jahrhundert“ vom damaligen TV-Media Chefredakteur Ralf Strobl
in der Zeitschrift TV-Media, Ausgabe Nr. 21, 20. – 26. Mai 2006, S5.
17 Grace und Karen stellen klassische Verkörperungen des fag hags – meist heterosexuelle Frauen, die platonische
Freundschaften mit schwulen Männern hegen und aktiv an der schwulen Kultur teilnehmen – dar, denen Judith Halberstam zu Folge eine nicht zu verachtende Bedeutung für schwule Sichtbarkeit zukommt: „The ‚fag hag‘ role has indeed
become a staple of popular film, and at least part of the explanation for how gay male culture and gay male images have so
thoroughly penetrated popular film and television cultures has to do with the recognized and lived experiences of bonds
between ‚queens‘ and ‚girls‘“ (Halberstam 2005, S. 125). Für eine genauere kritische Analyse heteronormativer Elemente
in Will & Grace siehe Battles/Hilton-Morrow (2002).
18 Vgl. dazu Dyer (1993) und Hall (2004b).
139
wandtschaftsstrukturen aufzubrechen, indem sie das Leben einer schwulen Patchwork Familie portraitiert.19
Auffällig ist trotz großer inhaltlicher Unterschiede die Art und Weise, auf die
nahezu deckungsgleich schwuler Lifestyle und schwule Identitäten (re-)präsentiert
werden. Wer bzw. was wird also genau sichtbar?
In beiden Sitcoms werden weiße, gebildete, „effeminierte“ und kulturinteressierte
Upper-middle-class Schwule, die in einer fixen monogamen Beziehung sind oder
sein wollen, portraitiert. Gerade im US-amerikanischen Network-TV – und das
halte ich trotz der „Zufälligkeit“ meiner Auswahl für keinen Zufall – scheint sich eine
bestimmte schwule Kultur oder besser noch „Identität“, nämlich eine unpolitische,
auf Konsum und Lifestyle reduzierte, großer Beliebtheit zu erfreuen.
Diese höchst eindimensionalen Darstellungen, die zwar auch bei Heterosexuellen
nicht unüblich sind, wiegen durch die verhältnismäßige Vielfalt des weitaus differenzierteren Angebots bei letzteren jedoch bedeutend weniger schwer. Christina Nord
beschreibt die daraus resultierende Gefahr treffend:
„Für homosexuelle Figuren, sonst seltener vertreten, ist die stereotypisierte Darstellung gefährlicher. Was die Serien mit Vorliebe überspielen, ist die Geschichte
der Diskriminierung und die daraus resultierenden Gegenstrategien, die politischen Kämpfe und die spezifischen Subkulturen. Schwul bzw. lesbisch zu sein
bedeutet im Vorabendprogramm nicht viel mehr, als dass ein Individuum eine
Option aus vielen anderen wahrnimmt, im Sinne einer Wahlfreiheit, dergemäß
jeder seines Glückes Schmied ist“ (Nord 2000, S. 161).20
Nicht nur das: Der Mangel an vielfältigen Darstellungen birgt die Gefahr, ein bestimmtes schwules Klischee zu stärken und es als authentische Präsentation des
schwulen Lebens überhaupt zu verfestigen. Und dieses Klischee beinhaltet wenig
bis nichts, das die Hetero-Norm in irgendeiner Weise in Frage stellen würde – im
Gegenteil: die Differenz zur Norm bleibt trotz Normalisierung aufrecht und sichtbar
und wird u.a. durch Stereotype wie etwa das der Effemisierung noch betont. In meinen Augen handelt es sich hierbei um eine Version von Homi Bhabha’s „almost the
same, but not quite“ (vgl. Bhabha 1994, S. 86)21, das die Präsentation konservativer
19 Über den Zusammenhang zwischen den progressiven Elementen dieser Sitcom und deren mangelndem Erfolg lässt
sich nur spekulieren.
20 Die Ausblendung der politischen Kämpfe bei Gewährung einer bestimmten Art von Sichtbarkeit von Schwulen und
Lesben erinnert stark an das weiter oben beschriebene Phänomen der Gleichzeitigkeit einer regulativen Sichtbarkeit und
diskursiven Auslöschung.
