hochschule für philosophie – philosophische fakultät s

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HOCHSCHULE FÜR PHILOSOPHIE – PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT S.J.
MÜNCHEN
Hauptseminar:
Leiter:
Die pragmatischen Grundlagen des Glaubens.
Pascal – Newman – Peirce - James
Dr. Andreas Koritensky
Die „condicio humana“ bei Blaise Pascal.
von
Dennis Stammer
Wintersemester 2003-2004
Inhalt
S.
Einleitung ......................................................................................................
2
§1. Der „konkrete Mensch“ .......................................................................
2-10
1.1 Zwischen den "Unendlichkeiten" ..............................................
1.2 Der Wille .....................................................................................
1.3 "Imagination" ..............................................................................
1.4 Zerstreuungen ("divertissement") ..............................................
1.5 Die „Natur des Menschen“ ........................................................
1.6 Größe und Elend .........................................................................
3, 4
4, 5
5, 6
7
8
9, 10
§2. Vernunft und Herz („raison“ & „cœur“) .........................................
10-12
§3. Der Glaube .............................................................................................
12-15
3.1 Das "Mysterium der Erbsünde" ..................................................
3.2 Die "Menschwerdung" Jesu Christi ...........................................
13, 14
14, 15
§4. Ein Resümee ...........................................................................................
4.1 Eine pessimistische Auffassung der Lage des Menschen? .......
4.2 Zwischen Fideismus und Rationalismus ....................................
4.3 Die Aktualitätsfrage von Pascals Ansichten ...............................
Literaturverzeichnis .......................................................................................
I.
II.
Quellen ....................................................................................
Sekundärliteratur ....................................................................
1
15-18
16
17, 18
18
19
19
19
Einleitung
Dieses Werk wird versuchen, im ersten Teil die „Seinslage des Menschen“ aus der Sicht Blaise
Pascals aufgrund seiner „Pensées“ darzustellen. Der zweite und dritte Teil beschäftigt sich mit
der Frage der Erlösung aus dieser Seinslage: Ist es dem Menschen möglich, von sich aus seine
missliche Lage zu verlassen? Der letzte Paragraph wird schließlich eine kurze Stellungnahme
wagen, welche die bei der Betrachtung der Pensées auftauchenden Fragen nach Aktualität,
Fideismus und Rationalismus kritisch in den Blick nehmen soll.
Hierbei wird die Übersetzung von Ewald Wasmuth zugrunde gelegt, die sich nach der
Fragmentanordnung von Léon Brunschvicg richtet. Die Übersetzung des französischen Textes,
wie sie in der Sekundärliteratur verwendet wird, stimmt nicht immer mit derjenigen von Ewald
Wasmuth überein, so dass bei etwaigen Zitaten aus der Sekundärliteratur kleinere Abweichungen
von der Textgrundlage Wasmuths auftreten können. Sollten diese Abweichungen zu groß sein, ist
die alternative Lesart durch eine Fußnote ergänzt.
§1. Der „konkrete Mensch“
Es geht Pascal darum, den Menschen in seiner ganzen Fülle und Bewegtheit darzustellen. Er
möchte kein Menschenbild entwerfen, das bloß ein abstrakt-theoretisches Gebilde ist, welches
notwendigerweise den Menschen soweit in der Darstellung reduzieren muss, bis etwas übrig
bleibt, das man jedem einzelnen Menschen zuschreiben kann. Der „konkrete Mensch“ ist das Ziel
von Pascals Denken. Diesen kann man jedoch „nicht durch einen einfachen Begriffszug, sondern
nur durch ein dialektisches Gefüge“1 erfassen.
Der Mensch ist kein starres Objekt, das einfachhin bestimmt werden kann. Jeder Mensch lebt in
einer Fülle von Beziehungen, ist ständig in Bewegung und stellt somit eine komplexe Ganzheit
dar. „Unsere Natur ist in der Bewegung“2, weshalb wir morgen längst nicht mehr sind, was wir
gestern oder heute noch waren.3 „Der Mensch“ muss also in seiner konkreten Ganzheit, d.i.
Einheit von Vielheit, begriffen werden. Das ist allerdings „nur aus der Wechselbestimmung der
gegensätzlichen Momente“ möglich, wobei „das eigentlich Gemeinte sich schwebend zwischen
Romano Guardini: Christliches Bewusstsein (künftig zitiert als "Guardini"), S.61
Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), Fr. 129 (künftig nur mit Angabe
des jeweiligen Fragmentes als "Fr." zitiert)
3
vgl. Fr. 122-124
1
2
2
diesen“4 hält. Aber was sind diese „gegensätzlichen Momente“?
1.1 Zwischen den "Unendlichkeiten"
Im großen Fragment 72 setzt sich Pascal mit der Situation des Menschen zwischen den
"Unendlichkeiten" auseinander: Der Mensch ist ein „Nichts vor dem Unendlichen, ein All
gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All“. Betrachtet im Vergleich zur Größe
des Universums sei die Erde ein winziger Punkt, und auf ihr noch viel kleiner befinde sich erst
der Mensch. Dagegen sei dieser riesengroß, wenn man ihm eine Milbe gegenüberstelle, die bis in
die kleinsten Atome noch weiter zerlegt werden könne. Somit "schwebt" der Mensch quantitativ
zwischen dem Unendlichgroßen und dem Unendlichkleinen.
Epistemologisch ist es ganz ähnlich; so sei er „gleich unfähig, das Nichts zu fassen, aus dem er
gehoben, wie das Unendliche, das ihn verschlingt“. Und weil er sich diesen Umstand nicht
bewusst mache, erforsche er in den Wissenschaften die Natur, um die „Gründe der Dinge [zu]
verstehen und dahin [zu] gelangen [..], alles zu wissen“, was ebenso ein unendliches Unterfangen
darstelle, das von „Anmaßung, die so unendlich wie ihr Gegenstand ist“, getrieben werde. Ob
man nun von den Prinzipien oder gleich von Allem reden möchte, beides sei eine Anmaßung, da
sie im Unendlichen liegen und auch nur vom Unendlichen, d.i. Gott, begriffen werden können.
