Sexualstraftäter behandeln mit Psychotherapie und Medikamenten Bearbeitet von W. Berner, A. Hill, P. Briken 1. Auflage 2007. Taschenbuch. 14, 159 S. Paperback ISBN 978 3 7691 1235 1 Format (B x L): 16,5 x 23,8 cm Gewicht: 335 g Weitere Fachgebiete > Medizin > Sonstige Medizinische Fachgebiete > Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 69 Kapitel 7 7 SOTP im Maßregelvollzug – Erste Erfahrungen Markus G. Feil, Guntram Knecht 7.1 Überblick Das SOTP wurde für Sexualstraftäter im englischen Strafvollzug entwickelt und evaluiert (vgl. Kap. 5). Nach Ansicht der Autoren ist es zu modifizieren, wenn man es bei im Maßregelvollzug untergebrachten Patienten anwenden will, die Sexualdelikte im Zusammenhang mit psychischen Störungen begangen haben. Die psychischen Störungen wurden von juristischer Seite als so schwerwiegend gewürdigt, dass den Patienten eine zumindest verminderte Schuldfähigkeit zugestanden wurde. Auch wenn es eine Überschneidung der Populationen im Maßregelund sozialtherapeutischen Strafvollzug hinsichtlich ihrer psychopathologischen Merkmale gibt, muss zunächst eine sorgfältige Indikationsstellung klären, ob bei der vorliegenden Störung SOTP überhaupt zur Anwendung kommen kann. Bei psychotisch Erkrankten liegt während der Erkrankung meist und im Intervall zwischen Erkrankungsphasen oft zu wenig Frustrationstoleranz und Beziehungsfähigkeit vor, um die kognitiven und emotionalen Anforderungen des Programms im therapeutischen Sinne bewältigen zu können. Massiv antisozial oder sadistisch strukturierte Täter können das Programm dazu benutzen, um sich am Leiden anderer Gruppenmitglieder zu befriedigen. Damit das SOTP einen Ansatzpunkt in der Behandlung von Tätern, die neben der sexuellen Devianz meist schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen aufweisen, finden und bei ihnen wirksam werden kann, sind technische Veränderungen am ursprüngli- chen Programm notwendig, die im folgenden Artikel dargestellt werden. Erste Erfahrungen mit einer SOTP-Gruppe im Maßregelvollzug sind die Grundlage dieser Annahmen. Sie werden im folgenden Kapitel dargestellt. 7.2 Zu den Grundlagen der Behandlung im Maßregelvollzug Eine allgemeine Erfahrung der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie der letzten beiden Jahrzehnte, insbesondere vor dem Hintergrund der Evaluation der bisherigen Behandlungsansätze, kann dahingehend zusammengefasst werden, dass in anderen psychiatrischen oder psychotherapeutischen Einsatzbereichen angewandte und erfolgreiche Behandlungsansätze kaum gänzlich für die Behandlung forensischer Patienten übernommen werden können – sie müssen in der Regel modifiziert werden [vgl. Müller-Isberner 2004, Nedopil 2000]. Das kann auf die spezifischen Gegebenheiten des Maßregelvollzugs zurückgeführt werden. Zu nennen wären hier ganz allgemein zunächst Sicherheitsaspekte, aber auch der Störungsgrad und – mit diesem zusammenhängend – die meist gravierende Verhaltensauffälligkeit der Patienten nicht zuletzt in ihren Straftaten. Aber auch das Behandlungsziel unterscheidet sich in den jeweiligen Bereichen. „Während die Ziele klinisch-psychiatrischer Behandlungsmaßnahmen die Reduzierung psychopathologischer Symptome, die möglichst weitgehende Wiederherstellung psychischer Gesundheit und die Verminde- 69 Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 70 70 7 SOTP im Maßregelvollzug – Erste Erfahrungen rung eines subjektiven Leidenszustandes sind, liegt bei der forensisch-psychiatrischen Therapie das gesetzlich festgelegte Behandlungsziel in einer Minimierung des Risikos zukünftiger erheblicher rechtswidriger Handlungen“ [Nedopil 2000, S. 253]. Nedopil differenziert anhand von Ergebnissen der Prognoseforschung krankheitsabhängige und krankheitsunabhängige Determinanten für das zukünftige Risiko. Während beispielsweise bei schizophrenen Straftätern, bei denen keine dissoziale Persönlichkeitsproblematik „vor“ der schizophrenen Erkrankung vorgelegen habe, durch eine suffiziente psychiatrische und psychopharmakologische Behandlung auch das zukünftige Risiko von Straftaten erheblich reduziert werden könne, bestünden insbesondere bei persönlichkeitsgestörten Patienten die Persönlichkeitsstörung und eventuelle sexuelle Devianzen als voneinander unabhängige Risikodeterminanten nebeneinander. Aber auch ganz praktische Aspekte wie die in der Regel mehrjährige Aufenthaltsdauer von Patienten im Maßregelvollzug erforderten eine weitaus stärkere Adaption der Behandlung an das institutionelle Setting als bei allgemeinpsychiatrischen Behandlungsformen. Nedopil [2000] weist weiter darauf hin, dass die Diagnosenverteilung in Maßregelvollzugskliniken „ganz erheblich“ von der Diagnosenverteilung in psychiatrischen Kliniken abweiche. „Die Patienten leiden weitaus häufiger nicht nur an einer Krankheit, sondern weisen eine Vielzahl von Sozialisations- und Ausbildungsdefiziten auf, die den therapeutischen Umgang mit ihnen erschweren“ (S. 254). Zahlreiche behandlungsrelevante Syndrome und Defizite – insbesondere die Komorbidität, mit den Störungen einhergehende Einschränkungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie der Selbstkontrolle – erschwerten die Behandlung von Maßregelvollzugspatienten. Nedopil zufolge sei die Behandlung insbesondere dann wirksam, wenn sie „nicht nur auf Verhaltens-, sondern vor allem auf