21 Homi Bhabha gebraucht diese Wendung jedoch in ganz anderer Weise im Kontext der Ambivalenz kolonialer Mimikry, also der Nachahmung bzw. Aneignung kultureller Ausdrucksformen des „Stärkeren“ in einem kolonialen Setting. Zu
diskutieren wäre, inwiefern es sich hierbei nicht doch um ähnliche Anwendungen handelt.
140
Normen mittels eines Hauches an Anderssein, das immer wieder für ein paar Lacher
gut ist, aufpeppt.
In diesem Sinne besteht eine starke Ähnlichkeit zu einer „multi-kulti Exotisierung“. Ich würde daher von einer gewissen Kulturalisierung von schwuler Identität
über einen bestimmten Lifestyle sprechen, der sich über Referenzpunkte wie Musik,
Film oder Mode – also über leicht konsumierbare „Differenzhäppchen“ – äußert.
Ich vermute, dass für die neue Sichtbarkeit von Schwulen und – in beschränkterem
Ausmaß – auch für Lesben und transgender-Identitäten im gesellschaftlichen Mainstream grob gesprochen in etwa das gilt, was Stuart Hall für die wachsende Bedeutung der schwarzen popularen Kultur herausgestrichen hat, und was sich beispielsweise auch in der veränderten Darstellung von AfroamerikanerInnen im Hollywood
Kino ausdrückt: „Nichts liebt die globale Postmoderne mehr als eine bestimmte Art
von Differenz: ein Hauch Ethnizität, der Geschmack des Exotischen (…).“ Und weiter: „(…) wir müssen fragen, ob die Formen dieser Proliferation von Differenz, die
den Blick freigeben, zum Schauen einladen und zugleich verleugnen, nicht in Wirklichkeit (…) Differenzen sind, die überhaupt nichts verändern“ (Hall 2000, S. 100).22
Bleibt die Frage, was diese Art der Homo-Normalisierung – bei aller Erfreulichkeit, die ein Zuwachs an relativ entstigmatisierter Sichtbarkeit bedeutet – verdeckt:
Einerseits sind es, wie auch Christina Nord betont, die politischen Kämpfe und Diskriminierungserfahrungen, die durch die Darstellung unpolitischer, gut situierter
und angepasster Individuen hinfällig geworden zu sein scheinen.
Andererseits werden schwule sexuelle Praktiken in Kontrast zu heterosexuellen
Praktiken nahezu gänzlich ausgeblendet. Wenn überhaupt, dann tauchen sie als
­augenzwinkernde Anspielung auf ein Ekel erregendes, peinliches Tabuthema auf.
„Bestimmte sexuelle Identitäten dürfen also unter bestimmten Vorzeichen in der
­Öffentlichkeit ‚stolz’ zur Schau gestellt werden, die sexuellen Praktiken selbst bleiben
aber hinter verschlossenen Türen versteckt und haben auch da eine normative Form
anzunehmen“ (Currid 2001, S. 366), bemerkt Brian Currid in diesem Zusammenhang.
Zusammenfassend gesagt sehe ich wesentliche Parameter dieser normalisierenden
Darstellungsweisen und Lesarten in Entsexualisierung, Entpolitisierung bzw. In22 Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang lautet m.E., welche Art der Darstellung von (welchen) Differenzen überhaupt „etwas verändern“ kann. Als Annäherung an diese schwierige Frage – zumindest was die Form des
Umgangs mit Differenzen anbelangt – scheint mir Gudrun Perko’s Forderung für eine queere Ethik hilfreich (vgl. Perko
2005). In ihrem Sinne müsste die Darstellung eine Anerkennung der Gleichheit in der Differenz und Andersheit bzw. eine
Anerkennung der Differenz und Andersheit in der Gleichheit ermöglichen. Mit (praktischen) Fragen der Herstellung
einer anerkennenden Sichtbarkeit beschäftigt sich Johanna Schaffer ausführlich in ihrer bislang noch nicht veröffentlichten Dissertation, sowie am Rande im Artikel „Seizing and Unfolding: Two Tactics Within and Against Ideological
Dominance (with Del LaGrace Volcano and Catherine Opie)“ (Schaffer im Ersch.).
141
dividualisierung und Kulturalisierung und damit – wenig überraschend – in einer
Verkürzung der Darstellung auf einen bestimmten Lifestyle. In diesem Sinne lassen
sich durchaus Parallelen zur weiter oben beschriebenen „neuen Homonormativität“
ziehen.
