Sendung vom 12.6.2013, 21.00 Uhr Dr. Robert Zimmer Philosoph und Autor im Gespräch mit Wolfgang Küpper Küpper: Grüß Gott und herzlich willkommen zum heutigen alpha-Forum. Wir widmen diese Sendung dem Thema Philosophie und wahrscheinlich haben auch Sie schon mal diesen lateinischen Spruch gehört: "Si tacuisses, philosophus mansisses!" Auf Deutsch heißt das: "Wenn du geschwiegen hättest, dann wärst du ein Philosoph geblieben." Manche deuten den Satz so, dass sie sagen, der beste Philosoph sei derjenige, der nichts sagt, der nur schweigt. Ich glaube aber, dass diese Ansicht nicht so ganz richtig ist, denn wäre dieser Satz in dieser Weise zutreffend interpretiert, dann hätten wir unseren heutigen Studiogast nicht einladen brauchen. Ich begrüße ganz herzlich Dr. Robert Zimmer. Er ist Philosoph, gelernter Philosoph, studierter Philosoph. Wie gehen Sie denn mit diesem Satz um, den man ja immer wieder mal hört, den viele aber nicht so richtig einzuordnen wissen? Zimmer: Nun, das ist ein etwas flapsiger Satz, den man vielleicht berechtigterweise denjenigen sagen sollte, die nichts zu sagen haben. Aber für den Philosophen ist das eher eine Irreführung, denn er sollte ja reden, vor allem sollte er zu den Menschen reden. Und er sollte auch öffentlich reden, also nicht nur in seiner akademischen Stube bleiben. Das Vorbild dafür, das wissen wir ja alle, war Sokrates, einer der ersten großen Philosophen, der keine einzige Zeile geschrieben hat, aber eine ganze Menge gesagt hat. Er hat nämlich auf dem Marktplatz von Athen die Leute angesprochen, ihnen Fragen gestellt und sie zum Denken verführt. Ich denke, diese Art des Redens ist immer noch ein gewisses Vorbild für die Philosophen von heute. Küpper: Wobei aber doch die Hauptbeschäftigung eines heutigen Philosophen darin besteht, Bücher zu schreiben. Oder gehen auch Sie auf den Marktplatz? Haben Sie ein Publikum, mit dem Sie so diskutieren können, wie das Sokrates getan hat? Zimmer: Nein, ich habe kein Publikum von der Art, wie Sokrates es hatte. Aber ich denke, dass Bücher in gewisser Weise auch die Funktion erfüllen können, die die direkte Rede bei Sokrates erfüllt hat. Wir können nämlich auch Bücher schreiben, mit denen wir die Menschen auf der Straße erreichen. Wir können mit Büchern auch aus der akademischen Studierstube ausbrechen und auf diese Art und Weise Leute erreichen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Die Reaktionen, die ich auf meine Bücher bekomme, bestätigen das eigentlich: Viele Menschen, die normalerweise mit der Philosophie nicht so viel am Hut haben, sich aber dafür interessieren, und denen die akademische Philosophie etwas zu speziell und schwierig ist, kommen auf diese Weise mit der Philosophie ins Gespräch. Küpper: Wie haben Sie selbst zur Philosophie gefunden? Sie sind 1953 in Trier an der Mosel geboren, also in einer alten Römerstadt, in der Geburtsstadt von Karl Marx. Aber mit Philosophie hat das ja nicht direkt etwas zu tun: Sie sind dort aufgewachsen und haben dann in Saarbrücken Anglistik und Philosophie studiert. Haben Sie sich dann im Laufe der Zeit auf die Philosophie spezialisiert? Wie lief das bei Ihnen? Zimmer: Ich habe mich schon sehr früh für die Philosophie interessiert, eigentlich schon als Schüler, und habe angefangen, Philosophiebücher zu lesen. Es ist aber schwierig, genau anzugeben, wodurch bei mir das Interesse an der Philosophie geweckt worden ist. Es war einfach schon sehr früh da und ich wusste bereits als ganz junger Mensch, dass ich eines Tages Philosophie studieren möchte. Für mich lautete die Frage daher nur: Was machst du noch außer Philosophie? Das war später die Anglistik, aber das hätte auch eine andere Sprache sein können, d. h. es hätte auch irgendein anderes Fach aus der Geisteswissenschaft sein können. Aber klar war immer schon, dass für mich die Philosophie im Mittelpunkt steht. Sie hat mich magisch angezogen, weil es in ihr einfach um die Grundfragen geht. Man fragt ja immer wieder Dinge, die über den Alltag hinausgehen: Wie ist unsere Welt entstanden? Wie sollst du leben? Warum ist etwas und ist nicht nichts? Das sind ja ganz alte philosophische Grundfragen. Bei diesen Fragen stößt man eben ganz natürlich auf die Philosophie. Das kann auch eine Droge werden und bei mir war das sicherlich so: Ich habe seitdem nie wieder von der Philosophie abgelassen. Das war also schon eine ganz frühe Entscheidung bei mir, denn so mit 14, 15 Jahren wusste ich schon, dass das das Thema ist, mit dem ich mich beschäftigen will. Küpper: Sie haben dann auch in Düsseldorf und Berlin an der Universität als Dozent gearbeitet, heute sind Sie jedoch ein freischaffender Philosoph, ein freischaffender Autor. Kann man das so sagen? Zimmer: Ja, ich habe längere Zeit