Kultursensible Aspekte während der Diagnostik von psychischen

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Übersicht
Kultursensible Aspekte während der Diagnostik von psychischen
Belastungen bei Flüchtlingen – Zwei kommentierte Fallberichte
Culture-Sensitive Aspects in Diagnostics of Mental Distress in
­Refugees – Two Commented Case Reports
Yuriy Nesterko, Marie Kaiser, Heide Glaesmer
Institut
Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig
Zusam m e n fa ss u n g
Es ist bekannt, dass Menschen, die aufgrund kriegsassoziierter traumatischer Erfahrungen (z. B. Kriegshandlungen, Folter und Vertreibung)
ihr Heimatland verlassen müssen, häufiger unter psychischen Störungen, insbesondere Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. In
Abhängigkeit vom kulturellen Hintergrund ergeben sich unterschiedli-
Schlüsselwörter
che Formen von Krankheitsverständnis, Symptomrepräsentationen und
Kultursensible Diagnostik, PTBS, Migration, Flüchtlinge
folglich Verarbeitungsstrategien bzw. Behandlungserwartungen. Um
Keywords
cultur-sensitive diagnostics, PTSD, migration, refugees
eingereicht 21.01.2016
akzeptiert 28.04.2016
Bibliografie
DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0042-107802
Online-Publikation: 5.10.2016
diese Besonderheiten traumatisierter Menschen aus anderen Kulturen
angemessen zu berücksichtigen, bedarf die diagnostische Arbeit eines
kultursensiblen Vorgehens. In diesem Beitrag wird anhand zweier kommentierter Fallberichte auf die Aspekte kultursensibler Psychodiagnostik von Geflüchteten eingegangen. Insbesondere der Aspekt der sprachlichen und im weitesten Sinne kulturellen Verständigung zwischen
Diagnostiker, Klient und gegebenenfalls Sprachmittler ist ein Schwerpunkt dieser Arbeit.
Psychother Psych Med 2017; 67: 109–118
Abs tr ac t
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
High levels of mental disorders, especially PTSD, are commonly known
ISSN 0937-2032
among groups of people forced to leave their homeland as a conse-
Korrespondenzadresse
Yuriy Nesterko
Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie
Universitätsklinikum Leipzig
Philipp-Rosenthal-Straße 55
04103 Leipzig
[email protected]
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Autoren
quence of war-related experiences (e. g. armed conflict, torture or persecution). Depending on the cultural background the perceptions of
illnesses vary, different symptom presentation and thereupon different
coping strategies respectively expectations towards health care services
exist. To minimize the danger of misdiagnosis by different experts working with refugees in the host countries, a culture-sensitive diagnostic
approach is needed from the beginning. This article describes important
aspects of culture-sensitive diagnostics by means of 2 commented case
reports. Special focus is set on the aspect of linguistic and in a broader
sense cultural comprehension between therapist, client and if necessary language mediator.
Einführung in die Thematik
Mit zunehmender Zuspitzung der Konflikte in den aktuellen Krisengebieten wie z. B. Syrien, steigt die Zahl der Menschen, die in den
westlichen Industriestaaten Schutz suchen und Asyl beantragen
derzeit kontinuierlich an. Kaum ein anderes Thema erfährt momentan eine derart kontrovers geführte Debatte seitens der Politik und
der Medien wie das des gesellschaftlichen Umgangs mit Flüchtlingen in Deutschland. Menschen, die aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen, organisierter Gewalt und Verfolgung ihr Heimatland verlassen, sich lebensbedrohlichen Situationen während
der Flucht aussetzen und zunächst unter oft schwierigen Bedingungen im Aufnahmeland leben, sind im Hinblick auf ihre psychische
Gesundheit als Hochrisikogruppe zu verstehen. So vielschichtig die
mediale Berichterstattung und so breit das Spektrum der politischen Standpunkte diesbezüglich zu sein scheinen – aktuell gibt es
keine verlässlichen, epidemiologischen Daten zu Häufigkeit und
Ausmaß der psychischen Belastungen bei den sich in Deutschland
im Asylverfahren befindenden bzw. Asyl genießenden Menschen.
Abgesehen von den allgemeinen Richtlinien zur Begutachtung von
Flüchtlingen, gibt es derzeit keine einheitliche Verfahrensweise sowohl hinsichtlich der Diagnostik als auch der Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen, wenngleich Vorschläge aus der unmittelbaren Praxis gemacht wurden [1]. Aufgrund struktureller Hindernisse (unklare Finanzierung, juristische und administrative
Vorschriften, Vermittlung von Kultur- und Sprachmittlung) und
sich daraus ableitenden Unsicherheiten aufseiten der Behandler ist
die Arbeit im Bereich der psychiatrischen bzw. psychotherapeuti-
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schen, aber auch der allgemeinen Versorgung erschwert. Hinzu
kommt die Tatsache, dass obwohl das Asylbewerberleistungsgesetz explizit die Behandlung von akuten Erkrankungen, Erkrankungen, die mit Schmerzen verbunden sind und Erkrankungen, deren
Behandlung zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich ist, vorsieht,
die Leidenszustände aus dem Bereich der psychischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen bei der Auslegung der Akuität bzw. Unerlässlichkeit in der Regel ausgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund und bedingt durch sprachliche und kulturelle Besonderheiten im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen sind viele Ärzte,
Psychothherapeuten und andere Helfer vor große Herausforderungen gestellt. Ausgehend von den wenigen internationalen und nationalen Berichten zu psychischen Belastungen von Flüchtlingen wird
in diesem Beitrag anhand von 2 Fallberichten insbesondere auf die
Aspekte einer kultursensiblen Diagnostik eingegangen.
Psychische Belastungen von Flüchtlingen
– Stand der Forschung
Über den psychischen Gesundheitszustand von Flüchtlingen in
Deutschland gibt es kaum verlässliche Daten, obwohl Einigkeit darüber besteht, dass innerhalb dieser Personengruppe mit deutlich
höheren Prävalenzraten vor allem für die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) verglichen mit den Werten für die Allgemeinbevölkerung gerechnet werden kann [1–4]. Es erscheint naheliegend, dass Flüchtlinge sowie Kriegs- und Folteropfer häufiger von
psychischen Erkrankungen betroffen sind [5]. Menschen, die ku-
mulativen traumatischen Ereignissen vor, während und nach der
Flucht und Vertreibung ausgesetzt sind (▶Abb. 1), weisen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko auf [6–9].