Des Weiteren ist es unser eigenes Wesen, das einer Spaltung unterliegt, da wir aus "Seele und
Körper" bestehen, die "wesensverschieden und gegensätzlich", mit einem "unendlichen
Abstand"5 zwischen einander versehen sind.
"Der Mensch ist sich selbst das rätselhafteste Ding der Natur, denn er kann nicht
begreifen, was Körper und noch weniger, was Geist ist und am wenigsten von allem, wie
ein Körper mit einem Geist vereint sein könne."6
Der Mensch steht zwischen den Extremen, kann sie jedoch weder wahrnehmen noch ihnen
habhaft werden, so dass "alle Extreme sind, als wären sie für uns nicht vorhanden und wir nicht
für sie; sie entschlüpfen uns oder wir ihnen".
"Das ist unsere wirkliche Lage. Sie ist es, die uns unfähig macht, etwas gewiss zu wissen
4
Guardini, S. 67
5
Fr.793
Fr.72
6
3
und restlos ohne Wissen zu sein. Auf einer unermesslichen Mitte treiben wir dahin, immer
im Ungewissen und treibend und von einem Ende gegen das andere gestoßen."7
Was diese Erkenntnis für die Mentalität jener Zeit bedeutet, wird erst mit einem Blick auf den
geistesgeschichtlichen Kontext eingehend spürbar: Der Mensch ist nach der Kopernikanischen
Wende aus einem begrenzten, aber klar strukturierten Weltbild, dessen Mittelpunkt er darstellte,
gerissen. Er muss einsehen, dass die Unendlichkeiten, welche ihn umgeben, nicht mehr wie noch
im Mittelalter oder der Antike auf ihn bezogen sind. Er nimmt das unendliche Universum als ihm
gegenüber vollkommen gleichgültig eingestellt wahr, was ihn erschrecken lässt.8
Wir haben also durchaus keinen "festen Stand" zwischen den Extremen, so dass wir eine "richtige
Mitte" bilden würden. Viel mehr "schweben" oder "hängen" wir zwischen ihnen, "wir brennen
vor Gier einen festen Grund zu finden und eine letzte beständige Basis"9.
1.2 Der Wille
Man könnte nun sagen, der feste Punkt bestünde im Denken10, wodurch der Mensch fähig sei,
seine Lage zu erkennen11; doch ist der Mensch durch seine Geisthaftigkeit wirklich, wie es
Fragment 347 ausdrückt, "edler" als das "übermächtige Universum"12?
Einerseits ist es gerade die Vernunft, die dem Irrtum ausgesetzt ist13, andererseits hängt es
gänzlich vom Willen ab, ob der Geist seine Situation überhaupt bereit ist, wahrzunehmen:
"Der Wille, der mehr Lust an der einen als an der anderen Seite hat, hindert den Geist,
das zu bedenken, was er nicht mag; und so verweilt der Geist, wenn er seine Straße mit
dem Willen geht, beim betrachten der Ansicht, die dieser liebt, und er urteilt nach dem,
was er hier sieht."14
Es obliegt also dem Willen, den Geist dahin zu lenken, womit dieser sich zu beschäftigen habe.
Hätte der Geist die Fähigkeit, seine Situation wahrzunehmen, könnte er dies nur, wenn der Wille
ihn aktiv darauf hinlenkte.
7
Fr.72
8
vgl. Guardini, S.78-82
Fr.72
10
hierzu ausführlich §2.
11
vgl. Fr.346, 347 und 348
12
vgl. Guardini, S. 83
13
vgl. Fr.83
14
Fr.99
9
4
Ziel dieses Willens ist das Glück des Menschen, denn er möchte "glücklich sein, nichts als
glücklich sein"15. Allerdings ist genau dies der Punkt, an dem der Mensch in seine tiefste
"Verworrenheit" gleitet, da er versucht die "Glückseligkeit in sich selbst zu finden"16.
Verkehrt in sich selbst beginnt der Mensch nur noch "sich selbst zu lieben und nichts als sich
selbst zu bedenken"17, was soweit reicht, dass er sich für den Mittelpunkt von allem hält und
"glaubt alles für alle zu sein"18.
Jedoch hat der Mensch als endliches Wesen aus sich heraus nicht die Möglichkeit dazu, sich
selbst zu genügen - viel mehr noch ist das menschliche Ich "voll von Mängeln und Elend", wie
Fragment 100 deutlich schildert:
"Es wünscht sich groß und findet sich gering; es wünscht sich glücklich und findet sich
unglücklich, es wünscht sich vollkommen und findet sich voller Unvollkommenheiten; es
wünscht sich von Menschen geliebt und geachtet und findet, dass seine Mängel nur ihre
Abneigung und Verachtung verdienen."
Ebenso bringt Pascal es in Fragment 389 auf den Punkt:
"Nun, der Mensch will glücklich und einiger Wahrheit versichert sein; indessen kann er
weder wissen noch wünschen nichts zu wissen. Nicht einmal zweifeln kann er."
1.3 "Imagination"
Der Mensch ist somit in eine prekäre Situation geraten. Sein Wille lenkt ihn dahin, das Glück in
sich selbst zu suchen, obwohl er sich in einer gänzlich anderen als glücklichen Lage befindet.
Statt sich dieser Situation zu stellen, empfindet er nur einen "tödlichen Hass gegen die
Wahrheit"19, schätzt diejenigen Leute am meisten, die ihn schmeichelnd belügen und hasst sogar
die besten Freunde, sobald sie ihn auf seine Fehler hinweisen20.