als Philosoph und auch als Literaturwissenschaftler an der Universität gelehrt. Aber es kam irgendwann der Zeitpunkt, an dem mir die akademische Philosophie und auch überhaupt die akademische Welt etwas zu eng geworden sind. Denn es gibt dort Entwicklungen, die ich nicht so gerne mitgemacht habe. Die eine Entwicklung ist der Zwang zur Spezialisierung, der irgendwann eintritt, wenn man sozusagen in die höheren Etagen aufsteigen möchte, wenn man habilitieren will: Da muss man sich ganz intensiv mit einem ganz speziellen Thema auseinandersetzen. Der zweite Punkt war die akademische Sprache. Die Sprache ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. Ich habe an der Universität erlebt, wie Philosophen oder Literaturwissenschaftler Aufsätze geschrieben haben, die anschließend von maximal 15 Leuten gelesen wurden und der Öffentlichkeit überhaupt nicht zugänglich waren. Ich wollte stattdessen über große Themen schreiben, dies aber für ein möglichst breites Publikum. Das war für einen akademisch tätigen Menschen – so sah ich das damals jedenfalls – kaum möglich. Und so habe ich mich dann zu einem bestimmten Zeitpunkt entschlossen, als freier Autor zu arbeiten, mich auf das Schreiben von Büchern zu konzentrieren und das, was ich vorher ja bereits gemacht hatte, nämlich lehren, auf eine andere Art weiterzuführen, nämlich auf eine publizistische Art. Küpper: Höre ich da heraus, dass Sie von Anfang an einen Praxisbezug herstellen wollten? Denn viele Menschen meinen ja, die Philosophie sei ein Gedankengebäude, sei etwas Theoretisches, das sich jemand in seiner Studierstube ausgedacht und dann zu Papier gebracht hat, mit dem man aber im Alltag eigentlich nichts anfangen kann. Bei Ihnen ist das anders? Zimmer: Ja, obwohl ich bei der Philosophie mit dem Praxisbezug doch etwas vorsichtig wäre. Meine erste Absicht besteht darin, dass die Menschen zunächst einmal etwas von der Philosophie wissen. Ich bin daher auch immer, und das habe ich auch nie verleugnet, eine Art von Philosophielehrer für die Öffentlichkeit. Ich denke, dass man nicht einfach darauf losschwätzen sollte, wenn es um Philosophie geht, sondern dass man doch ein wenig von der klassischen Tradition wahrnehmen sollte. Meine Bücher sind auch dazu da, dass man einen Einstieg findet in diese Tradition, dass also Menschen, die keine Spezialisten sind, da hineinfinden können. Erst im zweiten Schritt, wenn man sich also mit der Philosophie und mit philosophischen Fragen etwas näher befasst hat, kommt die Frage auf: Wie gehe ich damit in meinem Leben um? Aber ich habe dabei auch immer etwas ganz Altmodisches im Auge: dass man nämlich etwas wissen muss. Küpper: Das heißt also, man fängt ganz von vorne an. Sokrates haben Sie bereits genannt. Der nächste wäre dann mit Sicherheit Platon, mit dem man sich beschäftigen müsste. Zimmer: Man muss, wenn man sich mit Philosophie befasst, in der Philosophiegeschichte nicht chronologisch vorgehen. Man kann im Grunde genommen mit jedem großen Klassiker anfangen, weil jeder große Klassiker in die zentralen Fragen der Philosophie einführt. Ich denke, das Erste, was man machen sollte, ist, sich einen Überblick zu verschaffen: Wen gibt es da eigentlich? Wie haben diese großen Autoren die Philosophie aufgefasst? Mit welchen Fragen haben sie sich beschäftigt? Wie war deren Zugang zur Philosophie? Und dann sollte man vielleicht eine Wahl treffen und sich mit einem oder zwei großen klassischen Philosophen etwas näher beschäftigen. Das kann auch ein moderner Philosoph sein, aber es muss ein wichtiger Autor sein, d. h. es darf kein zweitrangiger Autor sein. Man kann also genauso gut mit Schopenhauer in die Philosophie einsteigen wie mit Autoren wie Popper oder Platon oder Hume. Denn das sind alles große Autoren. Hier sollte man schon auch die eigene Neigung ins Spiel bringen. Man sollte also einen Philosophen wählen, den man mag, der einem liegt. Das ist ganz wichtig. Denn in der Philosophie ist es nicht anders als sonst im Leben: Man ist dort gut, wo man interessiert ist. Küpper: Das heißt also, man versucht zuerst einmal, die eigene Neigung herauszufinden. Wenn man aber keine spezielle Neigung hat und ganz bei null anfangen müsste – ich gehe mal davon aus, dass es doch den meisten Menschen so geht, die keine Vorkenntnisse in der Philosophie besitzen –, wie kommt man dann auf einen Autor, der zu einem passt? Zimmer: Genau an dieser Stelle setzen sozusagen meine Bücher ein. Ich liefere Vorinformationen über Autoren, mache den Leser mit verschiedenen Autoren bekannt. Ich sage also: Diesen und jenen Autor gibt es und er hat dieses und jenes Profil. Ich denke, dass dann ein Leser durchaus eine Entscheidung treffen kann, ob ihm ein bestimmter Autor liegt oder nicht. Ich bin sozusagen