Klangvolle Monochromien – Virtuose Arabesken Von Dominique von Burg Von Weitem leuchten die monochromen Bilder von Karina Wisniewska in intensiven, lebhaften Farben: in tiefem Ultramarinblau, strahlendem Gelb, flammendem Orange und in eindringlichem Echtrot. Ob sie klein- oder grossformatig, in Serien oder als Einzelwerk auftreten: Sie schaffen Raum, nehmen Raum ein, erzeugen Tiefe und kommunizieren mit der sie umgebenden Architektur. Gleichzeitig kommen die Bilder zum Klingen. Im Gegensatz zu diesen atmosphärisch dichten Farbräumen macht sich im Umfeld der weissen monochromen Bilder eine ungeheure Stille breit, was sich auch in der Titelgebung niederschlägt: «Into Silence», 2009, «Silent Structures I–X», 2006. Durchwirkt sind die Werke mit Reliefs aus orthogonalen und diagonalen Gitterstrukturen, Wabenformen, vertikal oder horizontal dahinschlenkernden oder kreisförmig sich kreuzenden Linien. Sie schwellen an, verschmälern sich wieder und verschmelzen miteinander zu Knotenpunkten. Wohl koordiniert, sind sie zu reflektierten Kompositionen systematisiert und breiten sich als All Over aus. Sie gehorchen Regeln, die einem minimalistischen Konzept unterliegen. Als Ausdruck eines disziplinierten, gleichförmigen Lebens sprechen sie auch von geistigen, meditativen Zuständen. Die eng- und weitmaschigen, quadratförmigen Muster, meist mit abgerundeten Ecken, erinnern an Flugbilder von Städten oder an die strukturiertere Natur von Kulturland. Auch wenn sich die Künstlerin bemüht, ihre Bilder auf die nur wesentlichsten geometrischen Elemente zu reduzieren, kippen die Gitterstrukturen mitunter ins Ornamentale. Dann nehmen wir zart schwingende Gewebe wahr, die auch an locker gewobene Stoffe erinnern. Der Eindruck von textiler Beschaffenheit kommt nicht von ungefähr auf, denn Karina Wisniewskas peinlich genaues Arbeitsprocedere führt dazu, dass auch der Tastsinn angesprochen ist. Die Künstlerin verwendet eine kleine Flasche mit einer Mixtur aus Acrylfarbe und Lack. An der Flasche ist ein Pinsel befestigt, über welchen sie in ganz langsamen, konzentrierten Bewegungen die Farbe auf den Bildträger fliessen lässt. Anschliessend füllt sie die Farbe mit reinem oder eingefärbtem Quarzsand auf. Dabei darf der Farbfluss nicht aufhören, denn die Zeit, um die bindende Flüssigkeit mit Quarzsand zu füllen, ist kurz bemessen und verlangt somit äusserste Präzision. Obwohl in diesen Bildern ein monochromer Farbton dominiert, sind sie aus etlichen Schichten verschiedener Farben und Quarzsandstrukturen aufgebaut. In einer Reihe von schwarz-weissen Bildern scheinen feine, ornamentartige Spinnengewebe oder kristalline Strukturen die Bildoberfläche zu überziehen. Man fühlt sich auch an verschneite Berge und Täler aus der Vogelperspektive erinnert. Aus dem Bildgrund schimmert organisches Leben, das da und dort zu Blumenmotiven gebildet ist. Doch geht es weniger um die Wiedergabe von Naturerscheinungen als vielmehr um das Ausloten des Verborgenen der Natur, ihre Kräfte, ihre Energie und ihre Rhythmen. Im Erfassen von sich widerstreitenden Kräften, von Harmonie und Ordnung erfährt die Formenvielfalt der Natur einen Abstraktionsprozess. Diese Bilder visualisieren vielleicht das, was Karina Wisniewska mit den in uns wesenden «Urbildern der Landschaft oder Urbildern der Natur»1 meint. 1 Karina Wisniewska, Von der Vollkommenheit, die dem Leben zu Grunde liegt, 2006. 