Karnevalisierung
Ich möchte nun zu einer anderen Art kommen, mittels der Heteronormativität auf
das Feld der Sichtbarkeit wirkt. Ich habe mir dafür den Begriff der Karnevalisierung
von Michail Bachtin ausgeliehen, den er hauptsächlich für die „Übertragung des Karnevals in die Sprache der Literatur“ verwendet (vgl. Bachtin 1985).23
Bachtin beschreibt die Welt des – wohlgemerkt mittelalterlichen – Karnevals als
der offiziellen Welt diametral entgegenstehend: Ernsthaftigkeit, Düsterkeit, strenge
Hierarchien, Furcht, Dogmatismus und Pietät bestimmen über den Großteil des
Jahres den Alltag der Menschen. Hingegen regieren in der Karnevalszeit Lachen,
Gotteslästerung, Ruchlosigkeit, quasi-familiärer Kontakt aller mit allen und dergleichen mehr. Der mittelalterliche Karneval bietet den Raum, bzw. Rahmen, für autorisierte Normübertretungen. Die gesellschaftlichen Regeln und Normen sind zwar in
gewisser Weise für eine beschränkte Zeitspanne außer Kraft gesetzt, trotzdem sind
sie omnipräsent und strukturieren damit Denken und Handeln der Subjekte. Paradoxerweise besteht die Möglichkeit der zeitweiligen Überschreitung bestimmter
Normen gerade – und ausschließlich – aufgrund der stets gegenwärtigen Existenz
des Rahmens. Der Karneval kann also nur funktionieren, weil er eine Art konstitutives Außen für das alltägliche Leben darstellt.
In meiner Adaption fungiert der Begriff der Karnevalisierung als Bezeichnung einer hegemonialen Wahrnehmungsweise „norm-abweichender“ Subjekte. Unter Karnevalisierung verstehe ich also die Zuschreibung eines Ausnahmezustands, einer erlaubten Übertretung gesellschaftlicher Normen innerhalb eines geregelten zeitlichen
und geographischen Kontextes. Ihre Wirkmächtigkeit besteht vor allem darin, ei23 Mein Gebrauch des Begriffs unterscheidet sich jedoch wesentlich von dem Bachtin’s, der das revolutionäre Potential
des mittelalterlichen Karnevals in der durch Verkörperungen des Grotesken geweckten Einbildungskraft, sprich in der
Karnevalisierung des Bewusstseins, verortet (vgl. Bachtin 1985, S. 28). Die von Bachtin herausgearbeiteten Grundzüge des
mittelalterlichen Karnevals lassen sich jedoch (leider) nicht in die heutige Zeit übertragen, auch wenn beispielsweise eine
Verbindung zu CSD-Paraden in vielerlei Hinsicht verführerisch erscheint. Denn ihm zufolge ist der Karneval – innerhalb
einer bestimmten zeitlichen Periode – überall und allumfassend. Es gibt keine Bühne, keine Rampe und demgemäß auch
keine Trennung zwischen Zuschauenden und Teilnehmenden. Bachtin geht sogar so weit zu behaupten, dass innerhalb
des Karnevals die während der restlichen Zeit des Jahres omnipräsenten sozialhierarchischen Unterschiede zwischen den
Menschen aufgehoben sind und ein „neuer Modus der Beziehung von Mensch zu Mensch“ ausgemacht werden kann (vgl.
a.a.O., S. 48). Für die CSD-Paraden existiert jedoch nicht nur eine räumliche Einschränkung auf eine vorab festgelegte
Route. Weit wesentlicher ist meines Erachtens die Trennung zwischen Zuschauenden und Teilnehmenden, zwischen
Rand und Mitte, die gerade für die Aufrechterhaltung der sozialhierarchischen Unterschiede sorgt.
142
nen Rahmen oder eine Folie bereit zu stellen, innerhalb derer bestimmtes Verhalten
wie auch bestimmte Identitätspositionen – und darum geht es mir eigentlich – auch
außerhalb des Karneval-Kontextes als die Regel bestätigende Ausnahmen gewertet
bzw. gelesen werden können und demgemäß politisch nicht ernst genommen werden müssen. Bestimmte Subjekte werden, mit anderen Worten, dem Karneval und
seinen Bedeutungsstrukturen zugeordnet, oder karnevalisiert und erlangen so durch
diesen Referenzrahmen Bedeutung – auch außerhalb des Rahmens.
