Teilhard und die Noosphäre

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Teilhard und die Noosphäre
Der neue Artikel aus dem Emergenz-Netzwerk unseres Autoren
Günter Dedié ist halb Rezension, halb Fallstudie. Dedié teilt
den optimistischen Ausblick Teilhards nicht, was er mit
deprimierenden Tatsachen begründen kann (23.8., Bild: Die
Erdgöttin Gaia, aus einem syrischen Fries, um 730; Quelle The
York Project, Wikimedia Commons).
Teilhard und die Noosphäre
Der Naturwissenschaftler und Theologe Pierre Teilhard de
Chardin SJ (1881 – 1955) war weltweit als Geologe,
Anthropologe und Paläontologe forschend tätig. Er hat
versucht, religiöse Aussagen – so weit wie möglich –
naturwissenschaftlich zu interpretieren und zu begründen, um
das Tausende Jahre alte christliche Weltbild auf eine neue,
zukunftsgerichtete Basis zu stellen. Damit hat er sich schon
ein Stück weit in Richtung des Naturalismus bewegt,
insbesondere bei der Evolution der Menschen. Eine wichtige
Basis für seine Überlegungen waren seine Reisen und
Forschungsaufenthalte und die damit verbundenen Studien „vor
Ort“. Er gilt als einer der Entdecker des Peking-Menschen.
Seine Ansichten über die Entwicklung von Welt und Kosmos stand
trotz der von ihm gewollten Nähe zur Religion im Gegensatz zum
biblischen Fundamentalismus der katholischen Kirche und zum
religiösen Kreationismus. Die katholische Kirche sah in seinen
Schriften eine Bedrohung der traditionellen Theologie. Seine
Bücher durfte er deshalb nicht veröffentlichen; sie waren aber
nach seinen Tod sehr erfolgreich. Sein erstes Werk Der Mensch
im
Kosmos
ist
ein
Bestseller
geworden.
Sein
weltgeschichtlicher Optimismus stieß in den 1960er Jahren auf
große Resonanz.
Teilhards Buch Die Entstehung des
Menschen* ist 1961 erschienen, obwohl er
das Manuskript schon 1949 fertiggestellt
hatte. Zentrale Anliegen darin sind die
Entstehung des Lebens und die Zukunft
der Menschen. Wegen der Nähe zur
Religion enthält das Buch aber auch eine
Reihe von transzendenten Aussagen, auf
die ich hier nur teilweise eingehe
(Bild: Pierre Teilhard de Chardin 1955
(Quelle Wikimedia Commons).
Die Entstehung des Leben ist bis in die Gegenwart ein
kontroverses Thema geblieben, zu dem auch das Konzept der
Emergenz einige Beiträge leisten kann. Teilhard verwendet die
Bezeichnung prävitale Materie, mit der er den Bereich
zunehmender Komplexität der unbelebten Materie bis zur
Entstehung des Lebens zusammenfasst. Sein Maß für Komplexität
und die Grenze zum Leben war damals die Anzahl der Atome, die
sich in einer höheren Form der Gruppierung (nicht nur als
bloße Anhäufung) zu einem geschlossenen Ganzen vereinigen.
(Teilhard nennt seine höheren Form der Gruppierung, die den
heutigen emergenten Systemen entsprechen, meist Korpuskel oder
Komplexe). Die Grenze für den Menschen und seine geistigen
Fähigkeiten setzte er mit etwa 10(hoch)27 Atomen an*. Aus
seiner Sicht waren aber z.B. Kristalle und Gestirne keine
komplexen Systeme, sondern bloße Anhäufungen von Atomen. Mit
seinem Verständnis komplexer Systeme stellt Teilhard u.a. eine
Verbindung her „zwischen den noch so wenig zusammenhängenden
Universen der Physiker und der Biologen“. Er unterschätzt
dabei aber die Fähigkeit der prävitalen Materie zur aktiven
Selbstorganisation, denn emergente Prozesse erzeugen
selbstorganisiert – und in vielen Fällen spontan –
Komplexität, sowohl in der unbelebten als auch in der belebten
Natur, und ebenso in der menschlichen Gesellschaft**. Man kann
die emergenten Prozesse deshalb schon in der unbelebten Natur
als „Verursacher“ betrachten, die aktiv an der Entwicklung der
Welt mitwirken.
