Manuskript und Info Dienst www.br.de/religion Sendung: Autor: Redaktion: Datum: Evang. Morgenfeier Andreas Ebert Religion und Orientierung 30.10.2016 Evangelische Morgenfeier vom 30.10.2016 (23. Sonntag nach Trinitatis) Pfarrer Andreas Ebert, München Stolz darauf, lutherisch zu sein? Ich weiß nicht, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ob Sie evangelisch sind oder katholisch, freikirchlich oder ohne Konfession. Ich weiß nicht, ob Sie sich als gläubig bezeichnen würden oder nicht. Trotzdem erlaube ich mir, Ihnen eine Frage zu stellen: Sind Sie zufrieden damit, wie es gerade ist? Sind Sie vielleicht stolz darauf, evangelisch, katholisch oder konfessionslos zu sein? Eine der eindrucksvollsten religiösen Ansprachen, die ich je gehört habe, stammt von Christian Stückl, dem Chefregisseur der Oberammergauer Passionsspiele. Natürlich ist er katholisch. Und offensichtlich ganz glücklich damit. Er hat vor einigen Jahren in der evangelischen Lukaskirche in München eine Kanzelrede gehalten. Zu Beginn erzählte er von seiner evangelischen Oma. „Die wär sowas von stolz auf mich, wenn sie mich hier auf einer lutherischen Kanzel sehen würde!“ Ab und zu hatte sie den kleinen Christian mitgenommen in den evangelischen Gottesdienst. Und einmal, so erzählte er, ist er nach Hause gekommen und hat gesagt: „Papa, Gott sei Dank sind wir katholisch!“ Schon damals hat ihn „das katholische Brimborium“, wie er es nannte, dieser dramatische Gottesdienst für alle Sinne, viel mehr begeistert als evangelische Predigten. Die fand er öde und langweilig. Stolz darauf, evangelisch zu sein? Der Countdown läuft. Morgen ist Reformationsfest. Im nächsten Jahr feiern wir Lutheraner den 500. Jahrestag des Ereignisses, das die Reformation losgetreten hat. Ob Luther seine Thesen mit kraftvollen Hammerschlägen an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg angenagelt hat, wissen wir nicht. Verfasst jedenfalls © Dieses Manuskript ist nicht korrigiert und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung ist nur in Absprache mit der zuständigen Redaktion möglich! Bayerischer Rundfunk 2016 Seite 1 Manuskript und Info Dienst www.br-online.de hat er sie. Er wollte eine gelehrte Diskussion vom Zaun brechen, ob man sich durch den Kauf von Ablassbriefen von Sündenstrafen befreien könne. Der Marktschreier und Ablassprediger Johann Tetzel, ein zwielichtiger Dominikanermönch, hat genau das im ganzen Land ausposaunt. Die Kirche brauchte Geld, unter anderem für den Bau des Petersdoms in Rom. Das Bankhaus Fugger hatte Millionen vorgestreckt. Die Schulden mussten getilgt werden. Und die Furcht vor dem Fegefeuer ließ sich prächtig vermarkten. Die meisten Menschen damals, auch Luther, waren gefangen von Ängsten vor einem strafenden Gott, vor Fegefeuer und Hölle. Nur damals? Vermutlich malen wir Heutigen uns die Hölle nicht mehr so aus wie die Menschen des Mittelalters. Aber dass unsere eigene Weste nicht sauber ist und dass wir das Gefühl haben, wir müssen unsere Schattenseiten kaschieren - das hat sich nicht wirklich geändert. Ob wir an Gott glauben oder nicht. Als Priester und Beichtvater machte Luther die Erfahrung, dass Tetzels Ablasspredigt Wirkung zeigte. Wenn Luther im Beichtstuhl nach echter Reue forschte, bekam er häufig zu hören: „Das brauche ich nicht. Hier ist mein Ablassbrief!