Vom Kirchenverständnis über Begriffe zum Namen

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Vom Kirchenverständnis über Begriffe zum
Namen
Zwischen Konvention und Reformation 
Frank Mathwig
1. Zur Fragestellung
Egal was über Kirche gesagt wird, immer scheint auch das Gegenteil behauptet oder
noch ganz anderes über sie gesprochen werden zu können. Das Problem besteht weniger in dem Begriff «Kirche» selbst, als in der Tatsache, dass das Verständnis von der
Kirche unmittelbar zurückschlägt auf die Menschen, die zu ihr gehören. Es geht immer
auch um das Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, also darum, wie ihre Mitglieder sich selbst sehen und mit welcher Kirche sie (öffentlich) in Verbindung gebracht werden wollen. Dabei ist das Selbstverständnis häufig ebenso ungeklärt, wie die Frage, worauf sich solche Selbst- und Fremdbilder stützen können. Es gehört zu den ältesten in
der Bibel erzählten Eigenarten, dass Menschen bei ihren Gottesbildern eine Art PippiLangstrumpf-Mentalität entwickeln ‒ nach dem Motto «ich mach' mir die Welt, wie sie mir
gefällt»: Ich mache mir meinen Gott, wie er zu mir passt und ich mache mir meine Kirche,
wie ich sie brauche oder mich darin wohlfühle.1 Ohne Astrid Lindgren und in seriöser
kirchlich-theologischer Sprache folgte daraus vor knapp einem halben Jahrtausend die
Aufspaltung der einen Kirche in verschiedene Religionsparteien – wie sie damals genannt
wurden –, also in viele Satellitenkirchen am ökumenischen Himmel.
Gegen die Irrungen ihrer Kirche waren vor 500 Jahren die Reformatoren angetreten. Sie
wollten den «Tempel des Herrn», die Kirche Jesu Christi, aufräumen, wie damals Jesus
die Händler aus dem Tempel gejagt hatte. Das Ergebnis war freilich – entgegen der Absicht der Reformatoren – eine andere, in den Folgen nicht weniger grosse und grausame
Verwirrung. Eigentlich hatte die Reformatoren gegen die Herausforderungen und Zweifel
im Leben und in der Kirche ein bestechend einfaches Rezept: Schau in die Bibel (sola
scriptura) und lass dich bei der Lektüre von Gottes Geist leiten, lautete ihre Empfehlung.
Nimmt man diesen Ratschlag auch für das Thema «Kirche» beim Wort, fällt das Ergebnis
auf den ersten Blick ernüchternd aus:
1. Der Ausdruck «Kirche» kommt in den biblischen Sprachen nicht vor.
2. In der Bibel begegnen keine Konfessionen.

1
Vortrag anlässlich «reformiert» oder «evangelisch» – unter welchem Label tritt die «Kirche» auf? Diskussionsabend zu Namen und Begriffen am 25. April in Aarau.
Vgl. dazu Ingolf U. Dalferth, ‹Was Gott ist, bestimme ich!› Theologie im Zeitalter der ‹Cafeteria -Religion›: ders., Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen
1997, 10–35 und Philipp Stoellger, ‹Und als er ihn sah, jammerte er ihn›. Zur Performanz von Pathosszenen am Beispiel des Mitleids: Ingolf U. Dalferth/Andreas Hunziker (Hg.), Mitleid. Konkretionen
eines strittigen Konzepts, Tübingen 2007, 289–305.
1
3. Die Welt der Bibel wird weder von Katholiken Protestanten, Evangelischen oder Reformierten bevölkert.
4. Die allgemeine Bezeichnung «Christen» (christianoi) begegnet im Neuen Testament
nur spärlich (Apg 11,26; 26,28; 1Petr 4,16).
Der katholische Theologe Alfred Loisy liefert eine knappe Erklärung für diesen Befund:
«Jesus verkündete das Reich Gottes und gekommen ist die Kirche.» 2 Natürlich wurde die
Kirche in der Bibel nicht einfach vergessen. Sie darf auch nicht als unerwarteter Betriebsunfall im Heilsplan Gottes abgetan werden. Aber der göttliche Bauplatz Kirche ist unübersichtlich. Vielleicht wissen Reformierte deshalb ziemlich genau, wer oder was sie nicht
sind oder sein wollen, aber viel weniger, wer oder was sie sind. Wenn es aber darum
geht, der Kirche einen Namen zu geben, kommt man nicht um die Fragen herum: Wer
sind die Protestanten und Evangelischen? Was verbirgt sich hinter dem Extralabel «reformiert»? Und wofür stehen Evangelisch-Reformierte in Kirche und Gesellschaft heute?