So erleben Flüchtlinge häufig lang andauernde und wiederholte interpersonelle Traumatisierungen wie Krieg, Verfolgung und
Folter [5]. Dazu kommen die Erfahrungen während der Flucht, in
manchen Fällen über mehrere Wochen und Monate andauernd,
welche mit weiteren traumatischen Ereignissen einhergehen können, aber auch mit Veränderungen, die sowohl kulturelle Werte als
auch den sozioökonomischen Status und Verlust von Freunden und
Familie einbeziehen [10]. Im Aufnahmeland erleben Flüchtlinge
häufig weitere Belastungssituationen, oft herrscht Unsicherheit
über den Aufenthalt und den Ausgang des Asylverfahrens. Zudem
bietet das Leben in einer Erstaufnahmeeinrichtung bzw. einer Notunterkunft mit vielen, unterschiedlichen Kulturen auf engstem
Raum, fehlenden Rückzugsmöglichkeiten und kaum vorhandenen
Beschäftigungsangeboten unzureichend Bewältigungsmöglichkeiten, um angemessen mit Traumafolgen umzugehen [7]. Johnson
und Thompson [5] konnten infolge der Verzögerungen im Asylprozess, der Einsamkeit und Eintönigkeit in den Flüchtlingsheimen ein
erhöhtes Risiko für das Auftreten einer psychischen Erkrankung
feststellen. Ähnliches berichten Laban et al. [11–13] für Geflüchtete aus Irak in Niederlanden und Heeren et al. [14, 15] für verschiedene Flüchtlingsgruppen in der Schweiz. In Bezug auf soziale beziehungsweise interpersonelle Prozesse sind Flüchtlinge häufig weiteren Belastungen auf mehreren Ebenen ausgesetzt. So bleibt die
Anerkennung als Opfer der erlebten Traumata häufig aus. Im Hinblick auf den Bereich der sozialen Beziehungen ist festzustellen,
Belastungen vor der Flucht
Belastungen während der
Flucht
Belastungen im
Aufnahmeland
Naturkatastrophen
Armut und Mangel an Nahrung
Armut und Mangel an Nahrung
Bewaffnete Konflikte
(Ausbombung, Beschuss,
Belagerung)
Drohende Abschiebung/unklarer
Aufenthaltsstatus/unklare
Perspektiven
Bewaffnete Konflikte
(Ausbombung, Beschuss,
Belagerung)
Genozid oder Verfolgung
aufgrund von Religion, ethnischer
Zugehörigkeit usw.
Organisierte Gewalt
Verfolgung und Gewalterleben
bzw. Zeugenschaft
Inhaftierung, Folter
Sexualisierte Kriegsgewalt,
Zwangsverheiratung
Verfolgung und Gewalterleben
bzw. Zeugenschaft
Leben in Illegalität
Beengte Wohnverhältnisse
Abschiebehaft
Mangel an
Beschäftigungsmöglichkeiten
Leben in Flüchtlingslagern
Verständigungsschwierigkeiten
Trennung von Angehörigen
Probleme mit Kommunikation mit
Behörden
Mangel an Informationen über
Verbleib von Angehörigen
Angst vor Abschiebung
Leben in Illegalität
Verlust von Angehörigen
Obdachlosigkeit
Mangel an Informationen über
Verbleib von Angehörigen
Lebensbedrohliche Situationen
Gefühl der Unerwünschtheit
Anfeindungen
Gefühl der Fremdheit
Verlust der sozialen Bezüge
„Anpassungsanforderungen“
▶Abb. 1 Flucht als Prozess – Risiko kumulativer und andauernder Belastungen.
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Übersicht
Kultursensible Diagnostik und Arbeit mit
Sprachmittlern im psychiatrischen bzw.
psychotherapeutischen Setting
Als eine der Grundlagen für eine sachgerechte Beurteilung der psychischen Belastung von Flüchtlingen wie auch anderen Personen
mit Migrationshintergrund ist in der Kultursensitivität der Erhebungsmethode zu sehen. Häufig weichen sprachlich- und kultur-
bedingte Vorstellungen der Ärzte bzw. Psychotherapeuten im Hinblick auf das, was „krank“ bzw. „gesund“ sei von den entsprechenden Konzepten der Patienten bzw. Klienten ab. Gerade im Bereich
der psychischen Gesundheit mag die Spannweite der unterschiedlichen Sichtweisen auf die Ursache, Symptomatik und letztendlich
angemessene Behandlung seitens der Betroffenen eine große Herausforderung für den Behandler sein. Unstimmigkeiten bzw. erfahrene Barrieren auf der kulturellen bzw. sprachlichen Ebene können zu Unter-, Über- und Fehlversorgung führen [28]. Allgemein
wird davon ausgegangen, dass das Risiko einer Fehldiagnose bei
Personen mit Migrationshintergrund höher ist [29]. Insofern gilt es
für den Diagnostiker die kulturspezifischen Besonderheiten beim
Schildern pathologischer Symptome, wie auch die kulturell bedingten Erwartungen der Patienten hinsichtlich der Kommunikation
und Behandlung im besonderen Maße zu berücksichtigen [30].
Dabei nimmt die Sprache und im weitesten Sinne die Spezifik der
kulturellen Färbung der Symptomschilderung Einfluss auf die Erhebung sowohl körperlicher wie auch psychischer Symptome. In diesem Zusammenhang wird von sogenannten „Idioms of Distress“
[31] gesprochen. Anhand entsprechender kulturspezifischer Ausdrucksmuster wird die Diskrepanz im Verständnis einer idiomatischen Wendung zwischen den Trägern zweier unterschiedlicher
Sprach- und Kulturräume beschrieben. So kann bspw. eine bestimmte Aussage oder Verhaltensweise, die in einer Kultur als typisch für Depression gilt, von den Vertretern einer anderen Kultur
nicht als eine solche aufgefasst werden [32], selbst wenn die Aussage bzw. geschildertes Verhalten korrekt sprachlich übersetzt
wurde. In Anlehnung an die psychometrische Diagnostik ist hier
vom Konstruktbias bzw. von der fehlenden funktionalen Äquivalenz des Symptoms die Rede [33]. Darüber hinaus spielen die kulturell bedingten Unterschiede im Ausmaß der Bereitschaft über
bestimmte Symptome zu sprechen, wie auch das Verhältnis zwischen dem erlebten und geschilderten Leidensdruck eine nicht unwesentliche Rolle. Gerade das überwiegend „westlich geprägte“
Konzept der Depression ist in seiner Kultursensitivität unzureichend
erforscht [32]. Es wird vermutet, dass aufgrund „abweichender Beschwerdemuster“ bei Patienten anderer Kulturkreise viel seltener
depressive Erkrankungen aufgedeckt werden und es in der Folge
häufiger zu Fehldiagnosen kommt [34, 35]. Um diesen Herausforderungen angemessen zu begegnen, empfiehlt sich neben dem
Einsatz muttersprachlicher Untersucher, der jedoch im Rahmen
eines psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Settings auf eine
Reihe von strukturellen Problemen stößt, vor allem das Hinzuziehen von sogenannten Kultur- und Sprachmittlern [36].
Aus der nationalen [37–39] und internationalen [40, 41] Literatur zur Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund und
unzureichenden Sprachkenntnissen wissen wir, dass der Einsatz
professioneller Sprachmittlung nicht nur die Verständigung erleichtert, sondern sich auch positiv auf die Arzt-Patient-Beziehung auswirkt. Dabei setzt die Sprachmittlung neben der reinen Übersetzungstätigkeit, vertiefte medizinische Kenntnisse, das Wissen um
Werte und Normen der jeweiligen Kulturkreise sowie eine neutrale Vermittlungsrolle in der Triade Arzt-Sprachmittler-Patient voraus. Trotz des positiven Zusammenhangs zwischen der Zufriedenheit mit der Behandlung seitens der Patienten mit unzureichenden
Sprachkenntnissen des Aufnahmelandes und dem Grad der Professionalität der Sprachmittlung [40] ist der Einsatz sogenannter „Lai-
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dass Flüchtlinge überwiegend isoliert leben und es ihnen an entsprechender Unterstützung und der Möglichkeit zum Austausch
über das Erlebte mangelt [16]. So zeigten Asylbewerber in einer
Studie aus Finnland [17] höhere Prävalenzraten einer PTBS als die
anerkannten Flüchtlinge. Lindert et al. [18] stellten in ihrer länderübergreifenden Übersichtsarbeit einen Zusammenhang zwischen
aufenthaltsrechtlichem Status von Migranten und den Prävalenzraten von Depression, Angst und PTBS fest. Demnach haben Flüchtlinge deutlich höhere Prävalenzraten als Arbeitsmigranten. Ähnlich
hohe Raten für PTBS (30,6 %) bzw. Depression (30,8) bei Asylsuchenden wurden in einer Metaanalyse von Steel et al. [7] ermittelt.