Diese Lesart, bzw. Form, des Otherings setzt meines Erachtens da an, wo die
Normalisierung an ihre Grenzen stößt, wo Differenzen zu beängstigend werden,
zu verstörend, um ohne weiteres konsumiert oder integriert werden zu können.
Den karnevalisierten Subjekten kommt damit die Funktion des konstitutiven Außen zu. Sie markieren das Monströse, das Andere, das zwar (noch) nicht inte­griert
werden kann, dem durch die Karnevalisierung jedoch die Bedrohlichkeit genommen
wird.
Eine derartige „Grenze der Integrierbarkeit“ des gesellschaftlichen (und filmischen)
Mainstreams, die als solche Aufschluss über die derzeitige normative Beschränkung
der angeblichen individuellen Wahlfreiheit gibt, verläuft – hier möchte ich mich
­Antke Engel anschließen – da, wo die geschlechtliche Eindeutigkeit aussetzt:
„Solange das Androgyne in ein sowohl/als auch und der Geschlechtswechsel in
ein Vorher/Nachher zu übersetzen ist, kann die Ambiguität als eine verlockendbedrohliche ausgereizt werden. Doch sobald die geschlechtliche Zuordnung zu
einem von zwei Geschlechtern dauerhaft oder über einen klar definierten Rahmen wie beispielsweise den der Unterhaltungsindustrie hinaus fragwürdig wird,
werden Ambiguität und Flexibilität mit Sanktionen oder gar Verwerfungen beantwortet“ (Engel 2001, S. 351).
Auch Judith Halberstam weist auf die derzeitige Ambivalenz im Umgang mit geschlechtlich uneindeutigen Körpern hin und verortet ihr „plötzliches und spektakuläres Auftreten“ im Kontext neoliberaler Flexibilitäts-Fantasien, die jedoch strengen
Reglementierungen unterworfen sind:
„(…) even as the transgender body becomes a symbol par excellence for flexibility, transgenderism also represents a form of rigidity, an insistence on particular
forms of recognition, that reminds us of the limits of (…) flexible bodies“ (Halberstam 2005, S. 76f.).
Um den dauerhaft uneindeutigen Körper innerhalb der hegemonialen Öffentlichkeit
lesbar zu machen, erfährt er also meiner Einschätzung nach entweder eine norma143
lisierende Vereindeutigung, oder er wird karnevalisiert und erscheint als das ganz
Andere im Normalitätskontinuum.24
Allerdings sind die Grenzen zwischen Rändern und Mitte, zwischen rigiden und
flexiblen Elementen von Normen sowie zwischen Normalisierung und Karnevalisierung keineswegs starr. Im Gegenteil, sie sind Gegenstand permanenter gesellschaftlicher Kämpfe und Ausverhandlungen, an denen teilzunehmen unabdinglich ist. Insofern möchte ich mich zum Abschluss Stuart Hall anschließen:
formen und Lesarten müssen auf eine Art und Weise herausgefordert werden, die
der Ambivalenz der Sichtbarkeit Rechnung zu tragen im Stande ist, indem sie sie
ernst nimmt.
„Ich gebe zu, die Räume, die für Differenz ‚gewonnen‘ werden, sind nicht zahlreich und sie werden sehr genau kontrolliert und reguliert. Ich glaube, sie sind begrenzt. Ich weiß aus bitterer Erfahrung, dass sie extrem unterfinanziert sind, dass
der Preis der Vereinnahmung gezahlt werden muss, wenn die scharfe Schneide der
Differenz und der Grenzüberschreitung stumpf wird, weil sie zum Spektakulären
degeneriert. Ich weiß, dass die Unsichtbarkeit abgelöst wird von einer regulierten,
segregierten Sichtbarkeit. Aber es bringt nicht weiter, das einfach ‚dasselbe‘ zu
nennen“ (Hall 2000, S. 102).
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Fazit
Ich habe gezeigt, dass eine Steigerung der Sichtbarkeit von Lesben, Schwulen und
transgender-Personen an sich noch nicht unbedingt einen Gewinn, geschweige denn
ein Anzeichen für einen Rückgang von Heteronormativität darstellen muss.
Eine gegenteilige Annahme übersieht nicht nur das komplexe Verhältnis verschiedener Formen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bzw. von Sichtbarkeit und politischer Macht, sondern auch die Koppelung von Sichtbarkeit an normative Konventionen der Lesbarkeit.
