Book reviews Maio G: Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Schattauer-Verlag; 2012. Gebunden, 444 Seiten, 3 Abb., 14 Tab. Preis: Euro (D) 19.95 / (A) 20.60. ISBN: 978-3-7945-2448-8 (Print), 978-3-7945-6669-3 (eBook). «Der Ethik in der Medizin geht es um das Nachdenken über das Gute im konkreten Denk- und Handlungskontext der Medizin und um eine Interpretation dieses Guten unter Berücksichtigung der praktischen Situationslagen» (S. 8) – so lautet die Definition, die uns G. Maio für den Aufgabenbereich der Ethik in der Medizin gibt. Sie ist – wie das ganze Buch – klar und verständlich geschrieben, und sie ist prägnant: Sie beschreibt den praktischen, den Handlungsbezug, den Medizinethik haben muss, sie beschreibt aber auch, dass es notwendig ist, die konkrete ethische Entscheidungssituation in eine philosophische Frage nach dem guten Leben und seinen Bedingungen und Voraussetzungen einzubetten. Medizinethik ist nicht eine Disziplin, die zur Medizin hinzutritt, sondern sie gehört als integraler Bestandteil zum ärztlichen, konkreten, je auf das unvertretbare Individuum ausgerichtete Handeln. Nun ist der Diskurs der philosophischen Ethik den medizinisch Tätigen nicht vertraut. So ist es nur folgerichtig, dass Maio zunächst in die Grundpositionen der Ethik einführt, die Sollensethik, die utilitaristisch folgenbezogene und die Tugendethik differenziert. Er betont, dass weder die nur an den Folgen orientierte ethische Beurteilung noch die allein normenorientierte ausreicht. So sieht er in der Tugendethik einen aktuellen Ansatz und einen lohnenden Ausgangspunkt, von dem aus Haltungen als Voraussetzungen für ethische Entscheidungen wichtig werden, die sich anhand konkreter Situationen bewähren müssen. Auf diese Weise wird nicht eine einzelne Handlung einem Normenkatalog unterworfen, sondern die Komplexität einer Situation und ihrer Voraussetzungen berücksichtigt. Den Leser erfreut es, in diesem Kapitel eine kurzgefasste, brillant geschriebene Geschichte der praktischen Philosophie lesen zu können. Soll die Medizinethik wirklich zur Medizin gehören, muss sich die Frage anschliessen, wie das Selbstbild der Medizin heute aussieht und welchen historischen Wandlungen es unterliegt. Daraus leitet sich auch eine kritische Distanz zum heute vorherrschenden «mechanistischen Verständnis vom Menschsein» ab und erlaubt den Ausblick auf ein Selbstverständnis der Medizin, das ethische Fragen selbstverständlich zu stellen erlaubt. Nun ist der Boden für eine Zusammenführung der philosophischen Ethik und der Medizin bereitet, und es ist möglich, medizinethische Methoden zu differenzieren, ohne sie freilich gegeneinander auszuspielen. Die Prinzipienethik hat Prinzipien entwickelt, die im Einzelfall Konflikte lösen oder zumindest darstellen können, so das Prinzip des Nicht-Schadens, der Fürsorge, der Autonomie und der Gerechtigkeit. Der Rückgriff auf ethische Prinzipien aber hilft nicht allein; eine narrative Medizinethik fokussiert nicht auf das Allgemeine, sondern auf die besondere Situation, die aus der Lebensgeschichte und der Selbsterzählung des Patienten sichtbar werden. Eine kasuistische Medizinethik schlägt gewissermassen eine Brücke zwischen beiden Ansätzen: Der Einzelfall wird zur Grundlage von Lösungsschemata. Das Prinzip der Autonomie wird im Folgenden besonders gründlich aufgearbeitet. Wenn Autonomie heisst, dass der Patient allein der Herr seiner Entscheidungen zu sein hat, so fühlt er sich alleingelassen, wenn es ihm unmöglich ist, selbständig zu einem Urteil zu gelangen. «Menschen mit schwerer Krankheit allein als Freiheitsträger zu betrachten, würde bedeuten, sie in ihrer Freiheit allein zu lassen.» (S. 167) Vielmehr sollen der Dialog und die verstehende Begegnung den Patienten befähigen, seine Autonomie zu finden. Nicht alle behandelten Themen sind für das Praxisfeld Psychiatrie und Psychotherapie gleichermassen wichtig. So beschränke ich mich im Folgenden auf eine Auswahl. Das Wahren der Schweigepflicht ist in der Psychiatrie ein besonders hohes Gut. Das Gebot der Vertraulichkeit (confidentiality) darf nur dann gebrochen werden, wenn sich durch die Verschwiegenheit akute und nicht anders abwendbare Risiken für den Patienten oder für andere ergeben. Ethisch besonders herausfordernd ist die Frage nach der Zwangsbehandlung in der Psychiatrie. Entscheidend ist wieder