Zu einem anderen Ergebnis kommen Fazel, Wheeler und Danesh
[19] in ihrer Übersicht von insgesamt 20 Studien mit etwa 7 000
Asylsuchenden. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung fanden die
Autoren erhöhte PTBS-Prävalenzen, jedoch keine erhöhten Raten
für Depressionen und Angststörungen. Eine die aktuellen Verhältnisse annähernd abbildende Arbeit fehlt bislang.
Ob jemand an einer PTBS erkrankt, ist unter anderem von Art
und Dauer des erlebten Traumas abhängig [8, 20–22]. Den unterschiedlichen Schätzungen internationaler Studien zufolge wird
davon ausgegangen, dass die Wahrscheinlichkeit eine PTBS zu entwickeln bei erlebten Traumata wie Krieg und Folter bei 50 % der Betroffenen liegen [8, 23]. Die Lebenszeitprävalenz einer PTBS für die
Allgemeinbevölkerung in unterschiedlichen Ländern liegt zwischen
1 und 7 %. Für Deutschland wurden Prävalenzen für PTBS von 2,3 %
[23] bzw. 2,9 % [24] gefunden. Laut der Übersichtsstudie von Lindert et al. [18] ergeben sich grobe Schätzungen der Prävalenzraten
für PTBS bei Flüchtlingen von 5 bis 35 % in unterschiedlichen Ländern. In einer kleinen Studie in Deutschland mit 76 Flüchtlingen
ergab sich eine Punktprävalenz für PTBS von 40 % [25]. Den Ergebnissen einer kürzlich durchgeführten Studie [26] mit syrischen
Flüchtlingskindern (N = 102) zufolge, erfüllen 22 % der untersuchten Kinder das Vollbild einer PTBS, 16 % leiden an einer Anpassungsstörung. Auch in der gerade veröffentlichten Arbeit von Richter,
Lehfeld und Niklewski [27] mit insgesamt 283 Asylbewerbern
wurde bei 63,6 % der Stichprobe mindestens eine psychiatrische
Diagnose ermittelt, die Prävalenzrate für PTBS lag mit 32,2 % vor.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Flüchtlinge mit
einer hohen Wahrscheinlichkeit und häufiger als die deutsche Allgemeinbevölkerung, sowie auch andere Migrantengruppen von
einer PTBS und weiteren psychischen bzw. Traumafolgestörungen
betroffen sein werden. Vor allem im Hinblick auf die methodische
Heterogenität sowie große Diversität der untersuchten Flüchtlingspopulationen in den vorliegenden Studien kann bislang keine eindeutige, die aktuellen Verhältnisse abbildende Aussage über die
Prävalenzraten für die erwähnten psychischen Erkrankungen bei
Flüchtlingen in Deutschland getroffen werden.
endolmetscher“ im ambulanten wie stationären Bereich jedoch viel
häufiger an der Tagesordnung. Gerade beim Hinzuziehen nicht professioneller Kultur- und Sprachmittler gilt es eine Reihe an Besonderheiten während der Diagnostik bzw. Therapie von Patienten mit
unzureichenden Sprachkenntnissen und dabei insbesondere von
Flüchtlingen zu berücksichtigen. Detaillierte Information zur Arbeit mit Sprachmittlern im interkulturellen, psychotherapeutischen
Kontext finden sich in den Beiträgen von Morina, Maier und Schmid
Mast [37] sowie Kluge [42].
Zusammenfassend und in Anlehnung an den Leitfaden zur kultursensiblen Diagnostik als Begleittext (Cultural Formulation Interview, CFI) des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – DSM-5 [43] sei auf die 4 Bereiche verwiesen, die im Rahmen
eines kultursensiblen, diagnostischen Prozesses eine besondere
Beachtung finden sollten:
▪▪ Kulturelle Identität des Patienten (Wertorientierungen,
Sprachkenntnisse, Selbst- und Körperbild, Weltanschauungen)
▪▪ Kulturell gebundene Leidenskonzepte
▪▪ Psychosoziale Stressoren und kulturelle Besonderheiten von
Vulnerabilität und Resilienz
▪▪ Kulturelle Eigenschaften der Beziehungen zwischen dem
Betroffenen und dem Behandler
Im Folgenden werden 2 Praxisfälle vorgestellt, an deren Beispiel
die 4, oben aufgelisteten Aspekte einer kultursensiblen diagnostischen Arbeit ausführlich erläutert werden sollen.
2 Beispiele aus der Praxis
Bei den ausgewählten Fällen handelt es sich um Geflüchtete, die
sich im Zuge eines auslaufenden Asylverfahrens an den Erstautor
des Beitrages, der im Rahmen ehrenamtlicher Tätigkeit psychologische Stellungnahmen für Flüchtlinge und Asylsuchende erstellt,
mit der Bitte gewandt haben, sie in Hinblick auf ihr aktuelles psychisches Befinden zu untersuchen. Mit beiden Klienten wurden in
jeweils 2, etwa zweieinhalbstündigen diagnostischen Sitzungen
neben anamnestischen Daten und den allgemeinen psychosozialen Belastungen, die aktuelle Symptomatik bezüglich posttraumatischer Belastungsstörung, depressiver Störungen sowie Angststörungen erhoben. Zur Erfassung der psychischen Beschwerden wurden standardisierte Fragebögen (PHQ-9, HSCL-25, IES-R, PDS und
BDI) eingesetzt. Die Gespräche sowie das Ausfüllen der Fragebögen erfolgten im ersten Fall mithilfe einer Sprachmittlerin, im zweiten Fall wurde die Untersuchung in russischer Sprache durch den
Diagnostiker1 selbst geführt.
Fallbeispiel 1 – Frau D. geb. 1991 in Deutschland
Frau D. sei in Deutschland zur Welt gekommen und sei ab dem Alter
von 3 bis 7 Jahren mit ihren Eltern und dem älteren Bruder in Mazedonien, da wo die Familie herkomme, aufgewachsen. Die Eltern
von Frau D. seien „türkischer“ Abstammung und seien daher, so
Frau D., Teil einer diskriminierten Minderheit in Mazedonien gewesen. Nach mehrmaligem Nachfragen stellte sich heraus, dass es sich
bei der „türkischen“ Abstammung um die Zugehörigkeit zur Gruppe der Roma handelt. Die Ursprungsfamilie habe kurze Zeit vor Frau
1 Muttersprachler
112
D’s Geburt infolge der Balkankriege einen Antrag auf Asyl in
Deutschland gestellt, der nach 3 Jahren abgelehnt worden sei. Die
Familie sei dann nach Mazedonien zurückgekehrt. Als Frau D. 7
Jahre alt gewesen sei, habe ihre Mutter die Familie verlassen, woraufhin Frau D. und der damals 13-jährige Bruder bei den Großeltern väterlicherseits untergebracht worden seien. Ihre Mutter habe
Frau D. seitdem nicht mehr gesehen, zu dem Vater bestehe ein unregelmäßiger und seltener Kontakt. Bis zu ihrem 14. Lebensjahr sei
Frau D. bei den Großeltern aufgewachsen, wobei die Beziehung zu
der Großmutter als liebevoll und fürsorglich beschrieben wurde.