2. Biblische Annäherungen an «Kirche»
Nach 2000 Jahren Kirchengeschichte fällt es schwer, sich in die damalige Anfangssituation der christlichen Gemeinden zurückzuversetzen, in der von Kirche noch nichts zu
sehen war und das Thema «Kirche« noch keinen Stoff für handfeste Auseinandersetzungen bot. Die Christinnen und Christen damals hatten weder konfessionelle und Vermarktungsprobleme, noch wären sie – angesichts ihrer massiven Unterdrückung und Verfolgung – auf den Gedanken gekommen, sich ein öffentlichkeitswirksames Logo zu verpassen. Gleichwohl waren sie sich aber darin einig, dass ihr Glauben keine Geheimsache
sein darf, sondern dass die Botschaft des Evangeliums öffentlich gemacht werden muss,
weil sie alle Menschen angeht. Der Ausdruck «Kirche» sagt eigentlich schon, worum es
im Kern geht.
Der deutsche Begriff geht höchstwahrscheinlich auf das griechische Adjektiv kuriakos:
«zum Herrn gehörig» (vgl. 1Kor 11,20; Offb 1,10) bzw. das Substantiv kuriakon «Herrenhaus, Haus Gottes» zurück.3 Das entspricht der Selbstaussage Jesu: «Wo zwei oder drei
in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.» (Mt 18,20) Der bekanntere biblische Ausdruck ekklesia, der durch die Übernahme ins Lateinische (ecclesia) Karriere machte, meint ursprünglich die politische Versammlung der Bürger einer
Gemeinde. Ekklesia begegnet in den neutestamentlichen Texten in zwei Verwendungsweisen. 4 Einerseits wird damit eine lokale Gemeindeversammlung bezeichnet. Dieses
Verständnis dominiert bei Paulus und in den deuteropaulinischen Briefen, wo ekklesia
häufig mit Ortsangaben begegnet: «Gemeinde Gottes in Korinth» (1Kor 1,2), «Gemeinde
in Galatien» (Gal 1,2) oder «Gemeinden Mazedoniens» (2Kor 8,1). Allerdings bestehen
diese Gemeinden nicht für sich und haben sich nicht selbst hervorgebracht. An dieser
2
3
4
Alfred Loisy, L’Évangile et l’Église, Ceffonds 41908, 153 («Jésus annonçait le royaume, et c’est l’Église
qui est venue.»).
Vgl. Jens Schröter, Die Anfänge christlicher Kirche nach dem Neuen Testament: Christian Albrecht
(Hg.), Kirche, Tübingen 2011, 37–80 (38); Peter Neuner, Kirche: Alf Christophersen/Stefan Jordan
(Hg.), Lexikon Theologie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2004, 175–179 (175).
Zum Folgenden Schröter, Die Anfänge, a.a.O.
2
Stelle kommt die zweite Bedeutung von ekklesia ins Spiel, als Ausdruck für die eine universale Glaubensgemeinschaft, wie sie prominent in der Verheissung Jesu begegnet:
«Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen» (Mt 16,18). Dieses umfassende Verständnis von ekklesia stammt ursprünglich aus dem Ersten Testament. Seine griechische Übersetzung – die Septuaginta – gibt den hebräischen Ausdruck
qahal el bzw. qahal JHWH mit ekklesia kyriou, Gemeinschaft des Herrn, wieder. Das
apokalyptische Judentum bezeichnete damit «die eschatologische Sammlung des Gottesvolkes». 5 Die Paulusbriefe und Deuteropaulinen veranschaulichen die universale –
Juden und Christen umfassende ‒ Gemeinschaft mit dem Bild vom Leib Christi und Jesus
Christus als dessen Haupt. Der Kolosserhymnus endet mit der Feststellung: «Er [der
Gottessohn] ist das Haupt des Leibes der Kirche.» (Kol 1,18) Und im Epheserbrief wird
bestätigt: «Und alles hat er ihm [Jesus Christus] unter die Füsse gelegt, und ihn hat er
als alles überragendes Haupt der Kirche gegeben; sie ist sein Leib, die Fülle dessen, der
alles in allem erfüllt.» (Eph 1,22f.) Christus ist aber nicht nur «Haupt der Kirche», sondern
auch «der Retter des Leibes» (Eph 5,23). In der Taufe wird der Mensch mit dem Geist
Gottes getränkt und in den «Leib» der Gemeinde eingegliedert (1Kor 12,13). Das Abendmahl ist für Paulus Ausdruck und Vergegenwärtigung dieser Gemeinschaft in Christus
(1Kor 11,23–25).
