die begründung der seelsorge

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Thurneysen, Seelsorge
Auszüge aus:
Eduard Thurneysen
Die Lehre von der Seelsorge
Die Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf die Ausgabe 1948, Christian Kaiser Verlag,
München.
[9]
§ 1. Seelsorge als theologisches und kirchliches Problem
Seelsorge findet sich in der Kirche vor als Ausrichtung des Wortes Gottes an den Einzelnen.
Sie ist wie alles rechtmäßige Tun der Kirche begründet in der Lebendigkeit des der Kirche
gegebenen Wortes Gottes, das darnach verlangt, in mancherlei Gestalt ausgerichtet zu
werden.
[26]
§ 2. Seelsorge als Kirchenzucht
Seelsorge ist ein Mittel, das zum Ziele hat, den Einzelnen, da ihn ja Gott nicht preisgeben will, zu
Predigt und Sakrament und damit zum Worte Gottes zu führen, ihn in die Gemeinde einzugliedern
und dabei zu erhalten. So verstanden ist sie ein Akt der Heiligung und der Zucht, durch den die
Gemeinde in ihrer sichtbaren Gestalt erbaut und lebendig erhalten, und der Einzelne vor seiner
geistlichen Verwahrlosung und Verderbnis gerettet und bewahrt wird.
[45]
§ 3. Die Seele des Menschen als Gegenstand der Seelsorge s
Seelsorge ist Sorge um die Seele des Menschen. Die menschliche Seele aber, um die es in der
Seelsorge geht, ist nicht nur das Seelische im Menschen, sondern Seele ist nach der Heiligen Schrift
zu verstehen als die personale Ganzheit des Menschen nach Leib, „Seele" und Geist unter dem
Anspruch Gottes. Die Erkenntnis von der Existenz des Menschen vor Gott hat ihre Begründung in
der Menschwerdung Jesu Christi. Nach ihr bestimmt sich die Aufgabe der Seelsorge als Heiligung
des ganzen Menschen für Gott.
[59]
§ 4. Der Kampf um das Verständnis des Menschen in der Seelsorge
Die der Heiligen Schrift entnommene Erkenntnis von der Existenz des Menschen vor Gott ist
umstritten. Es stehen ihr andersartige Auffassungen vom Menschen gegenüber. Lehre und Praxis
der Seelsorge werden aber eine grundlegend andere Gestalt annehmen je nach dem
Menschenverständnis, das vorausgesetzt wird. Am Verständnis des Menschen fällt darum die
Entscheidung über das Wesen der Seelsorge.
[87]
§ 5. Seelsorge als Gespräch
Seelsorge vollzieht sich in Gestalt eines Gespräches, das herkommt vom Wortes Gottes und
hinführt zu seiner Verkündigung in der Gemeinde. Wie bei allem Reden des Menschen im Raume
der Kirche muß sich auch beim seelsorgerlichen Gespräche die natürliche Wortkraft des
1
Thurneysen, Seelsorge
Menschen in Dienst nehmen lassen vom Heiligen Geiste, damit es zur wirklichen Anrede an den
Menschen durch das Wort Gottes komme.
[100]
§ 6. Die Gestalt des seelsorgerlichen Gesprächs
Die Gestalt des seelsorgerlichen Gesprächs wird bestimmt durch seinen Anspruch, auch die
entferntesten menschlichen Dinge zu sehen in ihrer durch die Menschwerdung Jesu Christi
gestifteten Beziehung zu Gott und seinem Worte. Es vollzieht sich demgemäß als Gespräch im
Raum der Gemeinde in der Weise eines steten Hinhörens auf das Wort Gottes und eines steten
Hinhörens auf den Menschen, der im Lichte dieses Wortes erst wirklich zum Verstehen seines
Lebens kommen kann.
[114]
§ 7. Der Bruch im seelsorgerlichen Gespräch
Weil das Seelsorgegespräch das ganze Feld des menschlichen Lebens mit allen darin wirksamen
psychologischen, weltanschaulichen, soziologischen und moralischen Deutungen und
Beurteilungen dem Urteile des Wortes Gottes unterstellt, darum geht durch das ganze Gespräch
eine Bruchlinie, die anzeigt, daß das menschliche Urteilen und Bewerten und das ihm
entsprechende Verhalten hier zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber daß es in seiner Vorläufigkeit
erkannt ist. Da der Mensch sich diese Relativierung und damit gegebene Beschränkung seines
natürlichen Urteils nicht gefallen läßt, sondern sich dagegen zur Wehr setzt, wird das
Seelsorgegespräch zum Kampfgespräch, in welchem um die Durchsetzung des Urteils Gottes zum
Heil des Menschen gerungen wird.
[174]
§ 10. Seelsorge und Psychologie
Das Ansprechen des Menschen im Seelsorgegespräch setzt Menschenkenntnis voraus: Die Seelsorge
bedarf darum der Psychologie als einer Hilfswissenschaft, die der Erforschung der inneren Natur des
Menschen dient, und die diese Kenntnis vermitteln kann. Sie hat sich dabei kritisch abzugrenzen
gegen ihr wesensfremde weltanschauliche Voraussetzungen, die mitlaufen, und die das ihr eigene,
aus der Heiligen Schrift erhobene Menschenverständnis beeinträchtigen könnten.
[193]
§ 11. Seelsorge und Psychotherapie
Angesichts der Tatsache, daß das seelische Leben des Menschen ein unablässig von Krankheit
bedrohtes und gestörtes Leben ist, wandelt sich die Seelsorge zur Krankenseelsorge. Sie stößt
dabei auf die Psychiatrie und Psychotherapie. Sie führt die Auseinanderset zung mit ihr, indem sie
auch hier dem ihr gegebenen Menschenverständnis folgt und Krankheit und Heilung auf Sünde
und Gnade bezieht. Die Erkenntnisse der Psychiatrie und Psychotherapie werden mit
aufgenommen und dienen dazu, die Botschaft von der Vergebung nur umso faßbarer und kräftiger
hervortreten und ausrichten zu lassen.
2
Thurneysen, Seelsorge
Abgrenzung Pietismus
[17] …
Aber nun ist an die Männern wie Löhe oder Vilmar gegenüberstehenden Vertreter des
Pietismus zu erinnern. Es hat freilich dieses außerordentliche Werk der Privatseelsorge gegeben,
und zwar in sehr ausgeprägter Weise, in der Gestalt der pietistischen Seelsorge. Eben gegen sie
richtet sich wohl auch die Zurückhaltung eines Löhe und eines Vilmar. Im Pietismus ist diese
Zurückhaltung aller nicht kasuellen Seelsorge gegenüber freilich gänzlich aufgegeben. Der
Pietismus ist geradezu gekennzeichnet durch die stürmische Forderung nach „Privatseelsorge", ja,
dadurch, daß das ganze pfarramtliche und kirchliche Tun darauf ausgerichtet erscheint. Auch die
Predigt und die Aus- [18] teilung der Sakramente wird beim Pietismus gewertet nach der Frage:
Inwiefern dienen sie der Anrede, dem Anruf an den Einzelnen als Einzelnen? Steht es bei
Löhe und Vilmar so, daß die Gemeinde der übergreifende Begriff ist, der Raum sozusagen, in
welchem der Einzelne aufgehoben und in seinem Einzelsein als Glied begründet ist, indem er
gerade als Einzelner nur existiert, sofern er Glied der Gemeinde ist, so verhält es sich beim
Pietismus eher umgekehrt: der einzelne erweckte und bekehrte Christ s teht voran. Nicht sein
Getauftsein, sondern sein Erwecktsein, nicht seine Zugehörigkeit zur Gemeinde, sondern sein
privates Gläubigsein macht ihn zum Christen, und seine Zugehörigkeit zur Versammlung der
Gemeinde folgt erst daraus. Die Gemeinde ist nicht so sehr das Begründende, sie existiert nur
als die Summe dieser einzelnen erweckten und bekehrten Christen. Die Vokabel „privat" in
dem Begriff „Privatseelsorge" gewinnt das Übergewicht. Man kann den Pietismus schon bei
Spener und bei Francke, dann aber auch bei Zinzendorf geradezu begreifen als eine
Seelsorgebewegung, als das stürmisch in die Kirche einbrechende Verlangen nach Pflege der
Einzelseele durch Einzelgespräch und Einzelanrede. Nicht daß es dies nicht immer schon in
der Kirche gegeben hätte, aber die Verschiebung aller Gewichte nach dieser Seite ist das Neue
am Pietismus. Das bei Löhe noch als außerordentliches Werk bezeichnete Tun des Seelsorgers
wird zu dem alle anderen Werke zurückdrängenden, sie usurpierenden alleinigen ordentlichen
Werke. …
[20] …
Als besonders eindringliches Beispiel, an dem diese ganze neue Haltung zu ersehen ist, nenne ich
die Lebensgeschichte von Ludwig Hofacker. Er stellt einen der reinsten und wohl auch geistesmächtigsten
Vertreter des süddeutschen Pietismus dar. Vielleicht hängt diese seine Reinheit und Kraft damit zusammen,
daß er noch in der Frühlingszeit seines Wirkens, also in großer Jugend gestorben ist (1798-1828), und daß
er infolgedessen noch keinerlei Karriere gemacht hat. Er starb als einfacher Dorfpfarrer von R ielinghausen,
während es Andere, so sein Bruder Wilhelm Hofacker, zu Stadt- und sogar Hofpredigerposten brachten,
was ihnen nicht nur zum geistlichen Vorteil und Segen ausschlug. Ludwig Hofacker war übrigens auch ein
Prediger von großem Format. Aber gerade an seiner Predigt treten Züge der Erwecklichkeit und der auf die
Bekehrung, des Einzelnen gerichteten, dringlichen persönlichen Anrede stark hervor. Und dann eben ist
sein pfarramtliches Wirken gekennzeichnet dadurch, daß er über die Predigt hinaus ein un erhört
eindringlicher Privatseelsorger gewesen ist. Zunächst, was eben- [21] falls zu den charakteristischen
Zeichen der pietistischen Seelsorgebewegung gehört, war er ein Seelsorger seiner eigene n Seele. Aus
unendlichen Selbstbeobachtungen und Gesprächen seines inwendigen Menschen mit sich selbst und mit Gott,
wobei nicht immer deutlich wird, wo das Selbstgespräch aufhört und das Gespräch mit Gott anfängt, hat er
seine ganze, intime Kenntnis des seelischen Lebens überhaupt sich erworben und sie in
Tagebuchaufzeichnungen. und Selbstbekenntnissen andern gegenüber niedergelegt. In der Kraft dieser
Selbsterkenntnis hat er dann seine Gemeindeglieder zur gleichen Selbstbetrachtung zu führen gesucht. Gewiß
geschah das immer angesichts des Kreuzes, aber doch so, daß das Kreuz Christi, daß das Wort Gottes
innerlich verarbeitet, um nicht geradezu zu sagen, innerlich von der gläubigen Seele assimiliert und ganz und
gar im eigenen geistlichen Besitz aufgenommen wurde, um erst dann als wirklich geglaubt gelten zu können.
Es ist eine gewaltige Konzentration auf Jesus und sein Kreuz im Leben dieses Mannes und der von
ihm Erweckten, eine Konzentration, die wir gewiß hochachten werden; aber immer geschieht sie im Sinne
einer solchen Aufnahme der Heilstatsache durch den Einzelnen in sein seelisches Erleben hinein. Mit welcher
affektiven Kraft dieses seelische Erleben vor sich ging, zeigt ein Satz aus einem seiner Briefe wie der
folgende: "Weine, wenn du kannst; so lange um Offenbarung des Jesusnamens in deinem Herzen, der _
eine ausgeschüttete Narde ist, um Verklärung seiner Versöhnung, bis du etwas spürst, so wirst du ein
armer; bußfertiger, begnadeter Liebhaber Jesu werden, ehe du dich selbst dessen versiehst; du wirst dich
wundern, was der Geist der Wahrheit in deinem Herzen anzünden wird." Wir beachten: weinen, Verklärung in
mir spüren, ein Liebhaber Jesu werden, in seinem Herzen etwas offenbart bekommen - darum geht es hier, das
ist hier gemeint und verstanden unter erfolgreicher Seelsorge. Und der Briefschreiber fährt nach dieser
Mahnung bezeichnenderweise unmittelbar damit fort, daß er sagt: "Lieber Bruder, wir wollen einander doch
3
Thurneysen, Seelsorge
mehr über solche Materien schreiben. Es herrscht unter leiblichen Brüdern oft eine so dumme Verschämtheit,
daß sie, wenn sie zusammenkommen, sich scheuen, ein christliches Wort fallen zu lassen, und wenn's je
geschieht, so geschieht's in einem gelehrten oder scherzenden Ton, damit man's dem stolzen Adam ja nicht
anmerken solle, daß er eines Heilandes Untertan sei." (Leben von Ludwig Hofacker, von Albert Knapp, S.
262).