Von dem Großvater dagegen sei Frau D. häufig geschlagen worden.
Nach der vierten Klasse habe Frau D. die Schule verlassen, weil der
Großvater kein Geld für ihre Ausbildung habe investieren können.
Im Alter von 14 Jahren, berichtete Frau D., habe sie einen 18-jährigen Mann aus der Nachbarschaft „geheiratet“ d. h. eine inoffizielle
Ehe eingegangen. Seitdem habe Frau D. mit im Haushalt des Ehemannes gelebt. Die inoffizielle Ehe habe ein Jahr bestanden. Der
Ehemann hätte in dieser Zeit viel getrunken und Frau D. regelmäßig körperlich misshandelt, woraufhin Frau D. geflüchtet sei. Nach
dieser Beziehung sei Frau D. eine zweite (offizielle) Ehe eingegangen, in der sie aktuell lebe und aus der 2 Töchter hervorgingen. Ihr
derzeitiger Ehemann sei ebenfalls „türkischer“ Abstammung, sodass die Familie häufig bedroht und diskriminiert worden sei. Seit
2009 lebe Frau D. mit dem Ehemann und den beiden Kindern in
Deutschland.
In den Gesprächen berichtete Frau D. über zahlreiche traumatische Erlebnisse. So musste sie mehrere Male um ihr Leben fürchten. Sie sei von dem ersten Ehemann gefoltert worden und habe
keine Möglichkeit gehabt, eine medizinische Versorgung in Anspruch nehmen zu können. Sie sei Zeugin von kriegerischen Auseinandersetzungen in ihrem Herkunftsland gewesen und habe nicht
ausreichend Nahrung gehabt. 2009 sei sie in Mazedonien durch 3
Männer vergewaltigt worden. Aus ihrer Sicht sei dies das schwerwiegendste traumatische Ereignis gewesen. Die Männer, die sich
als Polizisten ausgegeben hätten, seien ohne Erklärungen in ihre
Wohnung eingedrungen und hätten die Räume nach ihrem Ehemann durchsucht. Als sie diesen dort nicht fanden, meinten die
Männer, Frau D. müsse nun für ihren Ehemann „büßen“. Daraufhin
sei sie von jedem der 3 Männer nacheinander vergewaltigt worden.
Frau D. schäme sich sehr dafür, was ihr widerfahren sei und habe
sich bis vor einem Jahr niemandem anvertraut. Selbst ihren Ehemann habe Frau D. darüber zunächst nicht in Kenntnis gesetzt. Unmittelbar nach diesem Vorfall habe die Familie entschieden nach
Deutschland zu gehen, da die Lage bedrohlicher geworden und die
Familie verfolgt worden sei.
An den Folgen der Vergewaltigung habe Frau D. stark gelitten,
was sich in unterschiedlichen körperlichen (starke Kopf- und Gelenkschmerzen, Menstruationsschmerzen, Kurzatmigkeit) und psychischen Symptomen (Schlafstörungen, wiederkehrende Albträume, Konzentrationsschwierigkeiten) niedergeschlagen habe. Die
Symptome nahmen, so Frau D., immer mehr zu, sodass es vor
einem Jahr zu einem Zusammenbruch gekommen sei, der mit einer
Einweisung in die Psychiatrie einherging. Vor lauter Ausweglosigkeit und mangelnder Impulskontrolle habe Frau D. angefangen, mit
Gegenständen in der Wohnung um sich herzuwerfen und sei eine
Bedrohung für den Ehemann und ihre Kinder gewesen. Nach dem
Klinikaufenthalt befand sich Frau D. in einer psychotherapeutischen
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Übersicht
Fallbeispiel 2 – Herr S. geb. 1976 in der Republik
Tschetschenien, Russische Föderation
Herr S. sei verheiratet, habe 4 Kinder im Alter von 2 bis 12 Jahren
und lebe zusammen mit seiner Familie in einer sächsischen Kleinstadt. Seit April 2013 sei die Familie mit Aufenthalten in Georgien,
Polen und Dänemark auf der Flucht und seit September 2014 in
Deutschland. Über frühere Fluchterlebnisse berichtete Herr S. vor
allem in Bezug auf die beiden Tschetschenienkriege. Bereits als Jugendlicher, im Alter von 16 Jahren habe Herr S. die ersten kriegerischen Auseinandersetzungen in seinem Heimatland erlebt. Während des ersten Tschetschenischen Krieges (1994–1996) sei er mit
seiner Ursprungsfamilie nach Dagestan geflohen, im Zuge des zweiten Tschetschenienkrieges (1999–2009) sei er mit der Ehefrau nach
Inguschetien geflohen, wo auch die ersten beiden Kinder zur Welt
gekommen seien. In dieser Zeit sei Herr S. unmittelbar Zeuge zahlreicher traumatischer Situationen gewesen. So berichtete Herr S.
immer wieder von zerstörten, zerbombten Häusern, verbrannten
Körpern, Schießereien sowie auf den Straßen liegenden Leichen.
Das schlimmste Erlebnis, so Herr S., sei die Bombardierung zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges gewesen, bei der er sich
als 22-Jähriger während eines Luftangriffes mit vielen anderen Menschen auf offener Straße aufgehalten habe und „zum Glück“ entkommen konnte. Dabei erinnerte er sich an eine hochschwangere
Frau, die ihn schreiend um Hilfe gebeten habe. Seitdem träume
Herr S. von dieser Situation immer wieder. Im Zuge dieser Erlebnis-
se leide Herr S., seinen Angaben nach, an chronischen Schlafstörungen. Er berichtete von Einschlafproblemen, extrem kurzen
Schlafzeiten und wiederholten Albträumen. Hinzu kämen die seit
Jahren belastenden Magenbeschwerden, sowie Knieprobleme und
vermehrt in den Nachtstunden aufkommenden Taubheitsgefühlen
in den Oberschenkeln. Kurz nach dem geschilderten Bombardierungserlebnis habe Herr S. an plötzlichen Atemnotattacken gelitten. Danach sei Herr S. zeitweise in ärztlicher Behandlung gewesen
und berichtete von der längeren Einnahme eines Psychopharmakons (Diazepam), das zur Behandlung der Angstzustände sowie der
Schlafstörung verordnet worden sei. Grund für die derzeitige Flucht
aus Tschetschenien seien wiederholte Bedrohungen der Familie
Anfang 2013 gewesen. Herr S. erzählte, dass nachts unbekannte,
maskierte und bewaffnete Männer in seine Wohnung eingedrungen seien und ihn abgeholt hätten. Mit verschlossenen Augen sei
er an einen unbekannten Ort gebracht worden, wo er dann gefoltert, und nach Informationen über einen entfernten Verwandten,
der unmittelbar im Kriegsgeschehen involviert gewesen sei, verhört worden sei. Währenddessen habe man Herrn S. geschlagen
und ihm und seiner Familie mit dem Tod gedroht. Einige Tage, nachdem er freigelassen worden sei, seien die Männer wiedergekommen und hätten ihn erneut verschleppt. Als er danach zum zweiten
Mal freigelassen worden sei, so Herr S., habe die Familie beschlossen, das Land zu verlassen.
