Das Spiel mit dem Risiko - Ruhr

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Finanzmärkte: Der verantwortungsvolle
Umgang mit Finanzderivaten
DAS SPIEL MIT DEM RISIKO
Abb. 1: Das Spiel mit dem Risiko auf dem Finanzmarkt: Wenige entscheiden über Risiken, die viele
betreffen können.
Das schnelle Geld an der Börse zu verdienen – davon träumen viele. Dass Finanzspekulation aber auch weitreichende ökonomische Folgen haben kann, hat die Wirtschaftskrise gezeigt. Seit Monaten mehren sich die Diskussionen über riskante
Wertpapiergeschäfte, die scheinbar unbeherrscht sogar ganze Staaten in den Bankrott treiben. Dabei bleibt oft undurchsichtig, wer genau dafür verantwortlich ist und
welche Risiken einzelne Geschäfte bergen.
Es scheint dringlicher denn je, Kriterien
für einen verantwortungsvollen Umgang
mit Finanzmarktrisiken zu erarbeiten.
„Was sind überhaupt Derivate? Und was
haben sie mit Philosophie zu tun?“ – Diese Fragen habe ich seit Beginn meiner Promotionszeit häufig gehört. Meist antworte
ich dann auf die erste Frage – ganz vereinfacht – mit dem Beispiel einer Aktienoption, einer bestimmten Form eines Derivats
(s. Info 1): „Stell Dir vor, Du kaufst einen
Wettschein auf den Anstieg von Aktienkursen. Steigt der Kurs tatsächlich, machst
Du einen Gewinn; fällt er, verlierst Du Deinen Einsatz.“ Wenn ich dann anfange zu
erklären, dass Derivate ganz verschiedene
Finanzinstrumente bezeichnen, die man
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nutzen kann, um sich gegen Risiken abzusichern, sie zu bündeln und weiterzuverkaufen, werden oft vorschnelle Schlüsse gezogen: Viele verbinden Derivate sofort mit der Finanzkrise und mit der Gier
der Spekulanten, die sich mit undurchsichtigen Derivatgeschäften bereichert und damit das gesamte Finanzsystem lahm gelegt haben.
Doch so einfach ist es nicht. Bestimmte
Derivate sind ein nützlicher Bestandteil der
heutigen Finanzwelt. Ursprünglich haben
sie sich mit dem Ziel der Absicherung von
Einkommen aus dem Handel mit Gütern
entwickelt. Dies ist vor allem bei Gütern
sinnvoll, deren Preise stark schwanken und
deren Herstellung oder Beschaffung zeitaufwändig ist, wie z.B. Rohstoffe, Getreide, Vieh. Derivate gibt es seit mindestens
4 000 Jahren in Form von Warentermingeschäften: Verträgen, die festlegen, dass
ein Geschäft zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zum heute vereinbarten Preis abgewickelt werden soll. Eine
Fluggesellschaft kann sich so z.B. vor einer unerwarteten Steigerung des Ölpreises
schützen, ein Ölkonzern gegen das Sinken
der Ölpreise.
Heute bezieht sich nur noch ein geringer Teil des Derivathandels auf stoffliche
Handelswaren. Der überwiegende Teil bezieht sich auf Finanzprodukte wie Wertpapiere oder marktbezogene Referenzgrößen, z.B. Zinssätze. Der Markt für Derivate ist heute ein wesentlicher Bestandteil der internationalen Finanzmärkte (s.
Abb. 2). Seit den 1970er und 80er Jahren
entwickelt er sich rasant. Im Dezember
2009 überstieg allein der ausstehende Betrag außerbörslich-gehandelter Derivate
(s. Info) einen Wert von 614 Billionen USDollar. Auf jeden Menschen auf der Erde
kommt somit ein Derivatvolumen von
etwa 100 000 US-Dollar!