Wiederum wird kein Wort dagegen zu sagen sein, daß zwischen den Gliedern der Gemeinde ein, wie
Hofacker sagt, "christliches Wort" fallen soll, aber es ist zu bedenken, daß es dies bestimmte, das Wort des
christlichen Selbstbekenntnisses war, was die Pietisten meinten, und nur dieses. Daß es dann dazu
besonderer Veranstaltungen bedurfte, ist leicht einzusehen. Denn in der Predigt konnte dies so verstandene
christliche Wort doch immer nur nebenbei und sozusagen illegal gesagt werden. Darum bedurfte es des
Gespräches, des Briefes und des Konventikels. Es heißt darum auch von Ludwig Hofacker: "Er widmete der
Seelenpflege der Erweckten mit Recht eine besondere, liebende Sorgfalt, um einen gediegenen Grundstock
lebendiger Geister in die Gemeinde zu pflanzen. So weidete er als getreuer Hirte diese nach Leben und
Frieden besonders Trachtenden mit zarter Liebe." Das ist pietistische Seelenpflege: Einpflanzung der
Kerngemeinde in die Kirchgemeinde durch besondere Seelsorge an den Erweckten. Diese Erweckten werden
als die eigentlich lebendigen Glieder bezeichnet, denen die Unerweckten als die Toten gegenüberstehen. Die
scharfe, kritische Polemik gegen diese noch Unerweckten und ihre Pfarrer tritt in folgenden Sätzen des
Biographen Ludwig Hofackers deutlich hervor: "Wie anders - [22] fährt er nämlich fort - stand es bei
Hofacker als bei manchen steifen Orthodoxen oder herzlosen Mietlingen, die jeden Keim der Neugeburt,
jedes ernstere Fragen nach Jesu, dem Seelenfreund, stracks mit dem bequemen Titel 'Pietismus' belegen,
und die oft mit verbissenem Ärger die nicht einmal von ihnen ausgebrüteten Entchen ins Wasser gehen
sehen, während sie nicht als mütterlich sorgsame Gluckhennen, sondern als stolze, bequeme Gockelhähne
am Ufer umherspazieren, und über diejenigen, in welchen eine Sehnsucht nach ewigem Leben ist, kaum
anders als etwa einen bescheidentlich unguten oder in der Predigt nebenhinaus einen satirischen
Hahnenschrei tun, zum Zeugnis dafür, daß sie selber nicht schwimmen können" (a. a. O., S. 263) .
4
Thurneysen, Seelsorge
Kirchenzucht
[30] …
Kirchenzucht heißt so verstanden: Die Kirche wacht darüber, daß die vom Wort und
Sakrament ausgehende Kraft an den Gliedern der Kirche wirklich wirksam wird. Sie kann nicht
zusehen, sie kann es nicht dulden, daß Wort und Sakrament da sein sollen, ohne daß das von
ihnen ausgehende Leben sich wirklich zu regen beginne. Sie kann nicht zusehen, sie kann es
nicht dulden, daß es Einzelne gibt, die Glieder der Gemeinde sind, oder die es zu werden
berufen wären, und die doch aus dem Lebenszusammenhang der Gemeinde herausfallen oder
noch nicht in ihn eingetreten sind, die sich also sozusagen wild, ohne in der Ordnung der
Gemeinde zu leben, herumtreiben. Sie trachtet darnach, sie aufzunehmen und ihnen in jener von
Calvin so genannten "Einzelvermahnung" nachzugehen, sie zurückzuholen oder neu
herzubringen, sie völliger in den Leib der Gemeinde einzupflanzen. Sie ruft die von ihr
angeredeten Menschen - immer in der Kraft [31] des Wortes - aus der Welt heraus, sondert sie aus
und nimmt sie für Gott in Beschlag, nicht anders als es auch in der Predigt geschieht, nun aber durch
das Mittel der nachgehenden Einzelanrede. Sie heiligt sie. Das heißt zwar gewiß nicht, daß durch
irgendeine seelsorgerliche Maßnahme Menschen sündlos gemacht werden könnten, wohl aber heißt
es, daß sie als Sünder in einer sehr konkreten, gerade sie angehenden und treffenden Weise unters
Wort gestellt und damit Gott zugerechnet werden trotz ihrer Sünden. Sie werden dadurch - und das
gehört mit zum Wesen seelsorgerlicher Kirchenzucht - hineingestellt in einen Prozeß des "Absterbens
der ,Sünde" und des "Auferwecktwerdens zu einem neuen Leben". Wir brauchen damit
Formulierungen ,des Heidelberger Katechismus, die aber schon bei Calvin zu lesen sind. Aber die
Sache, die damit gemeint ist, findet sich nicht weniger stark und klar auch bei Luther. Denken wir nur
an die Fassung seiner ersten These, wo vor das Wort "Buße", das Wort "täglich" gesetzt ist wie ein
Ausrufszeichen, das ansagt, daß hier nicht anders von der ins Leben hineinwirkenden Kraft der Gnade
gedacht und geredet wird als später beiß Calvin.
[40] …
Und endlich und für unsern hier aufgenommenen Gegenstand von äußerstem Belang: Die
Errichtung dieser Ordnungen spielt sich ab in der Form von Rückfragen, die zu richten sind an
den Einzelnen, in Form von Gesprächen, die sich ereignen "von Mann zu Mann", und die zum
Inhalt haben die Verantwortung des Einzelnen gegenüber diesen von der Gemeinde errichte ten
Ordnungen oder besser gegenüber der Ausrichtung der Botschaft, auf deren rechtes Aufnehmen
alle diese Ordnungen hinlenken möchten. Also beispielsweise: Es wird vom Prediger des Wortes
gefordert, daß er durch das Zeichen eines gehorsamen Wandels bezeuge, daß er in der Kraft der
Vergebung der Sünden wirklich stehe. Er wird danach gefragt werden und darauf zu antworten
haben. Oder: Es wird vom Gemeindeglied gefordert, daß es durch das Zeichen der Teilnahme am
Gebet und am Lesen der Schrift bezeuge, daß es zur Gemeinde des Wortes gehöre. Es wird nach
Gebet und Schriftgebrauch gefragt werden und sich darüber zu verantworten haben. Oder: Es wird
gefordert, daß man sich im Raum der Gemeinde der Armen und Bedrückten annehme. Es wird der
Einzelne danach gefragt und hat darauf zu antworten. - So allein kann die Ordnung - der Fürsorge
in Kraft stehen als Zeichen für die Tatsache, daß man in der Gemeinde lebt, die der großen
Fürsorge Gottes sich erfreut und darum ihrerseits Barmherzig- [41] keit üben muß. Oder ganz
einfach: Es wird gepredigt, es wird getauft und Abendmahl ausgeteilt. Aber wissen die, die dieser
großen Wohltaten sich erfreuen, auch wirklich, was ihnen hier entgegentritt, wessen sie damit
teilhaftig werden? Sie werden danach gefragt werden und sich darüber zu verantworten haben,
damit sie wirklich zu rechten Empfängern des Wortes werden in seinen mancherlei Gestalten.
Auch sind Gleichgültige und Ablehnende da, solche, die Irrlehren anhängen - und die dem Worte
widerstreiten, sie werden befragt werden müssen nach ihrem Tun, damit sie nicht verloren gehen.
Das heißt Kirchenzucht ausüben, und das heißt eine lebendige Gemeinde sein, die sich ihrer
Glieder wirklich und wahrhaftig annimmt.
Und nun haben wir für dies alles das Wort "Seelsorge" eingesetzt. Oder besser, wir haben
den Begriff "Seelsorge" durch den Begriff "Kirchenzucht" bestimmt und erklärt. Es dürfte klar
sein, daß der Begriff der Kirchenzucht dabei der umfassendere ist. Es wird durch das Wort
"Seelsorge" nicht alles beschrieben, was unter Kirchenzucht zu verstehen ist. Aber Kirchenzucht
bezeichnet den Ort, an dem alles, was Seelsorge sinnvollerweise sein kann und sein soll, seine
Stelle findet. Wir kamen zu dieser Ortsbestimmung dadurch, daß der Begriff der Seelsorge
5
Thurneysen, Seelsorge
zunächst etwas Unbestimmtes und Schwankendes an sich hat. Er besagt zunächst einfach dieses,
daß ein Gespräch stattfindet zwischen dem Seelsorger und dem ihm Anbefohlenen, ein Gespräch,
in dem es zum Heil der Seele um Gott und die göttlichen Dinge geht. Aber es fehlt dabei mehr
oder weniger eine Bestimmung über Recht und Wesen dieses Gespräches. Das Gesprä ch hängt
sozusagen in der Luft, es ist - jedenfalls im Sprachgebrauch der modernen Christlichkeit - im
Begriff der Seelsorge noch nicht mitgesetzt, daß die Voraussetzungen dieses Gespräches das Wort
Gottes und die Gemeinde sind. Man weiß darum auch noch nicht ohne weiteres, was gemeint ist,
wenn hier von Seele und von Sorge um die Seele die Rede ist. Man weiß vor allem nicht, in was
denn die Substanz des Gespräches bestehen soll, in welchem dieser Sorge um die Seele Genüge
geschehen soll. Die Besinnung auf die Lehre der Väter aber hat uns in dieser Sache den festen
Boden gegeben, den Boden, auf dem Seelsorge in der Gemeinde Jesu Christi stehen kann und
stehen muß, wenn sie recht ergehen soll. In dem, was die Väter Kirchenzucht nannten, haben wir
diesen Boden erkannt. Hier hört die ganze Unbestimmtheit auf, die unsern Begriff zunächst
umgibt; hier wird er gefüllt mit dem konkreten Inhalt, der ihm zukommt als einem Hilfs - [42]
mittel der Verkündigung. Hier wird etwas Klares vorausgesetzt über den, der Seelsorge treibt, wi e
über den, der sie empfängt, indem beide aus der Gemeinde heraus begriffen werden. Damit sind
dann die Abgrenzungen möglich, die die Seelsorge schützen vor dem Verschwimmen in eine mit
den Mitteln der modernen Psychologie oder allgemeinen Menschenkenntnis heraus betriebene
Seelenpflege. Hier kann herausgestellt werden, was denn unter "Seele" und was unter "Sorge" für
die Seele verstanden werden muß. Hier ist man also wohl aufgehoben.
Es kann sein, daß uns der Begriff der "Zucht" in dem Wort Kirchenzucht zunächst als
nicht sachgemäß vorkommt für das, was wir meinen, wenn wir von Seelsorge sprechen. Aber es
ist zu bedenken, daß diesem Begriff das Wort „disciplina" zugrunde liegt, das heißt Schule.
Seelsorge würde also bestehen in einem Lehren und Lernen. Der Lehrer aber, dem gegenüber wir
Schüler werden dürfen, und durch dessen Lehre unsere Seele besorgt wird, kann, da es sich um
den Raum der Kirche handelt, kein anderer sein als die Heilige Schrift. Damit ist dem Worte
"Zucht" alles bloß Moralisierende von vornherein genommen. Schüler des Wortes Gottes werden,
seine Anrede empfangen dürfen, das heißt doch Angeredetwerden vom Herrn der Kirche, und das
heißt darin und dadurch in die Obhut und Pflege dieses Herrn kommen. Sollte das etwas
Anfechtbares sein? Ist das nicht wirklich Seelsorge im besten und tiefsten Sinne des Wortes?
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Thurneysen, Seelsorge
Anthropologie
[59]
Die der Heiligen Schrift entnommene Erkenntnis von der Existenz des Menschen
vor Gott ist umstritten. Es stehen ihr andersartige Auffassungen vom Menschen
gegenüber. Lehre und Praxis der Seelsorge werden aber eine grundlegend andere Gestalt
annehmen je nach dem Menschenverständnis, das vorausgesetzt wird. Am Verständnis des
Menschen fällt darum die Entscheidung über das Wesen der Seelsorge.
Wir suchen den von uns gewonnenen Begriff des Menschen und die damit gegebene
Auffassung von dem, was Seelsorge einzig sein kann, dadurch zu ergänzen und zu vertiefen, daß wir
beides abgrenzen gegen ein Menschenverständnis und eine diesem Verständnis entsprechende
Auffassung von Seelsorge, wie sie sich ergeben, wenn man von der biblischen Auffassung abweicht.