Weil die Wahrheit so ganz und gar nicht zu seiner Eigenliebe passt, ist die "Imagination"
("Einbildungskraft") zum "beherrschenden Teil des Menschen" geworden, wie Pascal
eindrucksvoll in Fragment 82 ausführt; denn sie kann im Gegensatz zur Vernunft, welche der
Einbildungskraft völlig machtlos gegenübersteht, "mit einer Befriedigung erfüll[en], viel
15
Fr.169; vgl. auch Fr.425
Fr.430
17
Fr.100
18
Fr.457
19
Fr.100
20
vgl. Fr.101
16
5
vollständiger und umfassender, als es die Vernunft vermag" – noch weiter gehend kann sie, "was
der Vernunft unmöglich ist: die Menschen glücklich machen"21.
Die Imagination spielt mit der Vernunft, lenkt sie nach ihren Wünschen und ist sogar fähig sich
der Sinne zu bemächtigen. Somit stehen die Menschen dem Wahn einerseits machtlos gegenüber,
lassen sich täuschen durch die Amtskleidung von Richtern, Ärzten und so weiter, weil die Macht
des Scheines blendet; auf der anderen Seite ist diese Einbildung aber genau das Mittel, dem
Menschen seine Eigenliebe zu erhalten. Dies geschieht erstens im Menschen selber, da der
"Wahn22 [...] das Kleine [vergrößert], bis es unsere Seele mit einer truggebildeten Wertung
erfüllt; und mit einer tollen Anmaßung verkleinert er das Große auf sein Maß"23. Zweitens gibt es
uns aber auch die Möglichkeit "in der Vorstellung der andern ein Scheinleben [zu] führen"24,
durch das wir unsere Eitelkeit bestärken können. Und diese Bestärkung scheint vorzüglich zu
funktionieren, denn die Eitelkeit kann auf dem Fundament der "Imagination" wunderbar
gedeihen. 25
Und "weil es die Gegenwart ist, die uns gewöhnlich verletzt"26, verdrängen wir auch diese, indem
wir mit unseren Gedanken fortwährend nur in Zukunft oder Vergangenheit leben.
1.4 Die Zerstreuungen ("Divertissement")
Der "Hass gegen die Wahrheit" aus der Eigenliebe heraus ist so sehr verinnerlicht, dass in jenen
Momenten, wo der Mensch alleine mit sich ist und zum Nachdenken über seine Lage kommen
könnte, die Langeweile in ihm aufsteigt:
"Nichts ist dem Menschen unerträglicher als völlige Untätigkeit, als ohne Leidenschaften,
ohne Geschäfte, ohne Zerstreuungen, ohne Aufgabe zu sein. Dann spürt er seine
Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Unmacht,
seine Leere. Allsogleich wird dem Grunde seiner Seele die Langeweile entsteigen und die
Düsternis, die Trauer, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung."27
Seine Selbstsucht kommt erneut darin zum Ausdruck, dass er sich nicht der Situation stellt und
Friedo Ricken: Religionsphilosophie (künftig zitiert als "Ricken"), S.268
"Imagination"
23
Fr.84
24
Fr.147
25
vgl. Fr.148-151
26
Fr.172
27
Fr.131
21
22
6
nicht begreift, "dass es auf Erden kein wahrhaftes und beständiges Glück gibt"28, er also aus sich
selbst heraus nicht glücklich werden kann. Stattdessen wendet er sich den Zerstreuungen zu,
sucht Umtrieb in allerlei Vergnügungen, um sich die Zeit zu vertreiben und nicht nachdenken zu
müssen. 29
Im Fragment 139 bezeichnet Pascal dieses Verhalten als das eigentliche Elend des Menschen, da
"alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich dass sie unfähig sind, in Ruhe allein in
ihrem Zimmer bleiben zu können". Tief im Inneren hat der Mensch eine Ahnung von seiner
eigentlich Seinslage, so dass es ihn drängt, der Ruhe aus dem Weg zu gehen, damit er sich nicht
mit ihr konfrontieren muss.
So sei dann auch der König nur deshalb der glücklichste Mensch auf Erden, weil alle bemüht
sind, ihm den ganzen Tag über Zerstreuungen darzubieten, damit er nicht über sich selbst
nachdenke. Ließe man jedoch zu, dass er zum Nachdenken käme, so könnte all sein Reichtum
und seine Macht ihn nicht mehr glücklich machen, sondern er wäre "unglücklicher als der
geringste seiner Untertanen, der spielt und sich vergnügt".
Auch die Menschen seien eigentlich mit der Jagd nicht der Beute wegen beschäftigt, sondern nur
um der Beschäftigung willen. Sie suchen Zerstreuungen, nicht die Dinge, die ihnen die jeweilige
Tätigkeit als Ziele vor Augen führt. Man kann ihnen dies jedoch nicht zum Vorwurf machen, da
sie selber glauben, sie seien hinter den Zielen ihrer Beschäftigung her.
Hier ist wieder die "Imagination" am Werke: Da wir spüren, dass unser Glück nicht in der
Unruhe besteht, bilden wir uns ein, dass die Erledigung schwieriger Aufgaben doch am Ende ein
"geruhsames Leben" mit sich bringe. Hat man dieses dann aber errungen, beginnt das Spiel von
vorne, da wiederum die Langeweile in uns aufsteigt.
Nebenbei ist es die Eitelkeit, die uns in die Zerstreuungen treibt, da wir später vor den anderen
angeben können, wie gut wir in der jeweiligen Tätigkeit sind (z.B. wie viel Geld man verdient
hat, wie viele Punkte man beim Spiel gemacht hat etc.).
Das wahre Glück des Menschen liegt jedoch nicht in den Zerstreuungen, da diese außerhalb von
ihm liegen; dadurch sind sie "abhängig und vergänglich, tausend Zufällen unterworfen, die
unvermeidlich Kummer bereiten"30.