Herr S. hat lange Zeit unter schwierigen Bedingungen in Tschetschenien und anliegenden Regionen gelebt. Er hat mehrere interpersonelle und zum Teil langfristige traumatische Erfahrungen in
seinem Leben gemacht, die im Fall der geschilderten Entführungen
mit Todesängsten und einer realen Bedrohung des Überlebens einhergingen. Herr S. berichtete über verschiedene psychopathologische Symptome, wie diffuse, plötzliche Angstzustände, Schlafstörungen, Albträume und schmerzhafte, sich aufdrängende Erinnerungen an traumatische Ereignisse (Intrusionen), teilweise
Antriebsschwierigkeiten, körperliche Beschwerden, vor allem Magenschmerzen und Konzentrationsprobleme. Die Symptome weisen auf das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung
(F43.1) hin. Darüber hinaus lassen die von Herrn S. berichteten somatoformen Beschwerden auf eine undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1) schließen. Eine kontinuierliche psychotherapeutische Versorgung wurde im Falle von Herrn S. dringend angeraten.
Kulturelle Identität. In beiden Fällen handelt es sich um Menschen, die zu einer ethnischen Minderheit des jeweiligen Landes
gehören und im Zuge der Bürgerkriege in ihren Herkunftsregionen
vielfältige belastende Erfahrungen gemacht haben, unter deren
Folgen sie leiden. Während die ethnische Zugehörigkeit von Herrn
S. eher eindeutig ableitbar ist, handelt es sich bei der Zuordnung
einer kulturellen bzw. ethnischen Identität bei Frau D. um eine
Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Im Folgenden sollen
die wichtigsten Aspekte der kulturellen Prägungen der beiden Klienten näher beleuchtet werden.
Herr S. wuchs in Tschetschenien auf, einer Republik, die im kulturellen wie auch religiösen Sinn eine Sonderstellung innerhalb der
Sowjetunion hatte und des heutigen Russlands hat. Diese Sonderstellung begründet sich in erster Linie durch starke Unterschiede
in den Lebensgewohnheiten zwischen der größtenteils säkularisierten Mehrheitsgesellschaft, die früher im sozialistischen und
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Betreuung und wurde begleitend medikamentös mit einem Antidepressivum behandelt. Nach diesem Vorfall, berichtete Frau D.,
sei es noch einmal zu einer gewalttätigen Eskalation zwischen ihr
und dem Ehemann gekommen. So habe sie ihrem Ehemann im
Zuge eines Streits mit einem Messer gedroht und versucht ihn vom
Balkon der gemeinsamen Wohnung zu stoßen. Frau D. gab an, in
den geschilderten Situationen nicht wirklich anwesend gewesen
zu sein. Auch sei es ihr schwergefallen, sich unmittelbar nach dem
Ausbruch an das Vorgefallene zu erinnern. Zusätzlich leide Frau D.
an regelmäßigen nächtlichen Impulsdurchbrüchen, die ebenfalls
ausschließlich gegen den Ehemann gerichtet seien.
Zum Zeitpunkt der Gespräche berichtete Frau D. Symptome,
welche sowohl den Kriterien einer posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) als auch einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode (F32.1/F32.2) entsprechen. Fast täglich würde Frau
D. von sich aufdrängenden Erinnerungen (Flashbacks) an die Vergewaltigung heimgesucht. Sie träume häufig von dem Erlebten.
Sie beschrieb sich als durchgängig nervös und übersensibel. Sie
vermeide bewusst Tätigkeiten und Orte, die sie an die Vergewaltigung erinnern. Häufig fühle sich Frau D. ruhelos und könne nur
schwer still sitzen, zittere stark und bekomme Herzrasen. Dann, so
Frau D., folgten Phasen der andauernden Freud- und Interessenlosigkeit, von Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit begleitet. Generell gab Frau D. an, sich häufig wertlos zu fühlen und permanent von dem Gefühl begleitet zu werden, in ihrem Leben versagt zu haben. In die Zukunft blicke sie selten mit Zuversicht und
Freude. Frau D. gab an, mehrere Male darüber nachgedacht zu
haben, sich das Leben zu nehmen. Aus den beiden Gesprächen
wurde schnell ersichtlich, dass sich Frau D. in einem sehr labilen
psychischen Zustand befand und eine psychotherapeutische Behandlung dringend indiziert war.
heute im pluralistisch demokratischen Rechtsraum lebte bzw. lebt
und dem größtenteils vom sunnitischen Islam geprägten Leben in
der Tschetschenischen Republik. Die Unterschiede äußern sich in
vielen Aspekten des Zusammenlebens in den jeweiligen Gruppen
– Familienstrukturen, Geschlechterrollen, politische und religiöse
Bildung, aber auch Sprache. Herr S. stammt aus einer großen Familie mit vielen Kindern, die rege Beziehungen mit Verwandten
entfernterer Grade pflegt, hat selbst 4 Kinder und versteht sich als
Oberhaupt der Familie, der für den Unterhalt zu sorgen und Verantwortung für wichtige Entscheidungen zu tragen hätte. Herr S.
beschreibt sich nicht als religiös, was seine persönliche Sonderstellung innerhalb der Gemeinde, in der er aufwuchs kennzeichnet.
Seine Muttersprache ist Tschetschenisch, zusätzlich spricht er Russisch mit einem typischen „kaukasischen“ Dialekt, wobei er im Russischen häufig grammatikalische Regeln missachtet sowie einfache
Satzstrukturen und umgangssprachliche Wendungen bevorzugt. Im
Zuge der Kriege und der allgemeinen sozialen Notlage in Tschetschenien konnte Herr S. keine berufliche Ausbildung abschließen und hat
als einfacher, ungelernter Arbeiter in unterschiedlichen Branchen
gearbeitet. Der Bildungshintergrund der Ursprungsfamilie scheint
höher gewesen zu sein, Herr S. gab an, dass sein Vater Arzt war.
Im Gegensatz zu Herrn S. ist die Erfassung des ethnischen Hintergrunds von Frau D. wesentlich komplizierter. Die in Mazedonien
ansässige Herkunftsfamilie von Frau D. stammt ursprünglich, ihren
Angaben nach, aus der Türkei und lebte sowohl dort als auch in Mazedonien als Minderheit der sogenannten Roma Gruppe. In der Umgangssprache werden in Mazedonien, so Frau D., sowohl Roma als
auch die türkischstämmigen Personen als „Zigeuner“ bezeichnet.
Frau D. selbst kam im Zuge der Flucht ihrer Eltern während des Balkankrieges in Deutschland zur Welt und wuchs erst ab ihrem dritten Lebensjahr in Mazedonien auf, weil die Familie dorthin zurückgekehrt war. Die Bindungsstrukturen innerhalb der Familie sind im
Fall von Frau D. als besonders instabil zu beschreiben, ihre Mutter
verließ die Familie, zu Vater und Bruder hat Frau D. inzwischen kaum
Kontakt. Frau D. hat nur 4 Jahre die Schule besucht und gab an, sowohl Türkisch als auch Serbisch zu sprechen. Darüber hinaus lebt
Frau D. bereits seit 2009 mit ihrem Ehemann und den beiden Töchtern in Deutschland, sodass in ihrem Fall im Vergleich zur Migrationsgeschichte von Herrn S. von einem beginnenden Prozess der
Eingliederung der Familie gesprochen werden kann. Ihre Deutschkenntnisse sind nach eigener Aussage schlecht.
