Zusammenfassung des wissenschaftlichen

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Zusammenfassung des wissenschaftlichen Vorgehens bei
der Einschätzung von Erdbebenrisiken, insbesondere im
Hinblick auf die Trinkwasserversorgung in Tübingen
• Von Peter Fink (Versicherungsmathematiker, Tübingen)
• Erstellt für die BI Aubrunnen, 3. April 2017
Entstehung von Erdbeben
• Äußere starre Schale der Erde (Lithosphäre) ist in Platten zerbrochen
• Die Platten „schwimmen“ auf weniger starren Erdschichten.
• Platten bewegen sich relativ zueinander.
Entstehung von Erdbeben
• Platten bewegen sich aufeinander zu, von einander weg, oder aneinander vorbei
• Dabei verhaken Gesteine ineinander und es bauen sich Spannungen auf
Entstehung von Erdbeben
• Wird die aufgebaute Spannung zu groß, bricht das Gestein an einer Stelle:
• Erdbebenwellen entstehen durch dabei freiwerdende Energie.
• Stärke des Erdbebens abhängig von Gesteinsfestigkeit, Größe der Bruchfläche und
Ausmaß der Verschiebung
Entstehung von Erdbeben
• Die meisten schweren Erdbeben treten an Plattengrenzen auf.
• Intraplattenbeben: Weniger starke Erdbeben, die durch Spannungen und Brüchen
innerhalb von tektonischen Platten entstehen.
• Deutschland liegt auf der Eurasischen Platte:
Magnitude vs. Intensität
• Erste funktionsfähige Seismographen ab 1875
• Magnitude: Physikalische Größe, die mit Hilfe von Seismogrammaufzeichnungen
ermittelt wird:
• Unterschiedliche Magnitudenskalen gebräuchlich, z.B. Lokal-Magnitude (Richterskala)
oder Momenten-Magnitude
Magnitude vs. Intensität
• Vorinstrumentelle Beben: Nur
Auswirkungsbeschreibungen verfügbar
• Makroseismische Intensität:
Kategorisierung der Erdbebenstärke anhand
der Auswirkungen auf Personen und
Gebäude
• Europäische Makroseismische Skala
(EMS):
 In Europa verwendetet Standardskala
 Herausgegeben von der
Europäischen Seismologischen
Kommission
Situation in Deutschland
Erdbebengebiete:
•
Oberrheingraben
•
Niederrheinische Bucht
•
Albstadt-Region (schwäbische
Alb)
•
Vogtland
•
Alpenraum
Quelle: AON Benfield
Historische Erdbeben (seit 800 n. Chr.)
Raum Schwäbische Alb / Tübingen ist exponiert auch für Beben
mit Intensität ≥ VIII
Erdbeben in der Albstadt-Region
• 1911 Ebingen:
Intensität VIII
• 1943 Tailfingen-Onstmettingen-Pfeffingen:
Intensität VIII
• 1978 Tailfingen:
Intensität VII - VIII,
Quelle: Google Maps
Quelle: REINECKER & SCHNEIDER (2002)
Schäden des Albstadt-Erdbebens von 1978
Historische Erdbeben
• Geologen werten Quellen zu historischen Erdbeben
aus.
• Aus den Quellen werden unter Berücksichtigung von
geologischen Zusatzinformationen Rückschlüsse auf
Intensität, Magnitude und Hypozentrum gezogen.
• Die Ergebnisse werden in Form von
Erdbebenkatalogen veröffentlicht.
• Es gibt eine Vielzahl von Erdbebenkatalogen für
unterschiedliche Zielregionen, die regelmäßig
aktualisiert werden.
Untersuchung der geologischen Gegebenheiten
• Geographische Regionen, in denen eine ähnliche geologische Struktur vorliegt,
werden zu seismotektonischen Bereichen zusammengefasst
• Für jeden seismotektonischen Bereich: Zuordnung der historischen Beben und
Expertenschätzungen über die maximal vorstellbare Bebenstärke
Dämpfungsfunktion (Standort-Berücksichtigung)
Für jegliche Schadenmodellierung und stochastische Simulation wird benötigt:
(1) Eine Dämpfungsfunktion, die angibt, wie schnell die Intensität mit der Entfernung
zum Epizentrum, abhängig von der Erdbebentiefe, abnimmt.
