MIT HOME+ IN EINE ZUKUNFT AUF BASIS ERNEUERBARER ENERGIEN Mit home+ in eine Zukunft auf Basis Erneuerbarer Energien JAN CREMERS, MARKUS BINDER, ANTOINE DALIBARD Bei der Umstellung der Energieversorgung auf ein zukunftsfähiges Gesamtkonzept auf Basis einer 100%-Versorgung mit erneuerbaren Energien kommt dem Bauwesen ein besonderer Stellenwert zu: Ein Drittel des weltweiten Gesamtenergieverbrauchs resultiert aus der Beheizung, Kühlung, Lüftung und Beleuchtung von Gebäuden. Ein interdisziplinäres Team der Hochschule für Technik Stuttgart (HFT) hat nun im Rahmen des internationalen Hochschulwettbewerbs „Solar Decathlon Europe“ gezeigt, wie der Wohnungsbau der Zukunft dieser Verantwortung nachkommen kann: Mit einem prototypischen Gebäude, das durch geschickte Integration von Gebäudehülle, Haustechnik und Energiespeicherung konsequent regenerative Energien nutzt – und zugleich hohe Gestaltungsund Wohnqualität bietet. Der Solar Decathlon Europe Wie könnte der Wohnungsbau der Zukunft aussehen, der das solare Bauen mit hohen gestalterischen Ansprüchen an die Architektur verbindet? Dieser Fragestellung widmete sich der nach amerikanischem Vorbild vom spanischen Wohnungsbauministerium initiierte internationale Wettbewerb „Solar Decathlon Europe 2010“. Zwanzig Hochschulteams aus aller Welt stellten sich dabei der Aufgabe, ein voll funktionsfähiges Haus mit 74 m² Grundfläche zu konzipieren, das in der Jahresbilanz mehr Energie regenerativ bereitstellt als es benötigt. Da nachhaltiges Bauen wesentlich mehr umfasst als eine Beschränkung des Energiebedarfs, war der Wettbewerb als veritabler „Zehnkampf“ inhaltlich breit angelegt: Neben energetischen und raumklimatischen Aspekten wurden auch Disziplinen wie Funktion, Gestaltung, Marktfähigkeit, und Qualität der Umsetzung bewertet. Einen weiteren Schwerpunkt stellte die Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation der Ideen dar, da der Wettbewerbs darauf abzielt, bei Studenten und in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für die Möglichkeiten des energieeffizienten Bauens und der Nutzung regenerativer Energien zu steigern. Darüber hinaus sollte die Markteinführung innovativer solarer Energietechnologien gefördert und der Nachweis erbracht werden, dass energieeffizientes Bauen mit hohem Wohnkomfort und architektonischer Qualität verwirklicht werden kann. Die Hochschule für Technik Stuttgart wurde Ende 2008 in einer Qualifikationsphase als einer von 20 Teilnehmern aus mehr als hundert internationalen Bewerbern ausgewählt. Im Juni 2010 präsentierten sich die Häuser aller Teams eine Woche lang als „Solar Village“ im Zentrum von Madrid ca. 190.000 interessierten Besuchern. D a s Te a m d e r H F T S t u t t g a r t u n d der Beitrag home+ Für den Wettbewerb wurde die umfassende Kompetenz der Hochschule gebündelt, indem neben allen einschlägigen Studiengängen (Architektur, Bauphysik, Innenarchitektur, Konstruktiver Ingenieurbau, Infrastrukturmanagement und Sustainable Energy Competence) auch das Zentrum für angewandte Forschung nachhaltige Energietechnik (zafh.net) eingebunden wurde. SOLARZEITALTER 2 2011 71 MIT HOME+ IN EINE ZUKUNFT AUF BASIS ERNEUERBARER ENERGIEN Abbildung 1: home+ Außenansicht ( Foto: HFT Stuttgart/Jan Cremers) Ausgangspunkt des Entwurfs home+ (Abbildung 1) ist ein kompaktes und sehr gut gedämmtes Volumen, das in einzelne Module aufgeteilt wird. Sie werden mit etwas Abstand zueinander angeordnet. Die entstehenden Fugen dienen der Belichtung und Belüftung. Eine besondere Rolle spielt dabei der gestalterisch und räumlich prägende „Energieturm“, der im Zusammenspiel von Wind, Verdunstungskälte und thermischem Auftrieb die Belüftung und Kühlung der Zuluft des Gebäudes übernimmt, ohne dabei Strom für den Lufttransport oder die Kühlung zu benötigen. Dabei bedient er sich der Grundprinzipien traditioneller Vorbilder, wie der Windtürme im arabischen Raum und