Im Hinblick auf das verbindende Element in beiden Fallberichten nimmt die erlebte Diskriminierung seitens der Mehrheitsgesellschaft im Herkunftsland eine tragende Rolle für die Selbstidentifikation der Klienten ein. Allerdings unterscheidet sich die Art der
Benachteiligung, die Frau D. als Zugehörige der Roma entgegen
gebracht wurde, in ihrem Ausmaß zu den Benachteiligungen der
Tschetschenen in Russland auf mehreren Ebenen. Im Gegensatz
zur Tschetschenen in Russland sind Roma in Mazedonien weder politisch noch geografisch organisiert und erleben darüber hinaus
eine bereits seit Jahrhunderten tradierte Benachteiligung nicht nur
auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. In Deutschland erleben sie dann eine Art doppelte Stigmatisierung – als Zuwanderer
und als Roma.
Kulturell gebundene Leidenskonzepte. Sowohl bei Frau D. als
auch bei Herrn S. lag der Fokus der Symptomschilderungen auf der
somatischen Ebene. Trotz bereits erfolgter psychiatrischer Behand-
114
lungen standen die körperlichen Symptome für die Klienten in beiden Fällen im Vordergrund, was unter anderem auf eine vermutlich
stärker ausgeprägte Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen in den jeweiligen Kulturkreisen der Klienten schließen lässt. Bei
der Erfassung der psychischen Symptome war es den beiden wichtig immer wieder auf die körperliche Ausprägung dieser hinzuweisen. Es schien, als würden die psychischen Probleme mit der Koexistenz der körperlichen Beschwerden erklärt bzw. dadurch eine
Rechtfertigung erhalten. Andererseits ist bekannt, dass gerade bei
Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung im Vergleich zu anderen psychischen Störungen fast immer somatoforme
Symptome auftreten und als solche häufiger berichtet werden [44].
Während der Schilderung des traumatischen Schlüsselereignisses wurde bei beiden Klienten ein ähnliches Verhalten beobachtet.
Für beide schien es unangenehm über das Erlebte zu sprechen,
beide erwähnten das Wort Scham, für beide schien das, was ihnen
zugefügt wurde, neben der offensichtlichen körperlichen Gewalt,
als eine tiefe Kränkung der eigenen Integrität gewirkt zu haben.
Diese Wahrnehmungen sind jedoch als kulturübergreifend zu verstehen, da auch bei Personen „westlicher“ Prägung die Auseinandersetzung mit Scham im Zuge ähnlicher Traumatisierungen häufig stattfindet. Sowohl Frau D. als auch Herr S. schienen sich der
Last der vordergründig psychischen Belastung bewusst zu sein, in
den Äußerungen über eine angemessene Behandlung gab es jedoch Unterschiede zwischen den Klienten. Während Frau D. sich
ausdrücklich eine psychotherapeutische Behandlung wünschte,
stand für Herrn S. solch eine Behandlungsmöglichkeit eher im Hintergrund, obwohl er sich „… etwas besser fühlt, wenn er über seine
Alltagsprobleme mit jemandem reden kann …“. Hierbei mag der
Unterschied auf den jeweiligen Erfahrungen der Klienten beruhen.
Zudem war die Symptomlast auf der somatischen Ebene bei Herrn
S. deutlich stärker ausgeprägt, was sich in der entsprechenden Diagnose niederschlug. Darüber hinaus befand sich Frau D. bereits in
stationärer Behandlung in Deutschland und schien daher mit dem
deutschen psychiatrischen Versorgungssystem erfahrener zu sein,
Herr S. begab sich auf die Suche nach einem Psychologen auf den
Ratschlag eines Hausarztes hin.
Während der fragebogenbasierten Erfassung psychischer Symptome wurde sowohl bei Frau D. als auch bei Herrn S. des Öfteren
Unverständnis bzw. Irritation beobachtet. Dies geschah vordergründig während der Erhebung einzelner Items der Depressionsund PTBS-Skalen. Beiden schien es schwerzufallen, die einzelnen
Aussagen in Bezug auf ihren Schweregrad zu beurteilen, sodass das
Antwortformat (4- bzw. 7-stufige Likert-Skalen) den Klienten mehrmals erklärt wurden musste. Beispielhaft sei hier ein Item aus dem
HSCL-25 erwähnt – „Mattigkeit, Schwindel oder Schwäche“ mit
den Antwortmöglichkeiten „überhaupt nicht“, „ein wenig“, „ziemlich“ oder „extrem belastet in der letzten Woche einschließlich
heute“. Sowohl Frau D. als Herr S. äußerten Schwierigkeiten, sich
zwischen „ziemlich“ und „extrem“ zu entscheiden.
Psychosoziale Stressoren und kulturelle Besonderheiten von
Vulnerabilität und Resilienz. Abgesehen von der geschilderten
Symptomlast wurde eine Reihe von zusätzlichen Stressoren bei den
Klienten eruiert, die von einer typischen Lebenssituation als Geflüchtete zeugen. Für beide Klienten stellte das auslaufende Asylverfahren und eine damit einhergehende Unsicherheit in Bezug auf
einen weiteren Verbleib in Deutschland eine große Belastung dar.
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denstellend. Auch die Rolle einer möglichst neutralen Vermittlung
zwischen der Klientin und dem Diagnostiker wurde von der Sprachmittlerin gewahrt. Zusätzliche Informationen über den kulturellen
Hintergrund der Klientin konnten im Nachgespräch mit der Sprachmittlerin erhoben werden.
Im Fall des Herrn S. konnte aufgrund der direkten Kommunikation zwischen dem Klienten und dem Diagnostiker schnell eine Arbeitsbeziehung aufgebaut werden. Nachdem der Klient zu Beginn
des Gesprächs den ethnischen bzw. kulturellen Hintergrund des
untersuchenden Psychologen (Ukraine) erfragt hatte, äußerte er
sich zuversichtlich hinsichtlich des Ausmaßes eines potenziellen
Verständnisses. Herr S. ging von einem „solidarischen Miteinander“ aus, welches sich aus der Ähnlichkeit der antizipierten politischen Hintergründe beider Herkunftsländer in Bezug auf die Einstellung gegenüber der aktuellen politischen Führung der Russischen Föderation ergab. Diese zu Beginn der Untersuchung
geäußerte Verbundenheit erschwerte die Arbeit des Diagnostikers
im anamnestischen Teil insofern, als dass der Klient dazu neigte,
Informationen verkürzt und ohne kontextuellen Bezugs von sich zu
geben. Mehrere Male verwies der Klient den Diagnostiker daraufhin, dass dieser sich alles Weitere, das nicht Gesagte „denken
könne“, da er „die allgemeine Lage ja kenne“.
Auffällig war zudem, dass der Klient geläufige idiomatische Wendungen beim Schildern der Symptome verwendete („der Kopf
brennt“, „erfrorene Körperstellen“, „Nebel in den Augen“, „Beine
wie aus Watte“ usw.), auf die der Diagnostiker dann im Detail eingehen konnte. Positiv wirkte sich ebenfalls der vergleichsweise geringe Altersunterschied zwischen dem Klienten und dem Diagnostiker
aus, der es Herrn S. scheinbar erleichterte, sich auf das Gespräch einzulassen und auf die ihm gestellten Fragen offen zu antworten.