Derivate wurden deswegen so beliebt,
weil sie eine Art Hebelwirkung ausüben:
Sie bieten verhältnismäßig hohe Gewinne
(oder Verluste) bei niedriger Anfangsinvestition, was sie aber auch riskant macht
(s. Abb. 3). Wenn eine Bank wegen unkontrollierter Hebelwirkungen von Derivaten enorme Summen verliert und deswegen andere Verpflichtungen nicht mehr
erfüllen kann, droht ein „Dominoeffekt“.
info 1
Derivate – Geschäfte mit der Zukunft
Als Derivate (von lat. derivare = ableiten) werden Finanzinstrumente bezeichnet, deren eigener Wert aus dem Marktpreis bzw. einem Index eines oder mehrerer originärer
Basiswerte abgeleitet ist. Derivate gründen sich auf Termingeschäfte, d. h. der Käufer
eines Derivats erwirbt einen Anspruch für die Zukunft mit der Möglichkeit, diesen Anspruch vor Fälligkeit weiterzuveräußern. Basiswerte können Wertpapiere (z.B. Aktien,
Anleihen), marktbezogene Referenzgrößen (z.B. Zinssätze, Indizes) oder andere Handelsgegenstände (z.B. Rohstoffe, Devisen) sowie nicht-ökonomische Größen (z.B. das
Wetter) sein. Derivate können sowohl an der Börse, als auch außerbörslich gehandelt
werden. Während an der Börse standardisierte Derivatprodukte gehandelt werden, bietet der OTC (over-the-counter, bzw. außerbörsliche)-Handel die Möglichkeit, Derivate
individuell entsprechend der Bedürfnisse der Vertragsparteien zu gestalten.
Im Allgemeinen werden drei Hauptformen derivativer Geschäfte unterschieden: Futures, Optionen und Swaps.
Futures sind unbedingte Termingeschäfte, bei denen die Vertragsparteien ihre Verpflichtungen (zum Kauf oder Verkauf) zu einem zukünftigen Zeitpunkt erfüllen müssen. Futures werden an Terminbörsen gehandelt. Werden solche Verträge außerbörslich gehandelt, nennt man sie Forwards.
Bei Optionen handelt es sich um bedingte Termingeschäfte. Einer der Vertragspartner
hat das Recht zu entscheiden, ob das Geschäft erfüllt werden muss.
Unter Swaps versteht man Vereinbarungen zwischen zwei Vertragspartnern, in der
Zukunft Zahlungsströme auszutauschen. Beide Partner übernehmen jeweils die Verbindlichkeiten (Schulden) des anderen Partners. Sie tauschen also ihre Zahlungsverpflichtungen aus und können so z.B. Zins- oder Währungsunterschiede ausnutzen und
von ihnen profitieren.
Über diese Grundformen hinaus gibt es zahlreiche Mischformen, z.B. Swaptions und
die Option auf eine Option.
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Das gesamte Finanzsystem kann aus den
Fugen geraten.
Wie lässt sich nun entscheiden, welche
Risiken durch Derivate als „akzeptabel“
einzustufen sind und welche nicht? Hier
kommt die Philosophie, insbesondere die
(Risiko-)Ethik, ins „Spiel“. Meine Arbeit
zeigt, dass der Handel mit Derivaten nicht
nur aus ökonomischer, sondern auch aus
moralphilosophischer Sicht relevant ist.
Bislang sind die Risiken auf Finanzmärkten aus ethischer Perspektive nahezu unbeachtet geblieben. Die wenigen Arbeiten, die sich philosophisch-ethisch mit
Risiken auseinandersetzen, beziehen sich
meist auf technische, ökologische und medizinische Risiken. Durch ethische Überlegungen möchte ich eine Reihe von Kriterien entwerfen und prüfen, um zu entscheiden, welche Risikoübertragungen akzeptabel sind und welche nicht. Kriterien
können z.B. das Ausmaß eines Schadens
und die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts
sein. Einige Kriterien lassen sich auch aus
der bisherigen risikoethischen Debatte entnehmen, z.B. die Zustimmung zu einer Risikoübertragung und der Nutzen, den das
Eingehen von Risiken generieren kann.