Einstellungsänderungen (S. 258) abziele. Dies sei insbesondere bei kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieformen der Fall. Nedopil plädiert allerdings auch für auf den Einzelnen abgestimmte, hypothesengeleitete Therapiekonzepte, die Elemente verschiedener therapeutischer Ansätze integrieren [Nedopil 2000]. Auch Müller-Isberner [2004] hat sich mit der Übertragbarkeit der Ergebnisse der allgemeinen Psychotherapieforschung auf die Behandlung der Maßregelvollzugspatienten beschäftigt. Er weist darauf hin, dass es sich bei der Ersteren um „eher leicht gestörte“ Patienten handele, die sich in vielfältiger Weise und deutlich von den Patienten des Maßregelvollzugs hinsichtlich intrapsychischer und psychosozialer Merkmale unterscheiden würden. In speziellen Evaluationsstudien der Straftäterbehandlung hätten sich die „störungsspezifischen, also ‚maßgeschneiderten‘ multimodalen, integrativen Ansätze“ (S. 421) als wirksam erwiesen. Es sei grundsätzlich belegt, dass Straftäterbehandlung Rückfallkriminalität vermindern könne. Meta-Analysen der Straftäterbehandlung hätten gezeigt, „dass erfolgreiche Programme multimodal, hochstrukturiert, behavioristisch oder kognitiv-behavioristisch und intern valide“ (S. 422) seien. Bezogen auf die anzuwendenden Methoden müsse man „dem handlungsorientierten Lernstil von Straftätern gerecht werden“, es müssten also „Modell-Lernen, Rollenspiele, … Verstärkung, konkrete Hilfestellungen, RessourcenBereitstellung und kognitive Umstrukturierung“ (S. 422) eingesetzt werden. Insbesondere nach dem aktuellen empirischen Kenntnisstand müssten kriminogene Faktoren, vor allem antisoziale kriminogene Faktoren, das Ziel der Interventionen sein. Hinsichtlich „der Übertragbarkeit des vorhandenen Wissens aus den Evaluationen der Straftäterbehandlung auf die Klientel des Maßregelvollzuges“ könne Müller-Isberner [2004] zufolge „kein Zweifel bestehen“ (S. Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 71 7.2 Zu den Grundlagen der Behandlung im Maßregelvollzug 422), da in beiden Tätergruppen über weite Bereiche die gleichen Risikomerkmale für Delinquenz vorlägen. „Wenn die bisherige und zukünftige Delinquenz bei gesunden, gestörten und kranken Straftätern mit den gleichen Merkmalen einhergeht, so sind kriminologische und kriminaltherapeutische Erkenntnisse aus dem Bereich des Strafvollzuges auf dem psychiatrischen Maßregelvollzug übertragbar“ (S. 422). Ein Unterschied zwischen Maßregelvollzugspatienten und Häftlingen sei „die in vielen Fällen bestehende Notwendigkeit, diese Patienten erst einmal ‚therapiefähig‘ zu machen“ (ebd.). Gleichzeitig weist Müller-Isberner auf die Heterogenität der Gruppe psychisch gestörter Rechtsbrecher hin, „ebenso auf deren Belastung mit einer Vielzahl kriminogener Merkmale“ [Müller-Isberner 2004, S. 423] Die Rechtsprechung erfolgt letztlich auf dem Boden rechtsphilosophischer Theorien, wenn sie auch gutachterlichen Rat für Einweisung und Unterbringung heranzieht [vgl. Nedopil 2000]. In diesen Theorien werden Unterscheidungen der mit den deliktischen Verhaltensweisen in ursächlichem Zusammenhang stehenden Psychopathologien bzw. Psychodynamiken vorgenommen, die sich in den so genannten Eingangskriterien der anzuwendenden Paragraphen (§§ 20 und 21 StGB) des Strafrechts [Schönke 2001] wiederfinden. Die Spruchpraxis der Gerichte müsste zur Folge haben, dass sich die Populationen in Strafanstalten und Krankenhäusern des Maßregelvollzugs gerade in den psychopathologischen Bedingungen unterscheiden. Die wenigen vergleichenden Untersuchungen zu Unterschieden in den psychopathologischen Auffälligkeiten von in Einrichtungen des Strafvollzugs Inhaftierten und Patienten des Maßregelvollzugs ergeben empirische Hinweise hierauf. Harsch et al. [2006] fanden beispielsweise bei im Maßregelvollzug untergebrachten, persönlichkeitsgestörten Sexualstraftätern eine gegenüber Kapitel 7 inhaftierten Sexualstraftätern gestörtere Sozialisation und ein niedrigeres aktuelles psychosoziales Funktionsniveau. Ihre kriminelle Entwicklung hatte in einem früheren Alter als bei den Inhaftierten eingesetzt. Die Patienten des Maßregelvollzugs waren darüber hinaus häufiger einschlägig vorbestraft. Es fanden sich bei ihnen eine deutlich höhere Prävalenz und Komorbidität von Persönlichkeitsstörungen (davon meist Cluster B des DSM-IV-TR), signifikant häufiger waren auch Paraphilien festzustellen. Ähnliche Unterschiede wurden auch von Ujeyl et al. (in Vorbereitung) für Täter von sexuell konnotierten Tötungen beschrieben, bei denen im Fall der Maßregelunterbringung vor allem die sadistische Paraphilie, hirnorganische Beeinträchtigungen und Persönlichkeitsstörungen insgesamt häufiger gefunden wurden, während bei Inhaftierten Substanzmissbrauch als Diagnose überwog. Auch in dieser Untersuchung waren die Untergebrachten häufiger vorbestraft. In den Ergebnissen der angewandten Prognoseinstrumente waren sie mit einem höheren Rückfalls-Risiko behaftet. Man kann also davon ausgehen, dass im Maßregelvollzug Untergebrachte schwerer gestört sind als solche in der Sozialtherapie. Für die Behandlung relevant ist auch, dass sich die Art der Sexualdelikte der Inhaftierten im Normalvollzug von denen der Maßregelvollzugspatienten unterscheidet. Inzesttäter bzw. Täter mit Opfern im familiären Nahbereich sind im Maßregelvollzug deutlich unterrepräsentiert. Abschließend sei angemerkt, dass „Behandelbarkeit“, auch wenn diese sehr schwierig festzustellen ist, weder ein Kriterium für die Art der Verurteilung noch für die Entscheidung zur Unterbringung nach § 63 StGB ist. Nur bei der Unterbringung nach § 64 StGB spielt eine angenommene Aussichtslosigkeit der Behandlung eine Rolle. Geht man davon aus, dass sich das SOTP besonders bei den mittelgradig gestörten 71 Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 72 72 7 SOTP im Maßregelvollzug – Erste Erfahrungen Tätern bewährt hat (vgl. Kap. 2), dann wird deutlich, dass bei der Anwendung des SOTP im Maßregelvollzug ergänzende Behandlungselemente etabliert werden müssen. 