Wissenschaft in der Wissensgesellschaft

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Wissenschaft in der Wissensgesellschaft
(Bericht zur Frühjahrstagung der Sektion Wissenschafts- und Technikforschung am 7. und 8.
Juni 2002 in München)
Von Stefan Böschen
Gesellschaften waren schon immer „Wissensgesellschaften“. Wissen ist ein wesentliches
Merkmal der menschlichen Lebensform und die Herausbildung von Hochkulturen war z.B. an
die neue Form der „Speicherung“ des Wissens in Form der Schrift gebunden (vgl. Jan
Assmann
Das
kulturelle
Gedächtnis).
Offensichtlich
wird
also
die
Idee
der
Wissensgesellschaft daher eigentlich nicht durch den Oberbegriff „Wissen“ selbst
verdeutlicht, sondern erst durch seine unausgesprochenen Besonderheiten. Die Besonderheit
des Oberbegriffs „Wissen“ lässt sich dabei zumindest in zwei wesentliche Richtungen durch
Gegensatzbildungen ausbuchstabieren: 1) Wissen im Gegensatz zu Glauben und Meinen bzw.
2) Wissen im Gegensatz zu Energie und Materie. Dabei zeigt sich, dass die zentrale
Bezugsgröße wissenschaftliches Wissen ist, dessen Produzentin (die Wissenschaft) in
modernen Gesellschaften zu der wichtigsten Instanz zur Erzeugung von Wissen mit
besonderen Geltungsansprüchen avancierte. Dennoch könnte man z.B. in Platons
„Philosophen-Staat“ schon eine Form von Wissensgesellschaft entdecken, würde es nicht
zentral in den gegenwärtigen Diagnosen um eine Ökonomie des Wissens gehen. Somit wird
das zweite Gegensatzpaar (Wissen im Ggs. zu Energie und Materie) bedeutsam, indem eine
wesentliche Veränderung in der Struktur der Industriegesellschaft thematisch wird.
Das Konzept der Wissensgesellschaft gehört zu den prominenten zeitdiagnostischen
Angeboten in der gegenwärtigen soziologischen Debatte. Die enorme Produktion, Verteilung
und Zirkulation wissenschaftlichen Wissens und die Bedeutung desselben bei der Gestaltung
von Innovationsprozessen und vielen anderen Abläufen moderner Gesellschaften geben einer
solchen Konzeption eine hohe Plausibilität. Ganz in der Linie von Daniel Bell ist auch heute
vielfach positives Wissen Ausgangspunkt für die unterschiedlichen Konzeptionen einer
Wissensgesellschaft, wobei angenommen wird, dass dieses Wissen aufgrund seiner
gesellschaftlichen Verteilung Auswirkungen auf die Strukturierung von Gesellschaft hat.
Offensichtlich erhält in diesen Konzeptionen Wissenschaft eine besondere Rolle
zugesprochen – ist sie doch die legitime Instanz zur Produktion von Wissen mit besonderen
Geltungsansprüchen und Garant für die Erzeugung von Innovationen, auch wenn diese immer
weniger aus dem engeren institutionellen Kontext akademischer Wissenschaft stammen.
Jedoch zeigen sich gerade im Zusammenhang mit Debatten um die Neustrukturierung der
Erwerbsarbeit oder Risiko- und Umweltkonflikten spezifische Begrenzungen in der
Leistungsfähigkeit wissenschaftlichen Wissens, was sich in einer Ausweitung der
Kommunikation über Ungewissheit oder gar Nichtwissen bzw. anderen Formen des Wissens
(Alltagswissen, Erfahrungswissen) äußert. Vor diesem Hintergrund sich differenzierender
Wissens-
und
Nichtwissensformen
wird
die
vormals
hegemoniale
Bedeutung
wissenschaftlichen Wissens angefochten, sodass die Rolle von Wissenschaft in der
Wissensgesellschaft neu ausgelotet werden muss. Ziel der Tagung war zweierlei: zum einen
unterschiedliche Konzeptionen von Wissensgesellschaft zu diskutieren und dabei die
Bedeutung von wissenschaftlichem Wissen sowie anderer Wissensformen in den Blick zu
nehmen; zum anderen war sie Anlass, kontrastierend dazu Befunde aus dem Theoriehorizont
reflexiver Modernisierung zu diskutieren.