Zunächst ist noch einmal dessen zu gedenken, was man unter dem Namen der pietistischen
Seelsorge zusammenfassen kann. Wir verstehen unter Pietismus jene ganze, die Orthodoxie des
ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts flankierende und angreifende Bewegung der Erweckung, wie
sie in verschiedenen Wellen und unter verschiedenen Trägern in Gang kommt und vor sich geht. Sie
stellt historisch betrachtet ein sehr komplexes Gebilde dar, trägt aber doch eine gewisse
Einheitlichkeit an sich. Im Unterschied zu der gleichzeitigen Bewegung des Rationalismus stellt sie
die orthodoxe Lehre als solche nicht in Frage, sie sucht ihr aber neues Leben einzuhauchen. Im
Mittelpunkt der Orthodoxie steht die Lehre von der Rechtfertigung. Der pietistischen Erweckung
gebührt das Verdienst, daß sie es ist, welche die in der Rechtfertigungslehre gegebene zentrale
Wahrheit von der Vergebung der Sünden durch das Blut Christi neu ergriffen und durch die Flut der
rationalistischen Verwässerung hindurchgerettet hat. Aber sie vollzieht diese Rettung, nicht ohne
eine bestimmte und tiefgreifende Veränderung an der Substanz dieser Wahrheit vorzunehmen [60]
und diese dadurch zu gefährden. Die Orthodoxie hatte die Rechtfertigung verstanden als die
Inanspruchnahme des- sündigen Menschen für Gott durch den diesen Menschen freisprechenden,
in Christus sich vollziehenden Richterakt Gottes. Gott erklärt in Jesus Christus den Sünder für
gerecht und schafft ihn damit um zu einem neuen Menschen. Alles liegt an diesem königlichen
Freispruch Gottes. Alles liegt daran, daß der Sohn Gottes für uns tut, was wir niemals tun
könnten: Er trägt unsere Sünde hinweg, indem er an unserer Statt leidet und stirbt und uns in
seiner Auferstehung das neue Leben schenkt. Der Pietismus will keinesfalls rütteln an diesem
Freispruch Gottes, vielmehr möchte auch er von nichts anderem reden als davon. Aber er
vollzieht, indem er auf seine neue Weise davon redet, eine Verschiebung des Gewichtes vom Tun
Gottes in Christus weg auf den Menschen hin, an dem dieses Tun sich ereignet. Nicht mehr steht
die Alleinwirksamkeit und Freiheit der Gnade als alleiniger Gegenstand in der Mitte, sondern es
ist der Mensch als der Empfänger dieser Gnade, der in den Mittelpunkt rückt. Viel stärker als an
dem Akt der Rechtfertigung, durch den der Mensch in seiner Sünde zum Kinde Gottes
angenommen und geheiligt wird, liegt zusehends alles. Interesse an dieser Heiligung, diesem
Angenommenwerden des Menschen als solchem. Daß es Gott ist, der in Jesus Christus durch den
Freispruch des Sünders seine eigene, Ehre aufrichtet, sie aufrichtet am Menschen und unter den
Menschen, aber doch so, daß der Mensch bleibt, der er ist, ein Sünder und Sterbender, über dessen
Existenz nun aber das Wort "Leben" geschrieben wird, Leben aus Gott trotz Sünde und Tod, und
der nun in der Kraft dieser Verheißung wandeln und neu werden und Gott danken darf - das tritt
zurück hinter der Tatsache, daß es der Mensch ist, der dies alles an sich erfährt. Nicht so sehr
Gottes Werk an ihm, als vielmehr sein, des Menschen Werk, sein Aufwachen nämlich zu einem
neuen Leben wird hervorgehoben. Seine, des Menschen, Funktion beim Geschehen der Vergebung
wird stärker ins Licht gerückt, als daß bedacht würde, daß auch diese Funktion des Menschen,
seine Buße und Reue, an der es gewiß nicht fehlen darf, wiederum nur das Werk Gottes und seiner
Gnade ist. Die Heiligung wird zum selbständigen Gegenstand, zu einem Zweiten, einem Tun des
Menschen, das dem Ersten, dem Tun Gottes in Christus, an die Seite tritt. Sie bleibt nicht jene
Unterstreichung innerhalb der Rechtfertigung, die hervorhebt, daß die Rechtfertigung wirklich ins
Leben des Menschen eingreift, daß sie wirklich Buße und Reue wirkt, sondern sie wird neben der
Rechtfertigung zu einem [61] eigenen, neuen Akt, dessen Subjekt nun der Mensch ist, ein Akt, der
nicht schon in der Rechtfertigung enthalten ist, sondern als etwas Neues zu ihr hinzugefügt wird.
Die Kopula "und" zwischen Rechtfertigung und Heiligung erhält ein unheimliches, aus der Sache
7
Thurneysen, Seelsorge
nicht mehr begründbares, fremdes Gewicht. So kommt es zu einer Verschiebung des Interesses
von Gott weg auf den Menschen und sein Tun. Wir denken an die berühmte Zinzendorfsche
Formulierung: "Das tat ich für dich" - die Vergebung der Sünden nämlich durch das Blut Christi "Was tust du für mich?" - die Heiligung nämlich als Werk des Menschen. Die Bewegung, die
diese Verschiebung vorträgt, meinen wir, wenn wir hier kurzerhand von "Pietismus" reden: die
pietas, die Frömmigkeit des Menschen tritt neben und sogar vor das Werk Gottes in Christus. Der
Pietismus meinte, damit jener von ihm angestrebten Verlebendigung zu dienen, deren die hart und
kalt gewordene orthodoxe Lehre bedurfte. Aber hat er nicht weithin etwas anderes verlebendigt
als die wirkliche Wahrheit der Rechtfertigung, etwas das besser ungeweckt geblieben wäre?
Sofern nun der Pietismus, wie wir gesehen haben, die Seelsorge als sein wesentliches
Anliegen aufnimmt. weil ja in der Tat Seelsorge sich in besonderer Weise auf Heiligung bezieht,
so wird gerade in seiner Seelsorge sich diese Gewichtsverschiebung abzeichnen und geltend
machen. Ja, die pietistische Seelsorge wird geradezu der besondere Ort sein, an dem es zu dieser
Verschiebung kommt. Es zeigt sich dies daran, daß die Seelsorge im Pietismus sich in einer
bestimmten Weise verselbständigt; sie löst sich zwar nicht von der Wortverkündigung in Predigt
und Sakrament, aber sie tritt ihr zum mindesten mit stärkstem Eigengewicht zur Seite.
8
Thurneysen, Seelsorge
Psychologie
[80] …
Die hier zu Tage tretende Grundanschauung von der Doppelnatur des Menschen ist
geradezu das Dogma, das in der Neuzeit ein wenig überall das Denken über die menschlichen
Dinge und damit auch die Seelsorge beherrscht und bestimmt. Sie kann sich sehr verschieden
ausdrücken. Bald wird die höhere Natur, das Oben in uns, vorgestellt als eine "religiöse Anlage",
kraft der wir Gott zu erkennen vermögen, als eine Fähigkeit und Begabung des Menschen für die
göttlichen Dinge, bald einfach als eine Art göttliche Substanz, die unverloren in uns ruht, und die
durch eine bestimmte Erziehung, also etwa durch mystische Versenkung oder durch intellektuelle
Konzentration oder durch aktive moralische Reinigung, lebendig gemacht werden kann. Aber ob
so oder anders: dieses "Göttliche" wohnt auf alle Fälle dem Menschen inne, vergleichbar - und
dieser Vergleich ist uralt - einem Funken, der zur Flamme entfacht werden soll. Und Seelsorge
unter dieser Voraussetzung ist darum die Bemühung um diese Entfachung und Erweckung des
eigenen Selbst, das im Tiefsten als göttlich verstanden wird. Aber ebenso klar ist auch das
Andere: daß es auf diesem Boden ein Verständnis nicht gibt, nicht geben kann für die Kraft des
Wortes Gottes und eine darauf begründete Seelsorge. In der auf das Wort gestellten Seelsorge
geht es um die Herbeiführung der von Gott selber ausgehenden und immer wieder geschenkten
realen Begegnung des Menschen in seiner Ganzheit mit seinem Gott im Unterschied zu einer
Seelenpflege, bei der der Mensch im Grunde mit sich selber allein bleibt. Wir denken nochmals an
Luther, der sagt, daß ihm alles Göttliche in ihm nicht half, zum Frieden zu kommen, daß im
Gegenteil gerade die Stimme Gottes in seinem Gewissen die Glut der Anklage nur umso
furchtbarer machte. Was ihm einzig half, war das freisprechende Wort, mit welchem Gott selber
ihn herausholte aus dieser Glut. Damit war seine Frage: "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?"
beantwortet. Damit war für seine Seele endlich "gesorgt".
[81] Aber nun steht es so, daß der Mensch von heute in der Regel nicht herkommt von
diesem Verständnis von Sünde und Gnade, wie es im Worte Gottes sich eröffnet, sondern
herkommt von jenem Selbstverständnis, wonach seine Seele als das göttliche Teil in ihm erweckt
werden soll. Es wird kaum ein einziges seelsorgerliches Gespräch geben, das wir mit Menschen
zu führen haben, die irgendwie von außen kommen, ohne daß zunächst die Erwartung uns
entgegentreten wird auf . eine seelische Hilfe, die auf diesem moralischen oder mystischen oder
intellektualen Wege zustande käme. Das will sagen: der uns um Hilfe Fragende rechnet nicht mit
der Sünde als jenem totalen Faktum, das ihn ganz gefangen hält, und er verlangt darum auch nicht
nach dem Vergebungswort als dem Einzigen, das ihm wirklich zu helfen vermag. Er begehrt nach
der Pflege seines Seelenlebens, nach dem Aufweis eines Weges, den er aus sich selber heraus
unter Umgehung der Gnade zu gehen versuchen soll. Er ist in dieser Hinsicht vielleicht zu sehr
großen Anstrengungen und Opfern bereit. Aber er will, daß wir sozusagen an ihn selber und s eine
seelischen Reserven und Möglichkeiten glauben, beziehungsweise diesen Glauben in ihm
erwecken und ihn darin bestärken möchten. Er will einen gnadenlosen Weg. Und nun liegt alles
daran, daß wir ihm hierin nicht folgen, daß wir ihm vielmehr diesen Weg verlegen. Wir werden
ihn also irgendwie enttäuschen, ihn vor den Kopf stoßen müssen. Wir werden uns gewiß darum
mühen, psychologisch, innermenschlich alles zu verstehen, was an seiner Lage von da aus zu
verstehen ist. Aber wir werden ihm dann gerade nicht aus dem psychologischen Bereich heraus
raten. Es wird zu einem Bruch kommen in unserem Gespräch, indem wir alles daran setzen, mit
ihm aus dem innermenschlich-psychologischen Bereich herauszutreten in jenen ganz anderen,
durch das Wort Gottes eröffneten Bereich hinüber. Wir werden ihn auf die Heilige Schrift
verweisen und auf das Gebet. Wie das zu geschehen hat, wie sich dieser Bruch und Hinweis
konkret zu vollziehen hat, darüber wird noch eingehend zu reden sein. Aber daß es dazu kommen
muß, das ist das Unumgängliche, das grundsätzlich zu Fordernde, das ist das über Wert oder
Unwert unserer Seelsorge geradezu Entscheidende. Es muß klar vor Augen stehen: Wenn wir hier
ausweichen, wenn wir nur um Haaresbreite von dieser Linie abgehen, wenn wir uns, vielleicht nur
probe- und versuchsweise auf jenen andern Boden begeben, von dem der Ratsuchende zunächst
herkommt, auf den Boden einer nicht am Worte, sondern am säkularen Menschenverständnis und
einer ihm entsprechenden "natürlichen Theologie" orientierten Seelsorge, dann mögen [82] wir
zwar nachträglich auch noch und vielleicht sehr eingehend und ernst von Sünde und Gnade
und Jesus Christus zu ihm sprechen - auch die Anthroposophen sprechen ja davon! -, aber es
wird im Grunde verlorene Mühe sein. Denn unser Gesprächspartner muß und wird alle unsere
9
Thurneysen, Seelsorge
Worte, und wären es höchste und letzte Worte des Glaubens, mit einem sie von innen heraus
auflösenden mystischen oder moralischen oder weltanschaulichen Gehalte erfüllen, wie es auf
seinem Boden nicht anders sein kann. Aber daß ihm seine Sünden in Jesus Christus vergeben
sind, das wird er nicht wirklich zu hören vermögen.
10
Thurneysen, Seelsorge
Seelsorge als Gespräch
[92] …
Unser Sprechen, auch wenn es das Sprechen eines philosophisch oder dichterisch
begabten Menschen wäre, wird nun in Beschlag genommen, es muß sich usurpieren [in Besitz
nehmen], es muß sich beherrschen lassen von diesem fremden Geist und Wort; es soll ein Nach Sprechen sein wollen und nur ein Nach-Sprechen dieses fremden, dieses anderen, dieses nie und
nimmer von unserem Geist und aus seiner natürlichen Wortmacht heraus erzeugten Wortes. Es
soll dieses, das fremde Wort, und nicht seine eigenen Worte sprechen wollen. Es geht ja um ein
Sprechen im Raume der Kirche! Und Kirche heißt und ist nichts anderes als der geistige Raum, i n
dem dieses Sprechen betätigt und geübt wird. Auch hier spricht ganz gewiß der Mensch, [93] und
ganz gewiß ist dabei auch seine eigene seelische Tiefe mit all ihren Kräften beteiligt, aber er
spricht gerade nicht aus dieser seiner eigenen seelischen Tiefe heraus, sondern er spricht mit aller
ihm gegebenen Kraft jenes andere, fremde, ihm nun verliehene Wort, er spricht das Wort Gottes
aus.
Das alles gilt zunächst in ausdrücklicher Weise für die Predigt der Kirche. Es gilt aber
auch für das seelsorgerliche Reden, das heißt für jenes Gespräch, das von der Predigt her und auf
sie hin stattfindet. Man wird sagen dürfen, daß eigentlich alles Sprechen des Menschen seiner
Urgestalt nach Gespräch ist. Das will einfach sagen, es ist nie nur monologisches Sprechen.