“ Das empörte ihn ungemein. Lange genug hatte er selbst mit der Frage gekämpft: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“. Und er war durch sein Bibelstudium zur Erkenntnis gelangt, dass man Gottes Gnade weder durch moralisches Verhalten noch durch andere Leistungen, und schon gar nicht durch Geld erwerben kann. Gnade ist Gnade. Unverdient. Pures Geschenk. Gott liebt uns nicht, weil wir gut sind oder gut handeln. Unser Dasein ist gerechtfertigt, weil Gott uns liebt. Bedingungslos. Für Luther eine ungeheure innere Befreiung! Heilung der Erinnerungen Anlässlich des Reformationsjubiläums ist eine ernsthafte Diskussion in Gang gekommen, auch im Dialog mit der katholischen Kirche. Morgen wird Papst Franziskus im schwedischen Lund gemeinsam mit dem lutherischen Weltbund einen Gottesdienst feiern. „Healing of memories“ heißt er. Es geht dabei vor allem um Heilung und Versöhnung. Denn die Reformation hatte auch verheerende Folgen: Der Papst war für Lutheraner der Antichrist, die Evangelische waren nach katholischer Auffassung zu Höllenstrafen verdammt; dann kam der 30jährige Krieg, der halb Deutschland ausrottete, danach die Teilung des Landes in katholische und evangelische Territorien, hartnäckige Vorurteile gegenüber den „anderen“ - © Dieses Manuskript ist nicht korrigiert und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung ist nur in Absprache mit der zuständigen Redaktion möglich! Bayerischer Rundfunk 2001 Seite 2 Manuskript und Info Dienst www.br-online.de viele von uns haben so etwas in ihrer Kindheit noch erlebt. Gott sei Dank ändert sich das. Wir begegnen einander mit mehr Respekt, ja, wir lernen voneinander und arbeiten in vielen Bereichen zusammen. Pünktlich zum Jubiläumsjahr sind auch zahlreiche neue Biographien von Martin Luther erschienen. Dadurch wird immer deutlicher, dass die vermeintliche Lichtgestalt Luther auch dunkle Seiten gehabt hat. Gewaltige! Im Bauernkrieg hat sich der Reformator hinter die Fürsten gestellt, die brutal gegen die Aufständischen vorgingen. Gegen Ende seines Lebens wütete er auf eine Weise gegen Juden, die 400 Jahre später eine Steilvorlage für die Nazis war. Behinderte sah er als Teufelsgeburten an; sein Hexenwahn war maßlos. In vielfacher Hinsicht ein abergläubischer mittelalterlicher Mensch. All das steht auf den ersten Blick in seltsamer Spannung zu seiner Lehre vom bedingungslos gnädigen Gott. Gibt es für Evangelische einen Grund zum Jubeln? War Luther trotz seiner Schattenseiten ein Heiliger? Oder ist es gar möglich, stolz zu sein auf den eigenen lutherischen Glauben? Ich weiß nicht, wie Sie zu Luther stehen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Der katholische Publizist Willi Winkler jedenfalls hat einen überaus überraschenden Vorschlag gemacht. Er hat gesagt, der Papst solle Martin Luther heilig sprechen. Er begründet das so: Wenn man Gewissenserforschung betreibt, muss man doch sagen: Ohne einen Widerständler, ohne einen Revoluzzer wie Luther, hätte die katholische Kirche gar nicht überlebt, die wäre einfach in den Abgrund gesunken in ihrer Korruptheit. Aber sie musste sich erneuern... Da muss man doch irgendwann mal seine Dankbarkeit zeigen. Und jetzt wäre eine gute Gelegenheit. Freilich gehören zu einem richtigen katholischen Heiligsprechungsprozess auch nachweisliche Wunder. Dazu sagt Willi Winkler: Es ist das Wunder, dass er sich durchsetzen konnte gegen alle Mächte dieser Welt und gegen den Teufel, mit dem er auf eine sehr ungesunde Art verschwistert, verbrüdert, verbandelt war. Ein Rosenwunder kann ich nicht bieten oder irgend so einen Blödsinn oder ein Blutwunder oder irgendwas Wandlungsmäßiges. Aber dieser Mann ist ein Wunder für sich.1 1 Willi Winkler: Der Papst sollte Luther heiligsprechen; Deutschlandfunk am 26.08.2016. © Dieses Manuskript ist nicht korrigiert und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung ist nur in Absprache mit der zuständigen Redaktion möglich! Bayerischer Rundfunk 2001 Seite 3 Manuskript und Info Dienst www.br-online.de Hätte Luther sich selbst für einen Heiligen gehalten? Sicherlich nicht, wenn man unter „heilig“ ein tadelloses und vollkommenes