Ich möchte zunächst an drei Beispielen zeigen, wie man sich
einige Stufen der prävitalen Materie in Richtung des Lebens
vorstellen kann. Die Beispiele wurden bereits im EmergenzNetzwerk ausführlich dargestellt, so dass ich mich in dieser
Notiz auf die übergeordneten Aspekte konzentrieren kann. Auch
die „frühen“ Stufen in der Natur von der emergenten
Entwicklung der Atome bis hin zu den o.g. Kristallen und den
Gestirnen übergehe ich hier; der interessierte Leser findet
Näheres dazu in meinem Buch**. Meine Beispiele sind die
Bénard-Konvektion, die Belousov-Zhabotinsky-Reaktion und der
Protein-Nukleinsäure-Hyperzyklus. Diese Beispiele gehören zu
den dissipativen Nichtgleichgewichts-Prozessen, bei denen
spontan unter Verbrauch von Energie und/oder Materie Ordnung,
Dynamik und Komplexität entsteht.
Bei der Bénard-Konvektion werden unter Verbrauch von
Energie von selbst stabile Strömungsmuster erzeugt,
solange die Energie zur Verfügung steht.
Bei der Belousov-Zhabotinsky-Reaktion werden unter
Verbrauch von Materie von selbst bewegliche Farbmuster
oder Farb-Oszillationen erzeugt, solange das
Ausgangsmaterial zur Verfügung steht. Der Prozess ist
autokatalytisch, d.h. er verstärkt sich in einem
Prozessschritt durch eine Rückkopplung selbst. Er hat
aber kein „Gedächtnis“: Wenn er wegen fehlendem
Ausgangsmaterial endet, hinterlässt er keine Information
über sich in der Welt.
Beim Protein-Nukleinsäure-Hyperzyklus werden unter
Verbrauch von Energie und Materie von selbst Proteine
und Nukleinsäuren vervielfältigt, solange die Energie
und das benötigte Material dafür zur Verfügung steht.
Auch dieser Prozess ist autokatalytisch, er verstärkt
sich selbst mit jedem Prozessschritt. Er hat aber
aufgrund der Struktur der beteiligten Nukleinsäure RNA
ein
„Gedächtnis“:
Wenn
er
wegen
fehlendem
Ausgangsmaterial endet, bleibt die Information über den
spezifischen Hyperzyklus in den Nukleinsäuren erhalten,
solange diese nicht zerstört werden.
Hyperzyklen gehören meist noch zur prävitalen Welt, zum
Übergangsbereich von der chemischen zur biologischen
Evolution.
Im Zentrum der Überlegungen Teilhard steht allerdings der
Mensch, den er als bereits hoch entwickelt aber immer noch
nicht „fertig“ ansah: Physisch scheint seine Evolution
abgeschlossen zu sein; aber auf der geistigen, kulturellen und
sozialen Ebene geht sie weiter. Dazu meint er: „In der
prävitalen Periode bestimmt der bloße Zufall die Bildung der
Komplexe“; bei der Evolution nach Lamarck „ein Zufall, der von
einem inneren Prinzip der Selbstorganisation ergriffen und
nutzbar gemacht wird.“ Dieser Weg führt aus seiner Sicht von
der Biosphäre bis hin zu einem weltweiten geistigen
„Bewusstseinsfeld“, das er Noosphäre nennt**. Er sah darin
allerdings eine Sphäre des menschlichen Geistes, die auch
Gedankengut des Christentums mit enthält. Befremdlich aus
Sicht der an der Realität orientierten Welt der Emergenz
wirken Aussagen wie: Die Evolution sei auf ein Ziel gerichtet,
„der Mensch die letzte, einmalige Krönung des Lebensbaums“,
und: die zukünftige Entwicklung der Menschheit erfülle einen
„göttlichen Auftrag“. Ziemlich unverständlich bleibt für mich
sein häufig verwendeter Begriff des „Zusammenrollens“. Diesen
Vorgang glaubt er fast überall zu erkennen: Beim Universum,
der Menschheit, dem Schädel und dem Gehirn der Menschen usw.
An einer Stelle wird er mit Verinnerlichen übersetzt,
ansonsten bleibt er für mich unklar.