Zudem gilt es, neoliberale Integrationsangebote an Einzelne, die u.a. spezifische
Sichtbarkeiten von Schwulen und Lesben befördern, mit Argwohn zu betrachten,
dienen sie doch nicht selten dazu, Heteronormativität eher zu bestätigen denn herauszufordern.
Fragen danach, wer derzeit wo, auf welche Art und mit welchen Funktionen öffentliche Sichtbarkeit erlangen kann, stellen meines Erachtens unabdingbare Voraussetzungen für emanzipatorische Politiken der Sichtbarkeit dar. Gängige Darstellungs24 Die Vereindeutigung geschlechtlicher Uneindeutigkeit vollzieht sich laut Judith Halberstam zumeist über eine Unsichtbarmachung von transgender zugunsten von transsexuellen Körpern (vgl. Halberstam 2005, S. 97). Zur diskursiven
Verhandlungen über die Unterscheidung von transgender und transsexuellen Körpern siehe auch polymorph (2002).
Selbstverständlich sind innerhalb diverser Gegenöffentlichkeiten andere Lesarten und Darstellungsformen möglich. Die­
se fließen aber meiner Meinung nach nur in äußerst begrenztem Ausmaß in hegemoniale Kontexte ein. Vgl. dazu etwa
Halberstam (2005) über die massenmediale Vereinnahmung der Drag King Kultur.
144
Literaturverzeichnis
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147
Die AutorInnen und HerausgeberInnen
Rainer Bartel, geb. 1957 in Linz, Studium (Volkswirtschaftslehre), Promotion (Sozial- und Wirtschaftswissenschaften), Habilitation und Außerordentliche Professur
(Volkswirtschaftslehre) an der Johannes Kepler Universität Linz. 72 Publikationen
vor allem im Bereich Grundlagen der Wirtschaftspolitik, aber auch in Bereichen
wie Methoden oder Gender und Homosexualität (www.econ.jku.at/bartel). Ehrenamtlicher Funktionär der Homosexuellen Initiative Linz (www.hosilinz.at). Derzeit
mehrjährige Praxisexkursion beim Amt der Oberösterreichischen Landesregierung
als Referent für wissenschaftliche Grundlagenarbeit im Büro von Landesrat Dr. Hermann Kepplinger.
Kontakt: www.econ.jku.at/bartel
Antke Engel ist Philosophin, feministische Queer-Theoretikerin und Leiterin des
„Instituts für Queer Theory“ (Hamburg/Berlin: www.queer-institut.de). Zwischen
2003 und 2005 hat sie an der Universität Hamburg die Professur für Queer Studies
vertreten. Ihre Promotion zu Repräsentationskritik, kulturellen Politiken und der
„Strategie der VerUneindeutigung“ (Universität Potsdam) ist unter dem Titel „Wider
die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation“ (Frankfurt/M.: Campus 2002) veröffentlicht.
Kontakt: [email protected]
Ilona Horwath, geb. 1977, Studium der Soziologie an der Johannes Kepler Universität Linz und der Universitat Autònoma de Barcelona (Spanien), zunächst wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verein MAIZ (Linz), seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Frauen- und Geschlechterforschung der Johannes ­Kepler
Universität Linz. 2004–2007 Koordination des Projektes „TEquality – Technik.
Gender.Equality“, 2005 Auszeichnung mit dem Johanna-Dohnal-Teilstipen­dium.
Mitarbeit an diversen Projekten zu Frauenförderung in technischen Bereichen,
Technik und Geschlecht sowie Vortrags-, Beratungs- und Lehrtätigkeit.
Kontakt: [email protected]
148
149
Waltraud Kannonier-Finster, Dr., Mag., Buchhändlerin, Studium der Soziologie
an der Universität Linz, arbeitet als Assistenzprofessorin am Institut für Soziologie
der Universität Innsbruck.
Arbeitsschwerpunkte: Biographieforschung, subkulturelle Phänomene, qualitative
Forschungsmethoden.