1 Zufall und Absicht Sobald die Linien aus der disziplinierten, einer scheinbar vorgegebenen Ordnung ausbrechen, wandeln sie sich zu dünnen, grazilen Schlenkern, tänzerischen Schwüngen, verschlingen sich ineinander oder formen sich zu eigentlichen Kalligrafien. Bald sind sie gerade oder gebogen, bald schlingern sie dahin, bald nehmen sie in dynamischen Schwüngen viel Bildraum ein, verkeilen sich und scheren aus dem Bildgeviert aus und laufen weiter und weiter. Andere scheinen frei und luftig dahinzufliessen wie eine Melodie. Die Striche und Punkte sind teilweise rhythmisch gesetzt und verbinden als Zwischentöne Vorder- und Hintergrund. Die Gefühle brechen sich Bahn, drängen nach Ausdruck, blühen auf und vergehen wieder. Anstatt Gefühle durch Noten auszudrücken, geschieht dies nun in einem freien Malduktus und einem zuweilen impulsiven Schreibakt. Neben der Assoziation mit musikalischen grafischen Notationen ist man an geheimnisvolle, japanisch anmutende Worte erinnert. Auf japanische Traditionen verweist etwa der Titel des Triptychons «Lotus under the moonlight – Homage to Toshio Hosokawa», 2006. Mit Toshio Hosokawa (*1955 in Hiroshima) unternimmt Wisniewska klangliche Entdeckungsreisen in die klassische Musik Japans. Mit Tönen, die sich aus dem Schweigen, oft aus der Natur entwickeln, gewinnt Hosokawa zeitgemässe und doch «in die Tiefe der Zeit»2 weisende Gestalt. Während in der europäischen Musik ein Ton nur ein Teil eines Ganzen ist, stellt in der japanischen Musik eine Note eine Landschaft dar, insofern als auf einen Klang immer eine Pause folgt, dann wieder ein Klang und eine Pause. Im Gegensatz zu den ansonsten sich spontan überschneidenden, dynamischen Linien suggeriert dieses Triptychon mit parallel geführten weissen Linien auf schwarzem Grund die Stille der Nacht. Abgesehen von den Schlenkern im Mittelteil sind die weissen Linien nur wenig bewegt, und sie evozieren die Leuchtkraft des Mondes auf einem stillen Weiher oder See. Allerdings spricht der reduzierte Zeichnungsstil viel eher die Erinnerung oder einen Traum an; auch den Nachklang von Hosokawas kargen Tonfolgen. Von Traumsequenzen in einem japanisierenden ästhetischen Zeichnungsstil spricht auch das Triptychon «I hear the water dreaming I–III – Homage to Toru Takemitsu», 2005.3 Horizontal gesetzte schwarze Linien entfalten sich über die drei weiss grundierten Leinwände. Die Striche sind bald dünn, bald an- und abschwellend, bald breit, bald zart gestrichelt und ausfransend. Sie evozieren einen trägen, langsam dahin fliessenden Fluss. Die reduzierte Strichführung weist auch auf ein Traum-Diagramm hin. Damit antwortet Wisniewska auf die unkonventionelle Kompositionsweise von Toru Takemitsu (1930–1996, Tokio), die, losgelöst von jeglicher Tradition, sich durch eine enorme klangliche Sensibilität auszeichnet. Wie Wisniewska interessierte sich Takemitsu nicht nur für Musik, sondern auch für moderne Malerei. Daher gründete er 1951 zusammen mit anderen Künstlern die Gruppe Experimentelle Werkstatt, die bald für ihre avantgardistischen und multimedialen Aufführungen von sich reden machte. Ein ähnliches Triptychon, nur mit vertikal verlaufenden Linien, ist dem von Wisniewska verehrten John Cage gewidmet. Im Titel «Drip Music I–III» klingt seine spezielle, kontrastierende Weise an, die Töne aus der Stille treten zu lassen, mitunter sogar mit Instrumenten des Fernen Ostens. 2 Zitat von Toshio Hosokawa im Beiheft der CD der Münchener Uraufführung am 4. Mai. 2001: Voiceless Voice in Hiroshima, 2002, col legno, Salzburg (NR. 7 der CD-Serie der Musica Viva des Bayerischen Rundfunks München). 