Die Entwicklung der Menschen und ihrer Gesellschaft zur
weltweiten Noosphäre beschreibt er mit folgendem Modell: Man
stelle sich vor, die Menschheit expandiere auf einer Art
Erdoberfläche zunächst von einem Pol aus. Dann hat sie bis zum
Äquator hin zunehmend mehr Platz. Ab dort wird sie auf dem Weg
zum anderen Pol allmählich komprimiert, weil der Platz immer
enger wird. Am anderen Pol (von ihm Punkt Omega genannt)
konvergiert die Menschheit zu einem „globalen Individuum“. Er
will mit diesem Modell offenbar sowohl die zunehmende Dichte
der Weltbevölkerung als auch den dadurch ausgeübten Druck in
der geistigen und kulturellen Ebene beschreiben. Die Bildung
von (menschlichen) Gemeinschaften seht er als „psychisch
bedingte, Symbiose-artige Vereinigung.“ Sie sei ein „primäres
und allgemeines Merkmal der belebten Materie“. Die Bildung der
Noosphäre sei „das letzte und erhabenste Ergebnis der
gemeinschaftsbildenden Kräfte beim Menschen“, bei der die
Menschheit weltweit „eine Ganzheit“ wird. Auch an dieser
Stelle bringt er abschließend nochmal „das Problem Gott“ ins
Spiel, „als Triebkraft, Sammelpunkt und Garant“ dieser
Entwicklung.
In der Phase der Expansion („Individuation“) entstehen
zunächst Gemeinschaften und ihre Kulturen, und die Individuen
verselbständigen sich. Die menschlichen Gemeinschaften, die
aufgrund der Intensivierung des Psychischen (= der geistigen
Fähigkeiten) entstehen, befruchten sich gegenseitig, wachsen
zusammen und bilden eine ganz neue Macht in der Evolution. Die
Entstehung der Kultur sieht er als Prozess der
erziehungsbedingten, über-individuellen Vererbung zur
Bewahrung und Mehrung des Erworbenen (handwerkliche
Fähigkeiten, Wissen, Kunst, …).
Die Phasen der Kompression („Totalisation“) sind aus seiner
Sicht: Ethnische Verdichtung, zunehmende wirtschaftlichtechnische Ordnung (die Raum und Energie spart) und die
Steigerung der geistigen Fähigkeiten, des Wissens sowie der
Reichweite des Wirkens der einzelnen Menschen. Letzteres
verdeutlich er an den (damaligen) Möglichkeiten, die
elektromagnetische Wellen für die weltweite Kommunikation
bieten werden (heute ist es zusätzlich das Internet). Auch
eine „Vervollkommnung des Gehirns“ sagt er voraus, z.B. durch
die Unterstützung von „Elektronenautomaten“. Aufgrund der
weiteren Entwicklung der Technik erwartet er mehr freie Zeit
und freie Energien für die Menschen, die in eine
Intensivierung der „Forschung“ gelenkt werden sollten, in dem
Sinne, dass die Menschen sich um bessere Bedingungen für die
Welt und ihre Gesellschaft kümmern. Denn dieses Bemühen „sei
schlechthin eine Grundeigenschaft der lebenden Materie.“ Von
etwa 1750 bis (zur Fertigstellung seines Manuskripts) 1949 sei
die Zahl der Forscher von einigen wenigen auf „bald sogar
viele Millionen“ angewachsen, deren Tätigkeit für die moderne
naturwissenschaftlich-technische Welt unentbehrlich sei.
Fazit: Teilhard beschreibt die Entwicklung des Homo sapiens
auf der Basis seiner geistigen Fähigkeiten als
kontinuierlichen Prozess von Dekompression und Kompression der
weltweiten Gesellschaft zum (aus seiner Sicht göttlich
vorgegeben) Ziel der Noosphäre. Er verwendet dabei bereits
einige Metaphern der Emergenz, aber auch einige andere
Mechanismen.
Im Licht der Emergenz könnte man die Entwicklung der
Gesellschaft zu einer Art Noosphäre etwas anders beschreiben;
sie könnte dem allgemein gültigen Modell der emergenten
Prozesse folgen und wäre stärker strukturiert. Ich versuche
deshalb auch hier, Teilhards Überlegungen und Prognosen –
soweit wie möglich – an dem Konzept der emergenten Prozesse**
zu spiegeln.
Die geistigen Fähigkeiten der Menschen (bei Teilhard
meist Bewusstsein genannt) ergeben sich im Modell der
emergenten Prozesse aus dem Zusammenwirken der
Milliarden Nervenzellen des Gehirns in Kooperation mit
den Sinnesorganen. Sie sind primär durch die komplexen
sozialen Anforderungen entstanden, die sich beim
Zusammenleben der Menschen in Familien und Gruppen
ergeben haben.**
Die einzelnen Menschen sind als Basis der Gesellschaft
durch soziale Interaktionen miteinander verknüpft. Diese
werden
durch
ethische
Regeln,
gefühlsmäßige
Interantionen, Gesetze usw. und in Summe durch die
kulturellen Basis miteinander verbunden.