28
Fr.194
29
vgl. Fr.164 –171
Fr.170
30
7
1.5 Die "Natur des Menschen"
Die "Imagination" hat dem Menschen außerdem eine neue Natur gebildet 31. Der Mensch wähnt,
wie vorangegangen dargestellt, sein Glück in den Zerstreuungen zu finden - in den Dingen, die er
durch seine Tätigkeiten zu erlangen trachtet, oder in der Ruhe die auf sie folgt. Wenn jene
Tätigkeiten allerdings an ihr Ziel gelangen, ist seine Begierde nicht gestillt, sondern er stürzt sich
neuerlich in das "divertissement". Durch dieses Wechselspiel hervorgerufen bildete sich in ihm
eine "seconde nature" – die Gewohnheit ("la coutume").
Nachdem uns keine "Natürlichkeit" unserer ersten Natur mehr bleibt, sind wir dazu angehalten,
den uns immer wieder zum "falschen Glück" hin strebenden Willen durch die richtigen
Gewohnheiten im Zaum zu halten. Hier setzt die Pädagogik an.
"Also muss man, wenn der Geist einmal einsah, wo die Wahrheit ist, auf die Gewohnheit
zurückgehen, um uns von dem Glauben, der uns ständig entschlüpft, färben und
grundieren zu lassen, denn es ist schwierig, die Beweise immer gegenwärtig zu haben.
[...] Es genügt nicht, wenn man nur gläubig durch die Kraft der Überzeugung ist, und
wenn der Automat die Neigung hat, das Gegenteil zu glauben. Folglich muss man beide
Teile glauben machen: den Geist durch die Gründe, die man nur einmal im Leben
gesehen zu haben braucht, und den Automaten durch die Gewohnheit und dadurch, dass
man ihm nicht gestattet, sich dem Gegenteil zuzuwenden.32
Doch, was sind diese Gründe, die uns überzeugen, bauen sie nicht auf feste, unumstößliche
Prinzipien auf?
"Was sind unsere Prinzipien anderes als Prinzipien, an die wir uns gewöhnt haben? Die
Kinder haben die Gewohnheiten von ihren Eltern erhalten, wie die Tiere die zu jagen." 33
Die "premiere nature" ist durch die Gewohnheit aufgehoben worden34 und wir spüren nur, dass
unsere jetzige Natur "uns in jeder Lage unglücklich macht"35. Das einzige, was "von der Größe
unserer ersten Natur verblieb" ist eine Ahnung, "dass das Glück in Wirklichkeit nicht in der Ruhe
und im Lärm des Umtriebes liegt"36.
31
vgl. Fr.89
Fr.252
33
Fr.92
34
vgl. Fr.93
35
Fr.109
36
Fr.139
32
8
1.6 Größe und Elend
Das Elend des Menschen ist groß. Er weiß nicht, wo er hingehört und ist "ortlos" geworden.
Zwischen den Unendlichkeiten gefangen gibt es für den Menschen keinen Grund seiner eigenen
Existenz, so dass er seine Kontingenz in Schrecken selbst erfährt37:
"Der seelische Ort schwindet, das Zu-Hause-Sein darin, dass man weiß, wo man ist und
warum man hier ist. Das Gefühl stellt sich ein, es gebe kein Warum des Dass und Jetzt
und Hier: Das Dasein gleitet ins Zufällige."38
An der Größe des Elends, so Pascal in Fragment 398, sei andererseits aber auch die Größe des
Menschen erkennbar, da es "das Elend eines entthronten Königs" darstelle. Tragisch besteht
folglich die Größe des Menschen nur noch in der Erkenntnis des eigenen Elends39. Und sogar
hieraus schafft er es eine neue Beziehung zu knüpfen, so dass Größe und Elend einander
gegenseitig bedingen40. Erkennt der Mensch sein eigenes Elend, so wird er zwar groß, doch lässt
ihn dies sofort in Anmaßung und Hochmut verfallen, da er diese neue Erkenntnis nicht nutzt, um
daraus zu lernen, sondern um damit von anderen Leuten Bewunderung einzustreichen 41. Die
"Konkupiszenz" bestimmt sein ganzes Dasein, sie "ist der Egoismus, der Trieb zur
Selbsterhaltung und zur Macht, die Verderbte Vernunft"42. Allerdings habe es der Mensch zu
Stande gebracht, sogar aus seiner verwerflichsten Eigenschaft ein "Bild der Liebe ["charite"]
Gottes"43 zu formen, indem er aus ihr eine Rechtsordnung schuf. So gibt es drei Bereiche44:
1. Der "Bereich des Fleisches" wird von den Reichen und Machthabern eingenommen, die
sich in der "Begierde des Fleisches" auf das "Körperliche" richten.
2. Der "Bereich des Geistes" ist den Wissensdurstigen und Gelehrten zu eigen, welche sich
aus Neugier ganz dem Geist verschreiben.
3. Der "Bereich des Willens", dem die Weisen angehören, deren Gegenstand die
Gerechtigkeit ist; unter ihnen ist der "Dünkel" beheimatet.
Als Zeichen der Größe des Menschen finden wir hier doch auch – und viel mehr – den Ausdruck
seiner inneren Zerrissenheit, weil es eine Ordnung des Stolzes ist: Die Reichen sind stolz auf
37
vg. Fr.205
Guardini, S.82
39
Fr.397
40
Fr.416
41
vgl. Fr.139
42
Ricken, S.272
43
Fr.402
38
9
ihren Reichtum, die Gelehrten auf ihr Wissen und die Weisen auf ihr "sittliches Handeln", was
die höchste Zuspitzung darstellt, da wahrhaft gerecht eigentlich nur die Handlung um der
Gerechtigkeit willen sein kann. So liegt dieser Ordnung ein Selbstwiderspruch zugrunde und sie
"ist labil, ständig gefährdet und nur durch den Schein der Vernunft, also letztlich durch
Täuschung aufrecht zu halten"45.
Der Gipfel der "Verworrenheit" im Menschen ist erreicht. Er ist weder Wissend noch Unwissend,
weder Alles noch Nichts weder Groß noch Elend und weiß sich selbst keinen "Rang" mehr
zuzuschreiben46. Sein eigener Standpunkt ist mehr als nur ein "Schweben über den Gegensätzen"
- es ist vielmehr ein "Hängen" zwischen dem Engel- und Tier-Sein47-; aus der anfänglich noch
"konstruktiven" Dialektik ist eine "böse" geworden48, aus welcher der Mensch sich nicht alleine
befreien kann.