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Paulus die christlichen Gemeinden
eine Gemeinschaft der berufenen Heiligen (Röm 1,7; 1Kor 1,2) und «Tempel Gottes», in
dem sein Geist wohnt (1Kor 3,16) nennen kann. Durch die Anwesenheit des dreieinigen
Gottes wird die Kirche zum heiligen Raum (1Kor 3,17). Der Kolosser- und Epheserbrief
fügen dabei eine entscheidende Nuance hinzu, die später vor allem von der reformierten
Theologie aufgegriffen wird: Die Leibmetapher steht nicht nur für ein soziologisches Gemeinschaftsmodell oder für ein moralisches Gemeinschaftsprinzip. Vielmehr geht es um
das Gegenüber von Christus als Haupt und der Gemeinde als Leib. «Nicht ihr habt mich
erwählt, sondern ich habe euch erwählt» (Joh 15,16). In der von Gott erwählten Gemeinschaft ist die Herrschaft Christi, das Reich Gottes bereits Wirklichkeit. Die Kirche verkörpert den Leib des Auferstandenen in der Welt. Kirche ‒ so kann zusammengefasst werden ‒ ist geistbegabte, leibhaftige Nachfolgegemeinschaft in der von Christus gestifteten
Kirche. Das Verhältnis von der einen und den vielen Kirchen lässt sich dabei so bestimmen: «In jeder Ortskirche ist die ganze Kirche je konkret verwirklicht, und umgekehrt ist
die Universalkirche nicht der Zusammenschluss der Lokalkirchen, sondern der Inbegriff
ihres Einsseins in Christus als Gemeinschaft Verschiedener.»6
3. Die reformiert-reformatorische Zumutung
Die Reformation begann mit einer fundamentalen Kritik an der realexistierenden Kirche.
Damit war sie weder neu noch originell. Neu war allerdings die Kraft, mit der die kirchlichen Aufräumaktionen die damalige Welt erschütterten. Dabei hatten die Reformatoren
5
6
Ebd.
Hans-Richard Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht: Gerhard Rau/Hans -Richard Reuter/Klaus Schlaich (Hg.), Das Recht der Kirche, Bd. I: Zur Theorie des Kirchenrechts, Gütersloh 1997,
23–75, (26f.).
3
ein einziges Zielt: «back to the roots», zurück zu der Form christlicher Gemeinschaft, wie
sie in den biblischen Schriften gelebt und bezeugt wird. Treu nach dem Motto «die Schrift
allein» sollte die Kirche innerlich von allen machtpolitischen Verzerrungen, die sich im
Laufe der Geschichte des «christlichen Abendlandes» in der Kirche angehäuft hatten ,
gereinigt werden. Die Kirche war nach eineinhalb Tausend Jahren zu einem Riesentanker geworden, der kaum noch zu steuern, geschweige denn zu bremsen war. Die Reformatoren sahen in ihrer Glaubensnot keinen anderen Ausweg, als dem manövrierunfähigen Riesenkahn mit aller Wucht petrus, den Fels der Kirche vor den Bug zu schleudern.
Sie hatten weder die Absicht, noch konnten sie damit rechnen, dass der Tanker auseinanderbrechen und seine Reise in seinen konfessionellen Einzelteilen fortsetzen würde.
Mit dem entstehenden Religionsparteien – später Konfessionen genannt – war das reformatorische Grossreinemachen selbst aus dem Ruder und in ein Fahrwasser geraten, aus
dem die Kirche bis heute nicht herausgefunden hat.