Leben versteht. Wie kaum ein anderer war Luther mit den Abgründen des Menschseins vertraut, auch mit den eigenen. Er hat sich nichts vorgemacht und war mehr als skeptisch im Blick auf moralischen Perfektionismus. Er glaubte nicht daran, dass der Mensch seinen Hang zum Bösen abschütteln und ein- für allemal überwinden kann. Wir Menschen sind eine Art Gemischtwarenladen aus liebevollen Impulsen und einem Hang zu Neid, Gier und mancherlei Bosheit. Zu Glanzleistungen fähig, zu Güte, Fürsorge und Liebe. Jedenfalls in unseren besten Momenten. Und doch bleiben wir zerrissen und abgründig. Ständig bin ich versucht, um mich selbst zu kreisen, den eigenen Vorteil zu suchen, meine Mitmenschen herabzusetzen oder ihnen gar zu schaden. Oft bin ich am Ende doch mir selbst der Nächste. Und wenn etwas schiefgeht, suche ich häufig die Schuld bei den anderen. Für Luther und seinen Lehrer Paulus ein unauflösliches Dilemma. Paulus drückt es im 7. Kapitel des Römerbriefs so aus: Ich weiß häufig nicht, was ich tue. Denn ich mache nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich... Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich... Wird mich denn niemand aus diesem elenden Zustand befreien? Doch! Und dafür danke ich Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Die tätowierte Pfarrerin In den USA macht zur Zeit eine evangelisch-lutherische Pfarrerin Furore. Nadia Bolz-Weber heißt sie. Ihren Beruf sieht man ihr wahrlich nicht an. Ihr Körper ist mit Tattoos übersät, viele davon mit Bezug zu den Evangelien. Sie ist so eine Art wandelnde Bilderbibel. Und sie hat ein mehr als bewegtes Vorleben. Für mich sind Tattoos etwas, was man aus dem Inneren nach Außen bringt. Ich habe mit 17 angefangen mich tätowieren zu lassen, was für die Zeit schon sehr verrückt war. Ich wollte der Gesellschaft zeigen, dass ich kein Teil von ihr bin. Für mich hat das Tätowieren aber auch einen geistlichen Hintergrund. Als Kind bin ich in eine sehr konservative und altmodische Kirche gegangen und wollte dann als Jugendlicher nichts mehr damit zu tun haben. Ich hatte sehr lange ein Drogen- und Alkohol- © Dieses Manuskript ist nicht korrigiert und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung ist nur in Absprache mit der zuständigen Redaktion möglich! Bayerischer Rundfunk 2001 Seite 4 Manuskript und Info Dienst www.br-online.de Problem und einen ziemlichen Hals auf Gott – bis Gott mir sagte, ich könne so nicht weiterleben.2 Ein Pfarrer zeigt ihr einen neuen Zugang zu Gott. Und Luthers Lehre von Gottes Gnade spielt dabei eine entscheidende Rolle. Dieser Pastor war zeitweise von der offiziellen lutherischen Kirche geschasst worden, weil er sich zu seiner Homosexualität bekannt hat. Für Nadia ist er genau der richtige Seelenführer zur Gnade Gottes. Sie beginnt eine Drogentherapie und studiert evangelische Theologie. Als sie gegen Ende ihres Studiums ein praktisches Projekt durchführen soll, beschließt sie, in Denver im Bundesstaat Colorado eine alternative Gemeinde zu gründen. Sie nennt diese Gemeinde „House for all Sinners and Saints“ - Haus für alle Sünder und Heiligen. Bei Luther hatte sie gelernt, dass wir alle zeitlebens Sünder und Gerechte sind. Gleichzeitig. Wieso spiegelt sich das so selten im Miteinander in der Kirche wieder, fragt sich Bolz-Weber. Sollte man das nicht anders machen? Ihre Gemeinde macht Ernst mit dieser Willkommenskultur für alle, für Fromme und Zweifler, Bürgerliche und Außenseiter, Gläubige und Ungläubige. Sie nimmt Luthers Erkenntnis ernst, dass wir allesamt allein von Gottes Gnade leben. Adrett gekleidete Kirchgänger und Menschen, denen man ansieht, dass sie im Schatten der Gesellschaft leben, empfangen gemeinsam das Abendmahl. Sünder sind willkommen. Und