Sprechen hat nur einen Sinn, wenn es die Absicht in sich trägt, eine Aus-sprache zu sein, die
Antwort weckt. Es will gehört werden. Und das Zeichen wirklichen Gehörtwerdens ist eben die
Antwort, die unserer Rede folgende Gegenrede. Das verstehen wir unter dem Begriff des
Gesprächs. Auch die Predigt der Kirche will im Grunde nichts anderes sein als solch eine
Antwort, solch ein Gegenrede weckendes Sprechen. Aber in der Kirche ist der Sprecher nun eben
nicht nur der Mensch, sondern Gott, der freilich die menschliche Rede als Werkzeug in Anspruch
nimmt, aber um sein eigenes Wort auszusprechen. Es geht nicht nur um ein Gespräch, bei dem der
Mensch mit sich selber allein bleibt. Sondern es geht um jenes Gespräch, das Gott führt, un d in
das er den Menschen hereinzieht. Darum ist ja auch die Antwort, zu der es auch beim Predigen
der Kirche kommen soll und kommt, nicht irgend ein beliebiges Wort, mit dem der vom Prediger
angeredete Mensch nun seinerseits sich wieder an andere Menschen wendet, um sich selber ihnen
gegenüber auszusprechen. Sondern, weil es ein Gespräch Gottes mit dem Menschen ist, um das es
hier geht, richtet sich die Antwort des Menschen wiederum an Gott selber. …
11
Thurneysen, Seelsorge
[114]
§ 7. Der Bruch im seelsorgerlichen Gespräch
Weil das Seelsorgegespräch das ganze Feld des menschlichen Lebens mit allen darin
wirksamen psychologischen, weltanschaulichen, soziologischen und moralischen Deutungen und
Beurteilungen dem Urteile des Wortes Gottes unterstellt, darum geht durch das ganze Gespräch
eine Bruchlinie, die anzeigt, daß das menschliche Urteilen und Bewerten und das ihm
entsprechende Verhalten hier zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber daß es in seiner Vorläufigkeit
erkannt ist. Da der Mensch sich diese Relativierung und damit gegebene Beschränkung seines
natürlichen Urteils nicht gefallen läßt, sondern sich dagegen zur Wehr setzt, wird das
Seelsorgegespräch zum Kampfgespräch, in welchem um die Durchsetzung des Urteils Gottes zum
Heil des Menschen gerungen wird.
Wir haben von der Gestalt des seelsorgerlichen Gesprächs gehandelt und haben nun zu
handeln von dessen Inhalt, der in der Ausrichtung der Vergebung der Sünden besteht. Aber vorgängig
ist ein Charakteristikum des seelsorgerlichen Gesprächs zu bedenken, das halb noch die Gestalt, halb
schon das Inhaltliche dieses Gespräches betrifft. Wir sprechen von der Bruchlinie, die durch das
seelsorgerliche Gespräch hindurchgeht.
Das Seelsorgegespräch verläuft sozusagen auf zwei Ebenen. Sein Stoff entstammt der
allgemeinen menschlichen Lebenslage, und das Gespräch nimmt ihn auf, wie eben im Gespräch ein
Tatbestand, ein Problem, ein Anliegen aufgenommen und mit Hilfe der sich uns darbietenden
Gesichtspunkte psychologischer und allgemein weltanschaulicher Art bearbeitet wird. Aber dann
geschieht es, daß im Verlauf des Gespräches selber diese zunächst sich darbietenden Gesichtspunkte
in bestimmter Weise überboten werden durch die übergreifende Betrachtung aller Dinge, wie sie vom
Worte Gottes her in Kraft tritt. Der Gegenstand, der zur Betrachtung steht, wird also im
seelsorgerlichen Gespräche von seiner ihm eigenen Ebene weggenommen und [115] hinübergerückt
in das Licht des Wortes Gottes. Darum ist das seelsorgerliche Gespräch gekennzeichnet durch eine
seinen ganzen Verlauf bestimmende Bewegung des Zugreifens und Wegnehmens, des Erfassens und
Aufgreifens und Bearbeitens menschlicher Tatbestände und zugleich des Unterstellens dieser
Tatbestände unter ein völlig neues, alles Menschliche überbietendes Urteil. Dabei ist dieses
Wegnehmen, Hinübertragen und Unterstellen nicht ein Zweites, das zu einem Ersten hinzukommt,
sondern es ist der ganze Sinn des Gespräches, das hier eigentlich Gemeinte und Gewollte. Das
ganze Gespräch ist von Anfang an darauf gerichtet, daß es in ihm zu diesem Übergang komme. Man
faßt im seelsorgerlichen Gespräch schon den Tatbestand auf als Einer, der nichts anderes weiß, als
daß die Vergebung der Sünden im Worte Gottes über diesem Tatbestand mächtig werden muß. Man
beurteilt von vornherein alles als Einer, der zwar nicht ein menschliches, dafür aber umso
unzweideutiger das göttliche Vorurteil über allem menschlichen Geschehen kennt und davon lebt.
Dieses Geltendmachen eines über allem Menschlichen im buchstäblichen Sinne als Vor-Urteil
waltenden göttlichen Urteils und das dadurch bedingte Hineinstellen aller menschlichen Dinge in
das neue Licht dieses Urteiles - das ist gemeint, wenn hier vom Bruch im seelsorgerlichen Gespräch
die Rede ist als einem für dieses Gespräch geradezu entscheidenden formalen und mehr als formalen
Charakteristikum. Es ist uns diese Bruchlinie schon in unsern bisherigen Erwägungen über die
Gestalt des seelsorgerlichen Gespräches entgegengetreten. Wir versuchen sie nun als solche
hervorzuheben.
Wir haben zu bedenken, daß es im seelsorgerlichen Gespräch um das wirkliche Verstehen
der menschlichen Lebenslage geht. Wir haben dieses Verstehen charakterisiert als ein Zuhören, aber
ein höchst aktives Zuhören, ein Zuhören, das, weil es vom Worte Gottes herkommt, den Willen zum
Ausrichten seiner Botschaft, zum Hineintragen ihrer Wahrheit in das Leben des Menschen in sich
schließt. Verstehen heißt nun aber, so aufgefaßt, nichts anderes als die Ausführung jener doppelten
Bewegung des Hintretens, Hinstehens an den Ort des Nächsten, aber so, daß man von einem ganz
andern Orte herkommt und in der Kraft dieses andern Ortes seinem Nächsten an seinem Orte helfen
will. Man hilft im seelsorgerlichen Gespräch seinem Nächsten damit, daß man ihn ganz aufnimmt in
seiner ihm eigenen Lebenslage, aber ihn auch ganz mitnimmt hinein in das Licht und die Kraft jenes
andern Ortes, von dem man selber herkommt. Weil dieses Verstehen den Sinn und Gehalt des
12
Thurneysen, Seelsorge
ganzen Gespräches ausmacht, darum wird [116] man mit diesem Verstehen nie oder besser gesagt
erst mit dem Ende des Gespräches selber zu Ende gekommen sein. Und das heißt wie derum, daß
diese Doppelbewegung des Aufnehmens und Mitnehmens und somit der Bruch, der durch dieses
Gespräch hindurchgeht, das ganze Gespräch von Anfang bis zu Ende durchziehen muß. Wohl
entspricht der Doppelheit dieser Bewegung eine Doppelheit der äußeren Funktion des
Gespräches; es vollzieht sich in der Form eines Zuhörens im einfachen Sinne des Wortes und
eines Zusprechens. Aber so gewiß diese beiden Funktionen zwar äußerlich unterschieden
werden können, so gewiß dienen sie doch beide dem einen Vorgang des Verstehens und sind
darum nicht voneinander zu lösen. Es wird nie Eines da sein ohne das Andere. Es geht
vergleichsweise zu wie beim Arzte: er hat zunächst die Anamnese zu machen, den Patienten
anzuhören und zu untersuchen und die Diagnose zu stellen, und dann erst geht er zum Eingriff
über. Aber auch dann und gerade dann muß er erst recht die ganze Lage des Kranken vor Augen
haben und vor Augen behalten, um in der rechten Weise eingreifen zu können. Genau so ist das
Aufnehmen der Lage des Menschen und das Mitnehmen zum Worte Gottes hin nicht
voneinander zu trennen.
Die Bewegung des Aufnehmens geschieht in Gestalt eines Erforschens und Erfassens
der Lage, wobei der das Gespräch Führende sich all der Mittel bedient, die sich hier anbieten.
Wir nennen als erstes das Mittel der Psychologie. Es wird kein einziges Seelsorgegespräch
geführt werden können, ohne daß dabei in einer vielleicht sehr einfachen, vielleicht geradezu
primitiven Weise Psychologie getrieben wird, sofern man darunter den Versuch versteht, die
seelische Situation, in der sich unser Nächster befindet, einigermaßen zu begreifen. Man hat
vielleicht, was beim Pfarrer oder Lehrer jeden Tag vorkommen kann, mit einem
Unterrichtskinde zu sprechen, das sich durch irgendeine besondere Ablehnung,
Verschlossenheit oder Ungezogenheit bemerkbar macht, und das man nun für einen Augenblick
gesondert ins Gespräch zieht. Es wird nicht geschehen können, ohne daß sofort psychologische
Zusammenhänge in Frage kommen, um die man wissen muß, wenn man sich nicht gänzl ich
vergreifen will.
Ich führe als Beispiel jene Gespräche an, die der Priester in dem bedeutenden Roman von
Bernanos „Tagebuch eines Landpfarrers" mit jenem dreisten und zugleich scheuen Mädchen führt, das in
einer sehr verwickelten Weise erotisch auf ihn eingestellt ist, wie auch er selber, ohne es _zu
durchschauen, in einer verborgenen Weise erotisch auf das Mädchen eingestellt ist. Es ergibt sich daraus
ein sehr kompliziertes Verhältnis gegenseitiger Anziehung [117] und Abstoßung, das menschlich und
seelsorgerlich zu einer schwer lösbaren Situation führt. Wie verloren ist man dran, wenn man naiv und
psychologisch unwissend in solch eine Situation geraten sollte. Wie nötig wird es sein, daß man sogar
sehr eingehend um die psychologischen Dinge weiß. Es wird dem Seelsorger darum nicht erspart bleiben
können, sich mit Psychologie zu beschäftigen, nur schon um solch einem Kindergespräch gerecht zu
werden, ganz zu schweigen von den immer wieder an den Seelsorger, und zwar zu Stadt und zu Land
herantretenden Ehefragen.
Aber freilich, so wichtig das alles ist für den Akt des Aufnehmens und Zuhörens, so darf
und kann man unter keinen Umständen dabei stehen bleiben. Sondern zum Aufnehmen muß
sofort und von Anfang an das Mitnehmen treten. Das will sagen, es werden an den
wahrgenommenen Tatbestand sofort die bestimmten Fragen zu richten sein, die vom Worte
Gottes her an alles Menschliche sich richten. Schon die Wahrnehmung des Tatbestandes als
solche erfolgt ja um der Botschaft des Wortes Gottes willen, die in die vor uns aufgehende
seelische Not und Frage hinein auszurichten ist. Und damit ist auch schon die Bruchlinie
gegeben, die das Gespräch durchzieht. Wir haben immer wieder alles bloß Tatsächliche und
Psychologische hinter uns zu lassen oder vielmehr wir haben es hineinzurücken, so gut es uns
gegeben ist, in das Licht, das vom Worte Gottes her darauf fallen will.
Wir denken weiter daran, daß neben die psychologischen unter Umständen noch weitere
Kenntnisse zu treten haben, so etwa juristische. Es wird kaum einen Pfarrer geben, der nicht
beispielsweise eine Frau in einer bestimmten Situation, in die sie in einem Ehekonflikt kommen
kann, auf rechtliche Zusammenhänge aufmerksam machen, sie auch direkt mit einem Juristen in
Verbindung setzen muß, ganz abgesehen davon, daß er durch eigene (vielleicht unvorsichtige)
Äußerungen bei seiner Beratung ganz ungewollt sich in einen Prozeß verwickeln kann oder
wenigstens in Gefahr gerät, in einem fremden, etwa einem Ehescheidungsprozeß, als Zeuge
aufgerufen zu werden. Es kann auch geschehen, daß die Frage, in der er als Seelsorger
angerufen wird, materiell in einer juristischen Frage besteht. Wir werden uns wiederum nicht
13
Thurneysen, Seelsorge
weigern dürfen, gegebenenfalls auch auf solche Fragen einzutreten, weil das mit zum
Aufnehmen der bestimmten menschlichen Lebenslage gehört, die abzuklären wir als Seelsorger
aufgerufen worden sind. Aber wiederum werden wir keinesfalls uns im juristischen Sachgebiet
verlieren und damit von unserm eigentlichen Auftrage abschneiden lassen dürfen. Wiederum
wird auch das Juristische für uns nur zum Anlaß werden, das ganz Andere zu bedenken und zu
sagen, für das wir als Seelsorger da sind. Wir denken an das Jesuswort im [118] Erbstreit (Luk.
12, 13-15): „Wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über euch gesetzt?" Es geht um einen
vielleicht sehr radikalen Übergang vom bloß juristischen Weg zum Worte Gottes hin. Wehe dem
Seelsorger, der, vielleicht verführt durch eine ihm eigene juristische Neigung und Begabung, zum
bloßen Prozeßberater herabsinkt!