Der Theologe Karl Barth bemerkt in einer 1935 in Genf gehaltenen Vortragsreihe: «Man
soll die Vielheit der Kirchen überhaupt nicht erklären wollen. Man soll mit ihr umgehen,
wie man mit der eigenen und fremden Sünde umgeht. Man soll sie anerkennen als Faktum. Man soll sie als zwischenhinein gekommenes Unmögliches verstehen. Man soll si e
als Schuld verstehen, die wir selbst auf uns nehmen müssen, ohne uns selbst von ihr
befreien zu können.» 7 Das sind krasse Worte, die einen tiefen Graben zwischen dem
reformatorischen Anliegen und unserer heutigen konfessionskirchlichen Existenzweise
aufreissen. Und der Theologe setzt noch eins drauf: «Irgendwo und von Irgendjemandem
musste und muss der Überheblichkeit aller kirchlichen Bewegung gegenüber daran erinnert werden, dass die Einigung der Kirchen nicht gemacht werden, sondern nur im Gehorsam gegen die in Jesus Christus schon vollzogene Einheit der Kirche gefunden und
anerkannt werden kann.» 8
Diese Spitze ist einerseits gegen pragmatisch-ökumenische Basteleien gerichtet, die
dem reformierten Motto aus dem 19. Jahrhundert folgen: Man muss nur genug kirchliche
Lehre streichen, dann landet man automatisch bei einem gemeinsamen Nenner. Andererseits verwirft Barth jede Form von Selbsterwählung. Kirche ist Schöpfung des Wortes
Gottes, creatura Verbi Divini. Deshalb tragen schweizerische reformierte Pfarrerin und
Pfarrer den Titel «VDM = Verbi Divini Ministra» bzw. «Minister», Dienerin resp. Diener
des göttlichen Wortes. In der I. These des Berner Reformationsmandats von 1527 wird
festgehalten: «Die heilige christliche Kirche, deren alleiniges Haupt Christus ist, ist aus
dem Wort Gottes geboren. Darin bleibt sie und hört nicht auf die Stimme eines Fremden.»9 Die Bedeutung und Tragweite dieser reformatorischen Feststellung zeigte sich mit
aller Gewalt im Kampf der Bekennenden Kirche gegen die nationalsozialistische Gleichschaltung. Nicht zufällig greifen die Düsseldorfer Thesen von 1933 und die Barmer Theologische Erklärung von 1934 wörtlich auf das alte Berner Reformationsdokument zurück. Die Kirche verfügt nicht über sich selbst. Sie kann sich nicht selbst begründen, nicht
7
8
9
Karl Barth, Die Kirche und die Kirchen, München 1935 (ThExh 27), 10.
Barth, Die Kirche, a.a.O., 16.
Martin Sallmann/Matthias Zeindler (Hg.), Dokumente der Berner Reformation: Disputationsthesen. Reformationsmandat. Synodus, Zürich 2013, 39.
4
selbst erhalten und sich auch nicht selbst erneuern. Wie Kirche «sich als ecclesia reformata nie selbst reformiert hat, sondern durch Gottes Wort reformiert worden ist, so ist
sie auch nur in dem Masse semper reformanda, als sie sich durch Gott erneuern lässt.» 10
Das klingt auf den ersten Blick sehr fatalistisch und hilflos. Aber die Pointe liegt in der
Umkehrung der Botschaft: Nichts tun zu können bedeutet auch, nichts tun zu müssen.
Der Kern christlicher Freiheit besteht darin, nicht über sich selbst verfügen und nicht die
kirchlichen Macken selbst ausbügeln zu müssen. Der Theologe Otto Weber fasst zusammen: «Kirche ist, was sie ist, allein im Empfangen.»11 Und Calvin bemerkt: «Die Kirche
ist das Reich Christi. Christus aber regiert allein durch sein Wort.» 12
Damit drängt sich allerdings die Frage auf, was die Reformatoren mit ihrem Protest eigentlich bezwecken wollten, wenn sie ja doch nichts tun können. Die Antwort lautet: Genau das war ihr Anliegen! Zwingli, Calvin, Bullinger und all die anderen wollten in der
Kirche das Wort Gottes wieder zu Wort kommenlassen, die Kirche neu an dem in der
Bibel bezeugten göttlichen Wort orientieren. Kirche sollte wieder zu ihrem Ursprung als
«Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums» 13 zurückkehren. Deshalb haben die Reformatoren die eben skizzierten biblischen Aspekte von Kirche in immer neuen Anläufen
aufgegriffen, gepredigt, ausgelegt und auf ihre kirchliche Situation übertragen. Ich
möchte nur einen, für das heutige Thema zentralen Aspekt exemplarisch herausgreifen.