Heilige auch. Denn wir alle sind beides zugleich. Jesus hat mit allen Sündern zusammen gegessen und sie geliebt. Wir sind alle Sünder. In unseren Gemeinde leben wir mit Menschen zusammen, die uns manchmal aufregen, verletzen und ärgern. Sünde ist für mich nicht, eine Zigarette zu rauchen. Sünde ist für mich, dass wir alle wundervolle, gebrochene Menschen sind und uns Gott liebt wie wir sind, obwohl niemand von uns alles richtig macht. Gott kennt uns und vergibt. Viele Leute denken, in eine Kirche zu gehen bedeute, unsere Persönlichkeit, unsere Vergangenheit und Kultur zu überprüfen und dann nur kompatible Teile von sich preiszugeben. Das ist ein großes Missverständnis. Die Menschen sollen so kommen können wie sie sind. 2 Nadia Bolz-Weber: Interview vom 1. 10. 2009 aus www.jesus.de. © Dieses Manuskript ist nicht korrigiert und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung ist nur in Absprache mit der zuständigen Redaktion möglich! Bayerischer Rundfunk 2001 Seite 5 Manuskript und Info Dienst www.br-online.de Sie gibt zu, dass am Anfang praktisch nur ziemlich auffällige Leute zu den Veranstaltungen der kleinen Gemeinde gekommen sind. Sie selbst gehörte ja irgendwie auch zu dieser Gruppe. Als dann die ersten Bürger im Sonntagsstaat auftauchten, weil sie von der ungewöhnlichen Kirche gehört hatten und neugierig waren, da musste sie selbst über ihren Schatten springen: Ja, die gehören auch dazu. Wir alle sind Kinder Gottes. Und das ist in Denver ist keine graue Theorie. Es ist die Grundlage des Gemeindelebens. Das fasziniert mich. Ich bin ja auch ein gestandener lutherischer Pfarrer, der Gottes bedingungslose Gnade predigt. Aber immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass Theorie und Praxis in meiner Kirche weit auseinander klaffen. Wir predigen die Liebe Gottes zu den Sündern. Dennoch wahren wir auch in kirchlichen Kreisen häufig den Schein des Anstands. Wir zeigen einander unsere Schokoladenseite. Aber was machen wir mit unseren Wunden, Sünden und Schatten? Und was, wenn sich echte und offenkundige Sünder in unsere christlichen Kreise verirren würden? Nadia Bolz-Weber hat vieles nicht in der Kirche gelernt, sondern bei den Anonymen Alkoholikern. Das ist eine Selbsthilfegruppe von Menschen, die weder sich noch anderen etwas vormachen. Bei ihren Treffen sprechen sie freimütig über ihre Siege und über ihre Niederlagen im Kampf mit der Sucht. Eine Gemeinschaft von Verwundeten, von Gestrandeten, von Sündern, von Schwachen. Genau das ist es, was Kirche sein könnte. Gerade eine Kirche, die sich lutherisch nennt. Der lutherische Schatz Ich gebe zu, liebe Zuhörerinnen, dass mir der ganze Aufwand um das Reformationsjubiläum bis vor kurzem ziemlich auf die Nerven gegangen ist. Zu groß waren für mich die Schatten des Reformators, zu kraftlos die Kirche, die seinen Namen trägt. Trotzdem bin ich zeitlebens lutherisch geblieben. Obwohl ich viel von anderen Christen und sogar von Anhängern anderer Religionen gelernt habe. Seit ich Nadia Bolz-Weber getroffen habe, hat sich etwas verändert. Luthers Name hat für mich einen neuen Glanz und Klang bekommen. Auf Facebook habe ich nach ihrem Auftritt in München den Post eines Freundes gelesen: „Proud to be Lutheran!