eine Art Brücke, bin jemand, der den Einstieg vermittelt in die eigene Lektüre, in das eigene Beschäftigen mit Philosophie. Jemand, der noch nichts weiß, kann, wenn ich das mal so ganz unbescheiden sagen darf, ruhig mal mit meinen Büchern anfangen. Meine Bücher ersetzen keineswegs die Lektüre der großen Autoren, aber sie führen zu ihnen hin. Küpper: Ich habe hier eines Ihrer Bücher vorliegen, es trägt den Titel "Das große Philosophenportal. Ein Schlüssel zu klassischen Werken". Das ist also so ein Einstiegsbuch, mithilfe dessen man sich orientieren kann und mit dem man herausfinden kann, welcher Philosoph einem vielleicht naheliegt oder nicht. Natürlich ist dieses Buch chronologisch aufgebaut: An erster Stelle findet sich darin nämlich Platon. Dieses Buch wäre also, modern gesagt, der Appetizer, der Appetitanreger, mit dem man in die Philosophie hineinfinden könnte. Zimmer: Es ist vielleicht sogar etwas mehr, denn dieses Buch liefert auch durchaus Informationen und ist daher etwas mehr als ein Appetitanreger. Stellen Sie sich einen Leser vor, der ein großes philosophisches Werk lesen möchte und nun vor diesem Werk wie vor einem riesengroßen Berg steht. So ein Leser sagt sich doch meistens: "Das schaffe ich nie! Diesen Berg kann ich nie erklimmen, das ist mir fremd, das ist zu hoch!" In diesem Fall mache ich Folgendes: Ich erkläre dem Leser, was das für ein Werk ist, wie es entstanden ist, welche Wege zu ihm hinführen, welche Wege quasi nach oben auf diesen Berg führen. Ich nehme ihn an der Hand und führe ihn ein Stück weit den Berg hinauf. Und irgendwann sage ich: "Tschüß, du weißt jetzt schon einiges, jetzt kannst du selbst entscheiden, ob du weitergehen willst, ob du also selbst weiterlesen willst in diesem großen philosophischen Werk oder ob du dich an einen anderen Berg heranmachen willst." Das heißt, dieses Buch ist nicht in erster Linie ein Buch über Philosophen, sondern über große klassische Werke der Philosophie. Es führt in diese Werke ein. Ich denke, das ist wichtig, weil man über die großen zentralen Werke auch zu den großen Grundfragen der Philosophie findet. Küpper: Sie erwarten ja schon vom Leser bzw. vom Philosophieinteressierten, dass er mal einen Rundgang durch die Philosophiegeschichte macht. Oder verstehe ich Sie da falsch? Zimmer: Ich denke, dass man nicht den Ehrgeiz haben sollte, das Rad neu zu erfinden, wenn man beginnt, zu philosophieren. Stattdessen ist es doch wichtig zu wissen, dass es da schon eine ganze Menge gibt, dass sich über solche Fragen andere Leute früher auch schon sehr profunde Gedanken gemacht haben und dass man vielleicht doch mal zur Kenntnis nehmen sollte, wen es da gibt. Dazu braucht man kein zweijähriges Studium, aber ich möchte mit meinen Büchern u. a. doch erreichen, dass ein Leser so etwas wie einen vorläufigen Überblick über die Philosophiegeschichte bekommt, damit er dann eigene Entscheidungen treffen kann. Küpper: Wenn man sich die Philosophiegeschichte über die Jahrtausende so anschaut, dann stellt man fest, dass immer wieder die Frage gestellt wird, was die Welt eigentlich zusammenhält, was der Kern des Dings an sich ist. Wenn man auf diese Weise zu Kant kommt, ist man auch ganz schnell bei der Transzendenz oder beim Transzendenzbezug, der aber von den Philosophen irgendwann nicht mehr in der Weise ergriffen werden kann, wie das die Theologen gerne hätten. Was hat sich denn Ihrer Ansicht nach in der Philosophiegeschichte fortentwickelt? Wo ist der qualitative Fortschritt? Gibt es den überhaupt? Oder wiederholen sich die Philosophen im Laufe der Jahrtausende nur immer wieder in ihrer Denkweise und Denkrichtung, ohne einen Fortschritt erzielen zu können? Zimmer: Es gibt sehr wohl einen Fortschritt in der Philosophie, aber der wurde sehr viel langsamer erzielt als in manchen anderen Wissenschaften. Eigentlich ist das eher ein negativer Fortschritt: Das ist ein Ausscheiden von Lösungen, weil sie nicht mehr begründbar sind. Philosophische Systeme sind nämlich nicht beliebig, sondern bestehen aus Argumentationszusammenhängen, d. h. man muss begründen, warum man eine bestimmte Position vertritt, warum man ein bestimmtes Weltbild vertritt, wie man zu bestimmten Erkenntnissen gekommen ist usw. Bestimmte Begründungszusammenhänge sind uns dabei heute nicht mehr schlüssig: Sie scheiden sozusagen aus. Denken wir z. B. an Platons Ideenlehre und seine Ansicht, dass mit der Bedeutung eines Begriffs schon sozusagen eine Idee gegeben ist, die transzendent ist; das ist ja sozusagen der Kern der Ideenlehre Platons. So lässt sich heute nicht mehr argumentieren, denn es gibt logische Begründungsstrategien, die das ausschließen. Das heißt aber andersherum nicht, dass die Philosophen inzwischen zu endgültigen Lösungen