Eine Weichenstellung der russischen Revolution. Lenins

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Eine Weichenstellung der russischen Revolution.
Lenins Aprilthesen
Als MarxistInnen lehnen wir Auffassungen ab, welche die Geschichte als eine Abfolge der Taten von „grossen
Männern" betrachtet. Dennoch können wir in gewissen kritischen Perioden der Weltgeschichte durchaus
beobachten, dass einzelne Individuen eine entscheidende Rolle spielen können. Gerade Lenins Rückkehr aus
dem Exil im April 1917 bedeutete eine entscheidende Wende der Ereignisse.
Die treibende Kraft hinter der Russischen Revolution war das städtische Proletariat, welches sich im Februar
1917 gegen den Zarismus erhob; die organisatorische Form, die sein Kampf annahm, waren die Sowjets der
ArbeiterInnen- und Soldatendeputierten. Nachdem sich diese in der Februarrevolution spontan als
Basisorganisation der revolutionären Massen gebildet hatten, breiteten sie sich in allen zentralen Städten und
auch einigen ländlichen Regionen in Windeseile aus. Zwar übergab der Zar seine Macht formal einer
bürgerlichen provisorischen Regierung unter Alexander Kerenski, doch die reale Macht lag de facto in den
Händen der ArbeiterInnen und Soldaten, und ihren Organisationen, den Sowjets. Allerdings wurden diese rasch
vereinnahmt durch die reformistischen Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, welche sich
weigerten, die Macht zu übernehmen. Das Allrussische zentrale Sowjet- Exekutivkomitee. das sich unter dem
Menschewiken Tschcheidse konstituierte, gab die Macht vorläufig der russischen Bourgeoisie ab, auch wenn
diese überhaupt keine Rolle im Sturz des Zaren gespielt hatte.
Die Krise der Bolschewiki
Allerdings war auch der Zustand der bolschewistischen Partei desolat; nach den Februartagen stand die
Parteileitung beinahe ohne eigenständiges Programm da. Die bolschewistischen Parteiführer ver¬folgten in der
unmittelbar auf die Februarrevolution folgende Periode eine Annäherung an die Menschewiki - einige unter
ihnen befürworteten sogar offen eine Wiedervereinigung. Die Bolschewiki und die Menschewiki hatten eine
gemeinsame Vergangenheit; beide Parteien entstammten der Sozialdemokratischen Russischen
Arbeiterinnenpartei (SDAPR) und spalteten sich 1913 in zwei konkurrierende Sozialdemokratische Parteien. Die
politische Differenz bestand in der Frage, ob in Russland (einem bis 1917 mehrheitlich feudalen Land) zunächst
der Kampf für eine demokratische Republik im Vordergrund stünde oder bereits die Machtergreifung der
arbeitenden Klasse angestrebt werden müsse. Die erste Position vertraten die Menschewiki, letztere die
Bolschewiki. Die Menschewiki gingen davon aus, dass die demokratischen Reformen im Bund mit der
russischen Bourgeoisie erkämpft würden, während Lenin und Trotzki bereits 1905 betonten, dass die
kommende Revolution gegen den Zarismus nicht von der Bourgeoisie, sondern von den ArbeiterInnen und den
armen Bauern erkämpft würde. Daraus ergab sich Lenins Losung von der „demokratischen Diktatur der Arbeiter
und Bauern". Diese „demokratische Diktatur" könne zwar aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit
Russlands noch nicht direkt zum Aufbau des Sozialismus übergehen, sie würde aber eine proletarische
Revolution im Westen befeuern, durch deren Hilfe sie schliesslich ins sozialistische Stadium übergehen könne.
Die bolschewistische Führung in Russland legte diese „demokratische Diktatur" nun so aus, dass die Macht in
den Händen der bürgerlichen Regierung belassen werde, und die Aufgabe der Sowjets und der
ArbeiterInnenparteien darin bestünde, Druck von links auf die provisorische Regierung auszuüben.