der in Spanien weitverbreiteten Patios. Der über das Dach hinausragende Kopf des Energieturms lenkt die anströmende Luft ins Gebäude hinein, wo sie an befeuchteten Textilbahnen entlang strömt. Dabei kühlt sich die Luft durch den Verdunstungseffekt ab. Ist die Außenluft zu heiß oder zu feucht, als dass der Energieturm noch für eine ausreichende Kühlung sorgen könnte, versorgt eine Lüftungsanlage das Gebäude mit frischer Luft. Auch sie macht sich das Prinzip der Verdunstungskühlung zunutze: Die aus dem Raum abgeführte Luft wird befeuchtet und so gekühlt. In einem Wärmetauscher kann sie dann der frischen Außenluft Wärme entziehen, bevor diese in den Raum gelangt. Abbildung 2: Montage der PVT-Kollektoren für die Erzeugung von Strom und Kälte auf dem Dach von home+. Auf der Unterseite der Elemente sind die wasserführenden Rohschlangen zu erkennen ( Foto: HFT Stuttgart/Jan Cremers). Im Innenraum erhöhen Phasenwechselmaterialien (PCM) die thermisch wirksame Masse der aus Holz gefertigten Module. Um den niedrigen Restenergiebedarf zu decken, wird die gesamte Gebäudehülle solar aktiviert: Das Dach und die Ost- und Westfassaden werden mit einer zweiten Haut aus neuartigen Photovoltaik-Modulen zur Stromerzeugung versehen. Damit wird das Gebäude zum "Plusenergiehaus". Die Energiehülle erzeugt tagsüber Strom und stellt zusätzlich nachts Kälte bereit. Dazu wird Wasser aus einem Rückkühlspeicher durch Rohre hinter den PV-Modulen auf dem Dach gepumpt. Durch die Abstrahlung gegen den Nachthimmel kühlen die PV-Module aus und entziehen dem dahinter vorbeifließenden Wasser Wärme. Das so gekühlte Wasser wird zur Regene- 72 SOLARZEITALTER 2 2011 MIT HOME+ IN EINE ZUKUNFT AUF BASIS ERNEUERBARER ENERGIEN rierung der PCM-Decke im Gebäudeinneren, zur direkten Kühlung des Fußbodens und zur Rückkühlung einer kleinen, neu entwickelten reversiblen Wärmepumpe genutzt, die zur Abdeckung von Spitzenlasten vorgehalten wird. Diese neue Kombination aus PV-Modul und "Kälte-Kollektor" wurde an der HFT Stuttgart selbst entwickelt (Abbildung 2). Kühllasten effektiv reduzieren – und den Restbedarf intelligent decken Die Regeln des Wettbewerbs verlangten es, die Raumtemperatur ständig innerhalb eines schmalen Bandes von 23–25°C zu halten – angesichts des heißen spanischen Sommers eine große Herausforderung. Zur Begrenzung des Wärmeeintrags wurden alle opaken Bauteile hoch gedämmt ausgeführt, mit Wärmedurchgangskoeffizienten zwischen 0,10 und 0,13 W/(m² K). Ein großer Dachüberstand verschattet die großzügige Südverglasung, die wie alle Fenster aus Dreischeiben-Verglasung mit Kryptonfüllung besteht. Auch die über den Dachverglasungen angeordneten Vakuumröhrenkollektoren dienen neben ihrer primären Aufga- be, der Erzeugung von warmem Wasser, zusätzlich auch der Verschattung. Durch ihre geneigten Absorberflächen funktionieren sie wie Sheddächer im Kleinformat und lassen nur das Nordlicht ins Gebäude. Neben diesen Maßnahmen kennt das energiesparende Bauen noch eine weitere, einfache Methode, Temperaturspitzen im Raum zu vermeiden: die Verwendung von schweren Bauteilen, die tagsüber Wärme aufnehmen und diese zeitverzögert nachts wieder abgeben. Bei einem Haus, das über ca. 1800 km quer durch Europa transportiert werden muss, kommt eine massive Bauweise aus nachvollziehbaren Gründen kaum in Frage. Bauteile mit integrierten PCM bieten aber die Möglichkeit, Leichtbauten mit zusätzlicher thermischer Trägheit zu versehen. Diese Materialien (in diesem Fall spezielle Salzhydrate) nehmen im Temperaturbereich ihres Schmelzpunktes (hier ca. 22 °C) verhältnismäßig große Mengen an Wärme aus dem Raum auf. Sinkt die Raumtemperatur unter die Erstarrungstemperatur oder werden die PCM mit Wasser gekühlt, gehen sie wieder in den festen Aggregatszustand über und geben Wärme ab. Die Wärme, die tagsüber in die Decke eingespeichert wird, soll ihr nachts mit möglichst geringem Pri- Abbildung 