7.3 Grundsätzliches zur Anwendbarkeit von SOTP im Maßregelvollzug Wie in den vorigen Kapiteln dieses Bandes ausführlich und detailliert ausgeführt, wurde das SOTP ursprünglich für die Population von Sexualstraftätern im englischen Strafvollzug erstellt, wo es seit den 1990er-Jahren flächendeckend eingesetzt wurde. Die Überarbeitung der ersten Version beruht auf einer Evaluation der inzwischen über 10-jährigen Anwendung des SOTP bei über 10000 Sexualstraftätern in englischen Haftanstalten. Derzeit angewendet wird zunächst die Core2000-Version, die sich von der ersten deutlich unterscheidet: Es wurden ca. 40% der bisherigen Programm-Bestandteile verändert. Nachdem das Programm anfangs stark auf die Thematik der begangenen Sexualdelikte und diesen vorausgehende Lebensereignisse, kognitive Prozesse und Stimmungslagen fokussierte, wurden inzwischen die Programmbestandteile verbreitert und ausgebaut, die auf eine Veränderung allgemeiner Persönlichkeitseigenschaften und diesbezüglicher intrapsychischer Prozesse abzielen. Folgt man der oben referierten Argumentation von Müller-Isberner [2004] zu den Bedingungsfaktoren krimineller Verhaltensäußerungen, müsste das SOTP als kognitiv-verhaltenstherapeutisches Programm, das spezifisch auf die Reduzierung des Rückfallrisikos abzielt, auch bei im Maßregelvollzug untergebrachten Delinquenten eingesetzt und wirksam werden können. Das SOTP als Behandlungsprogramm weist eine hohe Übereinstimmung mit den von Müller-Isberner [2004] skizzierten und im Maßregelvollzug angezeigten, kriminal- und psychotherapeutischen Verfahren und Rück- fall-Vermeidungs-Modellen auf: die „didaktischen Einführungen über die Bedeutung von dysfunktionalen Denkmustern, Vorstellen von Beispielen für diese Denkmuster, Selbstbeobachtung dieser Denkmuster mit Tagebüchern, … Gruppendiskussionen, … Techniken zur Modifikation von Verleugnungs- und Bagatellisierungsprozessen und Delikt fördernden Einstellungen“ und Ähnliches (S. 428). Auch die Erstellung eines so genannten „Deliktzyklus, Deliktzirkel[s] oder Deliktszenario[s]“, in dem „jedes Stadium der zum Delikt führenden Verhaltenskette … explizit erarbeitet, als Risikosituation beschrieben und als Warnzeichen benannt“ (S. 429) wird und für das alternative Bewältigungsstrategien entwickelt und erlernt werden, findet sich prominent im SOTP. Das SOTP erfüllt somit auch die Betonung und Initiierung von relevanten Verhaltens- und Einstellungsänderungen, wie das Nedopil [2000] für wirksame Behandlungsverfahren gefordert hat. Allerdings muss bei Maßregelvollzugspatienten ein höherer Störungsgrad der kognitiven und affektiven Abläufe, also des intrapsychischen Funktionsniveaus, erwartet werden. Das wiederum limitiert die inneren, psychischen Möglichkeiten dieser Gruppe von Patienten für den Umgang mit der eigenen Psychopathologie und den mit dieser eng verwobenen deliktischen Auffälligkeit und stellt die Behandlung vor besondere Herausforderungen. Prüft man die Indikationskriterien für die Anwendung des SOTP genau, enthalten sie zwar recht knappe, aber klare Aussagen zu Ein- und Ausschlusskriterien. Zu Beginn des Manuals der aktuellen SOTP-Version „Core 2000“ werden die Zielgruppe und die Zielrichtung des Behandlungsprogramms so definiert: Das Programm sei darauf ausgelegt, „den Behandlungsbedarf von mittelmäßig bis stark verleugnenden Straftätern mit geringgradiger Devianz zu decken und einen Ansatzpunkt in der Behandlung von Straftätern mit mittelmäßiger bis starker Verleug- Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 73 7.4 Maßregelvollzug in Hamburg nung und hoher Devianz bereitzustellen“. Die Population der Sexualstraftäter im Maßregelvollzug zeichnet sich durch einen besonders hohen Anteil schwerer Paraphilien und Persönlichkeitsstörungen aus – gemäß der Definition der Zielgruppe des SOTP kann dieses hier demnach lediglich einen Ansatzpunkt bieten. Unserer Einschätzung nach stellen die Verleugnungstendenzen der persönlichkeitsgestörten Sexualstraftäter des Maßregelvollzugs zu dem Zeitpunkt, da über ihre Teilnahme am SOTP nachgedacht werden kann, kein statisches Problem dar. Es handelt sich vielmehr um ein für den klinischen Verlauf des Einzelnen und den Verlauf der Gruppe ernst zu nehmendes dynamisches Problem. Die Aufnahme in eine deliktzentrierte Gruppe erscheint erst dann sinnvoll, wenn der Patient dazu in der Lage ist, zumindest einen großen Teil des Deliktverlaufs in Details vor sich selbst einzugestehen und im sozialen Kontext einer deliktspezifischen Gruppe offen darzustellen – wenn er seine Delikte also nicht mehr generell verleugnet. Da die persönlichkeitsgestörten Sexualstraftäter des Maßregelvollzugs meist