Für den Umgang mit Finanzmarktrisiken durch Derivate ergibt sich u. a. folgende ethische Problemlage: Derivate erzeugen „soziale Risikosituationen“. Sie machen Risiken „handelbar“, so dass sie Personen betreffen können, die nicht deren
Urheber sind, beispielsweise die Kunden
einer Bank oder die Steuerzahler. Möglicherweise schädigen sie dabei Marktteilnehmer, die nicht in der Lage sind, diese
Risiken zu übernehmen. Problematisch
sind zudem die kumulativen Effekte auf
Finanzmärkten: Verschiedene Akteure vollziehen mehrere Handlungen parallel. Zusammen genommen können sie zu einem
Risiko mit einem potenziellen inakzeptablen Schaden für ein anderes Individuum oder Kollektiv führen. Für die risikoethische Diskussion stellen sich folgende
Fragen: Wie werden Finanzmarktrisiken
verteilt? Und werden durch die Verteilung
von Risiken Rechte Betroffener verletzt?
Um diese Fragen beantworten zu können,
ziehe ich verschiedene Kriterien heran:
Für das Kriterium „Nutzen“ lässt sich
zeigen, dass es allein nicht ausreicht, um
entscheiden zu können, welche Risiken akzeptabel sind und welche nicht. Es sollte
Abb. 2: Für die Untersuchung spielen neben Wahrscheinlichkeiten und
deren Verteilung auch aktuelle Trends und Entwicklungen auf dem Finanzmarkt eine Rolle.
sich aber ein Gesamtnutzen nachweisen
lassen. Für den einzelnen Akteur ist es zunächst rational, seinen potenziellen Nutzen
zu maximieren und potenziellen Schaden
zu vermeiden. Auf Systemebene bleiben
durch reine Kosten-Nutzen-Abwägungen
jedoch wesentliche Verteilungsfragen unbeantwortet. Hier steht die Frage im Vordergrund, welche Personen einen Nutzen
haben und welche Betroffenen eine Schädigung erleiden. Ein Derivatgeschäft, das
einen großen potenziellen Nutzen für ein
Individuum verspricht, ist somit in bestimmten Fällen abzulehnen, wenn es das
Finanzsystem mit einem inakzeptablen Risiko, z.B. dem eines Systemcrashs, belastet.
Da es viele verschiedene, teilweise hochkomplexe Derivate gibt, müssen derartige
Überlegungen differenziert angestellt werden. Nicht jedes Derivat, z.B. das zwischen
dem Ölkonzern und der Fluggesellschaft,
ist auch systemrelevant. Es gibt aber Derivate, die insofern systemrelevant sind, als
sie Risiken über verschiedene Handlungsebenen verteilen und dadurch andere schädigen können.
Ein weiteres Kriterium, das ich in meiner Arbeit untersuche, ist das der Zustimmung zu einer Risikoübertragung. Ich unterscheide hier u.a. die direkte von der indirekten Zustimmung. Wenn alle Beteiligten einer Risikoübertragung direkt zustimmen, besteht kein Zweifel an ihrer
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Recht, die Option auszuüben, d.h.
die Aktie zu kaufen
Pflicht, die Aktie im Falle
der Ausübung zu verkaufen
Käufer einer Kaufoption (hier Bankkunde)
– spekuliert auf steigenden Kurs
Verkäufer der Kaufoption (hier Bank A) –
spekuliert auf Kurssenkung bzw. Stagnation
Optionsprämie
Abb. 3: Ein Beispiel für die Hebelwirkung von Derivaten: Bank A verkauft einem Kunden eine Aktienoption. Sie gibt ihm das Recht, eine Aktie zu einem bestimmten Preis zu einem vereinbarten Termin zu kaufen
(Kaufoption). Der Kunde zahlt dafür eine Optionsprämie an die Bank. Er geht von einem steigenden Kurs
aus und hofft, die Aktie zum vereinbarten Termin günstig kaufen zu können. Die Bank geht hingegen von
einem stagnierenden bzw. fallenden Kurs aus. Während der Kunde mit der niedrigen Investition – seiner Prämie – theoretisch unbegrenzte Gewinne machen kann, ist der Gewinn der Bank auf die Optionsprämie begrenzt. Der potenzielle Verlust der Bank ist aber unbegrenzt: Im Falle eines rasant steigenden Aktienkurses
ist sie verpflichtet, die Aktie zum vereinbarten Zeitpunkt an den Kunden zu verkaufen. Hat sie die Aktie nicht
in ihrem Bestand, muss sie sie selbst am Markt erwerben – zu einem theoretisch unbegrenzt hohen Preis.