gekommen wären auf irgendeinem Gebiet. Endgültige Lösungen gibt es nämlich in der Philosophie nicht – in den Wissenschaften übrigens auch nicht. Popper hat also ganz recht, wenn er sagt, jedes Wissen sei Vermutungswissen, sei vorläufiges Wissen, an dem wir so lange festhalten, bis wir gute Argumente haben, es fallen zu lassen. So gibt es also in der Philosophie einen langsamen Fortschritt aufgrund des Ausscheidens falscher Lösungen. Küpper: Das heißt, der Erkenntnistheoretiker der Neuzeit hat Platon, hat Augustinus usw. irgendwann überholt? Zimmer: Er hat ihn in bestimmten Antworten überholt, er hat ihn aber nicht unbedingt in den Fragestellungen überholt. Und deswegen sind diese Philosophen immer noch wichtig, weil sie z. T. die richtigen Fragen gestellt haben, die wir immer noch nicht beantwortet haben. Sie schicken uns also immer noch auf den Weg. Und deswegen ist die Beschäftigung mit ihnen wichtig – ohne dass wir jede Lösung, die sie einst angeboten haben, heute noch akzeptieren müssten. Denn im Grund genommen kann man sagen: Die Grundfragen der Philosophie sind in der griechischen Philosophie, mit der wir ja die westliche Philosophie ansetzen, fast alle schon gestellt worden. Wir arbeiten uns wirklich immer noch an diesen Fragen ab und wir beginnen oft immer noch mit diesen Autoren, und das mit Recht, denn sie waren es, die uns auf eine bestimmte Route geschickt haben. Küpper: Das Nach-Denken dessen, was in der Vergangenheit gedacht wurde, ist also Ihrer Ansicht nach die Voraussetzung dafür, dass man heutzutage qualitativ hochwertig Philosophie treiben kann? Verstehe ich Sie richtig, dass man an diesem Nach-Denken nicht vorbeikommt? Zimmer: Es kommt nun sehr darauf an, was Sie mit "Nach-Denken" meinen. Wenn es heißen soll, dass man das frühere philosophische Denken imitieren soll, dann würde ich doch ein kleines Fragezeichen setzen wollen. Wir folgen den großen Autoren früherer Jahrhunderte in den Fragen, die sie gestellt haben. Aber wir folgen ihnen nicht unbedingt bei ihren jeweiligen Antworten. Das Nach-Denken der Antworten bringt uns also nicht weiter. Aber die Anstöße, die uns diese Autoren gegeben haben, verfolgen wir weiter. Nehmen wir mal ein Beispiel und bleiben wir bei Platon und seiner Ideenlehre. Das, was Platon u. a. zu dieser Ideenlehre inspiriert hat, war ja das, was wir heute die Bedeutung eines Begriffes nennen. Das ist z. B. eine Frage, die bis heute auch unter Logikern und unter Sprachphilosophen immer noch umstritten ist: Was ist Bedeutung? Da gibt es die kompliziertesten Lösungsvorschläge, die etwas mit extensionaler und intensionaler Bedeutung zu tun haben, worauf wir aber jetzt nicht weiter eingehen müssen. Aber das sind Fragen, die ursprünglich von Platon angestoßen worden sind: Diesen Fragen denken wir also immer noch hinterher. Küpper: Das heißt, man vollzieht zuerst einmal nach, was Platon gedacht hat. Und dann grenzt man das ab gegenüber dem, was wir heutzutage an Neuem hinzudenken? Zimmer: Ja, so kann man es vielleicht formulieren. Küpper: Das heißt also, es gibt innerhalb der Philosophie eine Kontinuität. Zimmer: Ja, es gibt vor allem eine Kontinuität bei den Fragen, bei bestimmten Grundfragen. Das sind Fragen wie: Wie weit reicht eigentlich unsere Erkenntnis als Mensch? Was von der Welt können wir erkennen und was nicht? Gibt es hinter dem, was wir normalerweise wahrnehmen, noch eine wahre Wirklichkeit, die wir nicht wahrnehmen? Oder nehmen Sie die Fragen der Ethik: Gibt es Grundregeln unseres Handelns? Können wir diese begründen? Wenn ja, wie? Oder nehmen Sie Fragen wie: Was ist eigentlich Kunst? Denn auch das ist eine Frage, die bereits bei Platon auftaucht. Küpper: Damit ist ja auch immer wieder so etwas wie die Wahrheitsfrage gestellt, die manche ganz gerne schnell und bündig beantwortet hätten. Der Philosoph wird darauf aber keine schnelle Antwort geben können, wenn er exakt arbeitet. Zimmer: Die Philosophie hat auch hier Folgendes getan: Sie hat die Frage nach der Wahrheit keineswegs aufgegeben, aber sie hat diese Frage eingegrenzt. Wir fragen z. B. nicht mehr nach der Wahrheit der Welt, denn das ist heute keine Frage mehr, die man ernsthaft stellen kann. Diese Frage würde man vermutlich auch nie sinnvoll beantworten können. Wir sprechen heute stattdessen von der Wahrheit von Aussagen. Das ist also etwas anderes: Heute fragt man nach der Wahrheit von Theorien oder der Wahrheit von Aussagen. In dieser Eingrenzung ist das also sehr wohl noch eine ganz aktuelle Frage in der Philosophie. Der Wahrheitsbegriff, der die Philosophiegeschichte vorher durchzogen hat, war nämlich ein viel umfassenderer: Er umfasst so etwas wie den Gesamtsinn der Welt usw. An solchen Punkten sind die Philosophen heute jedoch eher