3 Toru Takemitsu, «I Hear the Water Dreaming» for flute and orchestra, 1987. 2 Lebendige Symbiose Eine Reihe von Bildtiteln beziehen sich immer wieder auf musikalische Werke von Komponisten. Die Musik ist in Karina Wisniewskas Schaffen omnipräsent und bildet den Fundus ihres bildnerischen Schaffens. Wenn sie um die Strahlkraft der Farbe und ihre immaterielle Qualität ringt, verleiht sie den ansonsten flugs verklingenden Tonfolgen Dauer. Im bildnerischen Medium können die Töne in Form von Linien weiterleben. So suggerieren die rhythmisch an- und abschwellenden Linien und Streifen der monochromen wie auch der kalligrafischen Bilder musikalische Rhythmen, die sich zu Klangbildern verdichten. Sie scheinen im Unendlichen einzusetzen und zu verklingen. Während die monochromen, minimalistischen Bilder Etüden von Johann Sebastian Bach oder Musikstücke (die sogenannten «Nummernstücke») von John Cage evozieren, denkt man bei den kalligrafischen Bildern eher an experimentelle Musik oder an die oben erwähnten japanischen Komponisten. Diese enge Verwobenheit zwischen Kunst und Musik hat biografische Gründe. Ein Unfall im Jahr 2000 zwang Karina Wisniewska zur Aufgabe ihrer Karriere als Konzertpianistin und Kammermusikerin. Ihre Karriere war von Erfolg gekrönt. Drei Jahre zuvor ist sie zur «Schweizer Musikerin des Jahres» gewählt worden und hat in Venedig als Mitglied des «Trio Berlin» (zusammen mit zwei Berliner Philharmonikern) den Europäischen Kulturpreis in der Sparte Kammermusik erhalten. 1966 in Venedig als Tochter polnisch-schweizerischer Eltern geboren, studiert sie Klavier, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Bern und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst «Mozarteum» in Salzburg. Seit 1992 gibt Karina Wisniewska als Solistin und Kammermusikerin Konzerte in der ganzen Welt und hat neben zahlreichen Rundfunkaufnahmen und Fernsehauftritten zehn CDs aufgenommen. Der Unfall oder vielmehr ein Missgeschick – ein tiefer Schnitt in die Kuppe des Mittelfingers – bedeutete auch einen Schnitt in der Biografie, einen Bruch in Wisniewskas Lebenskontinuum. Zweifellos war es eine glückliche Fügung, dass sie neben ihrer musikalischen Karriere seit frühester Jugend stets gemalt und gezeichnet hatte, und zwar nicht hobbymässig, sondern im Sinne einer eigentlichen Passion. Denn seit ihrer Rückkehr in die Schweiz im Jahr 2000 hat sie sich weitergebildet, unter anderem an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Wenn sie allerdings ihre Musikerkarriere unbedingt hätte weiterführen wollen, wäre dies gut machbar gewesen. Doch mag sie dem Drang nach bildnerischem Ausdruck nachgegeben haben, um der Interpretation von vorgegebenen Musikstücken etwas ganz und gar Eigenes und der Flüchtigkeit der intonierten Sonaten und Partituren etwas Dauerhafteres entgegenzusetzen. Ganz abgesehen davon war sie als ständig umherreisende Konzertpianistin viel alleine, vielleicht zu viel: ganz auf sich gestellt, beim steten Üben, auf der Bühne, beim Reisen und in Hotelzimmern. Dagegen versprach die Arbeit als bildende Künstlerin eine Auseinandersetzung mit Künstlerkollegen, Galeristen und Kuratoren; kurz und gut ein Vernetztsein, Eingebettetsein in der internationalen Künstler-Community. Mit ihren bildnerischen Werken hatte die Künstlerin sogleich Erfolg. Im Jahr 2001 wird sie von einer Jury zur Teilnahme an der Internationalen Gruppenausstellung «Peinture et Musique» im Musée Abbatiale de Payerne/VD nebst Malern wie Kandinsky, Mirò, Hartung, Winter, Tobey, Schwitters und Poliakoff ausgewählt. Darauf folgen Ausstellungen in Galerien in der Schweiz, in Österreich, Deutschland, Liechtenstein, Hongkong, New York, Philadelphia und Miami. 