Kontakt: [email protected]
Christine M. Klapeer, geb. 1979, Studium der Politikwissenschaften mit den
Schwerpunkten Gender Studies und Politische Theorien an der Universität Inns­
bruck; dort bis 2006 Mitarbeiterin des Forschungsprojektes „Bertha von Suttner
Revisited“; forscht aktuell mit einem Dissertationsstipendium zu lesbischer Staatsbürgerinnenschaft aus einer demokratie-, staats- und anerkennungstheoretischen
Perspektive; lehrt und visioniert im Bereich feministische/lesbische/queere Theorien, sexuelle Politiken/sexual citizenship, Geschichte/Politik der FrauenLesbenbewegungen; als Aktivistin/Kulturarbeiterin in feministisch-lesbisch-queeren Politikund Bewegungskontexten verortet; wohnt und engagiert sich derzeit in der Rosa Lila
Villa in Wien.
Kontakt: [email protected]
Phil C. Langer, Dr. phil., M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department
Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und Referent der HIVPrävention der Berliner Aids-Hilfe e.V.; assoziiertes Mitglied des Zentrums für
transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin; Forschungsschwerpunkte in und Veröffentlichungen zu Gesundheit, Gender, Nationalsozialismus und Holocaust.
Kontakt: [email protected]
Maria Mesner, Univ. Doz. Dr., leitet die Stiftung Bruno Kreisky Archiv und lehrt
am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Im Wintersemester 2006/07
Vertretungsprofessorin und Institutsvorständin des Institut- für Frauen- und Geschlechterforschung der Johannes Kepler Universität Linz.
Forschungsschwerpunkte: historische Komparatistik, Geschlechtergeschichte des
Politischen, politische Kulturen in Österreich und den USA, Geschichte der Reproduktion in der Moderne.
Kontakt: [email protected]
150
Sushila Mesquita, Mag.a, ist DOC-team-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation mit
dem Arbeitstitel „Das Private ist politisch! Ist das Politische privat? Sexuelle Politiken
an der Schnittstelle von Öffentlichkeit und Privatheit“. Zudem ist sie verstrickt in
diverse queer/feministische und anti-rassistische Zusammenhänge und Projekte.
Kontakt: [email protected]
Alice Pechriggl, geb. 1964 in Wien, studierte Philosophie, Politikwissenschaft und
griechische Altertumsgeschichte an den Universitäten Wien und Florenz sowie als
Postdoc an der EHESS in Paris. Sie habilitierte sich 1999 für das Gesamtfach Philosophie und war Mitbegründerin des Gender Kolleg für Graduierte an der Universität
Wien sowie Gastprofessorin in Paris I Sorbonne und Paris VIII St. Denis. 2000 begann sie ihre „didaktischen Analysen“ (Einzel- und Gruppenanalyse) und seit 2006
ist sie „Gruppenpsychoanalytikerin in Ausbildung unter Supervision“. Sie lehrt seit
2003 als Universitätsprofessorin für Philosophie an der Universität Klagenfurt.
Kontakt: www.uni-klu.ac.at/philo
Erik Pfefferkorn, geb. 1972, studierte Betriebswirtschaft und Sozialwirtschaft an
der Johannes Kepler Universität Linz. Seit 1997 als Szenenbeauftragter der Aidshilfe Oberösterreich sowie seit 2003 im sexualpädagogischen Projekt „Lovetour“ als
Sexualpädagoge beschäftigt; in diesen Zusammenhängen Vortrags- und Weiterbildungstätigkeit.
Kontakt: [email protected]
Christoph Treiblmayr, MMMag. phil., ist Doktorand am Institut für Geschichte
der Universität Wien. Er studierte Geschichte, Germanistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft, Theaterwissenschaft, Philosophie und Pädagogik an den
Universitäten Wien und Salzburg sowie an der Technischen Universität Berlin und
der University of London. 2002/04 war er DOC-Stipendiat (Doktorandenprogramm
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften), 2005/06 IFK Junior Fellow (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien). 2006/07 ist er IFK
Fellow am German Department der University of California at Berkeley. Publikatio­
nen im Bereich der NS-Geschichte und Frauen- und Geschlechterforschung.
Kontakt: [email protected]
151
Meinrad Ziegler, a.Univ.-Prof. Dr., arbeitet am Institut für Soziologie der Johannes
Kepler Universität Linz, Abt. für Soziologische Theorie und Sozialanalysen.
Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Biographieforschung, Generationenbeziehungen, qualitative Forschungsmethoden.