Aprilthesen oder die Umbewaffnung der Partei
Diese Politik wurde von Lenin in Briefen aus dem Schweizer Exil scharf kritisiert; in Telegrammen wies er die
Parteileitung an, jegliche Annäherung an Menschewiki und Sozialrevolutionäre abzubrechen und keinerlei
Vertrauen in die bürgerliche provisorische Regierung zu hegen, sondern stattdessen in den Sowjets mit einem
eigenständigen sozialistischen Programm eine Mehrheit zu erkämpfen. Nachdem Lenin im April im berühmten
deutschen Waggon über Finnland nach Russland gereist war, richtete sich dieser sofort mit schonungsloser
Kritik an die bolschewistische Führung: Am 4. April, ein Tag nach seiner Ankunft in Petrograd, hielt er auf der
Parteikonferenz der Bolschewiki ein Referat auf der Grundlage von zehn Thesen, welche später als die
„Aprilthesen" in die Geschichte eingehen sollten. Die Kernpunkte der zehn Thesen waren das sofortige Ende
des Krieges mit Verzicht auf alle russischen Annexionen, die Enteignung des adeligen Grundbesitzes und
dessen Verteilung unter den armen Bauern sowie die Übergabe der politischen Macht an die Sowjets der
Arbeiterlnnen- und Soldatendeputierten. Aus diesen Forderungen ergab sich im Laufe des Jahres 1917 die
einschlägige bolschewistische Losung: „Brot, Land und Frieden".
Die Thesen Lenins wurden zunächst unter den Liberalen, den Menschewiki und sogar Teilen der
bolschewistischen Führung als utopisch und realitätsfern belächelt. Tatsächlich war es aber eben gerade das
Programm, welches den ArbeiterInnen und BäuerInnen überhaupt einen Ausweg aus ihrer miserablen Lage
bieten konnte. Dies wurde gerade dadurch bestätigt, dass Lenins Thesen massiven Rückhalt in der
bolschewistischen Basis genossen. So hatte etwa die bolschewistische Parteizelle in Wyborg, einem
Industriearbeiterlnnen-Bezirk in Petrograd, bereits im März eine Resolution verabschiedet, welche die
Machtübernahme der Sowjets und die Absetzung der provisorischen Regierung forderte. Die Wyborger
Bezirksorganisation ging gar soweit, der Parteiführung mit der Absetzung zu drohen, würde sie nicht ihre
reformistische Politik revidieren. Es war also die proletarische Basis der Partei, welche den Kurswechsel der
bolschewistischen Partei an ihrer April-Konferenz möglich machte.
Die Eroberung der Sowjetmehrheit
Die Thesen Lenins stellten quasi eine politische „Umbewaffuung" der Partei dar, nach der überhaupt erst die
Möglichkeit gegeben war, dass diese Partei im Laufe des Jahres 1917 die Mehrheit der russischen
Arbeiterinnen, Soldaten und BäuerInnen hinter sich versammeln konnte. Doch diese „Umbewaffnung" war nicht
einfach ein reines Produkt der Genialität Lenins, sondern Folge einer korrekten Analyse der Verhältnisse,
welche sich wiederum in der Partei nur durchsetzen konnte, weil sie auf massive Zustimmung der am stärksten
radikalisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse und Soldaten stiess, welche sich in der bolschewistischen
Partei organisierten. Die programmatische Umorientierung ermöglichte es der Partei in der Folge, Schritt für
Schritt ihren Einfluss in den Sowjets auszubauen; Im März verfügten die Bolschewiki in gerademal 27 von 242
existierenden Sowjets die Mehrheit, im Petrograder Sowjet waren nur ein knapper Zehntel der Delegierten
Bolschewiki, und auch am ersten allrussischen Sowjetkongress vom Juni 1917 stellten sie noch eine deutliche
Minderheit.
Zwischen Februar und Oktober wuchs die Partei nun aber blitzartig von 10'000 auf 500'000 Mitglieder und
gewann dementsprechend an Einfluss in den Sowjets. Am zweiten allrussischen Sowjetkongress vom 25.
