Letzte Seite Orphan Diseases Das MNGIE-Syndrom Das MNGIE-Syndrom ist eine seltene Erkrankungen, dessen Krankheitsbild ̶ neben neuromuskulären ̶ vorwiegend mit gastrointestinalen Symptomen einhergeht. Die Myoneurogastrointestinale Enzephalopathie oder Mitochondriale Neurogastrointestinale Enzephalopathie, kurz MNGIE, ist eine sehr seltene, multisystemische, autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die sich typischerweise vor dem 20. Lebensjahr manifestiert. Charakteristisch ist die Symptomkonstellation aus progressiver externer Ophtalmoplegie, gastrointestinaler Motilitätsstörung, Kachexie, peripherer Neuropathie und Leukenzephalopathie. Zugrunde liegen der Erkrankung multiple Deletionen und Depletionen mitochondrialer DNA im Skelettmuskel. Erstmals beschrieben wurde das MNGIE-Syndrom im Jahr 1976 durch eine japanische Forschergruppe um K. Okamura, die über den Fall eines kachektischen 22-jährigen Patienten berichteten, der verschiedene Symptome einer okuloskelettalen Muskelschwäche, Episoden von Myalgien, prolongierte Diarrhöen, eine ausgeprägte Myopie, Taubheit, Veränderungen in EKG und EEG sowie endokrinologische Störungen zeigte. Die Symptome hatten sich bei diesem Patienten bereits im Alter von 3 Monaten manifestiert, darüber hinaus schien eine positive Familienanamnese sehr wahrscheinlich. Okamura und Kollegen fanden lichtmikroskopisch, histochemisch und elektronenmikroskopisch abnorme Mitochondrien in den Zellen von Skelettmuskulatur und Leber und beschrieben das Krankheitsbild als „kongenitale okuloskelettale Myopathie mit abnormen Muskelund Leber-Mitochondrien“ (J Neurol Sci 1967; 27: 79–91). Bekannter Enzymdefekt ▼▼ Heutzutage weiß man, dass diese Veränderungen durch Mutationen im TYMPGen (früher ECGF1-Gen) verursacht sind, das für ein Enzym namens ThymidinPhosphorylase kodiert. Dieses Enzym spaltet Thymidin, eine Basiskomponente TumorDiagn u Ther 2013; 34 der DNA, in kleinere Moleküle, was dabei hilft, den Nukleosidgehalt der Zellen zu regulieren. Durch Mutationen im TYMPGen sinkt die Aktivität der ThymidinPhosphorylase oder sistiert komplett, was im Körper zu hohen Thymidinspiegeln führt. Man nimmt an, dass dadurch die mitochondriale DNA geschädigt wird (Mitochondrien besitzen einen geringen Anteil eigener DNA). Auch Mitochondrien benutzen zum Aufbau ihrer DNA Nukleoside einschließlich Thymidin. Ein Aktivitätsverlust der Thymidin-Phosphorylase und die damit verbundene Kumulation von Thymidin und Desoxyuridin führen letztlich zu einer Störung der Reparaturmechanismen mitochondrialer DNA. Dies kann wiederum Mutationen verursachen, die eine Instabilität bedingen; außerdem kann der Gehalt der Mitochondrien an mitochondrialer DNA sinken. Dies alles führt schließlich zu einer gestörten Mitochondrienfunktion. Letztlich ist es aber nach wie vor unklar, wie die defekten Mitochondrien die spezifischen Symptome des MNGIE-Syndroms verursachen. Die Erkrankung ist insgesamt sehr selten, bis heute sind weniger als 100 Fälle weltweit beschrieben. Auch wenn die Symptome typischerweise vor dem 20. Lebensjahr auftreten, kann sich das MNGIE-Syndrom deutlich früher oder später manifestieren. C. Garone et al. identifizierten in einer retrospektiven Analyse 92 Pa­ tienten mit TYMP-Mutationen, bei denen sich die ersten Symptome im Alter zwischen 5 Monaten und 35 Jahren gezeigt hatten (Brain 2011; 134: 3326–3332). Weitaus am häufigsten leiden die Patienten unter gastrointestinalen Beschwerden, darunter Diarrhöen, Übelkeit, Erbrechen, abdominelle Schmerzen und Krämpfe, Gewichtsverlust sowie intestinale Pseudoobstruktionen und Invaginationen. Weitere häufige Symptome sind neben der bereits genannten externen Ophthalmoplegie eine Ptosis oder ein Visusverlust. Auch wenn gastrointestinale und ophthalmologische Symptome in den Anfangsstadien der Erkrankung typisch sind, kann sich das MNGIE-Syndrom auch mit peripheren Neuropathien oder einem Hörverlust als initialen Sym- ptomen manifestieren. In der Regel nimmt die Stärke der Beschwerden mit der Dauer der Erkrankung zu. Heilung durch Stammzell­ transplantation? ▼▼ Das MNGIE-Syndrom hat eine ungünstige Prognose: zwischen einem Alter von 20 und 40 Jahren besteht eine hohe Mortalität, im Mittel sterben die Patienten mit 35 Jahren. Garone und Kollegen sahen in ihrer Analyse Todesfälle zwischen 15 und 54 Jahren. Relativ häufige Todesursachen sind dabei Aspirationspneumonien oder Peritonitiden aufgrund intestinaler Rupturen. Die Diagnosekriterien des Syndroms wurden 1994 von Hirano und Kollegen definiert (Neurology 1994; 44: 721–727), biochemische und molekulargenetische Tests sind seit 1999 verfügbar, wobei hierbei neben der Genmutation die erniedrigte Aktivität der Thymidin-Phosphorylase (gemessen in Leukozyten) und erhöhte Spiegel von Thymidin und Desoxyuridin in Plasma und Urin wegweisend sind. Auch Muskelbiopsien sind eine Möglichkeit, wobei einschränkend gilt, dass normale Mitochondrien ein MNGIESyndrom nicht ausschließen. Therapeutisch lässt sich die Erkrankung nur schlecht beeinflussen. Versuche, die hohen Thymidin- und Desoxyuridinspiegel mittels Dialyse zu senken, sind meist nur vorrübergehend erfolgreich, da die Substanzen in den Behandlungsintervallen wieder kumulieren. Eine potenziell erfolgreiche Therapieoption könnte die dauerhafte Enzymsubstitution mittels allogener Stammzelltransplantation sein, erste Ergebnisse lassen zumindest diesbezüglich hoffen. Allerdings kommen nur die wenigsten Patienten für diese Möglichkeit in Frage, da die Erkrankung zum Zeitpunkt der Diagnose meist schon weit fortgeschritten und der Zustand der Pa­ tienten entsprechend schlecht ist. Daher kommt der möglichst frühen Diagnosestellung eine entscheidende Bedeutung zu. Dr. med. Johannes Weiß, Bad Kissingen Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 298