sehr schwerwiegende bzw. oft besonders grausame Taten begangen haben – und dies meist nicht nur einmal –, sind besonders bei der detaillierten Darstellung dieser Delikte vor anderen heftige Affekte zu erwarten, z.B. der Scham und der Schuld. Sie wiederum müssen adäquat bewältigt werden, was ein gewisses Niveau psychischen Funktionierens voraussetzt. Es sind bei einem systematischen und konfrontativen Vorgehen in der Auseinandersetzung mit den eigenen Delikten und der in diesen zum Ausdruck gekommenen eigenen Gefährlichkeit, wie es das SOTP vorsieht, demnach heftige Erschütterungen im psychischen Gefüge der Teilnehmer zu erwarten. In diesem Zusammenhang erwähnt werden muss auch das generelle Behandlungsproblem des Sadismus, sei es in Gestalt eines Persönlichkeitszugs oder des sexuellen Sadis- Kapitel 7 mus. Liegt bei einem Sexualstraftäter ein sexueller Sadismus vor, gilt dies gängigerweise als ein Ausschlusskriterium für die Teilnahme am SOTP. Sadistische Persönlichkeitszüge können insofern als Komplikation für die Behandlung angesehen werden, als die im SOTP geforderte offene Darstellung des Delikts für solche Patienten meist kein größeres intrapsychisches Problem darstellt. Vielmehr stellen sie ihre Delikte gerne offen dar, um diese Darstellung für einen sadistischen Lustgewinn zu nutzen, indem sie einen Übergriff durch eine die anderen vor den Kopf stoßende Inszenierung begehen, was die Behandlung „pervertieren“ kann. Ihr Verhalten zielt dann keinesfalls auf selbstkritische Reflexion. Vor diesem Hintergrund wurde bei der Implementierung des SOTP [HM Prison Service (2000)] im Maßregelvollzug der zuständigen Klinik in Hamburg zunächst überprüft, bei welchen Patienten es als geeignete Behandlungsmaßnahme indiziert wäre, inwieweit es als Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter übernommen werden könnte bzw. welche Modifikationen des Programms notwendig erschienen. 7.4 Maßregelvollzug in Hamburg Die im Bundesland Hamburg für den Maßregelvollzug zuständige Einrichtung ist die VI. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie – Forensische Psychiatrie – der Asklepios Klinik Nord/Campus Ochsenzoll. Die Behandlung der Patienten erfolgt auf speziellen, zentral nach den beiden Kriterien der (Haupt-)Diagnose und des notwendigen Sicherungsniveaus differenzierten Stationen. Entsprechend den oben skizzierten, empirisch gefundenen Wirkfaktoren einer forensisch-psychiatrischen und -psychotherapeutischen Behandlung erfolgt diese in Form eines gestuften Behandlungsablaufs von der Aufnahme- bis zur offenen Reha-Station auf 73 Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 74 74 7 SOTP im Maßregelvollzug – Erste Erfahrungen Basis zunächst stationsbezogener Behandlungskonzepte. Sie strukturieren den organisatorischen Tagesablauf, die Beziehungsgestaltung auf der Station, aber auch die Freizeitgestaltung nach therapeutischen Gesichtspunkten. Konkret ausgestaltet sind verschiedene, organisierte Formen des sozialen Miteinanders (beispielsweise Morgenrunden, Vollversammlungen, sozialtherapeutische Angebote etc.), die Arbeits- und Ergotherapie sowie verschiedene therapeutische Beziehungsangebote im engeren Sinn. Zu ihnen zählen die Bezugspflege wie Einzel- und Gruppenpsychotherapien. Letztere sind je nach dem Schwerpunkt der Behandlungsinhalte stationsbezogen oder modulartig, stationsübergreifend zusammengesetzt. Diese Wirkelemente werden vor dem Hintergrund einer durch eine umfassende Falldarstellung erarbeiteten individuellen Gefährlichkeitshypothese für den einzelnen Patienten in Form eines fortlaufenden Therapieplans halbjährlich evaluiert und aktualisiert. In der Abteilung für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie wurden zum Zeitpunkt der Implementierung des SOTP im April 2005 insgesamt 189 Patienten behandelt. Bei 47 Patienten wurde als Hauptdiagnose eine Persönlichkeitsstörung gestellt, 25 davon waren Sexualdelinquenten mit einem IQ über 90. Diese 25 persönlichkeitsgestörten Sexualdelinquenten waren alle nach § 63 StGB untergebracht (nur einer der 38 nach § 64 StGB in einer Entziehungsanstalt Untergebrachten war zum damaligen Zeitpunkt Sexualstraftäter und gleichzeitig auch nach § 63 StGb untergebracht). Sie waren im Schnitt 7,1 Jahre untergebracht (Range von 1,0–20,1 Jahren). 7.5 Zusammenstellung der Gruppe Wir entschieden uns grundsätzlich gegen eine Beteiligung von Patienten mit der Hauptdiagnose einer psychotischen Erkran- kung, da bei ihnen auch im Hinblick auf das Risikomanagement die individuelle psychiatrische Behandlung und weniger die systematisch konfrontierende Auseinandersetzung mit den eigenen Delikten im Vordergrund steht. Die Auseinandersetzung mit dem Delikt erfolgt hier vorwiegend stützend. Wenn konfrontativ interveniert wird, dann situativ in der einzelnen therapeutischen Sitzung (oder in einer begrenzten Anzahl von Sitzungen), aber nicht systematisch durch ein Programm, über einen lang anhaltenden Zeitraum und selten in der Gruppe. Die teilnehmenden Patienten sollten zudem über einen mit gängigen psychometrischen Verfahren ermittelten IQ von über 90 verfügen, um von der Teilnahme am SOTP Core 2000 grundsätzlich kognitiv profitieren zu können und nicht überfordert zu sein. Nach den bisher referierten Kriterien kamen 25 persönlichkeitsgestörte Sexualstraftäter in die engere Auswahl einer Indikationsprüfung für das SOTP. Als ein weiteres Ausschlusskriterium, das auch für andere Therapieverfahren gilt, werteten wir das Vorliegen einer schweren antisozialen Persönlichkeitsproblematik im Sinne der psychopathy nach Hare [2003, 1998]; vgl. Kap. 5) oder des malignen Narzissmus sensu Kernberg [1998]. Das gilt zumindest dann, wenn das psychopathische bzw. maligne narzisstische Agieren der betreffenden Patienten aktuell und seit längerer Zeit im Vordergrund stand. Auf diese Weise mussten 5 Fälle aus der weiteren Rekrutierungsphase ausgeschlossen werden. 