§2. Vernunft und Herz („raison“ & „cœur“)
Wie bereits unter Punkt 1.2 angedeutet ist die Vernunft Irrtümern und Täuschungen ausgesetzt,
und in 1.5 sind uns selbst die ersten Prinzipien ungewiss geworden, was natürlich zur Folge hat,
dass man sich die Frage nach der Möglichkeit von Gewissheit überhaupt stellen muss. Pascal tut
dies in der Auseinandersetzung mit dem Dogmatismus und Skeptizismus im Fragment 434 und
fordert, dass jeder Mensch ausdrücklich Stellung zu beziehen habe. Wir können dieses Problem
nicht umgehen, da jeder notwendig zu wählen habe, ob er sich zum Dogmatismus oder zum
Skeptizismus bekenne:
"Damit ist der Krieg zwischen den Menschen ausgebrochen, in ihm muss jeder Partei
nehmen und sich notwendig einreihen, sei es bei den Dogmatikern, sei es bei den
Skeptikern. Denn wer meint, er könne neutral bleiben, der ist Skeptiker par excellence."49
Der einzige Vorteil des Dogmatismus ist nach Pascal, dass der Skeptizismus bis ins Letzte
gehend nicht durchhaltbar sei, da er in den Widerspruch mit sich selber führe:
"Was wird der Mensch in solcher Lage tun? Wird er an allem zweifeln? Zweifeln, ob er
44
vgl. Fr.460
Ricken, S.272
46
vgl.Fr.427
47
vgl. Fr.358 und Fr.431 sowie Guardini, S.73
48
vgl. Guardini, S.71
49
Fr-434
45
10
wacht, ob man ihn sticht, ob man ihn brennt? Wird er zweifeln, ob er zweifelt, wird er
zweifeln, ob er lebt? So weit kann man nicht gehen [...] ."50
Dem Skeptiker bleibt nur noch ein "pyrrhonischer Skeptizismus", sich also jedes Urteils sowie
auch jedes Zweifels zu enthalten.
Allerdings sei dadurch für die Situation des Dogmatikers noch nicht viel geleistet, da er wahre
"Gewissheit" nicht zu beweisen in der Lage sei. So ruft Pascal aus:
"Was für ein Hirngespinst ist der Mensch? Welche Neuerung, was für ein Unbild, welche
Wirrnis, was für ein Ding des Widerspruchs, was für ein Wunder! Beurteiler von allem,
törichter Erdenwurm, Verwalter der Wahrheit, Schlammfang der Ungewissheit und der
Irrheit, Ruhm und Auswurf des Universums."51
Die "ersten Prinzipien", so Pascal im Fragment 282, seien nur über das "Gefühl des Herzens"
("sentiment") zu erkennen, auf welches dann erst die "schlussfolgernde Vernunft" aufbauen kann.
Jede Beweisführung der schlussfolgernden Vernunft, wie auch immer sie geartet sein mag,
kommt nicht umhin, sich auf "erste Prinzipien", die nicht mehr weiter hinterfragbar sind, zu
stützen. Wer das nicht einsieht, der "missachtet die Kraft des Verstandes"52, schätzt sie entweder
zu hoch oder zu niedrig ein. Dies impliziert jedoch, dass die "ersten Prinzipien" selber vom
Verstand auch nicht bewiesen, lediglich über das "sentiment" vom Herz für-wahr-genommen
werden können. Wobei dieses "Gefühl" nichts Emotionales, nichts unlogisch der Rationalität
Entgegen-gesetztes meint. "Cœur“ ist viel mehr selber so etwas wie Geist.53
In der Unterscheidung zwischen dem "esprit de géométrie" und "esprit de finesse"54 wird
deutlicher, was hiermit gemeint ist. So sei der "esprit de finesse" dadurch ausgezeichnet, dass er
durch einen "Blick auf das Ganze" die "feinen und zahlreichen" Prinzipien des konkreten
menschlichen Lebens überschauen und spontan die richtigen Schlüsse daraus ziehen könne,
während der "esprit de géometrie" offenkundige, gröbere Prinzipien benötige, um aus ihnen
schrittweise abzuleiten. Für den "esprit de finesse" ist das richtige "Gefühl" ("sentiment")
notwendige Voraussetzung, so dass man den "esprit de finesse" dem "cœur“ und den "esprit de
géométrie" der "raison" zuordnen könnte.
Dass das "sentiment" eine echte Gewissheit der "ersten Prinzipien" erweisen kann, zieht der
50
Fr.434
Fr.434
52
Fr.268
53
vgl. Guardini, S.176
54
Fr.1-4
51
11
Skeptiker aber in Zweifel, da der "Ursprung unserer Natur und folglich [..] die Zuverlässigkeit
dieses Gefühls"55 unklar seien. Es sei notwendig eine "zweckmäßige Naturordnung oder ein
gute[r] Schöpfer, der uns nicht täuschen will, an[zu]nehmen"56, was jedoch weder durch die
Vernunft noch durch das Herz gerechtfertigt werde. Nur der Glauben kann die "ersten Prinzipien"
sichern; wer die Vernunft ihm nicht unterwirft, ist recht eigentlich dazu gezwungen, sich jedes
Urteils zu enthalten. Hierzu führt Pascal ein Zitat des Augustinus an:
"Niemals würde sich die Vernunft unterwerfen, wenn sie nicht einsähe, dass es Fälle gibt,
wo sie sich unterwerfen muss. Also ist es richtig, dass sie sich unterwirft, wenn sie urteilt,
dass sie sich unterwerfen muss."57
Somit ist es weniger die Schwäche als viel mehr die Stärke der Vernunft, dass sie ihre eigenen
Grenzen erkennt und über sich hinaus verweist58, zumal der Glaube ihr ohnehin nicht
entgegensteht, sondern das "lehrt", was über ihrem Erkenntnisvermögen liegt: "Er ist darüber,
aber nicht entgegen."59
§3. Der Glauben
Der Begriff des "Glaubens" ist bisher noch relativ weit gefasst geblieben. Es wurde nur gezeigt,
dass ein Glaube an einen guten Schöpfer oder eine zweckgerichtete Naturordnung notwendig sei,
damit die Vernunft ein festes Fundament ihr Eigen nennen kann.