Auch dabei geht es um Bibelauslegung, genauer um die Erinnerung an die paulinische
Ermahnung: «Ich bitte euch aber, liebe Brüder und Schwestern, beim Namen unseres
Herrn Jesus Christus: Sprecht alle mit einer Stimme und lasst keine Spaltungen unter
euch zu, seid vielmehr miteinander verbunden in derselben Gesinnung und Meinung!»
Paulus reagiert auf Streitigkeiten in der Korinther Gemeinde: «Damit meine ich, dass
jeder von euch Partei ergreift: Ich gehöre zu Paulus – ich zu Apollos – ich zu Kefas – ich
zu Christus. Ist der Christus zerteilt? Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt? Wurdet ihr
auf den Namen des Paulus getauft?» (1Kor 1,10.12f.)
Calvins einleitende Bemerkungen zum Abschnitt über die Kirche in seiner Institutio von
1559 lesen sich wie eine Paraphrase auf die Bibelstelle: «Denn wenn wir nicht mit allen
übrigen Gliedern zusammen unter unserem Haupte, Christus, zu einer Einheit zu sammengefügt sind, so bleibt uns keine Hoffnung auf das zukünftige Erbe. Deshalb hei sst
die Kirche ‹katholisch› oder ‹allgemein›; denn man könnte nicht zwei oder drei ‹Kirchen›
finden, ohne dass damit Christus in Stücke gerissen würde – und das kann doch nicht
geschehen!»14 Folgerichtig begegnet die Kirche in den Schriften der Genfer Reformators
immer im Singular. Ganz in Übereinstimmung formuliert Heinrich Bullinger im Zweiten
Helvetischen Bekenntnis, das damals von allen reformierten Ständen, mit Ausnahme von
10
11
12
13
14
Matthias Zeindler, Gemeinsam unter dem Wort Gottes. Die Kirche als Interpretationsgemeinschaft der
Schrift: Marco Hofheinz/Frank Mathwig/Matthias Zeindler (Hg.), Wie kommt die Bibel in die Ethik? Beiträge zu einer Grundfrage theologischer Ethik, Zürich 2011, 323–351, (341).
Otto Weber, Versammelte Gemeinde. Vorträge zum Gespräch über Kirche und Gottesdienst, Neukirchen 1949, 123.
Calvin, Instutio (1559), IV,2,4.
Vgl. Eilert Herms, Kirche – Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums, Tübingen 2010
Calvin, Instutio (1559), IV,1,2; vgl. dazu Otto Weber, Die Einheit der Kirche bei Calvin: ders., Die Treue
Gottes in der Geschichte der Kirche. Gesammelte Aufsätze II, Neukirchen-Vluyn 1968, 105–118.
5
Basel, übernommen wurde: «Ich glaube eine heilige, katholische (allgemeine) Kirche, die
Gemeinschaft der Heiligen. Und da es immer nur einen einzigen Gott gibt, nur einen
Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Messias Jesus, einen Hirten der ganzen
Erde, ein Haupt dieses Leibes, schliesslich einen Geist, ein Heil, einen Glauben und ein
Testament oder einen Bund, so folgt daraus notwendig, dass es auch nur eine einzige
Kirche gibt.» 15
Die Reihe der Beispiele aus dem reformatorischen Schriftkorpus liesse sich beliebig fortsetzen. Für die Reformatoren konnte es nur eine Kirche geben, die im Apostolikum als
«sanctam Ecclesiam catholicam, Sanctorum communionem» bekannt wird: als die heilige, allumfassende Kirche und Gemeinschaft der Heiligen. Wenn bei den Reformatoren
die Kirche näher umschrieben wird, dann mit diesen Titeln der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse.