2004 tritt sie an der internationalen Kunstmesse art frankfurt/D auf und in den folgenden Jahren regelmässig an den grossen internationalen Kunstmessen (Art Basel Miami Beach, Art Cologne, Arco Madrid, Artefiera Bologna, Art Dubai, KIAF Seoul u.a.). Durch Ankauf sind ihre Werke im Musée Abbatiale de Payerne/VD sowie in namhaften 3 Kunstsammlungen in der Schweiz, in Österreich, Liechtenstein, Frankreich, Singapur, Japan und den USA permanent vertreten. In der Spannung von gegenüberliegenden Polen Die Verbindung zur Musikwelt ist keineswegs abgebrochen; im Gegenteil: forscht Karina Wisniewska doch nach dem individuellen Klingen in ihrer Malerei; taucht in Erinnerungen ab, lässt sich von den dadurch hervorgerufenen Gefühlen leiten und gibt den Lebensenergien Ausdruck. Auch kann sie hier ihr Interesse an der Philosophie der Musik einbringen. Somit ist die Malerei eine folgerichtige Fortsetzung ihres künstlerischen Schaffens mit anderen Ausdrucksmitteln, mit Pinsel oder Spachtel in der Hand, mal ein Konzept verfolgend, mal sich von Eingebungen oder Emotionen leiten lassend. Die Künstlerin überlässt sich auch dem Zufall und lässt Absichten frei verschmelzen. Dass ihre offene Haltung gleichzeitig eine Struktur erfordert, verrät sie selber, indem sie festhält, dass sie ständig auf eine bewusst angelegte Art interveniert, indem sie das Handgelenk flexibel hält und den Druck und die Geschwindigkeit variiert. Anstatt dass die Künstlerin Sonaten möglichst genau im Sinne der Komponisten interpretiert, erfasst sie nunmehr das Charakteristische ihrer Lieblingskomponisten, besonders von Johann Sebastian Bach (1685–1750) and John Cage (1912–1992) und übersetzt es in abstrakte Bilder. Bach und Cage, beide Meister des Kontrapunkts, machen den Humus von Wisniewskas Bildgestaltungen zu einem guten Teil aus, und zwar als Produkt von zwei gegenüberliegenden Polen: dem Zufälligen und dem Absichtlichen; der Linie und dem Raum, dem Positiven und der Verneinung. Zum Beispiel bilden die weissen monochromen Bilder ein Echo auf das berühmte Stück «4'33"» von John Cage, zu dem er von Robert Rauschenbergs «White Paintings» angeregt wurde. Dieses Stück besteht aus drei Sätzen mit der Anweisung «Tacet», das heisst, dass sie aus völliger Stille bestehen. Wisniewskas weisse Bilder, die, wie oben schon erwähnt, eine grosse Stille ausbreiten, erinnern an eine schneebedeckte Landschaft oder an ein weisses, alles überdeckendes, gewobenes Tuch. Es ist nicht verwunderlich, dass einige weisse chromatische Bilder den Werken des amerikanischen Komponisten Morton Feldman (1926–1987), einem weiteren geistigen Gefährten von John Cage, gewidmet sind. Denn Feldmans Werken, die sich im ruhig fliessenden Tempo bewegen, haftet eine tiefe Ruhe an. Mit offenen, quasi funktionsfreien Klängen wollte er dem Hörer Zeit geben, diese Klänge in einer Weise kontemplativ aufzunehmen, wie man ein Bild betrachten mag. Seine Affinität zu bildlicher Darstellung – auch als Inspiration zu seinen Kompositionen – hat Feldman oft betont.4 Neben der Musik als tonangebender Inspirationsquelle drängen noch andere Bezüge ins Bildgeschehen. Sie sind vielfältiger Natur und speisen sich aus der Musik-Philosophie und der japanischen Poesie, insbesondere dem Haiku. Ein Haiku ist eine japanische Versform, die meist aus drei