Oktober stellten die Bolschewiki mit 390 von 649 Delegierten die Mehrheit, und es war somit auch dieser
Sowjetkongress, welcher die Absetzung der provisorischen Regierung und die Errichtung der Sowjetrepublik
beschloss Der Einflussgewinn der Bolschewiki zwischen Februar und Oktober kann nur dadurch erklärt werden,
dass die Partei stets in klarer Opposition zur bürgerlichen provisorischen Regierung stand und ihre Agitation
darauf ausrichtete, dass die Forderungen „Brot, Land und Frieden" nur durch die Machteroberung der Sowjets
(„'Alle Macht den Sowjets!") zu erreichen seien. Weder die Landreform, die Einführung eines Achtstundentages
oder die Friedensschliessung konnte und wollte die provisorische Regierung umsetzen. Dies änderte sich auch
nicht, als Anfang Mai drei Minister der Menschewiki und Sozialrevolutionäre in die provisorische Regierung
aufgenommen wurden; im Gegenteil: In den Sowjets diskreditierten sich die beiden „linken" Parteien, die
ursprünglich die Mehrheit der Sowjets hinter sich hatten, zunehmend durch ihre Einbindung in die bürgerliche
Regierung vor den ArbeiterInnen und Soldaten. Durch ihr Beharren auf der Notwendigkeit der Sowjetmacht
konnten die Bolschewiki in ihrer Rolle als linker Sowjet- Opposition zunehmend an Einfluss gewinnen, gerade
weil die ArbeiterInnen und Bauern in Anbetracht der Ereignisse nach und nach jegliche Illusionen in die
bürgerliche Regierung und mit ihr auch das Vertrauen in Sozialrevolutionäre und Menschewiki verloren. Ohne
die theoretische und taktische Klarheit, zu welchen die Aprilthesen erheblich beitrugen, hätten die Bolschewiki
diese Rolle jedoch niemals spielen können.
Erklärt: Die Sowjets
Die Sowjets (Russisch für „Räte") waren Organisationskörper, welche ihren Ursprung in der 1905er- Revolution
und den damit zusammenhängenden Massenstreiks hatten. Die streikenden ArbeiterInnen organisierten sich in
Fabrikkomitees, welche wiederum Delegierte in die Sowjets wählten. Ihre Aufgaben waren die Organisation von
Streiks, Demonstrationen und der Selbstverteidigung gegen die zaristische Polizei.
In der Konterrevolution von 1907 wieder zerschlagen, wurden nach dem gleichen Prinzip in der
Februarrevolution 1917 Sowjets erneut ausgerufen. Der erste solche Sowjet entstand am 27. Februar im
Petrograder Industriebezirk Wyborg, dicht gefolgt vom Bezirk Petergovskij, der unter anderem die gigantischen
Putilow-Werke beheimatete, und dem Bezirk Porochovskij. Am 15. März existierten in Petrograd insgesamt 11
lokale Sowjets, welche Vertreterinnen aus Fabrik- und Nachbarschaftskomitees umfassten. Neben
gewerkschaftlichen Tätigkeiten übernahmen die lokalen Sowjets vor allem die Kontrolle über die Beamten und
die lokalen Bezirksparlamente, wodurch sie also bereits seit Februar faktisch politische Macht auf
Gemeindeebene ausübten.
Die zunächst sehr chaotische Organisation wurde systematisiert durch die Schaffung eines Delegiertensystems,
wonach jeder Bezirks- Sowjet Delegierte an eine übergeordnete Versammlung entsandte, mit der höchsten
Einheit des Petrograder Sowjets. Zwischen den Versammlungen der einzelnen Sowjets tagten von diesen
gewählte Exekutivkomitees, von denen das höchste Organ das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee darstellte.
Die Bolschewiki schafften es im Oktober 1917 sowohl im zweiten Allrussischen Sowjetkongress wie im von
diesem gewählten Allrusischen Sowjet-Exekutivkomitee eine Mehrheit zu erringen. Dies war die eigentliche
Basis der bolschewistischen Machtübernahme.
Lenin beschrieb in seinem 1917 verfassten Klassiker „Staat und Revolution" die Bedeutung der Sowjets als
Träger einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung unter der Führung der Arbeiterlnnenklasse. Dabei zog er
Parallelen zu der Pariser Kommune von 1871, welche als erster Arbeiterinnenstaat der Geschichte betrachtet
werden kann. Die bolschewistische Vorstellung der Sowjets richtete sich nach den Prinzipien, nach denen sich
die Pariser Kommune organisiert hatte: Die jederzeitige Wähl- und AbwähIbarkeit aller Beamten und die damit
verbundene ständige Rechenschaftspflicht vor der Basis, sowie die Entlöhnung aller Amtsträger zu nicht mehr
als einem durchschnittlichen Facharbeiterinnenlohn.
Julian Scherler, JUSO Stadt Bern.
Der Funke, April 2017.
Personen > Lenin W.I. Aprilthesen. Der Funke, 2017-04-01
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