Es fehlt weiterhin in keinem seelsorgerlichen Gespräch an Anlaß und Aufforderung zu
moralischen Beurteilungen, mindestens zu moralischen Betrachtungen und Bewertungen, die an
uns herangebracht, und zu denen wir selber aufgefordert werden. Das Wissen um Gut und Böse ist
ja (nach 1. Mose 3, 5) die Urform, in die die menschliche Sündhaftigkeit sich kleidet. Und mit
dieser Sündhaftigkeit hat die Seelsorge es doch zu tun. In der Tat, alles, schlechthin alles
menschliche Geschehen, das uns unter die Augen kommt, kleidet sich in das Gewand bestimmter
moralischer Wertung. Diese äußert sich mit mehr oder weniger Zurückhaltung, mit mehr oder
weniger Affekt; sie äußert sich in der Form von Klagen und Seufzern über erlittenes Unrecht; sie
steigert sich bis zur Anklage und Verdammung fremder oder auch eigener Schuld, sie tritt aber
auch zutage in den nie fehlenden Selbstentschuldigungen und. Reinwaschungen der eigenen
Person. Der Seelsorger wird nicht umhin können, indem er die vor ihn gebrachte Lebenslage
wirklich aufnimmt, irgendwie, vielleicht sehr zurückhaltend, aber immerhin auch seinerseits in
diesen moralischen Kategorien zunächst einmal mitzudenken und mitzureden. Aber hier gilt nun
erst recht: Wir dürfen auf keinen Fall dabei stehen bleiben; ja, es darf geradezu nicht einen
einzigen Augenblick im Gespräch geben, wo wir dabei stehen bleiben. Gerade das Feld der
moralischen Bewertung darf nur betreten werden, um sofort wieder verlassen zu werden. Denn
gerade dieses Feld ist in besonderer Weise voll von Fußangeln, die zu kennen unerläßl ich ist für
den, der die Vergebung der Sünden als einzige Botschaft auszurichten hat. Heißt nicht Vergebung
der Sünden in sich selber, daß es ein Wort gibt, das allem menschlich Bösen, aber auch allem
menschlich Guten überlegen gegenübersteht, ein Wort, dem gegenüber der ganze Gegensatz von
Gut und Böse, so ernst er an seinem Orte zu nehmen ist, zu einem relativen Gegensatz wird, weil
das Vergebungswort die Bösen und die Guten, die Ungerechten und die Gerechten umgreift und
mitnimmt auf einen ganz neuen Boden jenseits von Gut und Böse? Heißt nicht Vergebung in sich
selber, daß uns unser Gutes nicht retten, unser Böses uns aber auch nicht verderben kann? Was
uns rettet, ist allein das Erbarmen Christi, und was uns verdirbt, ist allein unser Übersehen und
Vergessen dieses Erbarmens. [119] Darum muß es, wenn einmal, so den moralischen Urteilen
gegenüber zum Bruch kommen um des Urteiles Gottes willen, der in Jesus Christus seine Sonne
aufgehen läßt über Bösen und Guten und läßt regnen über Gerechten und Ungerechten". Das ganze
Geheimnis der neuen Gerechtigkeit des Reiches Gottes steht hier auf dem Spiele! (Vgl. Matth. 5,
43-48 und 6, 33.)
Nahe an dieses Feld der moralischen Bewertungen grenzt das ihm verwandte Gebiet der
gesellschaftlichen und kulturellen Beurteilung der menschlichen Dinge. Jeder Mensch spricht,
wenn er das Wort nimmt, nicht nur für sich, er spricht zugleich mit für die ganze Schicht, der er
angehört. Die Urteile und Betrachtungsweisen dieser seiner Gesellschaftsschicht färben ganz
ungewollt, aber auch ganz selbstverständlich das Bild, das ,er von seiner Lage entwirft. Er redet als
Bauer, oder er redet als Arbeiter, oder er redet als Kleinbürger, oder er redet als Angehöriger
sogenannt höherer Klassen. Er redet vor allem entweder als Einer, der in irgendeiner Weise ein
Besitzender ist, oder er redet als der Habenichts, der Arme, der er ist. Und je nachdem wird er die
Frage, um die es im Gespräche mit ihm geht, charakteristisch anders sehen. Und wir werden auch
darauf eingehen müssen, wenn wir seine Lage aufnehmen wollen. Zudem gehören wir selber
ebenfalls einer bestimmten Schicht an und haben bestimmte gesellschaftliche und klassenmäßige
Vorurteile, die unser Verstehen des Andern beeinflussen. Wie soll es da zu einer wirklichen
Besorgung und Beratung des Nächsten kommen, wenn es nicht gelingt, aus dieser Dunstschicht von
gesellschaftlichen und klassenmäßigen Bewertungen herauszutreten? Wie kann man aber anders
daraus heraustreten als wiederum dadurch, daß man von Anfang an und durch das ganze Gespräch
hindurch den andern Menschen und sich selber aufgenommen weiß im Bereiche des Wortes Gottes,
14
Thurneysen, Seelsorge
das das einzige Wort ist, das nicht für eine bestimmte Schicht oder Klasse spricht, das vielmehr
hindurchgreift durch alle Schichten und Klassen, weil es den Menschen "als lebendige Seele" vor
Gott meint, sucht und anspricht. Das ist geradezu die seelsorgerliche Handlung, um die es einzig
gehen muß: Daß wir in unserem Gespräch gemeinsam mit unserm Gesprächspartner in die freie Luft
dieses Wortes treten und damit alle Vorurteile hinter uns lassen, in denen wir zunächst befangen
sind. Immer wieder ist die Gefahr ganz groß, daß wir an diesem Punkte aus falscher Harmlosigkeit
und Unachtsamkeit dem Bruch im Gespräche ausweichen. Man kann sich unter Umständen auch im
seelsorgerlichen Gespräch im Raume eines bürgerlichen oder sonstwie klassenmäßig bestimmten
[120] menschlichen "Verstehens" und sogar erst noch in besonders freundlicher Weise scheinbar
begegnen und ganz vergessen, daß es zu einer wirklichen Begegnung auf diesem Wege nicht
kommen kann, und daß das, was uns eigentlich aufgetragen wäre, dabei zurückgeschoben und
verraten wird.
Dieses Ausweichen ist darum so gefährlich, weil es erst noch unter religiösen und sogar
ausgesprochen christlichen Vorzeichen geschehen kann. Die Kirche hat es leider immer wieder
verstanden, sogar aus Jesus selber eine Figur zu machen, die sich dem bürgerlichen Raum, in welchem
die Kirche in den zwei letzten Jahrhunderten besonders verankert war, nur allzugut einfügt und anpaßt.
Die diesem Jesusbild entsprechende Seelsorge dient dann der Bekräftigung und Bestärkung der geistigen
und religiösen Traditionen und Ideale der in diesem Raume beheimateten Schicht, statt daß sie zur Buße
und zur Erkenntnis des Wortes des wahren, des lebendigen Jesus Christus anleitete. Man sehe sich
einmal daraufhin beispielsweise die Pastorengestalten in den Romanen Theodor Fontanes und die von
ihnen geübte Seelenpflege an. Es spiegelt sich in ihnen das Theologen - und Pfarrergeschlecht der
wilhelminischen Aera, dessen Bild man auch in gewissen, nicht wenig zahlreichen Lebensbildern und
Selbstbiographien von Theologen vor und nach der Jahrhundertwende nur allzu deutlich erkennen kann.
Es sind fast ausnahmslos sehr gebildete, nicht unsympathische Persönlichkeiten, die bei Taufen,
Konfirmationen und Trauungen im Kreise der ihnen anvertrauten Familien der bürgerlichen
Gesellschaftsschicht sowohl auf der Kanzel, wie auch an der nachfolgenden Familienfeier im eng ern
Kreise eine wohlabgewogene "christliche" Rede zu halten verstehen, die der geistigen Vertiefung und
Ausschmückung des festlichen Anlasses dient, bei der es aber nirgends zu einem Bruch und zur
Hinausführung über den bürgerlichen Rahmen, zur Hineinstellung in den Raum der eigentlichen
Botschaft des Evangeliums kommt.
Wenn wir im Bisherigen dem deutlichen Hervortreten der Bruchlinie im seelsorgerlichen
Gespräch das Wort geredet haben, so muß nun auch das Andere gesagt werden: Die wahrhaft
begründete Angst und Sorge, wir könnten, wenn wir uns aufs Anhören und Mitein andersprechen
überhaupt einließen, uns vom Worte Gottes und seiner Ausrichtung weg verlieren, darf nicht
dazu führen, daß wir nun zwar nicht dem Bruch und der Entscheidung, sondern umgekehrt um
dieses Bruches, um dieser Entscheidung willen, der richtigen Entfaltung und Ausbreitung des
Gespräches, dem Anhören und dem uns Einlassen auf den Nächsten ausweichen. Es darf nicht
geschehen, daß uns der Bruch, die Entscheidung, auf die hin wir unser Gespräch zu führen
haben, zu einem doktrinären Vorhaben werden, welches wir, kaum ins Gespräch eingetreten,
abrupt und unvermittelt zur Ausführung bringen. So entsteht gar kein wirkliches Gespräch,
sondern nur ein Scheingespräch, bei dem wir den Nächsten gar nicht richtig anhören, sondern
ihn sofort mit der vermeintlich liniengeraden und radikal [121]ausgerichteten "Botschaft"
überfallen. Er ist uns dann gar nicht zum Nächsten geworden, um den wir uns annehmen, an dessen
Ort wir hintreten, um mit ihm zusammen unter Gottes Wort zu kommen, sondern er ist für uns das
Objekt einer "Missionierung", die in keiner Weise wirksam werden kann, weil sie nicht aus einer
aufrichtigen Begegnung herauswächst. Das darf nicht geschehen. Es darf nicht zu einer jener
geistlichen Anrempelungen unseres Gesprächspartners kommen, wie sie eine gewisse, sich
fälschlicherweise als besonders "evangelistisch" ausgebende Seelsorge als höchste Weisheit
anpreist. Die Ablösung von allen bloß menschlichen Gesichtspunkten und Beurteilungen, die
Unterstellung unter das göttliche Urteil allein muß durch das ganze Gespräch hindurchlaufen,
vergleichbar dem Bergschrund, der den Steilhang des Gipfels vom ebenen Gletscherfeld in
drohender Weise scheidet. Das Gespräch wird durch diese hindurchlaufende Bruchlinie geradezu in
seinem Charakter als seelsorgerliches gekennzeichnet. Aber als dieses "gebrochene" Gespräch soll
es sich auch wirklich entfalten. Das heißt, das menschliche Aufgreifen und Beurteilen der je und je
konkreten Lage, das sich ins Bild Setzen, das Verstehen hat in voller Breite stattzufinden. Eben da
geschieht es nun, daß diese ganze Entfaltung, während und indem sie sich vollzieht, zugleich, und
zwar von Anfang an, sozusagen im Aufmarsch schon, durchschnitten, gestört, überboten und
gebrochen wird dadurch, daß von vornherein über dem ganzen Miteinanderreden das Zeichen des
15
Thurneysen, Seelsorge
Wortes Gottes errichtet war und errichtet bleibt. Unter der zugleich gnädig und zugleich drohend
überhängenden Wand des von diesem Wort her über uns Menschen bereits gesprochenen Urteils
kann und wird sich unser Denken, Reden, Urteilen und Verstehen immer noch weiter vollziehen,
aber es bildet dieses unser Bedenken und Besprechen der Lage nur das Feld, das dazu bereitgestellt
wird, jenes ganz andere Urteil Gottes in sich aufzunehmen. Das Gespräch wird dazu geführt, daß es
im Gespräch selber zu der großen, seelsorgerlichen Wendung, der Störung und Brechung des
Gespräches durch das Hören auf das Wort Gottes komme. Gewiß kann diese Wendung auch einmal
sehr unvermittelt eintreten. In der Regel aber wird es so geschehen, daß ein Wort menschlichen
Verstehens sich an das andere reiht, daß aber an jedem einzelnen dieser Worte und Erwägungen die
Bruchlinie sichtbar wird, die das ganz andere Urteil Gottes sichtbar macht und darauf hinlenkt.
Wir kommen beispielsweise ins Gespräch mit einem modernen, kirchenfremden
Individualisten. Er breitet seine ganze Geistigkeit vor uns aus; er läßt keinen Zweifel darüber, daß er
ein religiös be- [122] wegter Mensch ist. Wir sprechen auch über Jesus Christus miteinander. Er
findet hohe und tiefempfundene Worte für die Bergpredigt und das Kreuz. Das Gespräch spielt
sich zunächst ganz und gar ab auf der weltanschaulichen Ebene. Der Bruch im Gespräch, zu dem
es von Anfang an kommen muß, zeichnet sich aber darin ab, daß unser Partner sich in allem, was
er sagt, bewußt auf dieser Ebene weltanschaulicher Betrachtung und Würdigung Jesu Christi hält,
während wir ebenso bewußt davon wegstreben, weil wir wissen, daß von Jesus Christus etwas
ganz Anderes zu sagen ist, und dieses Andere auch unserem Gesprächspartner zugänglich und
einsichtig machen möchten. Es wird sich das äußern in einem großen, kritischen Vorbehalte, den
wir zu allem machen müssen, was unser Gesprächspartner aussagt. Wir werden ihm Satz für Satz
zu verstehen geben, daß wir unserer innersten Voraussetzung nach anderswoher kommen und
anderswohin gehen als er. Wir werden ihn dabei ganz ernstnehmen, werden neben ihn treten,
werden alles aufzunehmen trachten, was er uns entgegenträgt, werden ihn aber von Anfang an in
die neue Richtung weisen, die die uns gebotene ist. Wahrscheinlich wird sich das Gespräch dahin
zuspitzen, daß die Frage nach der Offenbarung und dem Glauben sich stellt im Gegensatz zur
bloßen Vernunft und der ihr entsprechenden Weltanschauung. Es kann zu einem offenen Bruch
kommen, indem -unser Partner sich als verschlossen erweist für die Erkenntnis, daß man die
Wahrheit Gottes nur erfassen könne aus dem Worte Gottes im Glauben. Er wird unser Verständnis
als ein dogmatisch enges und gebundenes bezeichnen, dem er sein eigenes als das freie, innerliche
und lebendige entgegenstellt. Und wir werden ihm in weiteren Gesprächen zeigen müssen, wie
falsch er hier sieht und urteilt, um ihm, wenn es gelingen darf, selber den Zugang zum Hören auf
das Wort, zum Glauben und Beten zu eröffnen. Aber wir könnten ihm diese ganze Botschaft nicht
zur Ausrichtung bringen, wenn wir unser Gespräch mit ihm nicht durch die Besprechung seiner
idealistisch-religiösen Auffassungen Raum und Breite hätten gewinnen lassen.