3 Sexualdelinquenten wurden wegen ihrer seit Beginn der Unterbringung, in 2 Fällen seit über 10 Jahren gleichbleibenden Verleugnung der von ihnen begangenen Sexualdelikte nicht in die engere Auswahl genommen. Ausgeschlossen wurde auch ein weiterer Patient, der – von uns zwar grundsätzlich als geeigneter Teilnehmer betrachtet – sich aber im Rahmen eines aktuell offenen Verfahrens in seinem Aussageverhalten Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 75 Kapitel 7 7.6 Beschreibung der Therapiegruppe höchst widersprüchlich zeigte. Aus diesem Grund erwarteten wir von ihm ein größeres Störmoment in der Gruppe. Bei ihm wie bei 2 weiteren Patienten konnte nicht mit der Aufgabe der paraphilen Neigungen aus Krankheitsgründen gerechnet werden. Dazu schienen die Störung der Persönlichkeit und die sexuelle Devianz psychopathologisch zu eng miteinander verwoben, um nicht zu sagen, weitgehend identisch. Als weitere Voraussetzung für die Teilnahme sahen wir die aktuelle und seit längerem anhaltende klinische Stabilität und psychische Belastbarkeit der Teilnehmer an. Diese maßen wir daran, ob die Patienten von einem therapeutischen Setting profitieren konnten und dadurch hinreichende intrapsychische Möglichkeiten aufgebaut hatten, sodass sie einem über längere Zeit und in einem Gruppenzusammenhang konfrontierenden Vorgehen mit einiger Wahrscheinlichkeit innerlich gewachsen bleiben würden, ohne in grobes Agieren zu verfallen. Bereits vorhandene Erfahrung in einem therapeutischen Gruppensetting erschien hierzu von Vorteil. Grundsätzlich forderten wir eine schon eingetretene Einsicht in die eigene Gefährlichkeit. Weiterhin prüften wir in einem nächsten Schritt die Motivation zur Teilnahme und die Bereitschaft, offen in der Gruppe über die eigenen Delikte zu reden. Bei manchen Patienten sahen wir zudem eine begleitende medikamentöse Behandlung indiziert, die in einigen Fällen bereits längere Zeit suffizient vorhanden war (s. unten). In die engere Auswahl kamen nach diesen Kriterien 14 Patienten der Abteilung, die zunächst gefragt wurden, ob sie sich vorstellen könnten, am demnächst zu etablierenden SOTP-Angebot teilzunehmen. 5 dieser Patienten äußerten, nicht zur Teilnahme an dieser Gruppe bereit zu sein. 2 von ihnen wollten ein externes, seit mehreren Jahren bestehendes, paralleles therapeutisches Gruppenangebot nicht aufgeben, die 3 anderen Patienten waren aus unterschiedlichen Grün- den nicht motiviert. Aus den 25 persönlichkeitsgestörten Sexualstraftätern konnte so eine Gruppe von 9 Sexualstraftätern zusammengestellt werden. 7.6 Beschreibung der Therapiegruppe Die 9 männlichen Patienten (siehe Tab. 7.1 und 7.2) waren im Durchschnitt 42,4 Jahre (Range von 34–48 Jahren) alt und im Schnitt seit 6,7 Jahren (Range von 1,7–13,1 Jahren) im Maßregelvollzug nach §63 StGB untergebracht. 5 der Patienten waren wegen Vergewaltigungen, 2 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und 2 wegen beider Deliktarten eingewiesen worden. In keinem einzigen Fall hatte es sich um eine einzelne Straftat gehandelt. Nur 1 Patient hatte ein und dasselbe Opfer – er hatte wiederholt intrafamiliären sexuellen Missbrauch begangen. Sonst waren jeweils verschiedene Opfer (die durchschnittliche Opferzahl der Gesamtgruppe betrug 4,6 Personen) in zahlreicheren Tathandlungen geschädigt worden. 2 Täter waren zum Teil über Jahre mit ihren Opfern bekannt, sonst waren jeweils fremde Zufallsopfer betroffen. In einem der beiden Fälle, in denen der Täter mit den kindlichen Opfern „befreundet“ war, war es während der Straftaten kaum zu manifester körperlicher Gewalt gekommen. Bei allen anderen Straftaten hatten die Patienten erhebliche Gewalt in Form von verbalen Todesdrohungen, Gebrauch von Waffen zur Bedrohung, Fesselungen, Schlagen und Treten der Opfer und von Betäubungen mit dem Resultat von zum Teil schweren, über die sexuellen Straftaten hinaus gehenden Körperverletzungen eingesetzt. Im Einweisungsurteil waren trotz Berücksichtigung einer störungsbedingt zumindest erheblich verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB, in einem Fall konnte eine Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB nicht ausge- 75 Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 76 76 7 SOTP im Maßregelvollzug – Erste Erfahrungen Tab. 7.1: Rechtliche Charakteristika der Gruppenteilnehmer Patient Alter Dauer I 46 7,4 Vergew. und KV 3 2a 6 II 36 8,3 Vergew. und KV 5 7,5 4 III 38 3,1 sex. Missbr. und Vergew. und KV 8 5 0 Herr A. 34 12,8 Vergew. und KV 6 6 3 Herr B. 45 1,0 sex. Missbr. und KV 1 0 12 VI 47 1,8 sex. Missbrauch 5 5 0 VII 44 9,5 Vergew. 2 14 2 VIII 48 13,1 Vergew. und sex. Missbr. 3 0 10 43 3,1 Vergew. 