vorsichtig und sagen: "So sollten wir den Wahrheitsbegriff nicht mehr anwenden, denn das führt uns nicht weiter." Küpper: An diesem Punkt gibt es dann auch sicherlich eine Differenz zu dem, was mit theologischer Wahrheit ausgedrückt wird. Kommen denn Philosophen und Theologen da überhaupt noch zusammen? Wie sehen Sie das? Zimmer: Sie können schon auch mal zusammenkommen, aber sie unterscheiden sich natürlich grundsätzlich. Denn die Theologie fußt auf einer Offenbarung, einer Heiligen Schrift, um die sie nicht herumkommt. Demgegenüber ist philosophisches Fragen prinzipiell ergebnisoffen, ist also nicht an Vorgaben gebunden. Es kann durchaus sein, dass sich Philosophen und Theologen bei der Einschätzung von bestimmten Fragen treffen, aber beide gehen doch von jeweils etwas anderen Voraussetzungen aus. Die Zeit, in der Philosophie und Theologie sozusagen eine Einheit gebildet haben – das war ja im Mittelalter so –, ist natürlich vorbei. Die Philosophie orientiert sich heute sehr viel stärker bzw. sollte sich sehr viel stärker an dem orientieren, was wir wissenschaftlich wissen. Philosophie darf also nicht aus dem Blauen heraus betrieben werden, sondern muss sich orientieren an wissenschaftlichen Ergebnissen. Sie muss also wissenschaftsorientiert sein, während die Theologie eine andere Vorgabe hat: Sie muss an ihren Heiligen Schriften orientiert sein oder an der Auslegungstradition, die es dazu gibt. So kommt es, dass es da doch grundlegende Unterschiede gibt, die auch bleiben werden. Küpper: Wenngleich natürlich eine gute Theologie auf die Philosophie Rücksicht nehmen wird bzw. sie als Instrument durchaus im Blick hat, denn ansonsten würde die Theologie im luftleeren Raum existieren – und darauf kann sich heutzutage ja wohl niemand einlassen, auch nicht als Theologe. Zimmer: Es gab auch noch in der Philosophie des 20. Jahrhunderts philosophische Strömungen, die einen sehr engen Bezug zur Theologie hatten. Nehmen Sie als Beispiel die Existenzphilosophie, die ja Fragen aufwirft nach der Wahl der Lebensform, die auch im theologischen Denken eine Rolle spielen. Nicht umsonst sind bis heute viele Theologen mit der Existenzphilosophie beschäftigt. Sören Kierkegaard, der heute als Vater der Existenzphilosophie gilt, war ja ein protestantischer Theologe, d. h. da gibt es schon noch Berührungspunkte. Aber wenn wir mal an andere Strömungen der Philosophie denken wie z. B. die analytische Philosophie, die im angelsächsischen Raum entstanden ist und sich sehr stark an Logik, Mathematik und den empirischen Wissenschaften orientiert, dann stellen wir fest, dass es da kaum noch Beziehungen zur Theologie gibt. Küpper: Hatte diese Entwicklung auch Auswirkungen auf den Vernunftbegriff? Wird also heutzutage Vernunft anders definiert als in früheren Zeiten? Zimmer: Vernunft wurde eigentlich schon in der gesamten Philosophiegeschichte immer sehr unterschiedlich gefasst. Ich denke, dass das einer der Begriffe ist, der bis heute noch umstritten ist. Ich z. B. habe einen relativ einfachen Vernunftbegriff. Ich denke, dass die Vernunft unsere Fähigkeit ist, die Welt rational zu deuten. Hier muss man sich natürlich immer darüber unterhalten – das ist in der Philosophie wirklich ein großes Thema –, wo die Grenzen der Vernunft sind: Wie weit reicht die Vernunft? Wir wissen eigentlich seit Schopenhauer, seit Freud, dass die Vernunft weniger vermag, viel weniger, als wir vorher gedacht haben, dass unsere Ansicht vom Menschen, dass er im Prinzip ein Vernunftwesen und von Vernunft bestimmt sei, zu kurz greift. Unsere Vernunft ist also schwächer, als wir denken, sie ist nicht so weitreichend, wie wir denken. Sie ist sehr viel mehr von Dingen abhängig, die wir nicht steuern können. Die Stichworte hierzu sind das Unterbewusstsein, das gesamte Triebleben des Menschen usw. Die Vernunft ist wahrscheinlich auch nicht in der Lage, uns sichere Orientierung über die Welt zu geben. Sie kann stattdessen immer nur eine vorläufige Orientierung geben. Aber sie ist das Einzige, was wir haben und wir kommen nicht darum herum, uns ihrer zu bedienen. Küpper: Das heißt also, dass die Vernunft auch kein Ersatz sein kann für einen Transzendenzbezug? Zimmer: Ich frage jetzt mal anders herum: Kann der Transzendenzbezug die Vernunft ersetzen? Denn die Vernunft hat es ja mit Begründungen zu tun. Und wenn wir philosophieren, dann sind wir auf Begründungen angewiesen: Wir können nicht einfach etwas nur glauben. Wenn die Vernunft nun nicht sehr weit reicht, dann müssen wir, als Philosophen, uns damit zufriedengeben. Das bedeutet aber nicht, dass wir dann als Ersatz in den Glauben springen müssen. Das ist eine Entscheidung, die soll jeder selbst treffen. Aber dieser Sprung hat dann nichts mehr mit der Philosophie zu