Bodenbeschaffenheit (Standort-Berücksichtigung)
Für jegliche Schadenmodellierung wird benötigt:
(2) Eine Abschätzung der Bodenbeschaffenheit
• Harter Boden reduziert, weicher Boden verstärkt die Erdbebenwellen.
• Untergrundbedingungen können über die Hangneigung abgeschätzt werden.
• Berechnung der Hangneigung erfolgt über eine topographische Karte
harter Boden
weicher Boden
Vulnerabilität
Für die Schadenmodellierung wird benötigt:
(3) Eine Abschätzung der Vulnerabilität der
Objekte
Standard: Verwendung der Vulnerabilitätsangaben aus der Europäischen
Makroseismischen Skala
-
Detailliert für die Einschätzung der
Anfälligkeit von Gebäuden
-
rudimentär für die Einschätzung auf die
Umwelt (insb. hydrologische Effekte)
-
keine Angaben zur Vulnerabilität der
Infrastruktur ( z.B. Trinkwasserversorgung)
Vulnerabilität: Gebäude
Ausführliche Version EMS:
• Einteilung Gebäude in
Vulnerabilitätsklassen A – F
• Definition Schadengrade 1-5
• Angabe, bei welcher Intensität für welche
Vulnerabilitätsklasse welcher
Schadengrad entsteht
Vulnerabilität Infrastruktur: Trinkwasserversorgung
• Vulnerablititätsklassifizierung der Wasserversorgung im Erdbebenfall für:
• Zuleitungsnetzwerk: Water Supply Network WSS
• Abwassernetzwerk: Waste Water Network
WNN
 SYNER-G (2009):
 Project-Title:
 Systemic Seismic Vulnerability and Risk Analysis for
 Buildings, Lifeline Networks and Infrastructures Safety Gain
Vulnerabilität Infrastruktur: Trinkwasserversorgung
 Potable water supply is necessary for drinking, food preparation, sanitation, fireextinguishing etc. Water (which may be non-potable) is also required for cooling
equipment.
 A water supply network consists of transmission and distribution systems:
 Transmission system stores “raw” water and delivers it to treatment plants. Such a
 system is made up of canals, tunnels, elevated aqueducts and buried pipelines,
 pumping plant and reservoirs.
 Distribution system delivers treated water to customers.
 The water supply system as a whole is composed of a number of point-like critical
facilities (water sources, treatment plants, pumping stations, storage tanks) and of the
water distribution network itself. The internal logic of the critical facilities and their
function in the management of the whole system should be modelled explicitly. The
network portion of the system is made of:
 pipelines, tunnels and canals and the supervisory control and data acquisition (SCADA)
subsystem.
Vulnerabilität Infrastruktur:
Trinkwasserversorgung
Vulnerabilität Infrastruktur: Trinkwasserversorgung
 Vulnerabilität der Wasserversorgung bei Erdbeben
Historische Beispiele
Vulnerabilität Infrastruktur: Trinkwasserversorgung
 Vulnerabilität der Wasserversorgung bei Erdbeben
Historische Beispiele
Vulnerabilität Infrastruktur:
Wasserversorgungsleitungen
 Vulnerabilität der Pipelines (WSS05) hängt ab von











Free-flow oder Druckleitung
Überirdische Leitung oder unterirdische Leitung
kontinuierliches Rohr oder segmentierte Leitung
Material (Stahl, Eisen, PVC, Beton,…)
Rohrverbindungstypen
Durchmesser
Wandstärke
ggf. Tiefe der unterirdischen Leitung
Grundbeschaffenheit (Fels, lockerer Boden,…)
Alter
Wasserdruck
Vulnerabilität Infrastruktur:
Wasserversorgungsleitungen
 Vulnerabilität der Pipelines (WSS05): infrastrukturelle Abhängigkeiten
Im Erdbebenfall bestehen bei Beschädigung der Trinkwasserversorgungsleitungen
kritische Abhängigkeiten mit:
 Versorgung der Gebäude
 Versorgung des Gesundheitssystems (Krankenhäuser!)