Der Glauben muss Pascal zufolge jedoch bestimmten Ansprüchen genügen: er muss erklären
können, wie der Mensch in seine verquere Seinslage gekommen sei, und die notwendigen
"Heilmittel" aufzeigen, wie er sein Dilemma überwinden könne.60 Die christliche Religion kann
all dies bieten. So sagt Pascal:
"Der ganze Glaube besteht in Jesus Christus und in Adam [...]."61
Das "Mysterium der Erbsünde" (hier durch "Adam" angedeutet) gibt uns Aufschluss über die
Gründe unserer Seinslage, während Jesus Christus sie uns überwinden lässt.
55
Ricken, 274
Ricken, 275 (grammatikalisch dem Kontext angeglichen)
57
Fr.270
58
vgl. Fr. 267 und 272
59
Fr.265
60
vgl. Fr.430
61
Fr.523
56
12
3.1 Das "Mysterium der Erbsünde"
Pascal sieht die vielen Widersprüche im Menschen darin begründet, dass der Mensch nicht mehr
in seiner ursprünglichen, gottgewollten Seinsverfassung existiert:
"Du [Mensch] bist nicht in der Seinslage, in der ich dich geschaffen. Wenn diese zwei
Seiten enthüllt sind, ist es unmöglich, dass du sie nicht erkenntest. Folge deinen
Regungen, beobachte dich selbst und sieh zu, ob du nicht die lebendigen Merkzeichen
dieser beiden Naturen entdecken wirst."62
Der Mensch sei "im Stande der Schöpfung [...] über alles in der Natur erhöht worden [..],
geschaffen als Gott ähnlich und an seiner Göttlichkeit teilhabend"63. Er sei auf Gott hin
geschaffen - wesentlich gottbezogen. Die Verwirrungen des Menschen kommen nur dadurch
zustande, dass er versuche, sich selbst zu genügen, sein Glück in sich selbst zu suchen, obwohl er
eigentlich "Wesen über sich hinaus"64 sei.
Das "Mysterium der Erbsünde", obwohl es unserem irdischen Gerechtigkeitssinn zuwiderläuft,
erkläre unsere Seinslage als einziges hinreichend:
"Fraglos, nichts erregt heftigeren Anstoß als diese Lehre und indessen sind wir uns selbst
ohne dies unverständlichste Mysterium unbegreifbar. In diesem Abgrund findet das Band
unserer Lage Einschlag und Knoten, so dass der Mensch ohne dies Mysterium
unbegreifbarer ist, als dies Mysterium dem Menschen unbegreifbar ist."65
Die Selbstbezogenheit, "Eigenliebe" des Menschen, lässt ihn von seinem wahren Wesen abfallen
und "unmenschlich" werden, da er "nur über sich hinaus oder unter sich hinunter existieren"66
kann. Ihm ist es aufgegeben, wesentlich auf Sinnverwirklichung hin geschaffen und vom Wert
her bestimmt zu sein; die Sünde lässt ihn somit nicht nur unter seine ihm eigentliche
"Natürlichkeit" fallen, sondern "fragwürdig im Sein" werden67.
In aller Schärfe wird deutlich, dass der letzte Fluchtpunkt des Menschen nie im Geist hat liegen
können, da dieser selbst der Ausgang für die "Ortlosigkeit" war und ist; denn "die zwei
62
Fr.430
Fr.434
64
Guardini, S.99; Wasmuth übersetzt die Textstelle des Fr.434, auf welche Guardini Bezug nimmt: "Der Mensch
übersteigt unendlich den Menschen".
65
Fr.434
66
Guardini, S.100
67
vgl. Guardini, S.94
63
13
Quellgründe unserer Sünden [sind] Dünkel und Trägheit"68.
3.2 Die "Menschwerdung" Jesu Christi
Aus eigener Kraft, so beschlossen wir den §1., sei es dem Menschen nicht möglich, sich aus
seiner Seinslage zu befreien. Die Gegensätze des Menschen, die ihn in seine letzte
"Verworrenheit" führen, sind "Größe" und "Elend" zugleich. Diese Situation muss nach Pascal
die "wahre Religion" erkennen und den Menschen in beidem, in "Größe" und in "Elend",
darstellen können69; zudem muss sie schließlich in der Lage sein, dieses Widerspruchsverhältnis
aufzuheben.
Man kann dieses Problem nicht derart lösen, dass man eines der Extreme übersteigert. Wer zu
sehr seine "Größe" bedenkt, der wird hochmütig, und wer sich zu sehr seinem "Elend" widmet,
versinkt in Verzweiflung70.
Zu sehr dieser "Größe" wenden sich die Philosophen zu, die durch metaphysische Beweise einen
"Gott" herleiten. Sie schaffen es nicht, den Menschen in seiner wahren Seinslage zu treffen,
stellen ihn immer nur in seiner "reinen Größe" oder "reinen Niedrigkeit" dar71 und das wiederum,
wie bereits geschildert, nicht um daraus zu lernen, sondern um damit Ruhm und Bewunderung
von den Menschen zu verdienen.
Nur in Jesus Christus werden diese Gegensätze vereint, ohne dass sie sich auflösen. Er "schafft
die Mitte" zwischen Verzweiflung und Hochmut, in der "Größe" und "Elend" bewahrt und
gleichzeitig überwunden werden.72
Im Fragment 553 – dem "Mysterium Jesu" – zeigt sich die menschliche Sünde als gesühnt, d.i.