tun. Die Philosophie hat es also mit der Vernunft zu tun, auch wenn die Vernunft schwach ist. Denn die Philosophie hat einfach nichts anderes. Und wenn wir nicht mehr sehen, wenn wir nicht mehr erkennen können, dann müssen wir uns eben damit bescheiden. Ich glaube, dass die Bescheidenheit überhaupt eine der Grundlagen des Philosophierens sein sollte: Wir dürfen nicht annehmen, dass wir die Welt jemals so erkennen können, wie sie ist. Wer mehr will, kann natürlich den Bezug zu einer Transzendenz herstellen. Aber er darf das dann nicht mehr Vernunft nennen und er darf es nicht mehr Philosophie nennen, sondern er muss das anders nennen. Das ist dann Glaube, Theologie oder was auch immer. Küpper: Was hat das jetzt für Auswirkungen auf mein persönliches Leben? Sie sprechen von der Vernunft als einzigem Erkenntnismittel, einem schwachen Erkenntnismittel, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Zimmer: Ja, sie ist durchaus nicht stark. Küpper: Sie sagen aber auch, dass wir nichts anderes haben und daher auf die Vernunft angewiesen sind. Was heißt das nun für die Biografie von uns als Individuum? Sie beschäftigen sich ja auch mit der philosophischen Lebenskunst und wollen den Menschen gerne ein bisschen auf die Sprünge helfen bzw. sie stabilisieren. Wie würden Sie das selbst formulieren? Was machen Sie da? Zimmer: Die Richtung, in die ich denke, hängt genau damit zusammen: Weil wir eben nicht von vornherein eine sichere Erkenntnis über die für uns geeignete Lebensführung haben, müssen wir das langsam und versuchsweise erkunden – über Erfahrungen, die wir auswerten und in jeder Lebensphase neu bewerten. Wir müssen also versuchsweise leben. Wir können nicht den Anspruch erheben, dass wir mit 20 oder 30 Jahren bereits ein vollendet begründetes Lebenskonzept haben, gemäß dem wir leben können. Das wird es nicht geben. Es gibt auch nicht die Glückslehre schlechthin, die uns von vornherein irgendwohin führt, wo wir ein erfülltes Leben haben. Stattdessen sind wir veränderbare, veränderliche Wesen, die auf jeder Lebensstufe sich neu justieren müssen. Auf jeder Lebensstufe müssen wir fragen: Was ist für mich möglich? Wie sind meine Umstände? Was sind meine Neigungen? Wie kann ich die beiden miteinander vermitteln? Diese Fragen müssen wir uns auf jeder Lebensstufe neu stellen. Denn es gibt keine endgültige Theorie der Lebenskunst, sondern es gibt nur ein fortgesetztes, versuchsweises Leben. Das mag für viele unbefriedigend sein, aber das ist das Einzige, was wir begründbar tun können. Derjenige, der sagt: "Ich habe hier ein Rezept für dich, mithilfe dessen du die nächsten 40 Jahre glücklich leben können wirst", betreibt Scharlatanerie. Küpper: Sie haben ja auch einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel "Von der allmählichen Verfertigung der Biografie beim Leben". Das gibt im Prinzip in einem Satz wieder, was Sie gerade erklärt haben. Sie haben auch schon den Schwachpunkt dabei kurz angerissen: Manche Leute sind ganz unruhig, wenn es so läuft, wie Sie das beschreiben, weil sie sich eben doch nach Sicherheiten sehnen und ganz gerne genau wüssten, wie es zu laufen hat, um vor Überraschungen gefeit zu sein. Es sei denn, man ist so ein bisschen der Hasardeurtyp, der Spieler, der sich sagt: "Es kommt, wie es kommt und ich werde mit allem fertig!" Aber rein erkenntnistheoretisch ist das, wie Sie sagen, überhaupt nicht möglich. Zimmer: Damit sind wir wieder dort, wo wir eigentlich am Anfang waren: bei der Unruhe. Aus der Unruhe entsteht nämlich das Philosophieren: Wer etwas sicher weiß, der fragt nicht mehr. Nur derjenige, der in Unruhe lebt, in Unruhe über die Erkenntnis der Welt, in Unruhe über seine Lebensmöglichkeiten, fängt an zu denken, fängt an, Fragen zu stellen. Wir kennen keine Philosophie ohne Unruhe. Wer sich der Unruhe nicht aussetzen kann und will, der wird in der Philosophie nicht heimisch werden. Es gibt einen christlichen Existenzphilosophen mit Namen Peter Wust – Sie kennen ihn vielleicht –, der wie ich ein Saarländer ist: Auch er hat von der insecuritas als der Grundbedingung menschlicher Existenz gesprochen, also von der Unsicherheit, die zum Menschen mit dazugehört. Wir werden, solange wir leben, uns nie beruhigen, und wer nach endgültiger Ruhe sucht, wird in der Philosophie nicht fündig werden. Denn Philosophie ist fortgesetztes Fragen, ist nicht Sicherheit erlangen. Küpper: Damit wären wir bei Augustinus. Zimmer: Richtig, und deshalb ist z. B. ein Autor wie Augustinus auch heute noch so wichtig: weil er uns mit seinen Fragen auf diesen Weg schickt. Wir brauchen nicht unbedingt zu akzeptieren, was er uns in seiner Gnadenlehre anbietet, aber diese Fragen, diese Grundfragen, die er stellt, die bleiben. Küpper: Heißt das, dass in