Zusammenfassend ist zu betonen, dass die Arbeit ohne eine
Sprachmittlung erwartungsgemäß natürlicher empfunden wurde,
sowohl aufseiten des Klienten als auch auf der des Diagnostikers,
gleichzeitig birgt diese kulturelle bzw. sprachliche Kongruenz
(Kenntnisse um soziale, politische, kulturelle usw. Eigenheiten des
Herkunftslandes, die gleiche Sprache, die beim Schildern der Symptome, gerade für psychische Störungen reicher und präziser wirkt)
Besonderheiten, die den Diagnostiker zu einer erhöhten Reflexion
zwingen. Die Arbeit mithilfe einer hinzugezogenen Sprachmittlung
erscheint im psychodiagnostischen Setting „nüchterner“ und unterstreicht vor diesem Hintergrund den Arbeitscharakter der Begegnung viel deutlicher.
In beiden Fällen gilt es für den Behandler, sich neben der Wahrung
der fachlichen Expertise, insbesondere die eigene Rolle hinsichtlich
der sprachlichen, kulturellen aber auch politischen Sichtweisen und
Standpunkte vor, während und nach der erfolgten diagnostischen
Arbeit einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Hierbei empfiehlt
sich eine ausführliche Intervision mit Kollegen ohne Migrationshintergrund bzw. die herkömmliche Supervision mit einem im interkulturellen therapeutischen Setting erfahrenen Kollegen.
Abschließende Überlegungen und
­Ableitungen für die Praxis
Psychische Belastungen von Menschen, die aus ihren Herkunftsländern fliehen mussten, sind vielfältig, sowohl im Hinblick auf die
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Sowohl für Frau D. als auch für Herrn S. schien die Angst vor einer
Negativentscheidung das leitende Motiv gewesen zu sein, sich
einem Psychologen vorzustellen. In beiden Fällen handelt es sich
um Geflüchtete, die abgesehen von den verwandtschaftlichen Beziehungen, nur über wenige soziale Kontakte verfügen und als Mutter bzw. Vater in ihren jeweiligen Familien ein sehr isoliertes Leben
führen. Die positiven, in die Zukunft gerichteten Gedanken, bezogen sich in beiden Fällen ausschließlich auf die eigenen Kinder. Diese
Ausschließlichkeit äußerte Frau D. sehr drastisch, indem sie ihre Kinder als Grund dafür anführte, sich nicht längst „das Leben genommen“ zu haben. Das isolierte, an sozialen Reizen verarmte Leben,
mit einem Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten stellt ein Risiko
für eine Chronifizierung der ohnehin labilen psychischen Verfassung
und einer Komplexitätserhöhung des klinischen Bildes dar. Sowohl
Frau D. als auch Herr S. äußerten den Wunsch einer Erwerbstätigkeit hier in Deutschland nachzugehen, waren sich zugleich der strukturellen Schwierigkeiten diesbezüglich bewusst. Neben den gesundheitlichen Problemen stellen die fehlenden Sprachkenntnisse ein
zusätzliches Hindernis dar, wobei dadurch nicht nur die Partizipation am Arbeitsleben, sondern auch eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander stark eingeschränkt ist.
Kulturelle Eigenschaften der Beziehungen zwischen dem Betroffenen und dem Behandler. In der Arbeit mit Klienten aus
unterschiedlichen Erfahrungs- und Kulturräumen sowie abweichendem sprachlichen Hintergrund muss dem Aspekt der Verständigung eine zentrale Rolle zugesprochen werden. Für die genauere
Betrachtung des Einflusses von Sprache auf das Behandlungssetting soll an dieser Stelle ein direkter Vergleich der Arbeit mit (Frau
D.) bzw. ohne (Herr S.) Sprachmittlung angeführt werden.
Mit beiden Klienten konnte eine vertrauensvolle und effektive
Arbeitsatmosphäre geschaffen werden, wobei das Hinzuziehen
einer Sprachmittlerin in der Arbeit mit Frau D. dazu wesentlich beitrug. Da im Vorfeld nicht erläutert wurde, um welche Art der Traumatisierung es sich bei der Klientin handelt, und Frau D. keinen expliziten Wunsch nach einer weiblichen Diagnostikerin äußerte, erscheint es nun im Nachhinein besonders hilfreich für die Tiefe des
Gesprächs gewesen zu sein sowie für das Vertrauen der Klientin
über das Erlebte offen zu sprechen, dass es sich bei der hinzugezogenen Sprachmittlerin um eine etwa 10 Jahre ältere Frau handelte.
Abgesehen von den zu berücksichtigenden Geschlechtsdifferenzen zwischen Behandlern und Klienten, empfiehlt es sich auch den
möglichen Einfluss des Altersunterschiedes zwischen Behandlern,
Klienten und Sprachmittlern auf das Narrativ zu berücksichtigen.
Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen die mit Scham verbundenen Traumaerlebnisse im Vordergrund stehen. Ebenso wichtig
zu beachten ist der direkte Einfluss der Erfahrenheit der sprachmittelnden Person sowohl hinsichtlich des Settings als auch der fachlichen Kenntnisse. Im Falle von Frau D. handelte es sich um eine
nicht-professionelle, ehrenamtlich tätige Person mit mehrjähriger
Erfahrung in unterschiedlichen, jedoch nicht vordergründig therapeutischen bzw. medizinischen Bereichen. Vor allem die fehlenden
Kenntnisse der psychodiagnostischen Arbeit wirkten sich teilweise
ungünstig auf die Triade in der Arbeit mit Frau D aus. So kam es
häufiger zu Unterbrechungen mit dem Ziel die Äußerungen bzw.
Informationen genauer zu klären, die der Klientin vermittelt werden sollten. Die reine Übersetzung dessen, was die Klientin sagte,
erfolgte nach Einschätzung des Untersuchungsleitenden zufrie-
Art der Belastung als auch in deren Ausmaß. Häufig liegt der Ursprung in schwerwiegenden, traumatischen Erlebnissen vor und/
oder während der Flucht. Im Exilland angekommen, sind Geflüchtete, neben den klassischen Migrations- und Entwurzelungserfahrungen, einer Reihe von strukturellen Schwierigkeiten – Wohnsituation, Gesundheitsversorgung, gesellschaftlicher Status – ausgesetzt [45]. Zusätzlich wirkt sich die Unsicherheit hinsichtlich
eines geregelten Aufenthalts im Zielland oft negativ auf die psychische Verfassung der Betroffenen aus. Aus den wenigen aktuell verfügbaren Arbeiten zur Häufigkeit psychischer Störungen bei Flüchtlingen wissen wir, dass mit deutlich erhöhten Raten an PTBS innerhalb dieser Population zu rechnen ist [1–4]. Allgemein gilt, dass bei
Menschen mit einer nicht behandelten PTBS häufig andere psychische Störungen wie Angststörungen, Depressionen und somatoformen Störungen auftreten können. Dabei sind komorbide Störungen eher die Regel als die Ausnahme. Auch ist die Chronifizierung einer PTBS relativ häufig [8, 9]. In der Differenzialdiagnostik
ist daher gesondert auf eine starke Komorbiditätsneigung sowie
eine Symptomverschiebung nach erlebtem Trauma zu achten. Hierbei gilt es der Gefahr der Überschätzung der Symptomlast durch
kultursensibles Vorgehen entgegenzuwirken und somit im Sinne
einer qualitätsvollen Diagnostik und der daraus resultierenden differenzierten Indikationsstellung tätig zu sein. In Bezug auf besonders schwere Formen der PTBS mit einhergehend hoher Anzahl von
komorbiden Symptomen, der Prävalenz komorbider Störungen
sowie der starken Chronifizierungsneigung werden Diagnosen wie
andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung beziehungsweise komplexe PTBS immer wieder diskutiert [9].