"in Liebe angeeignet, in Liebe gesühnt und überwunden".73 Jesus hat die Sünde des Menschen
nicht schlechthin aus der Welt geschafft, sondern sie als Sündenloser auf sich genommen bis in
den Tod und sie schließlich in der Auferstehung überwunden. Hieraus geht der Mensch nicht
hervor, wie er vor seinem Sündenfall gewesen war, sondern als Mensch, der der Sünde verfiel,
doch nun von ihr erlöst ist – sie durch die Gnade Gottes überwunden hat.
Es ist notwendig, dass Gott auf den Menschen zugeht, damit der Mensch zu ihm gelange, da er es
68
Fr.497
vgl. Fr.494
70
vgl. Fr.527
71
vgl. Fr.525
72
vgl. Fr.527
73
Guardini, S.113
69
14
aus eigener Kraft nicht (mehr) schaffen kann. Gott hat die Initiative ergriffen und sich in Christus
dem Menschen zugewandt.74
Nur durch Jesus Christus können wir zu Gott gelangen, jedwede "Erkenntnis Gottes" ohne ihn,
kann nur "machtlose Beweise"75 liefern. Er ist allerdings nicht nur der einzige Weg zu Gott,
sondern auch der einzige Weg, auf dem wir uns selber in unserer Seinslage erkennen können:
"Nicht nur Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur
durch Jesus Christus, Leben und Tod kennen wir allein durch Jesus Christus. Ohne Jesus
Christus wissen wir weder, was unser Leben, noch was unser Tod, noch was Gott ist, noch
was wir selber sind."76
Was hiermit gemeint ist, eröffnet sich uns leicht, wenn wir auf die Darstellung des "konkreten
Menschen" zurückblicken. Das Leben im Schein der "imagination" und die Verdrängung der
eigenen Seinslage durch das "divertissement" verdecken die religiöse Dimension vollkommen;
und das, obwohl gerade diese die wichtigsten Fragen (nach Sinn und Wert) jedes einzelnen
Menschen beinhaltet. So ist es Pascal vollkommen unbegreiflich, wie sich der Mensch mehr um
seine kleinen Nichtigkeiten sorgen könne, während er die großen, einzig bedeutsamen Fragen
vollkommen ausspare.77
Erst Jesus Christus führt uns die eigentliche Lage des Menschen vor Augen, lässt uns die
"Konfliktpunkte" unserer eigenen Existenz erkennen, offenbart die Sünde, welche der Auslöser
für die "Verworrenheit" des menschlichen Wesens ist, und bringt letztendlich "alle Widersprüche
zur Übereinstimmung".78
§4. Ein Resümee
Was also ist "der Mensch"? Nach dem bisher gezeigten, ist er vor allem eines: Eine "konkrete
Ganzheit", d.i. ein Zusammengehen der Gegensätze, eine Einheit aus Einheit und Vielheit. Aber
mehr noch: er ist wesentlich sich selbst übersteigend und gottbezogen.
Damit erreicht Pascal ein Ergebnis, wie z.B. Nikolaus von Kues, die thomasische Tradition bis
74
vgl. Fr.286
Fr.547
76
Fr.548
77
vgl. Fr.194
78
Fr.684
75
15
hin zu Karl Rahner oder Simon L. Frank in der Neuzeit. Sein Ausgangspunkt ist dabei jedoch
kein vorgefertigtes ontologisches System wie das der Scholastik. Er analysiert rational in
"wechselseitiger Interpretation"79 mit der Heiligen Schrift die geistige Seinslage des Menschen
ausgehend von seiner "Alttagserfahrung", seiner "Lebenswelt", wie Edmund Husserl es später
nennen wird. Seine Untersuchungen sind also vergleichbar mit einer "Phänomenologie des
Geistes" in religiöser Perspektive.
4.1 Eine pessimistische Auffassung der Lage des Menschen?
Bei der Lektüre der Pensèes fällt einem sofort die Lebendigkeit, aber auch Härte, fast schon
Erbarmungslosigkeit des Ausdrucks ins Auge, mit dem Pascal sein Menschenbild skizziert. Er
greift die Lage des Menschen besonders in seinen "Konfliktpunkten" auf, da wo seine Situation
am widersprüchlichsten und/oder festgefahrensten ist. Man hat das Gefühl, dass jedes Mal, wenn
ihm ein solcher Abschnitt aus der Feder geglitten ist, Pascal in tosendes, an Raserei grenzendes
Unverständnis über das "Unding Mensch" verfallen sein muss. Doch ist es wirklich ein
"pessimistisches Bild von der Seinslage (condition) und der Grundstimmung des Menschen"?80
Im Vergleich zu "den Bildern von Lukrez, Sade, Dostojewski, Proust oder Kafka führt uns Pascal
ein Bild der Menschheit vor, welches das eines Chorknaben ist".81
Der Mensch steckt seiner Schilderung zufolge durchaus in einer schwierigen Situation, die er sich
selbst zuzuschreiben hat; doch ist sie weder ausweglos noch pessimistisch. So malt Pascal sein
Bild des Menschen zwar mit viel Pathos und erhebt sich aus Inbrunst gegen die Unmöglichkeiten,
die er im Menschen generell, aber vor allem auch bei sich selber findet. Andererseits bleibt der
Mensch jedoch frei sich selbst bestimmend. Die Gewohnheit hat ihren Platz als "zweite Natur"
eingenommen, determiniert jedoch nicht sein ganzes Selbstsein, wie aus dem Fragment 434 klar
hervorgeht, in dem er solcherlei zu den "unwichtigeren Argumenten" des Skeptikers zählt.
Wie und wofür der Mensch letztendlich sein Leben verwendet, liegt ganz bei ihm, bleibt seiner
von Gott gegebenen Freiheit überantwortet.