In der Teilhard‘schen Phase der Expansion der Menschheit
über die Welt bildet sich im Rahmen der emergenten
Prozesse eine strukturierte und zunehmend komplexere
Sozialordnung sowie unterschiedliche Institutionen in
der Gesellschaft aus. Am Anfang selbstorganisiert und
später
mit
einem
geplanten
Start
aber
selbstorganisierter Weiterentwicklung. Unterschiedliche
Institutionen haben i.d.R. unterschiedliche ethische
Regeln. Die Regeln der Gesellschaft und ihre Kultur
unterliegen einer kulturellen Evolution und einem
Wettbewerb.
Das emergente, globale Weltmodell Gaia, das – im
Hinblick auf die menschliche Gesellschaft – der Vision
der Noosphäre und Teilhards weltweiten geistigen
„Bewusstseinsfeld“ nahe kommen könnte, würde geeignete
ideologiefreie und weltweit anerkannte ethische Regeln
erfordern.
Zu Teilhards Punkt Omega und seinem „globalen
Individuum“ sehe ich im Rahmen der emergenten
Sozialordnung nichts Vergleichbares.
Wenn man an ein paar Beispielen betrachtet, wo wir derzeit in
der Welt im Hinblick auf Teilhards optimistische Prognosen
stehen, ist der Eindruck eher deprinierend:
Derzeit gibt es etwa 200 Staaten auf der Erde, die
miteinander in einem egoistischen Wettbewerb stehen oder
mehr oder weniger schwerwiegende Konflikte untereinander
haben. Es gibt keine weltweit gültigen oder gar
verbindlichen ethischen Regeln oder Kulturen. Die
Entwicklung der Ethik ist bisher im Vergleich zur
Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik
außerordentlich zurückgeblieben.
Unter der Bezeichnung Globalisierung übernehmen mehr und
mehr weltweit tätige Wirtschafts- und Finanzunternehmen
die Macht über die Staaten der Welt. Deren überwiegend
fundamentalistisch-neoliberale und egoistische Kultur
ist oft extrem unmoralisch. Von wettbewerbswidrigen
Monopolen spricht oder schreibt dabei schon seit
Jahrzehnten niemand mehr; sie werden bestenfalls als
„alternativlos“ und „systemrelevant“ abgetan.
Positive ethische Ansätze wie die Weltethik von Hans
Küng haben keine nennenswerten Einfluss gewinnen können.
Der Humanismus ist in sich zersplittert, weitgehend an
Einzelforderungen wie Freiheit, Gerechtigkeit und
Nächstenliebe orientiert, die in der Zeit der
totalitären Ideologien vorrangig wichtig waren, und
durch den (berechtigten) Kampf gegen die überholten
Vorrechte der Kirchen absorbiert.
Teilhards idealistische Vorstellung, die frei werdenden
geistigen Kapazitäten der Menschheit für die
Weiterentwicklung der Wissenschaft und der Gesellschaft
zu einzusetzen, hat sich nur teilweise erfüllt. Die
freie Zeit und Energie der meisten Menschen ist leider
einer Kultur der politischen Propaganda und trivialen
Unterhaltung zum Opfer gefallen, die sich aus der
unauffälligen Gängelung durch die jeweiligen Machthaber
und jahrzehntelangen Rückkopplung der „freien“ und
vorwiegend wirtschaftlich orientierten Massenmedien mit
ihren Konsumenten entwickelt hat.
Sowohl für Teilhard de Chardins Noosphäre als auch für eine
ideologiefreie Gesellschaft sind allgemein anerkannte ethische
und soziale Regeln überfällig. Sie sind für die
Weiterentwicklung und das Fortbestehen der menschlichen
Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Mit der absehbar
beschleunigten Entwicklung und Verbreitung autonomer
humanoider Roboter wird die Notwendigkeit noch klarer
erkennbar, weil die Roboter sich ja wie „gute“ Menschen
verhalten sollen und in die menschliche Gesellschaft
integriert werden müssen. Sie müssen also mit entsprechenden
ethischen Regeln programmiert werden. Und die gibt es nicht.
________________________
*) Pierre Teilhard de Chardin, Die Entstehung des Menschen,
dritte Auflage, Beck 1963
**) Günter Dedié, Die Kraft der Naturgesetze, zweite Auflage,
tredition 2015
Link zum Originalartikel im Emergenz-Netzwerk (23.8.)
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