Nicht anders verhält es sich mit Gesprächen über praktische Lebensprobleme. Denken wir
an Fehlgänge im menschlichen Lebensverlauf, wie sie uns in der Seelsorge immer wieder
dargelegt werden. Auch hier bewegt sich das Gespräch zunächst nicht im Raume eines vom Worte
Gottes und vom Glauben bestimmten Denkens, sondern auf der Ebene lebensmäßiger,
psychologischer Erwägungen und Erklärungen. Und wir werden uns dieser lebensmäßigen
Verarbeitung der Konflikte nicht entziehen. Wir arbeiten beispielsweise im Schema der [123]
Individualpsychologie heraus, daß jeder Mensch seinen ihm und nur ihm eigenen inneren Weg
vorgezeichnet habe, und daß es gelte, diesen je dem Einzelnen gemäßen innern Weg zu finden und
zu begehen. Aber nun ist dieser innere Weg verfehlt worden. Und daraus ist der konkrete Konflikt
entstanden. Unser Gesprächspartner ist, vielleicht durch die falsche Wahl seines Berufes oder durch
die Übernahme einer Lebensaufgabe, der er nicht gewachsen war, in eine innere Ausweglosigkeit
geführt worden, der er ratlos gegenübersteht. Es droht geradezu ein Zusammenbruch seines Lebens.
In einer solchen Situation liegt alles daran, daß der nächste Schritt richtig getan werde, damit sich
nicht alles noch mehr verwirrt. Es geht also im Gespräch darum, einen bestimmten Rat zu geben
über das, was zu tun sei, damit sich der Weg ins Freie öffne. Und wieder steht es so, daß dieser Rat
nicht gegeben werden kann aus der bloß psychologischen Abklärung der Lage heraus. Wieder muß
auch hier ein ganz anderer, neuer Boden betreten werden. Wieder muß ein Bruch eintreten, der das
Gespräch auf diesen andern, neuen Boden hinüberführt. Er wird sich damit ergeben, daß wir, und
zwar wiederum von Anfang an, uns bewußt sind: Der bestimmte, eigene Weg, den jeder Mensch zu
gehen hat, und von dem die Individualpsychologie in ihrer Weise mit viel Einsicht zu reden weiß, ist
im Glauben gesehen der Weg, auf den wir vor Gott gestellt sind und den seine Führung unseres
16
Thurneysen, Seelsorge
Lebens uns zuweist. Diese Führung unseres Lebens durch Gott und den darin liegenden Willen
Gottes über uns gilt es aufzusuchen, wenn wir uns in der Verwirrung unserer Lebenswege
zurechtfinden wollen. Das bedeutet aber, daß der Schritt, der zu tun wäre, die Lösung, die sich uns
zeigen sollte, mit rein psychologischen Mitteln nicht zu finden ist. Gottes Hand muß über uns
aufgehen und uns geben, was wir uns nicht nehmen können. Der Rat, der zu geben wäre, wird
darum zunächst gar nicht in einer bestimmten Lebensweisung bestehen können, sondern es wird wenn es gelingt, das Gespräch recht zu führen - der Rat zum Gebet gegeben werden müssen. Denn
das ist das Geheimnis des rechten Betens, daß wir darin Gottes Willen aufsuchen, um uns ihm zu
erschließen. Und das ist das Geheimnis des rechten Weges, daß er der Weg ist, den wir im
Gehorsam gegenüber diesem Willen gehen. Der Schritt, der sich uns dann als der notwendige und
richtige erweist, wird gewiß wiederum auf der Ebene psychologischer Erkenntnis hervortreten und
sichtbar werden in Form einer bestimmten Entscheidung, die wir zu vollziehen haben. Es wird uns
eine innere Klarheit geschenkt werden, die sich dahin auswirkt, daß wir jetzt etwas tun [124] oder
lassen, was wir bisher zu tun oder zu lassen nicht im Stande waren. Unser Gebet macht also die
lebensmäßigen, psychologischen Erwägungen und Entscheidungen nicht etwa überflüssig, aber es
lenkt und formt sie. Sie bilden gleichsam das Material, das bereitliegen muß, damit es zu einer
bestimmten und- deutlichen Erkenntnis des Willens und Weges Gottes mit uns komme. Wir werden
uns also in allem Ernste immer wieder um ein möglichst klares Urteil über die innere und äußere
Lebenslage mühen müssen, aber wir haben ein solches auf Grund lebensmäßiger, psychologischer
Überlegung gewonnenes Urteil im strengen Sinne nur als ein Vor-Urteil zu verstehen, durch das
hindurch und über das hinweg wir erst zum eigentlichen, zum Urteil Gottes vordringen müssen.
Dieser Vorbehalt allem menschlichen Erwägen und Urteilen gegenüber wird sich im
seelsorgerlichen Gespräch an der Vorläufigkeit zeigen, mit der wir dem psychologisch Erkennbaren
gegenüberstehen, und an der Spannung, in der wir von Anfang an darüber hinaus ausschauen nach
dem Andern, Größeren, das dem Menschen aufgehen muß vom Worte Gottes und vom Gebet her.
Und darin wird wieder die Bruchlinie sichtbar, die auch durch ein solches Gespräch hindurchlaufen
muß.
Endlich bedenken wir nochmals, daß in allen unseren Gesprächen auch sehr eindeutige
moralische Tatbestände und Probleme auftreten. Es werden Fragen des sittlichen Verhaltens
aufgeworfen, das man selber eingenommen hat, oder das Andere uns gegenüber eingenommen
haben, und das unser Gesprächspartner nun entweder rechtfertigen oder verurteilen muß. Die
Fragen: Was soll ich tun, um fertig zu werden mit eigener oder fremder Schuld? Wie kann ich in
einer bestimmten Lage vor mir selber oder vor einem Anderen moralisch bestehen? Wie komme ich
in Odnung mit einem anderen Menschen, der mich nicht versteht, oder den ich nicht verstehe, und
mit dem ich doch zusammenleben muß?, werden immer wieder im seelsorgerlichen Gespräche
auftauchende Fragen sein. Es kann, wenn solche Fragen sich ernst und unausweichlich stellen, zu
tiefen Erschütterungen des ganzen Lebensgefüges kommen, zu Gewissensqualen oder zu
Ausbrüchen von Haß und Erbitterung. Es kann freilich auch das Andere geschehen, daß man sich,
um der Schwere des Konfliktes zu entgehen, auf irgendeinen Fluchtweg begibt. Man hält es einfach
nicht aus, sich der auftauchenden Frage wirklich zu stellen. Man schreitet - psychologisch
ausgedrückt - zur "Verdrängung" des ganzen Konfliktes. Man verdeckt die innere Ratlosigkeit und
Erniedrigung durch eine nach außen hin angenommene Trotzhaltung, [125] die doch nach innen
unvermeidlich begleitet ist von Gefühlen der Insuffizienz, vom Versagen dem Leben gegenüber,
vielleicht sogar von Verzweiflung an sich und den Andern. Nicht selten resultieren da raus
schwere neurotische Erkrankungen. Das Seelsorgegespräch wird dieser Tendenz der Verdrängung
unter keinen Umständen folgen dürfen. Es wird den moralischen Konflikt aufnehmen und
aufarbeiten müssen. Es wird nicht darüber "hinwegtrösten". Es wird zu rücksichtsloser
Aufrichtigkeit anleiten. Aber es wird nur dann zu einer Lösung führen, wenn es diese Lösung
nicht wiederum auf dem Felde selber sucht, auf dem der Konflikt entstanden ist und liegt, auf dem
moralischen Felde nämlich. Der vom Worte Gottes her geleitete Seelsorger muß wissen und durch
das ganze hier zu führende Gespräch hindurch eingedenk bleiben, daß man die moralischen
Konflikte nicht moralisch aufarbeiten kann. Es ist hier nun einmal nicht wahr, daß das Moralische
sich "von selbst versteht". Eben das Moralische kann nicht aus sich selber heraus verstanden und
zur Lösung gebracht werden. Eben der Konflikt, der da entsteht, wo man das Gute tun will, und
nun tut man es nicht, sondern tut rätselhafter Weise das Böse, das man nicht tun will, weis t weit
über sich hinaus in eine ganz andere Dimension und Tiefe. Es bedarf zur Lösung eines Wortes,
17
Thurneysen, Seelsorge
das anderswoher kommt, und das selber nicht wieder nur ein moralisches Wort ist. Es mag wohl
geschehen, daß man eine Schuldsituation sehr eindeutig nach irgendeiner Richtung abklären kann,
sei es, daß man die Schuld auf sich selber nimmt, sei es, daß man sie auf einen Anderen legen
kann. Aber gerade über solch einer moralisch sehr eindeutig geklärten Lage bleibt eine besonders
dichte Dunkelheit liegen. Oder ist denn jeweils einem Menschen mit einer an sich vielleicht
durchaus zu Recht bestehenden Schuldfeststellung geholfen? Wartet die ganze Lage, in der wir
uns nach erfolgter Schuldfeststellung befinden, belaste diese nun uns selber oder einen Anderen,
nicht noch einmal und erst recht auf ein Licht, das wirklich von anderswoher, das von außen, von
oben in sie hineinfalle und sie endlich erhelle, wenn wir nicht in endgültiger Not und
Verzweiflung zurückbleiben sollen? Das alle bloß moralischen Abklärungen und Urteile, die
Situation von Anklage und Schuld lösende Wort ist wiederum kein anderes als das göttliche Wort,
das Wort von der Vergebung der Sünden. Matth. 1 8 , 1 2 - 3 5 , Römer 7 und 8 , Psalm 5 1 werden
uns vor Augen sein müssen, so oft wir dieser Situation gegenüberstehen. Und das wird immer
wieder geschehen, denn es wird kein einziges recht geführtes Seelsorgegespräch geführt werden
können; ohne daß [126] nicht die moralische Frage in irgendeiner Weise sich stellt. Die fünfte
Bitte des Vaterunsers wird das wirklich letzte Wort sein, das dann in unser Herz und auf unsere
Lippen kommen muß. Noch einmal ist damit die Bruchlinie bezeichnet, die das seelsorgerliche
Gespräch herauslöst aus dem Raum der bloßen Psychologie, der gesellschaftlichen Ideologie und
des moralischen Urteilens, so gewiß in diesem Gespräch das Betreten und Durchschreiten dieses
Raumes unvermeidlich ist und mit ganzem Ernst zu erfolgen hat.
Und nun muß noch etwas Letztes gesagt werden: Das seelsorgerliche Gespräch stellt mit
dem in ihm geforderten Bruch beide, den Seelsorger und seinen Partner vor eine sehr konkrete
Entscheidung. Indem allen zunächst erfolgenden Deutungen und Beurteilungen eine nur
vorläufige Geltung zugestanden wird, enthüllen sie sich als die eigentliche Wahrheit verdeckende
Urteile, von denen es sich zu lösen gilt. Der Mensch hängt aber an diesen seinen vorläufigen
Urteilen. Er vertritt sie, solange er irgend kann. Will man sie ihm nehmen, und im
seelsorgerlichen Gespräch muß man sie ihm nehmen, so setzt er sich für sie ein. Es schei nt ihm,
mit diesen seinen psychologischen oder moralischen oder weltanschaulichen Deutungen stehe und
falle das ganze Gebäude seines Lebens. Und es scheint ja nicht nur so, es ist wirklich so! Die
Vergebung der Sünden bringt das ganze ideologische Lebensgebäude, das der Mensch sich
errichtet, solange er das Wort Gottes noch nicht wirklich gehört hat, ins Wanken. Und darum
wehrt sich der Mensch dagegen, wie man sich wehrt gegen einen Feind, der einem ans Leben will.