42,4 6,7 IX Mittelwert Legende: Vergew. KV Sex. Missbr. FS = = = = Delikte Opferzahl Urteil FS Vorstrafen 8 13 2 4,6 7,5 5,6 Vergewaltigung Körperverletzung sexueller Missbrauch Freiheitsstrafe (in Jahren) schlossen werden) schuldbezogen erhebliche begleitende Freiheitsstrafen (durchschnittlich 7,5 Jahre) ausgesprochen worden. Nur 2 Patienten waren nicht vorbestraft. Die restlichen Mitglieder der Therapiegruppe wiesen eine deliktische Vorbelastung mit durchschnittlich 5,6 Vorstrafen auf. Neben zusätzlicher dissozialer Auffälligkeiten war der Großteil der Vorbestraften (71,4%) bereits wegen mehrfacher und erheblicher sexueller Gewaltdelikte einschlägig vorbestraft. 2 Vergewaltigungstäter hatten in ihrer Vorgeschichte jeweils ein Tötungsdelikt an einer Frau begangen. Ein Patient hatte sich bereits einmal wegen Vergewaltigungsdelikten in einem anderen Bundesland im Maßregelvollzug (§ 63 StGB) befunden. Er und ein weiterer Vergewaltigungstäter aus der Gruppe waren durch neuerliche und zeitlich getrennt erfolgende einschlägige Verurteilungen 2-mal nach § 63 StGB in den Maßregelvollzug eingewiesen worden, bei einem Patienten erfolgte die gleichzeitige Unterbringung nach den §§ 63 und 64 StGB. Diagnostisch handelt es sich bei fast allen Patienten um schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen auf so genanntem Borderline-Strukturniveau, meist in Form kombinierter Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10 (4. Auflage 2000). Bei diesen kombinierten Persönlichkeitsstörungen bestehen mehrere und ausgeprägte spezifische Störungen aus dem Cluster B nach DSM-IV-TR (vor allem Kombinationsformen von Borderline-, narzisstische und antisoziale Persönlichkeitsstörung). Bei einem Patienten besteht als Hauptdiagnose eine schizotype Störung. Bis auf 1 Täter muss bei allen Patienten das Vorliegen einer Paraphilie (DSM-IV-TR 2003) angenommen werden. Die charakteristische Thematik liegt vor allem in der Vergewaltigergruppe bei einer mehr oder weniger ausgeprägten sadistischen Persönlichkeitsproblematik bzw. einem sexuellen Sadismus. Beim Vorliegen einer Pädophilie innerhalb der Missbrauchsgruppe besteht überwiegend eine sexuelle Orientierung auf Jungen. Fast alle Gruppenteilnehmer (88,9%) weisen als weiteren Risikofaktor einen Sub- Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 77 Kapitel 7 7.7 Erwartete und notwendige Modifikationen des SOTP Tab. 7.2: Diagnostik und Medikation der Gruppenteilnehmer Patient PST Paraphilie ICD-10 Medikation I komb. PST multipel F 61.0, F 65.6, F 10.2 SSRI, aNL II komb. PST sadistisch F 61.0, F 65.5, F 10.1, F 12.1 SSRI, AH III komb. PST pädophil F 61.0, F 65.4, F 10.2, F 13.1 aNL Herr A. komb. PST sadistisch F 61.0, F 65.5, F 10.2 AH Herr B. komb. PST pädophil F 60.3, F 60.2, F 65.4, F 10.2, F 12.1 SSRI VI schizotype PST pädophil F 21, F 65.4, F 10.2 SSRI, aNL VII komb. PST sadistisch F 60.8, F 60.31, F 65.5, F 10.1 SSRI, aNL VIII komb. PST – F 61.0, F 10.21 SSRI IX narzisstisch sadistisch F 60.8, F 65.5 – Legende: PST = Persönlichkeitsstörung F 10.1 = Alkoholmissbrauch F 10.2 = Alkoholabhängigkeit F 12.1 = Cannabinoidmissbrauch F 13.1 = Benzodiazepinmissbrauch F 21 = schizotype Störung F 60.2 F 60.3 F 60.8 F 61.0 F 65.4 F 65.5 F 65.6 = = = = = = = dissoziale PST emotional instabile PST sonstige spez. PST kombinierte PST Pädophilie Sadomasochismus multiple Störung der Sexualpräferenz SSRI = selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer aNL = atypische Neuroleptika AH = antihormonelle Behandlung stanzmissbrauch oder eine Substanzabhängigkeit von Alkohol auf, vereinzelt in Kombination mit Cannabis oder selten Benzodiazepinen. Zur Verbesserung der Impulskontrolle und Verminderung der zwanghaften Beschäftigung mit paraphilen Fantasien wurden 2 Drittel der Straftäter lange vor Beginn des SOTP medikamentös mit Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) behandelt. 2 Patienten, darunter der schizotype Patient, waren wegen paranoider Reaktionsbereitschaft auf ein atypisches Neuroleptikum (aNL) eingestellt. Zur Verbesserung der Affektregulation entschlossen sich 2 weitere Teilnehmer während der Durchführung der Gruppe zur niedrig dosierten Einnahme von atypischen Neuroleptika. 1 Patient wurde wurde schon vor Beginn der Gruppentherapie antihormonell (AH) mit Androcur behandelt, ein weiterer (Herr A.) entschied sich im Verlauf der Teilnahme an der Gruppe (in der Anfangsphase) zu einer antiandrogenen (antihormonellen) Behandlung. Einige der langjährig (mehr als 8 Jahre) Untergebrachten hatten im Lauf ihrer bisherigen oder früherer Unterbringungen therapeutische Erfahrungen im Einzel- und Gruppensetting sammeln können. Dabei hatte es sich um nicht direkt deliktzentrierte Behandlungsansätze gehandelt. 