Zeilen mit je 5, 7, 5 Silben aufgebaut ist und grösstenteils aus einfachen Worten besteht. Es beinhaltet Erfahrungen, die den meisten Lesern vertraut sind. Die Serien «Haiku», 2005 und 2009, «Sho», 2005, «Sen I–IX», 2008, und «Drawing No.1–6», 2009, vermitteln ein bildnerisches Äquivalent für den tieferen Sinn, welcher hinter den knappen, vordergründigen Worten liegt. Die kräftigen Schwünge der schwarzen Linien wirbeln durch den weissen Bildraum; bald verlaufen sie kräftiger, bald zarter, bald stürzen sie in Spiralen in die Raumtiefe, bald schweben sie einem Adler gleich, in angehaltenem Flug, in der Luft. 4 Vgl. Feldman in Middelburg. Vorträge und Gespräche, Köln: Musik Texte 2008. 4 Dann wieder meint man Dissonanzen zu vernehmen, ein andermal das Echo eines zarten, bald ersterbenden Tons. Andernorts scheinen sich die Linien zu einem quecksilbrigen Energiebündel zu verdichten, das gleich implodieren könnte. Oft mögen Naturvorgänge erfasst sein, jedenfalls sind sie voller Energie, die sich auf den Betrachter überträgt. Eigentliche Vibrationen ruft «Vibes», 2006, hervor. Es ist ein in dunklem Indigoblau grundiertes Bild, das von vertikalen, sanft geschwungenen und parallelen, horizontalen Linien energetisiert ist. Es könnte einen Vorhang vorstellen, der von einem leichten Wind bewegt wird. Zugleich ist an dynamische Tonfolgen voller Verve zu denken. Vibrationen von einer ganz anderen, mehr spannungsvollen Qualität erzeugen die monochromatischen, tiefblauen, echtroten und orangefarbenen Werke «Vibes 4, 6» und «Vibes I, III», alle 2007, die mit engund weitmaschigen Gitterstrukturen und abgerundeten Ecken gestaltet sind. Man gewinnt den Eindruck, dass die Muster sich aus dem roten Hintergrund lösen und in den Raum dringen, indes die blau eingefärbten Quadrate in der Tiefe des blauen Grundes versinken. Die roten Bilder wirken in ihrer Dynamik ungeheuer belebend, und die blauen scheinen den Betrachter auf sich zurückzuwerfen. Karina Wisniewskas Œuvre im kunsthistorischen Kontext Die kalligrafischen Arbeiten verbinden Karina Wisniewska nicht nur mit der sino-japanischen Kalligrafie, sondern mit vielen Künstlern des zwanzigsten Jahrhunderts wie etwa Georges Braque und Pablo Picasso, die Dadaisten, René Magritte und die Surrealisten, die die Schrift vielfältig eingesetzt haben. Besonders drängt sich der Vergleich mit den berühmten «Logogrammen», den eigenwilligen Kalligrafien des belgischen Dichters und Künstlers Christian Dotremont (1922–1979) auf.5 Mit ihm hatte das grafische Zeichen eine gestische Note erhalten. 1962 hatte er begonnen, seine wunderbaren und leidenschaftlichen Gedichte als Bilder zu gestalten und die Typografie mit Pinsel und Tinte in rhythmischen und ausholenden Gesten auf das Papier zu setzen. Während bei Dotremont eigentliche Wortmalereien entstanden sind, wirken Wisniewskas Kalligrafien auf einer synästhetischen Ebene; indem sie Räume aus farbigen Tönen und klangvollen Farben sich auftun lässt. Karina Wisniewskas weisse monochromatische Werke sind in der Nähe der fragilen weissen Bilder von Robert Ryman (*1930) anzusiedeln. Seit Rymans künstlerischen Anfängen, Mitte der fünfziger Jahre, benutzt der Maler fast ausschliesslich weisses Farbmaterial. Im Gegensatz zu Wisniewska ging es Ryman nie um eine ausserbildliche Konnotation der Farbe. Vielmehr erlaubte ihm die Verwendung der Farbe Weiss, unmittelbar über Grundfragen des Gemäldes zu reflektieren. Mit bewundernswerter Konsequenz verfolgt Ryman6 die grenzenlos erscheinende