der Philosophie das Fragenstellen wichtiger ist als das Ordnungsstreben? Zimmer: Richtig, das heißt es. Philosophie ist ein fortgesetztes Fragen und ein fortgesetztes Infragestellen von Antworten, weil nämlich alle Antworten nur vorläufig sind. Das Fragen ist in der Tat der Motor der Philosophie. Küpper: Es gibt aber auch heute Menschen, die sich fragen, woher sie ihre ethische Orientierung beziehen können: Denn man kann ja nicht immer nur fragen und darauf hoffen, dass einem schon irgendwann die richtige Antwort zufällt, sondern man braucht doch auch irgendwie ein Gerüst, das einem zeigt, wo es längs geht, an dem man sich entlanghangeln kann, das einem eben doch eine gewisse Sicherheit gibt – trotz aller Unruhe. Zimmer: Ja, da müssen wir allerdings unterscheiden zwischen Fragen der Lebenskunst, denn da geht es um die Lebensmöglichkeiten des Einzelnen, die er individuell und auch unabhängig von anderen entscheidet, und Fragen der Ethik. Denn in der Ethik geht es um das Zusammenleben mit anderen. Hier gibt es in der Tat einige Dinge, die wir schon als gesichert betrachten können. Wenn wir mit anderen Menschen friedlich und geordnet zusammenleben wollen, dann müssen wir sicher einige Grundregeln akzeptieren wie z. B. diejenige, dass der andere auf der gleichen Stufe steht wie man selbst, dass wir ihn in gleicher Weise wie uns selbst als Person anerkennen müssen, dass man die Rechte und Pflichten, die man selbst hat und in Anspruch nimmt, auch dem anderen zuerkennt. Doch, da gibt es sehr wohl Grundregeln, auf die wir uns stützen können. In der Ethik gibt es das also sehr wohl. Das heißt aber nicht, dass wir Regeln hätten für alle konkreten moralischen Probleme. Küpper: Und deswegen ist das Infragestellen wichtig. Zimmer: Genau. Nehmen wir Probleme, die wir alle kennen wie z. B. die Frage der Abtreibung oder der ... Küpper: ... Sterbehilfe. Zimmer: Richtig. Das sind Themen, die wir noch lange diskutieren werden. Denn da gibt es keine Sicherheiten, d. h. da müssen wir weiterfragen. Wir können also sagen, dass die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens von Menschen in der Philosophie schon einigermaßen gesichert sind, dass aber viele praktische Probleme fortlaufend diskutiert werden. Küpper: Eines ist sicherlich auch klar: Philosophieren heißt für Sie nicht, wie in der ganz alten Zeit, lernen, wie man stirbt, sondern zunächst einmal lernen, wie man lebt. So gesehen gibt es da nicht nur einen Widerspruch, sondern vielleicht auch eine Entwicklung. Mich würde nun aber interessieren: Welche philosophische Richtung unterstützt die philosophische Lebenskunst so, wie Sie sie formulieren? Zimmer: Dieser Satz, Philosophie heißt sterben lernen, taucht ja in Platons Phaidon zum ersten Mal auf. Später ist er dann wieder von Montaigne aufgenommen worden. Man kann darüber streiten, ob es wirklich so gemeint ist, wie es gesagt wird, denn wir können eigentlich nicht sterben lernen. Wie sollte das gehen? Jeder stirbt individuell und nur einmal. Wir können also nur leben lernen. Ich selbst bin kritischer Rationalist. Das bedeutet, ich greife die philosophischen Ansätze auf, die Karl Popper in seiner Philosophie entwickelt hat. Nur war eben Karl Popper mit Fragen der Lebenskunst überhaupt nicht befasst, sondern er war ein Wissenschaftstheoretiker, ein Erkenntnistheoretiker. Er hätte es vermutlich strikt abgelehnt, überhaupt über Fragen der Lebenskunst zu sprechen. Das waren für ihn "weiche Themen", die ihn nicht interessiert haben. Aber ich denke, dass die Poppersche Wissenschaftstheorie, die ja auch auf der Basis der Methode von Versuch und Irrtum funktioniert, uns doch einige Fingerzeige geben kann für eine Philosophie der Lebenskunst. Und das ist das Thema, an dem ich arbeite: an einer kritisch-rationalen Philosophie der Lebenskunst. Küpper: Das setzt natürlich voraus, dass man gelegentlich auch gute Nerven braucht bei diesem Unternehmen von Versuch und Irrtum, beim Verifizieren und Falsifizieren. Denn es kann ja auch mal was schief gehen. Was macht man dann? Zimmer: Das Verifizieren gibt es bei diesem Ansatz nicht: Weil alles Wissen Vermutungswissen ist, wissen wir nie genau ... Küpper: Aber wir nähern uns. Zimmer: Wir können nur falsifizieren, aber verifizieren können wir nicht. Wir können etwas als falsch erkennen und ausscheiden, aber ob die Lösung, die wir dann gefunden haben, auch wirklich wahr ist, wissen wie nie. Wir können nur von einigermaßen bestätigten Lösungen sprechen. Und in der Lebenskunst ist es nun so, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die sich ständig verändern. Das heißt, Lösungen, die wir für uns finden, wenn wir 20 Jahre alt sind, sind wahrscheinlich Lösungen, die wir nicht mehr akzeptieren können, wenn wir 40 oder 