3: Das Systemschema zeigt die vielfältigen Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen Speichertank und PVT-Kollektoren, Wärmepumpe, Fußbodenheizung-/Kühlung, PCM-Decke und Lüftungsgerät SOLARZEITALTER 2 2011 73 MIT HOME+ IN EINE ZUKUNFT AUF BASIS ERNEUERBARER ENERGIEN märenergieaufwand wieder entzogen werden. Das dafür erforderliche Kühlwasser wird daher nicht auf konventionelle Weise, also mit einer Kompressionskälteanlage, erzeugt, sondern über ein regeneratives Verfahren, nämlich durch Wärmeabstrahlung an den kalten Nachthimmel. Das zugrunde liegende Prinzip lässt sich im Alltag beobachten, wenn sich z.B. die Windschutzscheibe eines Autos nachts unter die Umgebungstemperatur abkühlt und deshalb betaut oder mit einer Frostschicht überzogen wird. Der Grund dafür ist, dass ein Wärmeaustausch mit dem Himmel stattfindet, der deutlich kälter ist als unsere Umgebung auf der Erde. Auch in Sommernächten kann seine Temperatur auf deutlich unter 0 °C absinken; insbesondere bei klarem Himmel. Für den Wettbewerbsstandort Madrid mit regelmäßigen klaren Nächten im Sommer ist das Verfahren daher ideal geeignet. Je nach Wassertemperatur, Außentemperatur und Bewölkungsgrad sind dabei Kühlleistungen von ca. 50 – 120 W/m² Dachfläche realistisch. Um diesen Effekt auszunutzen, wurde home+ mit einem Strahlungskühlungssystem ausgestattet, das photovoltaisch-thermische (PVT) Hybridkollektoren verwendet. Vermutlich ist es damit das erste Haus, das solche Kollektoren zur Ausnutzung von Strahlungskühlung verwendet – üblicherweise dienen sie dazu, neben Strom auch warmes Wasser zu erzeugen. Aus diesem Grund kam nur eine Eigenentwicklung in Frage, die gezielt für den Kühlfall optimiert wurde, mit einer sehr guten thermischen Anbindung des Absorbers an das PV-Modul und ohne die übliche Glasabdeckung, die eine Wärmeabgabe behindern würde. allen Komponenten der Gebäudetechnik verbunden werden kann. So wird er etwa im Winter mit Wärme aus den Vakuumröhrenkollektoren gespeist. Eine Wärmepumpe, die die Fußbodenheizung versorgt, nutzt den so aufgeheizten Tank als Wärmequelle und arbeitet dank seines hohen Temperaturniveaus sehr energiesparend. Im Sommer, dem wegen der Vorgaben des Wettbewerbs besonderes Augenmerk galt, arbeitet der Speichertank mit den oben beschriebenen PVTKollektoren zusammen. 36 m² dieser PVT-Kollektoren finden sich auf dem Dach von home+. Sie werden in den frühen Nachtstunden zunächst dazu verwendet, die PCM-Decke zu regenerieren. Anschließend kühlen sie den Speichertank herunter. Häufig werden dabei Speichertemperaturen unter 19 °C erreicht, so dass das Wasser direkt zur Raumkühlung über die in den Fußboden integrierten Rohrschlangen genutzt werden kann. Erwärmt sich das Wasser über diese Grenze, eignet es sich zwar nicht mehr für die direkte Kühlung; es kann aber als Wärmesenke für die nun im Kühlbetrieb operierende Wärmepumpe genutzt werden. Maßgebliche Kenngröße für die Effizienz einer Wärmepumpe ist die Jahresarbeitszahl – sie gibt an, wie viel Wärme oder Kälte die Wärmepumpe im Jahresdurchschnitt für jede eingesetzte Kilowattstunde Strom produziert. Simulationsberechnungen ergaben Jahresarbeitszahlen von 4,3 für die Beheizung und 4,2 für den Kühlfall und belegten damit den effizienten Betrieb des Systems. Aktive Solartechnik in der Gebäudehülle Energieeffiziente Heizung und Kühlung durch variable Speichernutzung Ein 1,2 m³ großer Speichertank spielt eine wesentliche Rolle im Energiekonzept: er ist auf vielfältige Weise am Energieaustausch beteiligt, egal ob geheizt oder gekühlt wird. Abbildung 3 zeigt, wie er über ein komplexes hydraulisches System mit 74 SOLARZEITALTER 2 2011 Die äußere Erscheinung des Gebäudes wird von einer Hülle aus Photovoltaik-Modulen bestimmt, die die vier Gebäude-Module an der Ost- und Westfassade sowie auf dem Dach bekleidet. Ihren besonderen Charakter erhält diese Hülle durch den Einsatz