“ Stolz, lutherisch zu sein! Das hat mir gefallen. Trotz Luther - und wegen ihm. Nochmals die tätowierte Pfarrerin: © Dieses Manuskript ist nicht korrigiert und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung ist nur in Absprache mit der zuständigen Redaktion möglich! Bayerischer Rundfunk 2001 Seite 6 Manuskript und Info Dienst www.br-online.de Menschliche Sünde ist und bleibt die größte Herausforderung für die Kirche. Dieselbe Herausforderung, die Christen schon immer hatten. Wir wollen unsere eigenen Götter sein. Wir wollen unsere Feinde nicht lieben. Wir wollen nicht vergeben oder uns vergeben lassen. Wir wollen im Recht sein. Manches ändert sich nie. Die gute Nachricht ist die schlechteste gute Nachricht, die ich je gehört habe. Denn sie bedeutet Barmherzigkeit, Gnade und Vergebung für mich UND für meine Feinde. Und doch kann nur sie mich retten... In meinem Leben kommt Spiritualität im Scheitern zum Vorschein und nicht, wenn ich nach ihr strebe. Das heißt, ich werde verwandelt, wenn meine Pläne und Maßnahmen allesamt fehl gehen – wenn mir vergeben wird, wenn mir eine Art von Liebe zuteil wird, derer ich mich nie als würdig genug erweisen könnte. Nadia Bolz-Weber hat mich aufgerüttelt und an mein lutherisches Erbe erinnert, weil sie so ungeschminkt, so provozierend und so liebevoll sagt und lebt, was ich eigentlich schon immer wusste. Dass ich ein geliebter Sünder bin und bleibe. Alle Gestalten in der Bibel, durch die Gott gewirkt hat, haben kein klassisch heiligmäßiges Leben geführt. Sie waren zwiespältig und gebrochen wie wir: Jakob ein Betrüger, Mose ein Mörder, David ein Ehebrecher, Petrus ein Feigling, Maria Magdalena psychisch krank oder von Dämonen besessen, die Frau, die Jesus die Füße gesalbt hat: eine stadtbekannte „Sünderin“. Paulus und Luther, die großen Herolde der Gnade Gottes, wussten aus eigener Erfahrung, wovon sie reden: Paulus, einst ein hasserfüllter und mordlüsterner Christenverfolger mit gesundheitlichem Handicap. Kein Strahlemann. Und Luther ein aggressiver Zeitgenosse. Ungerecht und verletzend in seinen Urteilen. Das waren sie beide - auch! Und trotzdem oder vielleicht deshalb Menschen, die wussten, dass nur Gott sie retten kann und gerettet hat. „Wir sind Bettler, das ist wahr“ soll Luther auf dem Sterbebett gesagt haben. Nur durch Menschen, die sich keine Illusionen machen über sich selbst, kann Gottes Geist wirklich wirken. Paulus hat ein ungewöhnliches Verständnis von Heiligkeit. Er nennt jedes Mitglied der christlichen Gemeinde „heilig“. Nicht aufgrund eines heiligmäßigen Lebens, was immer das ist, sondern aufgrund der Taufe, durch die wir in eine heile und deshalb heilige Beziehung zu Gott aufgenommen worden sind. Bei der Taufe wird uns auf den Kopf zugesagt, dass wir © Dieses Manuskript ist nicht korrigiert und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung ist nur in Absprache mit der zuständigen Redaktion möglich! Bayerischer Rundfunk 2001 Seite 7 Manuskript und Info Dienst www.br-online.de geliebte Söhne und Töchter Gottes sind. Wenn wir als Säuglinge getauft werden, dann zu einem Zeitpunkt, wo wir selbst noch gar nichts richtig oder falsch gemacht haben. Gottes Gnadenvorschuss. Gott glaubt mehr an uns als wir an ihn. Gott macht uns zu Heiligen, obwohl wir zeitlebens unvollkommen bleiben, eine Gemischtwarenladen halt... Ich kenne den Zwiespalt zwischen Ideal und Realität aus meinem eigenen Leben. Vermutlich kennen Sie ihn auch, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Paulus beschreibt ihn und Luther verkörpert ihn. Eine tätowierte Pfarrerin aus Amerika hat mir geholfen, trotzdem oder gerade deshalb gerne lutherisch zu sein. Stolz? Na ja, das wäre übertrieben. Aber für mich ist es richtig und gut so. In der Morgenfeier gespielte Musik: „Opus 29, Nr.1“; J. Brahms; Norddeutscher Figuralchor aus „Zwei Motetten für fünfstimmigen Chor“. „Jesu bleibet meine Freude“; J.S. Bach; Jeanette Köhn& Swedish Radio Choir; aus der CD „New Eyes on Baroque“; ACT Music LC 07644; ACT 9547-2. “Amazing Grace”; Judy Collins. © Dieses Manuskript ist nicht korrigiert und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung ist nur in Absprache mit der zuständigen Redaktion möglich! Bayerischer Rundfunk 2001 Seite 8