Der Verweis auf die Führung des Lebens durch Gott, der Verweis auf das Gericht und die Gnade
Jesu Christi, der Verweis auf das Gebet und den Glauben, dies alles ist für den natürlichen
Menschen und sein Denken eine so unerhörte Zumutung, daß es ihm, wenn er wirklich davor
gestellt wird - und das geschieht in rechter Seelsorge - vorkommt wie ein Sprung ins Dunkel. Es
ist ein Sprung ins Dunkel, im Fall einer Schuld, die unser Leben belastet, dazu zu stehen, alle
eigenen Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche aufzugeben, aber auch alle unfruchtbaren
Selbstanklagen und alle Verzweiflung wegzulegen und sich ganz der Vergebung der Sünden zu
überlassen. Es ist ein Sprung ins Dunkel, angesichts eines finsteren, unlösbaren Lebensrätsels zu
verzichten auf Auswege, auf alle Versuche, sich selber helfen zu wollen, und dafür der Führung
Gottes ganz zu vertrauen und davon zu leben, indem man in ihrer Kraft Schritt für Schritt
weitergeht und das Seine tut. Es ist ein Sprung ins Dunkel für einen mit weltanschaulichen Pro [127] blemen Ringenden, zu verzichten auf das ganze eigene, vielleicht sehr weit ausgebaute und
tiefsinnige Raisonnement und einfach zu glauben und zu beten, gewiß, nicht indem man sich dabei
das Denken verbietet, aber indem man Glauben und Beten immer wieder zum Anfang und Ende
alles Denkens werden läßt. Das Allerschwerste aber ist es, im Blick auf den wirklich vorhandenen
Besitz an Glauben, an Frömmigkeit, an gesicherter, vielleicht sogar ernster christlicher Weltansicht
und Lebensgestaltung zuzugeben, daß auch all das noch keineswegs den festen Grund und Boden
abgibt, auf den wir unser Leben stellen können, daß vielmehr auch für den, der über solche positiven
Werte verfügt, das Urteil Gottes dahin lautet, daß er ein Sünder sei und ein Sterbender, der der
Vergebung bedarf und sie einzig finden kann im Kreuz und in der Auferstehung Jesu Christi von
den Toten. Das Seelsorgegespräch, das von solchen Voraussetzungen ausgeht, wird nicht leicht zu
führen sein; es wird auf stärkste Widerstände stoßen. Die Heilige Schrift redet deutlich davon. Sie
heißt diesen Widerstand Streit gegen die Gnade, sie sieht den Menschen ausnahmslos in diesem
Streite begriffen und erkennt darin die Urform der Sünde. Wir denken an das über die Ganzheit des
18
Thurneysen, Seelsorge
Menschen vor Gott Ausgeführte. Das Gespräch, das von der Vergebung der Sünden herkommt und
zu ihr hinführt, das also den ganzen Menschen im Licht solcher Erkenntnis versteht, wird in sehr
realer Weise mit diesem Streit rechnen müssen. Er wird im Raume dieses Gespräches selber
entbrennen, dann aber auch beigelegt werden und zu seinem Ende kommen müssen. Es geschieht
etwas in solch einem Gespräche, es ereignet sich ein wirklicher Bruch, es ist kein bloß
intellektuelles Gespräch, in welchem eine bloß psychologische oder weltanschauliche oder
moralische Abklärung erfolgt, so gewiß das auch geschehen wird. Es ist - wenn einmal so ist hier
dieser Ausdruck aus der geistlichen Psychologie Kierkegaards am Platz - ein wahrhaft
"existentielles" Gespräch, wobei nicht alles beim Alten bleibt, sondern sich ein Übergang vollzieht
in der Existenz des Menschen von etwas altem Bisherigen zu etwas Neuem. Noch einmal:
unvergebene Sünde ist dieses Alte, vergebene Sünde aber das Neue, ungeheiligtes Leben das
Bisherige, in Gottes Eigentum übergegangenes und das heißt geheiligtes Leben das nun über den
Menschen Gekommene. So ist es gemeint mit dem Bruch im Gespräch, so eingreifend, so
umwälzend, so herausführend und befreiend.
Wir haben den Namen Sören Kierkegaards genannt. Man wird sagen dürfen, daß es diesem
wahrhaft christlichen Denker um nichts anderes [128] gegangen sei als um diesen eben dargestellten
Existentialcharakter des Christlichen Sprechens. Durch sein -ganzes Werk zieht sich der Kampf gegen das
entleerte christliche Wort und für das wieder mit seinem wahren Gehalt gefüllte christliche Wort. E ntleert
aber ist es nach Kierkegard darum, weil es zum bloß ästhetisch-zuschauerhaften Worte geworden ist. Es ist
bloße Betrachtung, Betrachtung des Kreuzes, Betrachtung der Auferstehung, aber nicht mehr im Geiste Gottes
ergehendes Zeugnis von Kreuz und Auferstehung. Wäre es dieses, so käme es auch wieder zum Bruch als im
Leben dessen, der es hört und ausspricht. An diesem Bruch als dem Zeichen, an dem die Realität des
christlichen Sprechens erkannt werden kann, lag Kierkegaard alles. Vielleicht lag ihm so sehr alles daran, daß
er den Zeichencharakter auch dieses Bruches zu sehr vergaß und das Zeichen zur Sache selber werden ließ.
Die Sache ist das Wort Gottes. Man kann nicht zum Bruch als solchem aufrufen wollen, man kann nur zum
Worte Gottes zurückrufen und selber zurückkehren, dann wird es auch wieder zum Zeichen dieses Bruches
kommen in der Existenz. Kierkegaard hat auf seine Weise ähnlich wie der Pietismus das Anliegen dieses
Bruches, das Anliegen also der Heiligung wohl allzusehr verselbständigt. Aber er sah eine Kirche vor sich, die
diese seine dringliche und mit letztem Einsatz gestellte Frage nach dem Zeichen des Bruches wahrhaftig nötig
hatte. Es sollte darum jeder, der Seelsorge zu üben hat, die Seelsorge Kierkegaards an sich wirksam werden
lassen, bevor er hingeht und zu Anderen zu sprechen beginnt. (Vgl. über Kierkegaard die wertvollen Studien
von Heinrich Barth: "Kierkegaard der Denker" in "Zwischen den Zeiten" Jahrg. 4, 1926, S. 194 ff.)
Weil es im seelsorgerlichen Gespräch um diesen Bruch und Widerstreit geht, wird der
Seelsorger letztlich einen einsamen Stand haben. Er muß gleich "dem Manne aus Juda" in 1. Kön.
13 immer wieder die Hand an den Altar legen, auf welchem den falschen Göttern geopfert wird.
Er darf sich darum nicht scheuen, gleich diesem Manne in das Feld der mannigfachen und reichen
Deutungen, Erwägungen und Urteile, mit denen der Mensch vorläufig sich noch selber zu helfen
sucht, hineinzutreten als der steinerne Gast, der dieses ganze Feld mit einer fremden, neuen
Botschaft in Unruhe bringt. Er muß diese Deutungen, Erwägungen und Urteile wohl alle
aufnehmen, aber er muß sie, indem er sie aufnimmt, in Frage stellen und die Freude daran stören.
Er wird aber auch erfahren dürfen, wie groß die Befreiung ist, die da anbricht, wo man als
"geistlich Armer" diese Störung sich gefallen und die neue Gerechtigkeit des Himmelreiches sich
verkündigen läßt. Es zeigt sich hier etwas wie ein Widerschein von der großen Störung, durch die
das menschliche Leben in seiner Ganzheit von der prophetischen und apostolischen Predigt her
von Grund auf angegriffen und in Frage gestellt wird. Es zeigt sich aber auch das Licht der großen
Verheißung, von dem diese Störung nur die Abschattung ist. Der Bruch im seelsorgerlichen
Gespräch wird so zur Türe, die in ein neues Leben hinüberführt.
19
Thurneysen, Seelsorge
Seelsorge und Psychologie
[174] …
Bei der Ausrichtung der Vergebung der Sünden in der Seelsorge geht es um das konkrete
Ansprechen des Menschen durch ein Wort, das, wie wir gesehen haben, nach Ursprung und Gehalt,
aber auch hinsichtlich der Kraft, in der es den Menschen anspricht, und in der der Mensch es
vernimmt, ein ganz und gar jenseitiges Wort ist. Mit dem Verweis auf den Jenseitigkeitscharakter
dieses Wortes ist es aber nicht getan. Dieses jenseitige Wort will ja ganz und gar diesseitig werden und
wird es auch. Als das Wort von oben, das es ist, geht es ein in das Leben des von ihm angesprochenen
Menschen. Es erfüllt und bewegt ihn bis in die verborgensten Tiefen seines Innenlebens, die bewußten
und die unbewußten, und wird so zur bestimmenden Macht seines Daseins, zur Quelle jener
"Weisheit", aus der alle Lebensakte, aus der die Wahl und Entscheidung, in der sich das Leben von
Augenblick zu Augenblick vollzieht, bestimmt werden. In der Besinnung echter Seelsorge über ihren
Auftrag muß darum auch miteingeschlossen sein eine Besinnung über dieses Innenleben des
Menschen als den diesseitigen Wurzelgrund, in den sich das von ihr ausgehende Wort hineinsenkt.
Indem aber der Seelsorger sich diesem Gebiete zuwendet, findet er es bereits besetzt, bearbeitet und
durchdrungen durch eine bestimmte, gerade der Erforschung dieses Innenlebens sich widmende
Wissenschaft, die Wissenschaft der Psychologie. Damit ist sofort die Aufgabe gegeben, die Beziehung
zu bedenken, in welche die Seelsorge mit der Psychologie und weiterhin dann auch mit einer der
Psychologie sich angliedernden und ihre Ergebnisse aus- [175] wertenden Psychotherapie notwendig
eintreten muß. Wie sollte die Seelsorge nicht aus einem mit ihrem Auftrag gegebenen, genuinen
Interesse heraus gründliche Einsicht nehmen wollen in all das, was Psychologie und Psychotherapie
über die innere Natur des Menschen zu sagen wissen? Wie sollte sie bei der Ausrichtung ihres Wortes
der psychologischen Erkenntnis und der psychotherapeutischen Anwendung dieser Erkenntnis
entraten können? Auf die Tatsache dieser Beziehung sind wir immer schon gestoßen, ihre
grundsätzliche und praktische Bedeutung, wie auch ihre Problematik sind aber so groß, daß wir sie
nun gesondert zu überlegen haben.
Unsere Besinnung hat auszugehen von der Eigenständigkeit echter Seelsorge. Seelsorge ist
aller Psychologie und Psychotherapie gegenüber etwas unabtauschbares Anderes, Eigenes, Neues. Sie
vollzieht sich zwar in der Form eines dem ärztlichen Handeln vergleichbaren Eingriffes in das
Innenleben des Menschen und rückt damit selber in das Feld hinein, auf welchem der Psychologe oder
der Psychiater tätig sind, aber sie ist ihrem Wesen nach weder eine psychologische Untersuchung,
noch eine psychotherapeutische Anwendung. …
[178] …
Dem allem gegenüber ist nun aber endlich zu sagen, daß die entscheidende Erkenntnis
des Menschen und seiner Lage uns aus der Heiligen Schrift selber zukommt. Es liegt im Worte
Gottes eine weite und tiefe Anschauung des Menschen und aller menschlichen Dinge, wie sie
keine Psychologie ersetzen oder gar überbieten kann. Im Gegenteil davon hätte alle Psychologie
Entscheidendes zu lernen. Das Wort Gottes ist aus sich selber heraus auf den Menschen
gerichtet. Es will ihn ansprechen und anrühren, heilen und umschaffen. Wer sich vom Worte
Gottes leiten läßt, der wird darum wie von selbst in den rechten Umgang mit den Menschen
hineingeführt. Es wird dann geschehen, daß man den Menschen und alle seine Probleme in das
Licht dieses Wortes rückt, in diesem Lichte sieht und erforscht. Und darüber kommt es erst zu
einem wirklichen und richtigen Verstehen des Menschen, zu einer innern Begegnung mit ihm,
die weiter reicht und tiefer greift als jede bloß psychologische Betrachtung. Freilich, auch das
muß nun gesagt werden: im Zusammenhang mit einer so aus dem Worte Gottes geschöpften
Erkenntnis des Menschen kann uns dann auch das psychologische Wissen wahrhaft hilfreich
und erhellend werden.
[179]
Man wird den Menschen erst dann wirklich verstehen, wenn man ihn von der Bibel her versteht.
Dort ist aufgedeckt, was im Menschen ist, und was keine Psychologie von sich aus wirklich aufzudecken
vermag: des Menschen Elend und des Menschen Größe, mit Pascal zu reden (der um deswillen ein so tiefer
Kenner der Menschennatur war, weil er sich selber im Lichte der Bibel zu erkennen trachtete), des Menschen
Gebundenheit unter der Sünde, aber auch seine Zugehörigkeit zum himmlischen Vater trotz aller Sünde und in
aller Sünde. Das erst gibt der Menschenerkenntnis ihre wahre Tiefe, wenn man den Menschen von daher
versteht, von der doppelten Unendlichkeit her, der er angehört, der bösen Unendlichkeit der Sünde und der
siegreichen Unendlichkeit der Gnade. Man soll nicht ruhen, bis man jeden einzelnen Menschen, mit dem man
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Thurneysen, Seelsorge
es zu tun hat, aus dieser biblischen Sicht heraus sieht. Man muß immer bis zur letzten Tiefe vordringen: zu
den dämonischen Kräften, die den Menschen gefangen halten, aber auch zu den göttlichen Kräften, die aller
Gebundenheit gewachsen sind. Es wird dann auch das eine, das wir bereits dargetan haben, konkret und klar
und groß vor uns aufstehen: daß nämlich das entscheidende Mittel aller Seelsorge das Gebet ist und die
Ausrichtung des Wortes. Nicht Belehrung, nicht Aufklärung, auch nicht Moral und auch nicht Psychologie,
sondern unter das Wort Treten mit den Menschen und Beten ist die Weisheit aller rechten Seelsorge. Es geht
um eine Machtfrage in ihr, um die Macht des Bösen, aus der der Mensch durch die übermacht Christi befreit
werden soll. Im Seelsorgegespräch kündigt man diese Befreiung an, im Gebet ergreift und erwirkt man sie.
Das alles wird allein von der Heiligen Schrift her klar, und darum ist für den Seelsorger im Blick auf sein
Verstehen des Menschen das Wichtigste der reichliche, tägliche Umgang mit der Bibel.