7.7 Erwartete und notwendige Modifikationen des SOTP Von vornherein bestand seitens der Behandler die Erwartung, dass bei der Durchführung des SOTP mehr als die im Manual veranschlagten Sitzungszahlen pro Behandlungsblock notwendig sein würden. Sowohl aus den Einzelbehandlungen (die Patienten hatten sich in der Regel seit mehreren Jahren im engen, therapeutischen Kontakt mit den jetzt das SOTP leitenden Therapeuten befun- 77 Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 78 78 7 SOTP im Maßregelvollzug – Erste Erfahrungen den) als auch aus anderen Gruppenbehandlungen war bekannt, wie schwer den Patienten eine vollständige Offenbarung ihrer Delikte und eine sich über einen längeren Zeitraum erstreckende, sich selbst konfrontierende Auseinandersetzung mit ihrer Gefährlichkeit fällt. Wir gingen deshalb von einem geringeren „Tempo“ der Gruppe aus als Ausdruck des Widerstands im Sinne einer Maßnahme zur Aufrechterhaltung des eigenen psychischen Gleichgewichts. Aus ähnlichen Gründen rechneten wir mit der Notwendigkeit von auf die Gruppendynamik zentrierenden, supportiven und konfrontierenden Interventionen. Sie sind im Manual des SOTP nicht und im kognitiv-behavioralen Ansatz nur in geringem Umfang vorgesehen, um die Arbeitsfähigkeit der Gruppe wie auch einzelner Teilnehmer zu erhalten. Seitens der Gruppentherapeuten bestand die Erwartung einer gruppendynamisch schwierig zu bewältigenden Aufgabe. Der Gruppe sollte gerade am Anfang vermehrt Zeit gegeben werden, um das Kennenlernen und den Aufbau von wechselseitigem Vertrauen zu ermöglichen und um die Gruppe auch als ein Halt gebendes Element zu etablieren. Ganz generell wurde erwartet, dass sich der Gruppenwiderstand und die psychische Labilisierung des Einzelnen in dem Maße erhöhen würden, wie sich die Auseinandersetzung dem deliktischen Bereich nähern und in ihm stattfinden würde. Zur optimalen institutionellen Implementierung waren sämtliche Behandler der Einrichtung und alle Mitarbeiter der Stationen, die die Patienten rekrutieren sollten, mehrfach und ausführlich über das Programm informiert worden. Auch der Rekrutierungs- und Umsetzungsprozess wurde berufsgruppen- und stationsübergreifend jeweils offen dargelegt. 7.8 Zum Verlauf der Gruppe Im Mai 2005 wurde der erste Durchgang einer SOTP-Gruppe nach dem „Core 2000“Manual in unserer Abteilung begonnen. Er wird von 3 Psychologen und 1 Krankenschwester einer Station, auf der ein Teil der Teilnehmer lebt, geleitet. Es findet pro Woche eine Sitzung von 90 Minuten Dauer statt. Die Behandlung wird etwa 1-mal im Monat extern supervidiert, an der Supervision nehmen auch Teamer teil, die das SOTP in Haftanstalten durchführen. Zur Ausgangssituation kann gesagt werden, dass der Beginn der SOTP-Gruppe von den Patienten mit großer Spannung erwartet wurde. Manche von ihnen hatten von befreundeten Patienten aus dem Strafvollzug von SOTP gehört. Es hatte sich herumgesprochen, dass es sich dabei um ein sehr gutes, aber auch sehr anstrengendes Programm handelt. Zu 5 der teilnehmenden Patienten kann gesagt werden, dass sie dem Beginn der Gruppe sehr motiviert und zuversichtlich entgegenblickten – darunter 3 Patienten mit langjährigen Erfahrungen in einem psychoanalytisch-interaktionellen Gruppensetting. Ein weiterer, sehr motivierter Patient war seit mehreren Jahren in kognitiv-behavioraler Einzelbehandlung. Besonders die beiden kurz im Maßregelvollzug befindlichen (weniger als 3 Jahre) und bisher nicht in solchen Institutionen untergebrachten Patienten, die dementsprechend wenig Therapieerfahrung aufwiesen, standen der Gruppe eher ängstlich gegenüber. Als besonders ambivalent erwies sich 1 Patient, der im Maßregelvollzug bisher zwar intensive einzeltherapeutische Behandlung erfahren hatte, aber im Rahmen von Lockerungen schwer einschlägig rückfällig und erneut verurteilt worden war (Herr A.). Ein weiterer Patient (Herr B.) war trotz Motivation von Anfang an skeptisch, ob er die Teilnahme an der SOTPGruppe aufgrund der zu erwartenden starken Belastung durch die konfrontative Auseinan- Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 79 7.8 Zum Verlauf der Gruppe dersetzung mit dem eigenen Sexualdelikt werde durchhalten können. Um dem Vorhaben der soliden Etablierung der Gruppe Rechnung zu tragen, wurde der Themenblock Establishing the group ausführlich und intensiv durchgeführt, was die Teilnehmer dankbar aufnahmen und inhaltlich sinnvoll nutzen konnten. Allein die Ausarbeitung des Gruppenvertrags benötigte 4 Sitzungen. Es wurde zum Beispiel sehr sorgfältig über die Regel debattiert, nach außen hin zu schweigen. In welchem Maß sollte es den Teilnehmern gestattet sein, mit Außenstehenden, zu denen sie eine enge Beziehung unterhielten, über die eigenen inneren Bewegungen im Rahmen des SOTP zu reden? Welche Regel sollte diesbezüglich für die Therapeuten gelten, mussten sie über therapeutische Fortschritte bzw. Probleme doch im Behandlungsteam der Station oder gegenüber den Strafvollstreckungskammern berichten (vgl. Abb. 7.1)? Für den Themenkreis „Gründe für die Teilnahme am SOTP und diesbezügliche Ängste“ nahmen wir uns weitere 5 Sitzungen Zeit. Im Manual werden für beide Aufgaben zusammen 2 Sitzungen veranschlagt. Abb 7.1: Aus dem Gruppenvertrag: Regelungen die Schweigepflicht betreffend § 2 Schweigepflicht a) Das SOTP-Team darf behandlungsrelevante Informationen vertraulich weitergeben, analog zur Einzeltherapie. b) Gruppenmitglieder dürfen außerhalb der Gruppe vertraulich über die Gruppe reden. c) Mitglieder dürfen mit anderen Personen nur über eigene Themen und nicht über die anderer reden. Es ergab sich dann eine unerwartete Komplikation. Der oben als besonders ambivalent beschriebene Patient, Herr A., hatte sich durch ein Fenster der Station einer Krankenschwester des Hauses exhibitionistisch ona- Kapitel 7 nierend gezeigt, was wir als einen einschlägigen Rückfall werteten. Abweichend vom Programm wurde das Verhalten von Herrn A. bzw. seine Motivation hierzu in der SOTPGruppe zentral thematisiert, um ihm wie auch der Gruppe die Chance der Aufarbeitung des Geschehens zu geben. Trotz erheblichen, konfrontierenden wie werbenden Einsatzes der gesamten Gruppe konnte Herr A. jedoch auch im Verlauf mehrerer Sitzungen seine den exhibitionistischen Handlungen vorausgehenden Fantasien oder Gedanken vorwiegend unter Zuhilfenahme rationalisierender Begründungen nicht offenlegen (etwa in der Art: „Vor dem Hintergrund eines möglicherweise anstehenden gerichtlichen Verfahrens kann ich hier keine Aussagen vorwegnehmen.