 Versorgung der Feuerwehr
 Versorgung der Schutzeinrichtungen (Notunterkünfte etc.)
 Elektrizitätsversorgung (Pumpenausfall)
Vulnerabilität Infrastruktur: Wasserversorgungsleitungen
Mögliche Schäden an
Pipelines:
Vulnerabilität Infrastruktur: Wasserversorgungsleitungen
Mögliche Schäden an
Pipelines:
Vulnerabilität Infrastruktur:
Wasserversorgungsleitungen
Empirische Reparaturrate bei Schäden an Pipelines: Beispiel
Erdbeben Loma Prieta (SF) 1989 : Abhängigkeit von PGV und
Rohrdurchmesser, Vulnerabilitätskurve
Vulnerabilität Infrastruktur: Wasserversorgungsleitungen
Eine exemplarische Hochrechnung des Risikos:
Beispiel Albstollen:
 Metallrohre
 Durchmesser 2,25 Meter
 Durchfluss 4600 Liter / sec
 Länge 24 KM
 Tiefe 110 Meter
maximal sichere Bauweise auf diesem Bauabschnitt der
Bodenseewasserversorgung!
Dennoch verbleibt sogar hier eine (mit herkömmlichen
Vulnerabilitätskurven) errechnete Wahrscheinlichkeit eines
Bruches von 1% auf 10.000 Jahre*
*: Expertenschätzung im April 2017 auf Anfrage durch James Daniell, Dr. -Ing. Bauingenieuwesen,
Karlsruhe Institute of Technology, Germany
Vulnerabilität Infrastruktur: Wasserversorgungsleitungen
Andere Bauabschnitte der Bodensee-Wasserversorgungsleitungen
bergen teils höhere Risiken :
 Material? (Betonrohre ,…)
 Durchmesser ?
 Bautiefe ?
 Segmentierte Leitungen?
 Welcher Rohrverbindungstyp?
 Alter…
eine evtl. weniger sichere Bauweise als im Bauabschnitt
Albstollen führt auch zu ggf. erhöhter Vulnerabilität…
Vulnerabilität Infrastruktur: Beispiel Brunnen
Mögliche Schäden an Brunnen (Verankerte Komponenten) sind ebenfalls
abshätzbar:
Schadenswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von der Peak-GroundAcceleration (PGA)
PGA's von > 0,4g (z.B. bei oberflächennahen Beben) können
erhebliche Schäden anrichten. Eine möglichst große Diversifizierung der
Trinkwasserquellen in Erdbebenregionen wie Tübingen ist daher sehr
sinnvoll.
Fazit:
Die Tübinger Trinkwasserversorgung kann grundsätzlich durch ein
schweres Erdbeben (Makroseism. Intensität >= VIII) beeinträchtigt
werden.
Als mögliche Ursachen kommen in Frage:
Ausfall der Bodensee-Wasserversorgung
Ausfall von lokalen Brunnen
Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen Ausfall sehr
unwahrscheinlich ist:
Da Tübingen in einer Erdbebenregion liegt, ist die Aussage
"Die Trinkwasserversorgung Tübingens ist auch ohne den Brunnen
Au zu jeder Zeit sichergestellt", wie sie in der städtischen Vorlage
110/2017 steht, nicht haltbar.
Quellen:
SYNER-G: Systemic Seismic Vulnerability and Risk Analysis for Buildings, Lifeline Networks and Infrastructures
Safety Gain. Project 2009-2012. D3.5 Fragility functions for water and waste-water system elements, 2010
SYNER-G: Systemic Seismic Vulnerability and Risk Analysis for Buildings, Lifeline Networks and Infrastructures
Safety Gain. Project 2009-2012. D5.4 Systemic vulnerability and loss for water and waste-water systems, 2011
American Lifelines Alliance: Seismic Fragility Formulations for Water Systems. 2001
European Macroseismic Scale (1998): G. Grünthal (ed). Cahiers du Centre Européen de Géodynamique et de
Séismologie Volume 15.
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