Wirkungsvielfalt, die sich paradoxerweise nicht zuletzt in der selbst auferlegten Beschränkung entfaltet. Der Dialogfähigkeit, die Rymans Arbeiten im Zwiegespräch mit dem Licht, dem Raum und den Betrachtern treten lässt, hält Wisniewska ihre schweigenden Räume und Strukturen entgegen, auch wenn bei ihr das Licht als alles durchdringende Kraft die Farbräume vitalisiert. Darin zeigt sich das subtile Sensorium der Künstlerin für Stimmungen, Zwischenräume und -töne. 5 Vgl. Dotremont, J’écris pour voir, Musée Jenisch, Vevey, 10.9.2004–13.2.2005. Vgl. Robert Ryman, Auszug aus: Robert Ryman, Über Malerei, Rede in New York am 9. Januar 1991 im Rahmen der Guggenheim Museum’s Salon Series, Textbearbeitung von Christel Sauer; aus dem Amerikanischen von Michael Eldred und Christel Sauer, in: Christel Sauer, Urs Raussmüller, Robert Ryman, Renn/Espace d’Art Contemporain, Paris/Hallen für Neue Kunst, Schaffhausen 1991, S. 57–69. 6 5 Karina Wisniewskas monochrome, geometrische Bilder gemahnen an die charakteristischen Raster- oder Gitterbilder der amerikanischen Künstlerin Agnes Martin (1912–2004), insofern als sie sich durch sehr reduzierte Konfigurationen und eine dadurch bedingte meditative Sensualität auszeichnen. Die Art und Weise, wie Agnes Martin ihre abstrakten Gemälde beschrieben hat, trifft weitgehend auch für die monochromen Bilder von Karina Wisniewska zu: «Meine Formate sind quadratisch, doch die Gitter sind nie absolut quadratisch; sie sind Rechtecke, die etwas vom Quadrat abweichen und eine Art Widerspruch hervorbringen, eine Dissonanz, obwohl ich sie nicht von Anfang an beabsichtigte. Wenn ich die quadratische Fläche mit Rechtecken ausfülle, macht dies das Gewicht des Quadrats leichter und zerstört seine Macht.»7 Die von den Quadraten abweichenden Muster verleihen auch Wisniewskas Bildern eine unvergleichliche Leichtigkeit, umso mehr als sie sanft zu schwingen scheinen. In den Werken beider Künstlerinnen sind trotz eines reduzierten, strengen formalen Konzeptes ein Interesse am Sublimen und eine spirituelle Dimension spürbar. Zeitweise gar eine poetische Wirkung. Während Schönheit, Perfektion und Ausgewogenheit essentielle Anliegen von Agnes Martin waren, regiert bei Karina Wisniewska die enge Verbundenheit mit der Musik das Bildgeschehen. Damit steht sie in einer Tradition der vielfältigen Wechselbeziehungen von Malerei und Musik der Moderne zwischen Expressionismus, Abstraktion, Atonalität und Zwölftonmusik, welche auf die künstlerische Auseinandersetzung zwischen Wassily Kandinsky (1866–1944) und dem innovativen Komponisten Arnold Schönberg (1874–1951) zurückgeht. Es war eine für das Verhältnis von moderner Malerei und Musik exemplarische Zusammenarbeit, insofern als Kandinsky eine Art Grammatik entwickelte, die es ihm ermöglichte, in der Gegenstandslosigkeit zu arbeiten. Wie Karina Wisniewska war Kandinsky ein Synästhet und ordnete den Farben Klänge, Gerüche, Formen und Empfindungen zu. Beide Künstler waren und sind bestrebt, Bilder zu malen, wie man Musik komponiert. Dementsprechend suggerieren die Kompositionen da und dort Farbklänge und eine Farbharmonie, die mit der Harmonie von Klängen korrespondiert. Nahe stehen auch Paul Klees (1879–1940) mosaikartige Bilder, die auf einer Analogie von Musik und Malerei gründen. Dies besonders seit Klees Tunis-Reise, 1914, als er zu einem abstrahierenden Bildaufbau fand, in dem die Farbe dem linearen Gerüst gleichwertig wurde. Der strenge Rhythmus seiner Mosaike ergab sich als Folge seiner