In der Arbeit mit komplex und/oder in der frühen Kindheit traumatisierten Menschen sollten Besonderheiten in der Beziehungsgestaltung zusätzlich bedacht werden [46]. Neben den Symptomen, die als diagnostische Kriterien der PTBS gelten, zeigen diese
Personen eine Tendenz sich im dyadischen Setting zu überfordern,
indem sie die eigenen Grenzen nicht achten bzw. Schwierigkeiten
im Wahrnehmen dieser aufweisen. Dabei ist gerade in der diagnostischen Praxis mit Traumatisierten der achtsame Umgang mit den
Grenzen des Klienten essenziell für die Verständnisgenerierung.
Kann der Klient die eigenen Grenzen nicht adäquat wahrnehmen,
läuft ein nicht traumasensitiver Diagnostiker Gefahr, diese zu verletzen, was im schlimmsten Fall eine akute Dekompensation zur
Folge haben kann [46]. Die Diagnostik wie auch die psychologische
Beratung traumatisierter Flüchtlinge stellt hierbei eine besondere
Situation dar. Der Diagnostiker hat meist in kurzer Zeit möglichst
erschöpfende Informationen zu erheben, die sehr sensibel sein können, für ein Gutachten bzw. eine Stellungnahme und folglich den
Entscheidungsprozess jedoch unabdinglich sind. Kultursensibles
Vorgehen sowie vertiefte Fachkenntnisse im Bereich der Psychotraumatologie sind daher hierbei unabdingbar.
Darüber hinaus sollte der Kulturspezifik der Krankheitsdarstellung seitens der Betroffenen besondere Beachtung geschenkt werden. Wie am Beispiel der dargestellten und kommentierten Fälle
gezeigt werden konnte, spielen neben den kulturspezifischen Besonderheiten und Auffassungen, dessen was krank bzw. gesund ist,
politische, soziale, bildungs-, geschlechts- und altersspezifische
Aspekte eine wichtige Rolle. Eine besondere Berücksichtigung all
dieser Aspekte, d. h. eine gezielte Erfassung des kulturellen, sozia-
116
len und politischen Hintergrundes der Betroffenen und die anschließende Reflexion über die möglichen Auswirkungen dieser auf einzelne Symptome sind im Bereich der kultursensiblen Diagnostik
unerlässlich. So wird bei Menschen aus kollektivistischen Kulturen
des Öfteren beobachtet, dass psychische Belastungen in einem
engen Zusammenhang mit körperlichen Beschwerden gesehen
und berichtet werden [47–49]. Auch das vordergründig „westlich“
geprägte Konzept der standardisierten, fragebogengestützten Erhebung im Sinne einer graduellen Einschätzung des Leidensdrucks
ist den Menschen anderer Kulturkreise nicht ohne Weiteres vertraut. Besonders bei den Menschen aus den sogenannten oralen
Gesellschaften, d. h. mit einem vergleichsweise geringeren Bezug
zur Schriftsprache, haben die Diagnostiker aus den westlichen Aufnahmeländern mit Krankheitsnarrationen zu tun, die sich von den
gewohnten, Ich-zentrierten und vergleichsweise linearen Berichten der einheimischen Patienten stark unterscheiden [45]. Einen
zentralen Einfluss darauf nimmt die Sprache und im übergeordneten Sinne die Qualität der Verständigung zwischen dem Klienten
und dem Diagnostiker.
Grundsätzlich empfiehlt sich bei der Arbeit mit Flüchtlingen im
psychodiagnostischen Setting der Einsatz erfahrener Kollegen, die
aus dem gleichen Kultur- und Sprachraum stammen wie die jeweiligen Patienten. Es darf jedoch keinesfalls davon ausgegangen werden, dass muttersprachliche Experten die komplette Versorgung
bzw. Therapie von Flüchtlingen gewährleisten könnten; schon allein aufgrund der Anzahl der in den letzten Monaten in Deutschland und anderen europäischen Ländern aufgenommenen Menschen aus unterschiedlichsten Ländern. Es liegen überzeugende
Forschungsbefunde vor [38, 50], die nahelegen, dass im Falle
sprachlicher Diskrepanzen zwischen Patient und Behandler das Hinzuziehen einer professionellen Sprachmittlung einen positiven Effekt sowohl auf die Beziehung der Beteiligten, als auch auf die Qualität der Behandlung hat. Entsprechend sichert dieses Vorgehen die
Effizienz des Versorgungssystems, da es bei Personen mit unzureichenden Kenntnissen der Sprache des Aufnahmelandes im Vergleich zu einheimischen Patienten häufiger zu Unter- Über- oder
Fehlversorgung kommt [28], wodurch wiederum höhere Versorgungskosten verursacht werden können. Aus der unmittelbaren
Praxis wissen wir, dass aufgrund fehlender Finanzierungsmöglichkeiten und einer mangelnden Koordination meist der Einsatz ehrenamtlich tätiger, nicht professionell ausgebildeter Sprachmittler
bei der Versorgung von Flüchtlingen das Mittel der Wahl ist. Hierbei ist es umso wichtiger, dass sich der zuständige Experte im Vorfeld mit den Konzepten einer kultursensiblen Diagnostik bzw. Versorgung auseinandersetzt und über den Prozess der Sprachmittlung mit dem Ziel der Qualitätssicherung der eigenen Arbeit wacht.
Vor dem Hintergrund der geschilderten Fälle sollte dem Aspekt
der Diskriminierung ein besonders hoher Stellenwert zugesprochen werden. Aus der internationalen [51, 52] und nationalen Forschung [53, 54] wissen wir, dass sich subjektiv erlebte Diskriminierung aufgrund ethnischer bzw. kultureller Zugehörigkeit negativ
auf die Gesundheit der Betroffenen auswirkt. Im Hinblick auf die
weiterführende therapeutische bzw. beraterische Arbeit mit Geflüchteten sei auf die detaillierte Erforschung von Ressourcen bzw.
Resilienzfaktoren hingewiesen. Diese, so die Erfahrung aus der Arbeit mit den vorgestellten Klienten, sind vor allem auf der Ebene
der familiären Strukturen zu eruieren und entsprechend zu fördern.
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Übersicht
Mit dem Blick auf die aktuelle Versorgungssituation von
Geflüchteten in Deutschland ist zu betonen, dass diese
Bevölkerungsgruppe unter besonderen gesundheitlichen und
psychosozialen Belastungen leidet, die in den meisten Fällen
erst mit der Kenntnis der kulturellen Prägung der Betroffenen
von den Experten des Aufnahmelandes verstanden und
effizient behandelt werden können.
Interessenkonflikt
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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