Es ist damit in sehr grundsätzlicher Weise der Primat der Heiligen Schrift aufgerichtet der
Psychologie und ihrer Menschenerkenntnis gegenüber. Was überhaupt gilt, gilt auch hier: Das Wort Gottes ist
nicht eine Erkenntnisquelle neben andern, es ist der Grund aller Erkenntnis auch in Sachen des
Menschenverständnisses. Die Psychologie und ihre Forschung ist damit keineswegs abgewertet. Sie steht in
voller Geltung, und wir sollen sie brauchen, sollen ihr Gold mit uns führen wie einst Israel das Gold der
Ägypter. Aber wenn wir in der Seelsorge nach den Erkenntnissen der Psychologie greifen, so meinen wir
damit nicht, daß wir das Verständnis des Menschen, wie es uns aus der Bibel zukommt, dadurch ersetzen oder
auch nur ergänzen könnten, sondern unser Gebrauch der psychologischen Erkenntnisse dient nur dazu, das
uns im Worte Gottes gegebene Menschenverständnis daran zu verdeutlichen. Das Wissen um den Menschen,
wie die Psychologie es uns vermittelt, gibt das Material ab, an dem das aus der Heiligen Schrift geschöpf te
Menschenverständnis zur Entfaltung und zur Anwendung kommt und dadurch wirksam und kräftig wird. So
ist unsere These von der Psychologie als Hilfswissenschaft der Seelsorge gemeint.
Aber das bedarf näherer Erwägung. Wir haben für den Dienst, den die Psychologie der
Seelsorge leistet, den Begriff der Menschenkenntnis verwendet. Wir verstehen unter solcher
Menschenkenntnis die Kenntnis des Innenlebens des Menschen oder, wie es gangbarer Weise
genannt wird, des seelischen Lebens des Menschen in seinem ganzen Umfang und seiner ganzen
riefe. Der Begriff "Seele", [180] "seelisch", bezeichnet, so gebraucht, nicht die Ganzheit der
Existenz des Menschen vor Gott, von der wir in der Seelsorge auszugehen haben, sondern er ist hier
in einem vorläufigen, technischen Sinne angewendet, um die inwendige Natur des Menschen zu
bezeichnen, die der Gegenstand der psychologischen Forschung darstellt. Diese ihrerseits ist, so
aufgefaßt, als ein Stück Naturwissenschaft zu verstehen. Die innere Natur des Menschen ist von der
äußern, leiblichen Natur dadurch unterschieden, daß sie, wie wir früher dargelegt haben (vgl. j 3),
personal strukturiert ist. Das heißt, sie weist eine geheimnisvolle Mitte auf, das Ich des Menschen,
auf welches als auf ein handelndes, alles beherrschendes und bestimmendes Subjekt das ganze
seelische Leben bezogen ist. Eben damit, eben durch dieses Bezogensein auf das Ich als ein
handelndes Subjekt konstituiert sich das inwendige Leben des Menschen als sein inwendiges,
seelisches Leben im Unterschied zu seinem bloß äußerlichen, animalischen, körperlichen Dasein. Es
gibt somit nichts Seelisches, das nicht personal wäre. Ein inneres Leben haben, seelisch sein und
persönlich sein, also Mensch sein, ein Ich haben ist ein und dasselbe. Die damit gesetzte
Unterschiedenheit zwischen Innen und Außen, zwischen einem seelischen und einem leiblichen
Leben ist aber keine absolute, sondern nur eine relative, sofern nämlich das seelisch-persönliche
Leben des Menschen mit seinem körperlichen Dasein unabtrennbar verbunden ist. Das seelische
Leben ist nicht etwas für sich, sondern es durchdringt das leibliche Leben in vollkommener Weise.
Nur so, nur als Seele eines Leibes, den sie beherrscht und erfüllt, ist die Seele vorhanden und
gegeben. Die Seele ist nichts ohne ihren Leib, in welchen sie sich ausprägt. Aber auch umgekehrt,
ja, erst recht umgekehrt ist auch der Leib nichts ohne die Seele. Für den Menschen jedenfalls gibt es
Leib nur in Beziehung auf die Seele, die ihm als handelndes Subjekt innewohnt. Damit stehen wir
aber auch hier wieder, als Anfang und Ende aller uns von der Psychologie vermittelten
Menschenkenntnis, vor der Ganzheit des Menschen, der nach Leib und Seele eine Einheit ist. Nur
daß diese Ganzheit und die sie begründende personale Existenz des Menschen in ihrem Ursprung
und ihrem Wesen für jede profane Anthropologie ein letztes Geheimnis bleiben muß. Sie ist, von
der Psychologie her gesehen, ein Urdatum, das mit psychologischen Erkenntnismitteln nicht zu
deuten, sondern nur phänomenologisch zu beschreiben ist. Für alle Psychologie liegt also über
ihrem eigentlichen Gegenstand, der Seele des Menschen, letztlich der Schleier einer nicht
aufhebbaren Verborgenheit. Sie vermag es wohl, die seelischen Tat- [181] bestände darzustellen,
und diese Darstellung ist dann der Inhalt jener Menschenerkenntnis, die von einer rechten
Psychologie zu erwarten ist. Aber die letzte Deutung dieser Tatbestände, die Weiterführung der
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Thurneysen, Seelsorge
Menschenkenntnis zum wirklichen Menschenverständnis ist nicht mehr ihres Amtes. Versucht sie es
dennoch, in weltanschaulicher Weise und aus ihren Voraussetzungen heraus ein solches
Menschenverständnis zu entwerfen, greift sie somit über die ihr gesetzten Grenzen einer
deskriptiven Phänomenologie hinaus, so wird sie spekulativ und gerät notwendig ins Schwanken, ja
ins Schwärmen.
Vergleiche hiezu die Debatte über das Problem Leib-Seele in der modernen Anthropologie und
Psychologie. So bei Paul Häberlin in seinem Buch "Der Leib und die Seele". Häberlin will allerdings den
Begriff der Natur auf das innere Leben des Menschen nicht angewendet wissen und meint darum, die
Psychologie als eine Art Normwissenschaft von der Naturwissenschaft abheben zu können. Im Gegensatz
dazu verweist - und er hat darin sicher recht - C. G. Jung die Psychologie ausdrücklich in den Raum der
Phänomenologie. Er sagt über seine Methode: "Obwohl man mich häufig einen Philosophen genannt hat, bin
ich Empiriker und halte mich als solcher an den phänomenologischen Standpunkt. … Aus dieser Feststellung
folgt, daß ich von einem naturwissenschaftlichen und nicht von einem philosophischen Standpunkte aus an
die psychologischen Tatbestände herangehe. … Ich beschränke mich auf die Beobachtung von Phänomenen
und ich enthalte mich jeder metaphysischen oder philosophischen Betrachtungsweise …" (Psychologie und
Religion, S. 9 ff.).
Hier tritt nun die Heilige Schrift mit ihren Aussagen über den Menschen in Kraft. Sie
vermittelt nicht nur Menschenkenntnis, in ihr geht es um Menschenverständnis. Sie setzt dort ein,
wo die profane Anthropologie aufhört und notwendigerweise aufhören muß: bei jener Ganzheit des
Menschen, die in seinem personalen Sein begründet ist. Sie deckt uns deren Ursprung und Wesen
auf, indem sie die ganze Existenz des Menschen als Mensch zurückführt auf das Wort Gottes, des
Schöpfers und Erlösers. Von und in seinem Anruf und Aufruf lebt der Mensch als der nach Seele
und Leib Eine, Persönliche, der er ist. Hier ist der Ort, die Quelle, wo jenes Geheimnis entspringt,
das die Mitte bildet aller psychischen und psycho-physischen Tatbestände, das Geheimnis der
Menschennatur schlechthin in ihrer Doppelung von Seele und Leib, die doch Eines sind, weil sie
beide zur Natur des einen Menschen gehören.
Wir wiederholen schon (in § 3) Gesagtes, wenn wir erneut feststellen: Es wäre einsichtig, wenn die
theologische Anthropologie von der in der profanen Anthropologie durchgängig herrschenden Zweiteilung in
Seele und Leib abgehen und wieder zur alten, biblischen Anschauung einer Dreiteilung in Geist, Seele und
Leib zurückkehren würde. Mit dem Geist wäre dann der Geist Gottes bezeichnet und darunter der Hauch oder
das Wort zu [182] verstehen, aus welchem die Natur des Menschen nach Leib und Seele ins Leben tritt und am
Leben erhalten wird, also kurz gesagt das lebenschaffende Wort Gottes, sofern es dem Menschen kraft der
Schöpfung innewohnt. Dieser "Geist" als solcher ist zwar in keinem Sinne als psychischer oder gar physischer
Tatbestand faßbar. Er kann nur als Grenzbegriff innerhalb der Anthropologie auftreten. Er bedeutet, errichtet und
wahrt jenes Geheimnis, das in Gestalt der personalen Einheit der Menschennatur immer neu inmitten aller
psycho-physischen Tatbestände sichtbar wird.
Mit der so durchgeführten Unterscheidung zwischen Menschenkenntnis und
Menschenverständnis ist der psychologischen Forschung das Feld für die ihr zukommende Aufgabe
freigegeben, aber zugleich auch abgesteckt und begrenzt. Eine Freigabe der Psychologie erfolgt
insofern, als mit der über die innere Natur des Menschen getroffenen Bestimmung der Gegenstand der
Psychologie festgestellt wird und klar umrissen ist. Sie braucht nicht mehr zu schwanken zwischen
Empirie und Spekulation, sie bearbeitet und erhellt die innere Natur des Menschen und bringt sie nach
Möglichkeit zur Darstellung. Die Seelsorge aber übernimmt ihre Ergebnisse, um sie in den Dienst der
ihr gebotenen Wortverkündigung zu stellen.
Als solche klar umrissene Forschung stellt die Psychologie, auch von der Heiligen Schrift aus
gesehen, ein durchaus legitimes und gebotenes Beginnen dar, ein Stück Erfüllung der im
Schöpfungsbericht ergangenen Weisung: "Machet euch die Erde untertan!" (1. Mos. 1, 27). Es soll
und wird uns dabei nicht stören, daß sie aus den Kräften und Möglichkeiten der natürlichen Erkenntnis
heraus betrieben wird, also mit den Mitteln und Methoden einer modernen, naturwissenschaftlichen
Disziplin und von Forschern, die vielleicht für sich selber nur zum kleinsten Teile im Raum des
christlichen Glaubens stehen. Der Versuch, eine von christlichen Forschern betriebene, "gläubige"
Psychologie zu begründen, ist sinnlos. So wenig es eine christliche Zoologie oder Physik gibt, so
wenig gibt es eine solche Psychologie. Es braucht sie auch gar nicht zu geben. Was es gibt und geben
muß, das ist ein christlicher Gebrauch der Psychologie, eine Anwendung ihrer Ergebnisse im Gebiet
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Thurneysen, Seelsorge
der Seelsorge der christlichen Kirche. Und das ist etwas anderes. Damit will nicht gesagt sein, daß
nicht auch der Bereich der natürlichen Erkenntnis, in welchem Psychologie sich ereignet, unter der
Macht des Wortes Gottes steht. Er steht freilich darunter! So wahr die ganze Natur und ihre Erkenntnis
aus dem Worte Gottes lebt. Der Machtbereich Gottes und seines Wortes fällt nicht zusammen mit dem
Bereich der Kirche und des Glaubens. Auch da, wo nicht geglaubt wird, erstreckt sich Gottes Reich
und Herrschaft [183] in Jesus Christus. Gerade das ist bezeugt im Schöpfungsbericht der Heiligen
Schrift. Und eben darin ist die Möglichkeit aller natürlichen Erkenntnis begründet, aber auch die
Möglichkeit für die Kirche, ihrerseits von dieser Erkenntnis souveränen Gebrauch zu machen,
indem sie z. B. die Ergebnisse der psychologischen Forschung bei der Erfüllung ihrer Seelsorge in
ihren Dienst stellt. Darin liegt dann freilich auch das Weitere begründet, daß naturwissenschaftliche
Forschung und Glaube an das Wort Gottes nicht nur nebeneinander her, sondern auch sehr wohl
zusammengehen können. Man wird gerade im Blick auf die Psychologie sagen dürfen, es wäre mehr
als gut und nötig, daß wir wieder Psychologen bekämen, die, mehr als es heute der Fall ist, im
Umgang mit dem Worte Gottes stehen. Es wäre auch für die rein wissenschaftliche Erkenntnis von
größter Bedeutung, wenn man nicht nur von der Gemeinde her sich der Psychologie bedienen
würde, sondern wenn auch die Psychologie von der in der Gemeinde lebendigen Glaubenserkenntnis
sich befruchten ließe. Vom Menschenverständnis der Bibel her könnte die Menschenerkenntnis der
Psychologie Unendliches gewinnen.
Die Begrenzung, die die Menschenerkenntnis der Psychologie vom Menschenverständnis
der Bibel her erfährt, liegt darin, daß es endlich zu einem klaren Verzicht kommt auf jede Art von
Metaphysik. Dieser Begriff ist hier ganz wörtlich verstanden. Das heißt, es sei kein Versuch mehr
unternommen, von der Psychologie her Aussagen zu machen, die über die Erforschung und
Darstellung der innern Natur des Menschen hinausgreifen in irgendwelche weltanschauliche und
spekulative Bereiche. Die Psychologie soll bei ihrem Gegenstand bleiben. Sie soll
phänomenologisch betrieben werden. Sie soll nichts anderes sein wollen als Naturwissenschaft im
weitesten Sinne.
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