79
vgl. Ricken, S.278-282
Ricken, S.266
81
Steinmann, S.279
80
16
4.2 Zwischen Fideismus und Rationalismus
Der Kernbereich von Pascals "Pensées" liegt eindeutig im Religiösen, was nicht zuletzt daran
liegt, dass seine Methode die der "wechselseitigen Interpretation" von anthropologischen
Phänomenen mit den Aussagen der Heiligen Schrift ist. Dies führt allerdings weder in den
Irrationalismus noch in den Fideismus.
Dass es ein Irrationalismus sei, kann man nur vermuten, wenn man das Verhältnis von "Herz"
und "Vernunft" unzureichend auslegt. Wie im §2. dargestellt, ist das "sentiment" keinesfalls
irrational zu bewerten. Pascal wehrt sich jedoch "gegen einen Ausschließlichkeits- oder
Absolutheitsanspruch der Vernunft".82
"Zwei Übertreibungen: Ausschluss der Vernunft. - Nur die Vernunft gelten lassen."83
Dadurch ist ein Rationalismus bereits ausgeschlossen; doch wie steht es um den Fideismus?
Ein "Fideismus" im strengen Sinne bedeutet, dass "die metaphysischen, moralischen und
religiösen Wahrheiten [..] der Vernunft unzugänglich und nur durch den Glauben zu erfassen"84
seien. Die "ersten Prinzipien" werden durch das "sentiment" wahrgenommen, sind jedoch der
Vernunft nach Pascals Ausführungen nicht völlig unzugänglich. Die Metaphysik, stellvertretend
für die Vernunft, gelange durchaus zu ihnen, doch haben diese "Beweise" nur geringe
Überzeugungskraft, die auch nicht sehr lange anhält.85 Hier ist nicht nur auf das unter §2.
Geschilderte zu verweisen, sondern auch die Unterscheidung zwischen dem "Gott der
Philosophen" und dem "Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs" aus dem Memorial zu bedenken. Es ist
nicht falsch, was die Metaphysik herausfindet. Nur bleibt es ein abstraktes Gebilde, dem jegliche
Lebendigkeit fehlt. Auch der "Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs" ist das "Absolute", das "höchste
Wesen", der "höchste Wert" und wohin die Metaphysik ihren Gottesbegriff noch führt. Der
Gottesbegriff, den Pascal diesem gegenüberstellt ist jedoch mehr als ein "Gottesbegriff". Er
bezieht sich auf diesen einen Gott, der sich in der Geschichte offenbart, mit dem Menschen
gelitten hat und schließlich für ihn gestorben und wiederauferstanden ist – der "lebendige Gott".86
Somit muss man auch an dieser Stelle dialektisch denken und sowohl den Fideismus als auch den
82
Ricken, S.275
Fr.253
84
Brugger, S.109
85
vgl. Fr.543
86
vgl. Guardini, S.50, 51
83
17
Rationalismus in ihren Extremen für sich genommen verneinen, jedoch nicht komplett
ausschließender Weise, sondern dergestalt "dass man die Gegensätze zugleich berührt und alles
dazwischen erfüllt".87 Nur so ist es möglich das "konkret Gemeinte" zu erkennen, ohne ihm die
"Lebendigkeit" zu rauben, die zugunsten jedes fixiert vorgefertigten Begriffes, wie auch jeder
Subsumierung unter einen Universalbegriff notwendig eingebüßt wird.
4.3 Die Aktualitätsfrage von Pascals Ansichten
Auch wenn die Religion in der heutigen Gesellschaft nicht mehr jenen Rang einnimmt, den sie
noch zu Pascals Zeiten innehatte, zeigt die Analyse der Seinslage des Menschen doch diverse
Punkte, die auch in der Neuzeit und für die Zukunft immer an Aktualität gewinnen werden. Man
bedenke, dass die Menschen in der heutigen Konsumgesellschaft an Technologien arbeiten, die
uns jegliche Langeweile von früh bis spät fernhalten sollen, wobei geradezu "Zerstreu-o-maten"
hergestellt werden (angefangen vom Fernseher über den Computer bis hin zum Handy, das bald
zum "Mediaterminal" aufgewertet, alle drei Funktionen an jedem Ort zu jeder Zeit ausüben
kann), so dass wir die Fragen über Wert und Sinn unseres eigenen Daseins gar nicht erst
aufkommen lassen brauchen bzw. können.
Dass die Lage des Menschen hierbei jedoch nicht um einen Deut besser wird, zeigt sich auf der
anderen Seite an den Selbstmord- und Drogenabhängikeitsraten der Industrienationen. Erschreckt
muss der Mensch nämlich feststellen, dass sich jene Fragen nicht durch den größten Schein und
die größte Verdrängung von ihm fernhalten lassen. Spätestens wenn er mit Todeserfahrungen in
Berührung kommt, offenbart sich jene letzte Dimension, die nach Wert und Sinn des Daseins
fragen lässt. Die Medien erwirken auch gegenüber diesen Phänomenen einen starken
Abstumpfungseffekt, der jedoch auf kurz oder lang betrachtet dennoch nicht dafür sorgen kann,
dass der Mensch seine Endlichkeit und Vergänglichkeit ganz aus den Augen verlieren wird; und
mit diesen sein sich selbst übersteigendes Wesen, das nach mehr Ausschau halten lässt, als
endliche Zerstreuung jemals wird bieten können.
87
Fr.353
18
LITERATURVERZEICHNIS
I. Quellen
Wasmuth, Ewald:
"PASCAL, Über die Religion und über einige andere Gegenstände
(Pensées)", 71972, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg
II. Sekundärliteratur
Guardini, Romano:
"Christliches Bewusstsein – Versuche über Pascal", 1935, Verlag Jakob
Hegner, Leipzig
Ricken, Friedo:
"Religionsphilosophie", 2003, Verlag W. Kohlhammer, München
Steinmann, Jean:
"PASCAL", 21959, Schwabenverlag, Stuttgart
Brugger, Walter:
"Philosophisches Wörterbuch", 141976, Verlag Herder, Freiburg (Breisgau)
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