I. Themenblock: Wissen als ökonomisch-technische Ressource
In vielen etablierten Konzepten zur Wissensgesellschaft werden wesentlich Verteilungs- und
Verwendungsfragen wissenschaftlichen Wissens diskutiert. Unter einer ökonomischen
Perspektive erscheint Wissen dann als Ware bzw. Produktivkraft, wobei die Aufgabe darin
besteht, Strukturen für eine möglichst effiziente Nutzung dieser Ware zu entwickeln. Die
Lösung wird dann in Formen des Wissensmanagements gesehen. Allerdings beginnen sich
hier auch die Diskurslinien zu verschieben und gerade im Kontext der Arbeits- und
Industriesoziologie wird das Problem aufgeworfen, wie denn die konzeptionelle Leerstelle des
Erfahrungswissens gefüllt werden könnte. Die drei Vorträge in diesem Block waren einerseits
als Überblick über den Stand der Diskussion, andererseits als Vertiefung von bestimmten
Fragestellungen angelegt. Martin Heidenreich (Bamberg) eröffnete mit einem vielschichtigen
Überblick unter dem Titel Die Debatte um die Wissensgesellschaft das Programm.
Ausgehend von der Beobachtung zunehmender, auf die Diagnose der Wissensgesellschaft
zugeschnittener politischer Programmatik (z.B. in der EU) verdeutlichte er zunächst einige
Bereiche, in denen die Wissensbasierung zunehme. Im Grunde weise der Prozess eine
gewisse ‚Totalisierung‘ auf. Um die weitere Argumentation zu strukturieren diskutierte er
unterschiedliche Wissensgebegriffe und legte sich auf die Definition von Luhmann fest,
wonach Wissen veränderungsbereite kognitive Schemata bezeichnen. Somit sei die
Wissensgesellschaft durch die Institutionalisierung einer Bereitschaft zu Veränderung
charakterisiert. Eingebettet wurde diese Argumentation schließlich mit einem Rückgriff auf
die Klassiker, die sich ja nicht nur mit Verteilungsfragen, sondern ebenso mit dem Problem
der Verwissenschaftlichung beschäftigt haben. Zentrale Intention war dabei eine kritische
Auseinandersetzung mit Konzepten der Wissensgesellschaft im Anschluss an die Studie von
Bell. Schließlich diskutierte er für die aktuelle Situation vier Perspektiven (Globale
Reichweite, lernende Organisationen, Wissensarbeit, Fragilität und Risiken in der
Wissensgesellschaft) für die Institutionalisierung reflexiver Mechanismen, die zu neuen
Formen struktureller Kopplung führen würden. Nico Stehr (Essen) diskutierte in seinem
Vortrag das Produktivitätsparadox ein besonderes Problem, das mit den Erwartungen an die
Produktion und Verteilung von Wissen einhergeht. Denn mit der Entwicklung der
Computertechnik und deren breiten Einsatz in Unternehmen war die Erwartung verbunden,
dass sich enorme Zuwachsraten der Produktivität einstellen würden. Dies ist allerdings so
nicht eingetreten. Zur Erklärung schloss er sich dabei einer These von Peter Drucker an,
wonach in der Wissensgesellschaft die Dynamik des Wissens nicht nachfrageorientiert,
sondern vielmehr angebotsorientert induziert sei. Daher sei offenkundig, dass eine Erklärung
nicht allein durch ökonomisch-strategische Indikatoren vorgenommen werden könne. Sondern
es sei zu berücksichtigen, dass sich die ‚Gewichte‘ von manueller und geistiger Arbeit zu
einer neuen Arbeitsteilung verschieben würden, dass die Technologie zu einer neuen
Emanzipation der Subjekte beitrage und schließlich dass sich die Technologie dereguliere.
Hermann Kocyba (Frankfurt) problematisierte in seinem Vortag Heterogene Wissenstypen
und neue Wissenspolitik: Wissensmanagement als reflexive Selbststeuerung schließlich
die Pluralität von Wissensformen in zwei Dimensionen. Es sei nicht nur eine Pluralisierung
wissenchaftlichen Wissens zu beobachten, sondern ebenso eine Pluralität von Wissensformen
überhaupt, die sich in der wachsenden Bedeutung anderer als wissenschaftlicher
Wissensformen manifestiere. Nach einer pragmatischen Unterscheidung zwischen den
Begriffen Daten, Information und Wissen leitete er zu Beobachtungen der Heterogenität von
Wissenstypen über. Dabei zeige sich, so seine These, die Koexistenz von heterogenen
Wissensformen, die nicht in einer epistemischen Weise aneinander angeglichen werden
könnten. Dies erhellte er an Beispielen aus der Industriesoziologie, wo seine Untersuchungen
eine zunehmende Akzeptanz von Erfahrungswissen, dessen Nicht-Subsumierbarkeit und in
der Folge neue Formen des Umgangs mit diesem Wissenstyp zeigen. So wird z.B. über ein
Kennziffernmanagement die Frage nach dem relevanten Wissen organisatorisch abzuarbeiten
versucht.