“). Deshalb musste er schließlich aus der Gruppe ausgeschlossen werden. Allein zur Aufarbeitung dieses Vorfalls nahmen wir uns mehrere Sitzungen Zeit. Ebenfalls in Abweichung vom originalen Programm ließen wir die Patienten nun ihre Biografien erzählen, was pro Patient bis zu 3 Sitzungen in Anspruch nahm. Es stellte sich dabei heraus, dass die Patienten untereinander über ihre Leben sehr wenig wussten, obwohl sie sich zum Teil mehrere Jahre kannten und teilweise engere Beziehungen pflegten. 2 Drittel der Teilnehmer offenbarten im Rahmen ihrer biographischen Erzählungen eigene, z.T. wiederholte und schwere sexuelle Missbrauchserfahrungen im Kindes- und Jugendlichenalter, die bis dahin nicht aktenkundig und oft auch den Behandlern nicht bekannt waren. 1 Teilnehmer, der oben als sehr zögerlich beschriebene Herr B., zeichnete im Rahmen seiner Biographie von sich ein sehr dissoziales Bild, gepaart mit hoher Gewaltbereitschaft bei alltäglichen Interaktionen. Bezüglich einer Reihe von Übergriffen, die er gegen eine Stieftochter gerichtet hatte und die Ausnahmen in einem ansonsten generell nur als dissozial zu bezeichnenden Verhaltensspektrum bildeten, verhielt er sich 79 Sexualstraft ter.qxd 29.12.2006 09:03 Seite 80 80 7 SOTP im Maßregelvollzug – Erste Erfahrungen ähnlich: Sobald ein Gruppenmitglied eine auch nur milde konfrontierende Frage stellte, geriet er in starke Anspannung, brach den Dialog ab, und seine Gewaltbereitschaft stand unmittelbar im Raum. Nachdem deutlich geworden war, dass das ihn selbst und die Funktion der Gruppe schädigende Verhalten mit Herrn B. nicht besprochen werden konnte und er hartnäckig an der einfachen Feststellung festhielt, sich mit den sexuellen Übergriffen gegen seine Stieftochter nicht identifizieren zu können, wurde letztlich im gegenseitigen Einvernehmen entschieden, ihn aus der Gruppe herauszunehmen. Zum eigentlichen Programm kehrten wir erst nach gut 30 Sitzungen zurück. Im von uns verwendeten Manual soll das Verstehen kognitiver Verzerrungen in der 4. Sitzung beginnen – wir kamen in der 37. Sitzung zu dieser Aufgabenstellung. Die in der Gruppe verbliebenen 6 Teilnehmer (ein weiterer Patient war ausgeschieden, da er in eine andere Maßregelvollzugseinrichtung verlegt worden war) waren spürbar erleichtert und erhielten einen deutlichen Motivationsschub dadurch, dass sie sich nun mit konkreten, zunächst mit der nicht in direktem Zusammenhang mit deliktischen Verhaltensweisen stehenden Aufgabe des Erkennens eigener kognitiver Verzerrungen beschäftigen konnten. 7.9 Diskussion Die systematische und detaillierte Konfrontation mit den eigenen Delikten und den diesen vorausgehenden Fantasien, Gefühlen und Gedanken, wie sie im SOTP zentral vorgenommen wird, stellt einen heftigen Angriff auf das Persönlichkeitsgefüge und das inneres Gleichgewicht der Teilnehmer eines solchen Programms dar. Zwar sind das Handeln der Straftäter und die diesem vorausgehenden inneren Vorgänge prinzipiell be- wusstseinsfähig, die Täter setzen sich jedoch in der Regel nicht freiwillig damit auseinander. Dafür spricht, dass in der Regel vor jeder Art von Behandlung die eigenen Straftaten bzw. die jeweiligen Motivationen verleugnet oder erheblich bagatellisiert werden müssen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den eigenen Delikten und der von einem selbst ausgehenden Gefährlichkeit wird von Tätern aus Gründen der Selbsterhaltung, zur Aufrechterhaltung des eigenen narzisstischen Gleichgewichts und zur Abwehr der bei den Betreffenden in erheblichem Maße vorliegenden Scham- und Schuldproblematik meist vermieden. Dies gilt in besonderem Maß für die Klientel des Maßregelvollzugs, bei der meist eine in biografisch frühe Zeit zurückreichende bzw. früh ihren Ausgangspunkt nehmende und somit das gesamte bisherige Leben durchziehende und kennzeichnende, schwere Persönlichkeitsproblematik vorliegt, wie sie in den oben skizzierten Diagnosen und Untersuchungen in knappen Worten zusammengefasst worden ist. Die so genannten Ich-Leistungen dieser Patienten wie die Selbstund Fremdwahrnehmung, die Selbststeuerung, die Introspektionsfähigkeit, die Abwehr, die Kommunikation und das Eingehen von Bindungen sind vor dem Hintergrund ihrer erheblichen ich-strukturellen Defizite gering ausgebildet bzw. operieren auf einem wenig differenzierten Niveau. Dass das SOTP für diese Patienten eine erhebliche Labilisierung des psychischen Gleichgewichts nach sich zieht, kann letztlich daran abgelesen werden, dass 2 Patienten unserer Gruppe dieser Konfrontation nicht standgehalten haben. Herr B. war ausgeschieden, weil er sich auch durch den Besuch von in parallel zur Gruppe stattfindenden Einzelsitzungen nicht dazu in der Lage sah, sich zu den eigenen sexuellen Übergriffen zu bekennen, weil er „die Perversionen der anderen nicht aushalte“, wie er sagte. Ein weiterer Grund für sein Ausschei-