Zulässigkeit. Direkte Zustimmungen sind
allerdings auf Finanzmärkten praktisch unmöglich, da nicht alle Betroffenen vor jeder Anlageentscheidung befragt werden
können. Zudem müsste jeder informiert
und frei von Zwang zustimmen. Eine indirekte Zustimmung liegt vor, wenn ein Individuum ein bestimmtes Entscheidungsverfahren akzeptiert, nach welchem Risiken
übertragen werden. Eine solche Zustimmung rechtfertigt aber allenfalls einige,
nicht alle Risikoübertragungen. Denn die
Betroffenen können sich nicht sinnvoll mit
allen möglichen Ergebnissen vorab einverstanden erklären. Die Entscheidungsverfahren müssen sich innerhalb bestimmter
normativer Grenzen bewegen, die es vorab
zu bestimmen gilt.
info 2
Ethik vernetzter Märkte
Die Arbeit von Simone Heinemann ist Teil des Forschungsschwerpunktes Ethik der Finanzmärkte des Arbeitsbereichs „Angewandte Ethik“ (Prof. Dr. Klaus Steigleder) am
Institut für Philosophie. Die Finanzmarktethik ist bislang vor allem unternehmensethisch und am Handeln individueller Akteure orientiert. Ziel des Forschungsschwerpunktes ist es, eine solche mikroethische Orientierung durch eine Makroethik der Finanzmärkte zu ergänzen und in diese einzuordnen. Die Makroethik der Finanzmärkte
ist an der normativen Beurteilung, den Steuerungsmöglichkeiten und Steuerungserfordernissen von (vernetzten) Märkten interessiert. Wesentliche Aufgabe ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung einer Risikoethik, die systemische Risiken in
den Vordergrund stellt. 14
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Abb. 4: Simone Heinemann diskutiert die Arbeitsergebnisse in der „Dissertation Support Group“ des Arbeitsbereichs.
Es zeigt sich, dass verschiedene Kriterien nur gemeinsam angewandt Aufschluss darüber geben können, in welchen Fällen Risikoübertragungen akzeptabel sind. Denn einerseits ist ein nützlicher
und effizienter Finanzmarkt als Voraussetzung für das Funktionieren einer Marktwirtschaft unverzichtbar, um die Handlungschancen und Rechte der Einzelnen
dauerhaft und wirksam zu sichern. Somit
ist die Übertragung und Verteilung von
Gambling with Financial Risk
Speculative financial instruments such as derivatives are an integral part of the global
financial system. They provide a means to exchange and disperse risk. However, derivatives traders can also create risks and future uncertainties which might be ethically
inacceptable. On the systemic level, an increase in the level of risk can potentially harm
speculators as well as society as a whole. A set of ethical criteria needs to be drawn
up which can constitute a normative investigation of financial risk-taking.
Risiken nicht per se abzulehnen. Die Effizienz des Ganzen ist nicht selbstverständlich und ein moralisch wichtiges Ziel. Sie
darf aber nicht gegen die Rechte des Einzelnen ausgespielt werden.
„Die Ethik versteht es bislang nur sehr
unzureichend, mit Risiken angemessen
umzugehen und Kriterien des verantwortlichen und gerechten Umgangs mit
Risiken zu bestimmen“, sagt Prof. Klaus
Steigleder, Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Ethik an der RUB. Für die Ausgestaltung des Finanzmarkts sind solche
risikoethischen Überlegungen allerdings
dringend notwendig. Denn sie können
Hinweise darauf geben, ob und evtl. auch
wie der Umgang mit Risiken reguliert werden muss. Um die Erkenntnisse der Arbeit
für Politik und Recht sichtbar zu machen,
bieten zahlreiche wirtschaftsethische Tagungen eine Plattform.
Vom schnellen Geld an der Börse darf
dann aber auch in Zukunft noch geträumt
werden. Nur nicht zum Preis einer weiteren Finanzkrise.
Simone Heinemann
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