II. Themenblock: Wissenschaftliches Wissen, Nichtwissen und anderes Wissen
Die von Hermann Kocyba vorgestellten Überlegungen leiteten direkt zum zweiten
Themenblock
dieser
Tagung
über,
welcher
der
Differenzierung
unterschiedlicher
Wissenstypen gewidmet war. Wie schon angedeutet, nehmen im öffentlichen und politischen
Diskurs Probleme der Ungewissheit und des (auch wissenschaftlichen) Nichtwissens immer
größeren
Raum
ein.
Manche
Autoren
sprechen
sogar
schon
von
einer
„Unwissensgesellschaft“ (H. Hegmann). Den Anfang setzte dabei Manfred Schmutzer (Wien)
mit seinen Überlegungen zu Eine(r) Anthropologie des Wissens. Diese sehr grundlegenden
Ausführungen, die sich historischen Beispielen aus den letzten 400 Jahren bedienten, waren
der Klärung der Frage gewidmet, was überhaupt da sei, dass das Wissen als Wissen erscheine.
Wissen müsse als relationale Größe aufgefasst werden, wobei sich Wissensgruppen typisieren
ließen. Offensichtlich seien es Werte, Werthaltungen, Kultur, die für die Organisation von
diesen unterschiedlichen Wissenskulturen sorgen. In Anlehnung an Überlegungen von Mary
Douglas (Grid/Group-Schema) und O. Mayr (Uhr und Waage als Metaphern für die beiden
modernen Formationen von Wissenschaft und politischer Entscheidung) unterschied er
schließlich die Wissenschaftskulturen von Deutschland, England und Frankreich. Nach
diesem generellen Konzept unterschiedlicher Wissenschaftskulturen gab Fritz Böhle
(Augsburg) ein Plädoyer für die Untersuchung anderer Wissensformen ab. In seinem Vortrag
zu Ein handlungstheoretischer Zugang zu implizitem Wissen und Erfahrungswissen
begründete er die Notwendigkeit und die Perspektive, unter der die sogenannten anderen
Wissensformen einer soziologischen Analyse zugänglich gemacht werden könnten und
sollten. Industrie- und techniksoziologische Untersuchungen zeigten, dass Erfahrungswissen
immer weniger als traditionaler Restbestand zu begreifen sei, sondern zunehmend als eine
unverzichtbare
anerkannt
Wissensgrundlage
werde.
Das
bedeute
gerade
in
allerdings
hochtechnisierten
nicht,
dass
Produktionsprozessen
Rationalisierung
und
Verwissenschaftlichung zum Erliegen kämen; vielmehr zeichne sich ab, dass das
Erfahrungswissen in rationalisierbare und nicht-rationalisierbare Bestandteile aufgespalten
werde. Den Schlusspunkt dieses Teils setzte Wolfgang Krohn (Bielefeld) mit seinen
Überlegungen zu Das Risiko des Nichtwissens. Zunächst stellte er heraus, dass die
Hypothetizität des Wissens als zentrales Moment wissenschaftlichen Wissens angesehen
werden müsse. Im Gegensatz dazu zeichne sich das technische Modell durch sein
Funktionieren aus: Wissenschaft schafft Handeln, Technik verknüpft Handeln. Das Risiko des
Nichtwissens entstehe dadurch, dass die experimentelle Haltung generalisiert werde und
damit die Gesellschaft zunehmend mit der Hypothetizität des Wissens konfrontiert werde. Als
Antwort auf das Risiko des Nichtwissens böten sich rekursive Lernprozesse an, in denen die
Folgen von Innovationen beobachtet und auf die Ausgangsannahmen zurück bezogen
werden..