die tugendethische Grundhaltung, der es darum geht, dem Patienten zu seiner Autonomie zu verhelfen. Die Defensivstrategie, dass jeder Zwang ethisch verwerflich ist, ist nicht Ausdruck einer besonders lobenswerten Haltung. Vielmehr wird Autonomie gewahrt, indem sie dort, wo sie nicht wahrgenommen werden kann, wieder ermöglicht wird. In der Alterspsychiatrie kann die Frage nach der Sterbehilfe gar nicht umgangen werden. Hier besonders unterscheiden sich die rechtlichen Grundlagen in verschiedenen europäischen Ländern, und Maio berücksichtigt die Unterschiede. Er hinterfragt auch scheinbar selbstverständliche moderne Gepflogenheiten wie die Patientenverfügung, die die Unverfügbarkeit des Sterbens ausschalten möchte. Zugleich gibt er zu bedenken, dass es kaum Ausdruck von Autonomie und Selbstbestimmtheit ist, wenn alte Menschen sterben wollen, um anderen nicht zur Last zu fallen – da ist vielmehr ein gesellschaftliches Ethikdefizit angesprochen. Am Ende des Buchs schliesst sich der Kreis. Hatte Maio am Anfang die These vertreten, dass die Ethik zur Medizin gehört, so bestimmt er abschliessend die Grundvoraussetzung für diese These und warnt vor den Gefahren, die ihr drohen. Die Grundvoraussetzung einer ethisch orientierten Medizin liegt darin, dass sie den ganzen Menschen betrachtet. Bedroht wird diese Perspektive durch die Ökonomisierung der Medizin, die aus der Praxis die Poiesis macht, also aus dem auf den ganzen Menschen abgestimmten Handeln die technische Verfügung, und die Zeit immer S C H W E I Z E R A R C H I V F Ü R N E U R O L O G I E U N D P S Y C H I A T R I E 2012;163(3):117–8 knapper werden lässt, so dass gerade für die chronisch kranken Menschen nicht mehr genügend Zeit eingeräumt wird, ihre Autonomie wiederzufinden. Maio hat ein Lehrbuch geschrieben, ja – ein Buch, das klar und anschaulich geschrieben ist, das didaktisch gut aufgebaut ist und eine Übersicht über das Fachgebiet darstellt. Aber das Buch ist mehr als ein Lehrbuch: es macht nachdenklich, es rüttelt auf, es sensibilisiert für die im ärztlichen Handeln enthaltenen praktisch-ethischen Fragen. Auf eine sanfte und freundliche Art bietet das Buch eine heilsame und lohnende Herausforderung, die eigenen ethischen Vorstellungen zu überdenken – und das ist das Beste, was man von einem Buch sagen kann Prof. Joachim Küchenhoff, Liestal Steinlin Egli R: Multiple Sklerose verstehen und behandeln: Hintergründe und Studien­ ergebnisse – Untersuchung und Behandlung – Clinical Reasoning in Fallbeispielen. Berlin, Heidelberg: Springer; 2011. 1. Auflage. Taschenbuch, 264 Seiten. Preis: Euro 49.95. ISBN 978-3642176326. Regula Steinlin Eglis Buch «Multiple Sklerose verstehen und behandeln» ist ein vorrangig an Physiotherapeuten gerichtetes Werk, das auch für praktische Neurologen wertvolle Hintergrundinformationen bereithält. Den Schwerpunkt unter den insgesamt fünf Kapiteln nehmen die Erläuterung und Visualisierung «MS-spezifischer Untersuchungen» und «physiotherapeutischer Interventionsmöglichkeiten» ein. Einleitend werden die «klinischen Grundlagen der Multiplen Sklerose» in konziser Form dargelegt, insbesondere im klinischen MS-Alltag gängige und für die Kommunikation zwischen Therapeuten und Ärzten essentielle Begriffe im Kontext der Multiplen Sklerose definiert. Herausragend sind die beiden folgenden Kapitel vor allem durch ihre umfassende Beleuchtung des breiten Spektrums «MS-spezifischer Untersuchungen» und «physiotherapeutischer Interventionsmöglichkeiten». Dabei kommen konkrete Beispiele, wertvolle Hintergrundinformationen und Hinweise, Erklärungen und Vorschläge zur Beurteilung und eine Vielzahl an hilfreichen Illustrationen zur Anwendung. Es folgt eine Übersicht zur Erfassung und Quantifizierung von Therapiezielen. Den Abschluss bilden fünf Fallbeispiele, in denen die Autorin die klinische Untersuchung, das Clinical Reasoning und die Therapieziele bzw. -möglichkeiten nochmals an konkreten MS-Patienten verdeutlicht. Fazit: Ein deutliches Plus stellen die klare Strukturierung des Inhalts und die Vielzahl exzellenter Bilder auf. Die Fallbeispiele sind sehr praxisnah und didaktisch klug ausgewählt. Dieses Buch wird für alle Physiotherapeuten und praktisch tätigen Ärzte von erkennbarem Nutzen sein, die in ihrem klinischen Alltag mit MSPatienten zu tun haben. Ilijas Jelcic, Zürich www.sanp.ch | www.asnp.ch 118