Untersuchungen der Gesetzmässigkeiten in der Musik, die er auf die Malerei übertrug. Dennoch behalten seine Werke etwas Traumhaftes und stehen damit im Gegensatz zu Karina Wisniewskas monochromen Werken, die vielmehr von geistiger Klarheit beherrscht sind. Ferner klingen die abstrakt geometrischen Werke der französischen Malerin Aurélie Nemours (1910–2005) an. Nemours’ Werke sind vorwiegend von einem bestimmten Rhythmus belebt und lassen viel Intuition erahnen. Mit ihnen korrespondieren Wisniewskas nicht hierarchische Kompositionen der monochromen Bilder, welche den Farbraum als Metapher zum Geistraum erschliessen. Beiden Künstlerinnen gemeinsam sind die stete Suche nach dem Absoluten und die ideale Annäherung an die universelle Harmonie. Während Nemours diese in der Form des Quadrates mustergültig repräsentiert fand, trachtet Wisniewska nach Farbharmonien. Doch Karina Wisniewska strebt nicht nur die Farbharmonie an, sondern auch das Berühren der menschlichen Seele. Dazu ordnet sie «Farbklänge» zu «Farbsinfonien» an, die – ähnlich wie die Töne und Klänge in der Musik – Harmonie- oder Dissonanzgefühle auslösen. Sie spricht gar von der destruktiven Kraft von Klängen: «Klang kann sowohl konstruktiv als 7 Vgl. Agnes Martin, Homage to the Square, Answer to an Inquiry/Antwort auf eine Umfrage, in: Agnes Martin, Writings/Schriften, hrsg. und aus dem Amerikanischen übersetzt von Dieter Schwarz, Kunstmuseum Winterthur, Winterthur 1992, S. 30, 45–54. 6 auch destruktiv sein, kann Formen erschaffen wie auch zerstören. Aus willkürlich verstreutem Sand auf einer Glasplatte können mit Hilfe eines Geigenbogens, der über den Scheibenrand gezogen wird, geometrische Muster gebildet werden – eine Tatsache, die als Beweis für die konstruktive Wirkung von Klangschwingungen dient. Umgekehrt kann der Klang der menschlichen Stimme ein Glas in tausend Stücke zerspringen lassen.»8 Im Zusammenhang von Karina Wisniewskas Suche nach der Symbiose zwischen Musik und Malerei und dem machtvollen Einfluss von Musik auf die Seele spricht sie von «einer tieferen Durchdringung des Selbst», zu der sie mittels der Monochromie ermutigt wird. Ist das Selbst mal kein Abstraktum mehr, sondern gelebte Einheit, dann kann die Seele in der Spiegelung des Individuellen mit dem Universellen erfahrbar gemacht werden. Über diese synästhetische Art der Transformation möchte ich abschliessend die Künstlerin selbst zu Worte kommen lassen: «Über meinen ganz dem eigenen Sinnen nachhorchenden Bildern liegt die Ahnung des tieferen Zusammenhangs der persönlichen Ausdruckswelt mit dem Universellen in und um uns, die Vertrautheit eines Wiedererkennens. Da ist noch immer die Liebe zur grossen Schöpfung, die Franz Marc als Ziel der Kunst definieren liess: ‹das ganze System unserer Teilempfindungen auszulösen, ein unirdisches Sein zu zeigen, das hinter allem wohnt›. Diese Gestimmtheit gibt den Bildern den Klang, den Glauben, dass es einen feinen Punkt gibt, wo das Drinnen und Draussen, das Nahe und Ferne, das Seelische und Dingliche zur Deckung kommen, und dass in der Erreichung dieses Punktes die Vereinigung mit der Dingwelt sich auf einer universaleren Ebene wieder vollziehen liesse.»9 8 Karina Wisniewska, Klang und Verwandlung oder Von der Notwendigkeit des Hörens. Dieser Essay zum Thema «Metamorphosen» erschien Juli 2000 beim Benteli Verlag, Bern, in Zusammenarbeit mit den Internationalen Musikfestwochen Luzern. 9 Karina Wisniewska, Von der Vollkommenheit, die dem Leben zu Grunde liegt. 2006. 7