III. Themenblock: Wissenschaft und reflexive Modernisierung
Im gesellschaftstheoretischen Angebot der Theorie reflexiver Modernisierung spielt das
Spannungsverhältnis von Wissen und Nicht-Wissen eine bedeutende konzeptuelle Rolle. So
ließ sich die Frage diskutieren: Ist die „Wissensgesellschaft“ eine Erscheinungsform oder
Phase reflexiver Modernisierung oder muß die Theorie reflexiver Modernisierung nicht
vielmehr tatsächlich von einer „Nichtwissensgesellschaft“ sprechen? Den Anfang machte
Peter Wehling (Augsburg) mit seinen Ausführungen zu dem Thema Wissenschaftliches
Nichtwissen in der Wissensgesellschaft. Ausgehend von der Diagnose der wachsenden
Durchdringung aller gesellschaftlicher Sphären mit wissenschaftlichem Wissen und den
dadurch entstehenden Spannungen ergäbe sich die Notwendigkeit, eine komplementäre
Perspektive anzulegen und die wachsende Bedeutung wissenschaftlichen Nichtwissens zur
Kenntnis zu nehmen. Diese artikuliere sich in einer zunehmenden Konfrontation von
Gesellschaft und Politik mit kognitiver Ungewissheit und normativer Uneindeutigkeit und den
daraus folgenden Problemen ihrer möglichen Verarbeitung. Für die weitere Analyse seien die
Unterscheidungen zwischen Nichtwissen und Risiko sowie Nichtwissen und Irrtum von
Bedeutung. Zielpunkt müsse in diesem Zusammenhang die Frage nach der Möglichkeit von
Wissen um die Grenzen des Wissens sein. Unter welchen Umständen ist es vertretbar,
Realexperimente durchzuführen? Damit kommen die Voraussetzungen für Lernen überhaupt
in den Blick. Ein besonderes Problem sei dabei, dass man in vielen Fällen im vorhinein über
die Anwendbarkeit von Wissen und den Zeithorizont, in denen sich Folgen manifestieren,
keine Aussage treffen könne. Vor diesem Hintergrund komme der Reflexion des
Nichtwissens ein besonderer Stellenwert zu. Ulrich Wengenroth (München) fokussierte in
seinem Vortrag Das Aushandeln von Wissensformen in der Konstruktion auf eine
bestimmte Disziplin, der Konstruktionswissenschaft, die er als die reflexive Disziplin des
Maschinenbaus kennzeichnete. Von besonderer Bedeutung sei hier der Wechsel von der
Codierung wahr/falsch hin zur Codierung funktioniert/funktioniert nicht, wobei das
Funktionieren unter verschiedensten (und damit fast: beliebigen) Bedingungen sichergestellt
sein müsse. Bei der Konstruktion komme es zu einem Aushandeln zwischen den
unterschiedlichsten Wissensformen. Zentral seien hierbei das wissenschaftliche Wissen,
ästhetisches Wissen und implizites Wissen. Vor diesem Hintergrund diskutierte Wengenroth
ein Mehrebenensystem der Wissensformen in der Technik. Als Besonderheit in der
Gegenwart hob er dabei hervor, dass nach der lange Zeit vorherrschenden Idee der
Verwissenschaftlichung allen Konstruktionswissens ein Wandel insofern beobachtbar sei, als
dass der Verwissenschaftlichungsgedanke nicht-wissenschaftlichen Wissens zunehmend
aufgegeben würde. Vielmehr würde es jetzt um eine methodologische Verknüpfung zur
Optimierung der Anwendungsbedingungen der unterschiedlichen Wissensformen gehen.
Abschließend eröffnete Stefan May (München) mit seinem Vortrag zu Entgrenzung durch
Nichtwissen.
Institutionentheoretische
Überlegungen
zur
Theorie
reflexiver
Modernisierung den Blick auf unterschiedliche Institutionen. Hatten bisher Wissenschaft
und Politik im Vordergrund gestanden, so rückten in diesem Vortrag die Professionen und das
Recht ins Zentrum. Zunächst diskutierte May anhand des Beispiels der Humangenetik einige
Besonderheiten der medizinischen Profession und ihrer Veränderungen durch die Anwendung
wissenschaftlichen Wissens. Dabei würde die Codierung krank/gesund überlagert, da es einen
Wechsel von manifest zu wahrscheinlich krank und in der Folge von einer kurativen zu einer
prädiktiven Medizin gebe. Darin zeigten sich Formen reflexiver Professionalisierung. Die
Veränderungen in den Wissensbedingungen brächten darüber hinaus aber auch ganz
besondere Herausforderungen für die rechtliche Verarbeitung mit sich. Juristische
Wissensregeln ermöglichten eine Verhältnisbestimmung zwischen wissenschaftlichem
Wissen und rechtlicher Organisation. Allerdings entstünden hier durch die Zunahme von
Nichtwissen neue und besondere Probleme. Diese verdeutlichte May anschließend an den
Beispielen der Sterbehilfe und der Haftungsproblematik bei fehlerhafter genetischer
Diagnostik, um schließlich noch auf einen neuen Typus von Risiken in diesem Kontext
aufmerksam zu machen: Personalitätsrisiken.
IV. Schluss
Die Tagung hat verdeutlicht, dass frühere wissenschaftszentrierte Konzeptionen der
Wissensgesellschaft (Daniel Bell und andere) heute nicht mehr greifen. Stattdessen sind die
gegenwärtigen Wissensgesellschaften durch eine Vielzahl von Wissensakteuren und durch
eine Pluralität unterschiedlicher, heterogener Wissensformen gekennzeichnet. Dies sollte
allerdings nicht dazu verleiten, den Einfluss der Wissenschaft in der Wissensgesellschaft zu
unterschätzen – auch wenn dieser sich möglicherweise vom wissenschaftlichen Wissen immer
mehr zum Nichtwissen verlagert.
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