60 Jahre alt sind. Das heißt, da müssen wir uns ständig neu erproben an den Umständen, an unseren Lebensentscheidungen, an unseren Neigungen usw. Wir müssen uns daher immer wieder neu auf den Weg schicken. Küpper: Das Prozesshafte steht daher im Mittelpunkt, oder? Zimmer: Das steht im Mittelpunkt und auch das ständige Weiterfragen und das Ausprobieren. Wenn man es plakativ ausdrückt, kann man sagen, dass es darum geht, das Leben als eine fortgesetzte Abenteuerreise zu nehmen, auf der wir immer Neues entdecken, unter anderem auch uns selbst. Küpper: Wir haben jetzt noch gar nicht über Schopenhauer gesprochen, über den Sie ja auch ein dickes Buch geschrieben haben. Vielleicht sollten wir uns nun gegen Ende unseres Gesprächs ein wenig diesem Philosophen nähern, der ja als unsäglicher Pessimist in die Geschichte eingegangen ist und von vielen empfunden wird, als sei er eine einzige deprimierte Figur. Sie sehen ihn jedoch nicht so. Zimmer: Schopenhauer ist sicherlich ein Pessimist gewesen, aber keineswegs ein unsäglicher. Schopenhauer ist jemand, der das Leben als Leiden begriffen hat. Aber seine Bedeutung liegt eigentlich an zwei anderen Dingen, mit denen er sich als einer der großen Vordenker der Moderne ausweist. Er ist nämlich erstens derjenige, der diesen ganzen Bereich des Unterbewusstseins, des Trieblebens überhaupt für die Philosophie erschlossen hat. Wir sprechen ja immer von Nietzsche und Freud als den philosophischen Vätern dieser Auffassung, aber in Wirklichkeit war es Schopenhauer, der das alles ins Spiel gebracht hat. Er war es, der uns die Begrenzung der Vernunft vor Augen geführt hat. Der zweite Punk, weswegen Schopenhauer so ungeheuer wichtig ist, ist seine Ethik. Seine Ethik ist nämlich nicht nur eine Ethik der zwischenmenschlichen Beziehung, sondern eine, die auch die Tiere und die Umwelt mit einbezieht. Wir haben gemäß seiner Ethik also nicht nur Verpflichtungen gegenüber uns selbst, sondern wir haben auch Verpflichtungen gegenüber allem, was lebt, weil wir im Grunde genommen alle eins sind. Denn genau das ist ja seine Metaphysik. Er sagt nämlich, das Principium individuationis sei eine Täuschung; im Grunde genommen bildeten alle Lebewesen eine Einheit. Im Erkennen einer solchen Einheit besteht für ihn das Handeln in der Ethik: dass wir uns in den anderen hineinversetzen durch Empathie, durch Mitleid, dass wir uns als eins empfinden. Schopenhauer ist daher im Grunde genommen einer der großen Vordenker einer Öko-Ethik. Küpper: Er war also ein sympathischer Pessimist. Zimmer: Er war ein bedeutender und wichtiger Pessimist. Küpper: Und ein guter Literat dazu. Zimmer: Ein hervorragender! Er ist bis heute einer der größten und besten Stilisten deutscher Sprache. Küpper: Abschließend die Frage: Wie schafft man es, die philosophische Lebenskunst für sich selbst nutzbar zu machen? Das mag jetzt ein bisschen platt klingen, aber der Mensch ist nun einmal so: Er will, wenn er so ein Gespräch sieht und hört, wissen: "Wie gehe ich denn jetzt damit um? Wie finde ich den Einstieg? Wie kann ich das für mich zum Besten bringen?" Zimmer: Die Grundlage der Lebenskunst ist Selbsterkenntnis. Und Selbsterkenntnis ist leider, das hatten wir schon gesagt, ein Prozess, der das ganze Leben lang stattfindet. Das heißt, wir müssen uns ständig darüber im Klaren sein, wer wir sind und wo unsere Grenzen sind. Wir müssen also sozusagen einen Illusionsabbau über uns selbst betreiben: Das ist die Voraussetzung für ein "glückliches Leben". Küpper: Genau das steht ja unserer heutigen "Knopfdruck-Mentalität" doch ein wenig entgegen. Denn heutzutage sind wir Menschen i. d. R. doch so veranlagt, dass wir sagen: "Ich will dies und das und deswegen drücke ich quasi hier mal einen Knopf und dort einen. Und dann passt es!" Zimmer: Mit Knopfdruck passiert in der philosophischen Lebenskunst gar nichts, sondern nur mit geduldigem Arbeiten an der eigenen Selbsterkenntnis und der illusionsfreien Erkenntnis der eigenen Möglichkeiten. Küpper: Wie schafft man es, sich vor Frustrationen zu bewahren? Wie geht man überhaupt mit Frustrationen um? Zimmer: Indem man die kleinen positiven Schritte, die man vorangeht, entsprechend würdigt. Man kann ja sehen, dass man fortschreitet, dass man sich selbst zunehmend besser kennenlernt, dass man seine Umwelt besser einschätzen lernt, dass man erfolgreicher ist in der Art, sich in der Lebenswelt, in die man gesetzt wurde, zu bewegen. Wenn man das einschätzen kann, dann ist das auch ein Stück Glück. Küpper: Philosophische Lebenskunst, vermittelt von Dr. Robert Zimmer hier bei uns im alpha-Forum. Ich danke Ihnen ganz herzlich, dass Sie bei uns waren, und hoffe, dass der eine oder andere eine gute Anregung mitnimmt. Vielen Dank. © Bayerischer Rundfunk