farbiger PV-Zellen aus polykristallinem Silizium. Durch die Verwendung der Farbtöne Bronze und Gold und den Abstand der Zellen MIT HOME+ IN EINE ZUKUNFT AUF BASIS ERNEUERBARER ENERGIEN zueinander entsteht eine mehrtönig schillernde und mehrschichtige Fassade, deren Erscheinungsbild sich je nach Blickwinkel und Beleuchtungsverhältnissen ändert. Während an der Fassade der goldene Farbton vorherrscht, wird über eine Pixelung mit bronzefarbenen PV- Zellen der Übergang zu den schwarzen PV-Zellen aus monokristallinem Silizium im mittleren Dachbereich vollzogen. Die goldenen und bronzenen polykristallinen PV-Zellen weisen einen Zellenwirkungsgrad von etwa 13% auf und lassen sich somit auch in einem Modul verbauen, ohne Einbußen beim Stromertrag in Kauf nehmen zu müssen. Mit einem Zellenwirkungsgrad von etwa 17% liefern die monokristallinen Zellen auf dem Dach aber natürlich den größten Anteil des jährlichen Stromertrags. Bei einer installierten Gesamtleistung von etwa 12 kWp (6 kWp an den Fassaden, 6 kWp auf dem Dach) liegt der jährlichen Stromertrag am Standort Madrid bei etwa 11.500 kWh. Nach den Wettbewerbsvorgaben ergibt sich ein anzunehmender jährlicher Stromverbrauch von etwa 4.000 kWh. Legt man diesen zugrunde, so ergibt sich ein beachtlicher jährlicher Überschuss der Stromerzeugung von etwa 7.500 kWh. home+ nur sieben Jahre. Das heißt, das Haus schreibt unter Berücksichtung der „grauen Energie“ ab dem achten Jahr energetisch gesehen schwarze Zahlen. Das gewählte Konzept mit einem relativ komplexen hydraulischen System mag für ein kleines Wohnhaus unverhältnismäßig erscheinen. Er ist jedoch maßgeblich den strengen Wettbewerbsbedingungen geschuldet, die den zulässigen Raumtemperaturen sehr enge Grenzen setzten. Die HFT Stuttgart hat diese Einschränkungen aber auch als Chance begriffen, sich mit technischen Lösungen auseinander zu setzen, die hohes Zukunftspotenzial zeigen und Gegenstand weiterer Forschung werden sollen, wenn home+ als dauerhafte Forschungseinrichtung auf dem Hochschulgelände seinen endgültigen Standort finden wird. Für alle Mitglieder des Stuttgarter Teams, seien es Studenten, Professoren oder Assistenten, war die Teilnahme am SDE 2010 in jedem Fall eine wertvolle Erfahrung – und eine erfolgreiche noch dazu: Mit minimalem Rückstand auf die beiden Führenden belegte die Mannschaft den dritten Platz in der Gesamtwertung und errang darüber hinaus Preise in fünf der zehn Teildisziplinen, darunter erste Plätze in den Kerndisziplinen „Ingenieurtechnik und Konstruktion“ und „Innovation“. Zusammenfassung Mit der Teilnahme am Solar Decathlon 2010 in Madrid zeigte das Team home+ der HFT Stuttgart eindrücklich, wie der Wohnungsbau der Zukunft aussehen kann – und wie ein ausgefeiltes Zusammenspiel von Gebäudehülle und Haustechnik übers Jahr gesehen eine positive Energiebilanz ermöglichen. Insbesondere die innovative Kombination von PVT-Kollektoren, PCM-Bauteilen und einem Wassertank als Rückkühlspeicher für eine Wärmepumpe ermöglicht es, mit minimalem Energieaufwand behagliche Raumtemperaturen zu gewährleisten. Das Haus zeigt, dass Netto-Plusenergiehäuser heute gut umsetzbar sind und funktionieren. Ja, sogar mehr als das: Fur den Standort Madrid beträgt die energetische Amortisation von Prof. Dr. Jan Cremers ist Architekt, unterrichtet Gebäudetechnologie und integrierte Architektur an der Hochschule für Technik Stuttgart (HFT) und leitet das SDE-Projekt an der Hochschule. Dipl.-Ing. Markus Binder ist akademischer Mitarbeiter im Studiengang Bauphysik der HFT Stuttgart und projektleitender Architekt bei msm Architekten Innen Architekten, Esslingen. Dipl.-Ing. Antoine Dalibard ist akademischer Mitarbeiter im an der HFT Stuttgart angesiedelten Zentrum für angewandte Forschung an Fachhochschulen – Nachhaltige Energietechnik (zafh.net) und arbeitet derzeit an seiner Promotion zum Thema solares Kühlen. SOLARZEITALTER 2 2011 75