Kontakt: [email protected]
QUEERåLEBEN
PRIDEåLESEN
åJETZTåONLINEåBESTELLENå
WWWPRIDEAT
PRIDE
$AS¬LESBISCHSCHWULE¬¾STERREICHMAGAZIN
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Frauen-Infotage 2008
Ob Fragen zu Job, Berufsausbildung, Frauengesundheit, Gewalt
gegen Frauen – bei den oberösterreichischen Frauen-Infotagen
2008 gibt es für Mädchen und Frauen interessante Vorträge
und Workshops zu diesen Themen, aber auch die Möglichkeit
zu Einzelberatungen durch Experten oder einem persönlichen
Gespräch mit Frauen-Landesrätin Dr.in Silvia Stöger.
Abhängigkeiten und einseitige Macht ­ enden allzu oft in Ge­
walttätigkeiten ge­gen­über Frauen. „Ich möchte Frauen die
Chance geben, sich über ihre Möglichkeiten zu informieren, um
ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen zu können. Denn
selbstbewusste und gut informierte Frauen haben es im Beruf
und auch privat leichter“, so Landesrätin Stöger.
Infos zu den Terminen und Programmen:
www.buerofuerfrauenfragen.at
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transblick
Sozialwissenschaftliche Reihe
Als Band 1 der sozialwissenschaftlichen Reihe „transblick“ ist erschienen:
M. Aberer/P. Korom/E. Postl/
D. Reischl/M. Revers/B. Schantl
Wo bleibt heute
die Zeitung?
Arbeits- und Lebensbedingungen
von ZeitungsausträgerInnen
Mit einem Vorwort von
Christian Fleck
Eine Sozialreportage über diejenigen, die meist unbemerkt durch die
Nacht eilen, um dafür zu sorgen, dass
Sie zum Frühstück Ihre Zeitung lesen
können. Geschrieben von einem Autor­
Innen-Kollektiv von sechs Grazer Soziolog­Innen, beleuchtet dieses Buch Arbeitsund Lebens­bedingungen von ZeitungszustellerInnen, die bereits für juristische Kontroversen gesorgt haben. Auch werden Folgen und Zukunftstendenzen diskutiert im
Zusammenhang mit der fortschreitenden Wirtschaftsliberalisierung und der damit
verbundenen Post-Privatisierung, die das österreichische Verteilerwesen zu Beginn
des 21. Jahrhunderts entscheidend verändert haben.
„Insgesamt eine spannende Lektüre, vielleicht für jene Morgen, an denen die Zeitung
nicht vor der Türe liegt.“ asyl aktuell
156 Seiten, EUR 14,90/SFR 26,80, ISBN: 978-3-7065-4221-0
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156
transblick
Sozialwissenschaftliche Reihe
Als Band 2 der sozialwissenschaftlichen Reihe „transblick“ ist erschienen:
Katharina Kaudelka
Übersetzungen
Lebenskonstruktionen in der zweiten
Genera­tion chilenischer Flüchtlinge
Im September 1973 zerschlug in Chile eine Militärjunta unter der Führung von Augusto Pinochet die demokratisch gewählte Regierung der
Unidad Popular mit Salvador Allende als Präsidenten. Viele Chilen­Innen sind damals auf der
Flucht vor der brutalen Repression nach Österreich ins Exil gekommen.
Das Buch thematisiert, wie sich die Kinder dieser Flüchtlinge, die in Österreich aufgewachsen sind und heute noch hier leben, mit diesem dunklen Kapitel Chiles, mit
der von den Eltern erfahrenen Gewalt und deren Vertreibung auseinandersetzen.
Auf der Grundlage ausführlicher biografischer Interviews beschreibt die Autorin
Herausforderungen und Probleme, die für drei junge Erwachsene damit verbunden
sind, wenn sie sich um die Übersetzung der Erfahrungen der Eltern und ihrer Bedeutung in den eigenen Lebenszusammenhang bemühen.
Zwei Dinge werden an den beschriebenen Prozessen des sozialen Erbens deutlich:
Einerseits die nachhaltigen Wirkungen von politischer Gewalt, die hier am Beispiel
der jüngeren Geschichte Chiles besprochen werden und andererseits grundlegende
Probleme, vor denen Angehörige der Zweiten Generation von MigrantInnen stehen.
Ihre soziale und kulturelle Verortung kann nicht durch die Aneignung einer einfachen und einheitlichen Geschichte gelingen.
176 Seiten, EUR 19,90/SFR 34,90, ISBN: 978-3-7065-4361-3
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