4. Evangelisch oder reformiert oder evangelisch-reformiert oder …?
Zur Beantwortung der Frage nach dem kirchlichen Namen tragen die Reformatoren nichts
bei. Mehr noch, ihre Kirche ist ohne jeden Zweifel die eine katholische Kirche. Calvin
spricht im «Genfer Katechismus» ebenso selbstverständlich von der der ecclesia catholica, wie das Zürcher Ministerium im Vorwort zum «Consensus Tigurinus» und Heinrich Bullinger, der das «Zweite Helvetische Bekenntnis mit dem Titel versieht: «Bekenntnis und einfache Erläuterung des orthodoxen Glauben und der katholischen Lehren der
reinen christlichen Religion»: orthodox, katholisch und christlich lauteten die theologischen Leitbegriffe der der Schweizerischen Reformatoren der zweiten Generation. Das
weitgehende Fehlen heutiger Selbstbezeichnungen mag ernüchternd oder sogar irritierend erscheinen, hat aber unmittelbar einsichtige Gründe: Erstens dachten die Reformatoren ‒ wie schon gesagt ‒ überhaupt nicht daran, eine neue Kirchengemeinschaft zu
gründen. Sie waren aus heutiger Sicht Katholiken, die ihre katholische Kirche reformieren
wollten. Zweitens haben sich die Schweizer Reformatoren entschiedener als Luther dagegen gewehrt, das Wesen und Sein der Kirche mit menschlichen Gestalten und Namen
in Verbindung zu bringen. Die römischen Gegner sprachen dagegen von «Lutherani»,
«Zwingliani» oder «Calvinisti», um die Uneinigkeit unter den reformatorischen Gruppen
zu betonen.16 Damit wäre bereits der dritte Punkt angesprochen, die Tatsache, dass alle
heute geläufigen Bezeichnungen für die Reformationskirchen von den altgläubigen Gegnern erfunden worden waren. Erst später übernehmen die Anhänger der Reformation
nach und nach einige dieser Ausdrücke nach als Selbstbezeichnung.
Die Reformatoren fassten ihr eigenes Kirchenverständnis – wenn überhaupt – unter sehr
allgemeine Begriffe: «christliche Kirche», «allgemeine (katholische) Kirche» oder schli cht
«unsere Kirche». Mit dem Ausdruck «christliche Kirche» wurde die Herrschaft Christi
(regnum Christi) betont in Absetzung zur Herrschaft des Antichristen (regnum Antichristi)
15
16
Heinrich Bullinger, Zweites Helvetisches Bekenntnis. Herausgegeben 1966 vom K irchenrat des Kantons Zürich, Zürich 1966, 78.
Vgl. Willy Brändly, Zur Selbstbezeichnung der Evangelischen: Zwingliana 8/1947, 471–489 (485).
6
in der Papstkirche. 17 Allein die Begriffsvielfalt zeigt, dass die reformatorische Seite wenig
Interesse an einheitlichen Bezeichnungen und Namen hatte. Der Ausdruck «reformi erte
Kirche» wurde zunächst für die reformatorische Seite insgesamt gebraucht. Seit den
1570er Jahren mit der Verfestigung der Lutherkirche, dient «reformiert» zunehmend als
Sammelbegriff für die nicht-lutherischen Reformationsbewegungen. Als Selbstbezeichnung für die heutigen Reformierten gewann der Ausdruck vor dem Hintergrund der reformatorischen Lehrstreitigkeiten eine anti-lutherische Spitze. Man begann von Kirchen zu
sprechen, «welche schon reformirt oder noch nicht reformirt worden wären». 18 «Reformiert» meinte die «vollständig gereinigte Kirche», 19 die sich sowohl von der katholischen
wie evangelisch-lutherischen Kirche unterschied. Folgerichtig wurde auch nicht von der
«evangelisch-reformierten», sondern von der «reformiert-evangelischen» Kirche gesprochen.
Den Grundstein für die aktuellen Konfessionstitel legten die Lutheraner, indem sie nach
dem Ende des dreissigjährigen Krieges den Ausdruck «katholisch» – im Gegensatz zu
den Reformierten und der englischen Kirche – vollständig den Römern überliess. Die
Reformierten fanden sich genau besehen zwischen allen Stühlen wieder: Sie waren katholisch, ohne im konfessionellen Sinne Katholiken zu sein. Und sie waren evangelisch,
ohne im lutherisch-ausschliesslichen Sinne Evangelische zu sein.
Die Diskussionen um die konfessionellen Selbstbezeichnungen waren nur am Rande theologisch begründet und häufig Begleitprodukte kirchlicher Auseinandersetzungen. Konfessionstitel sind keine theologischen Programme, sondern im eigentlichen Sinne Bekenntnistitel:
1. Kirche ist «Haus Gottes» und bezeichnet die «zum Herrn gehörige» Gemeinschaft
der Heiligen.
2. Katholizität verweist auf die Universalität und Einheit der leiblichen Kirche Jesu
Christi.
3. Evangelisch betont die dem Evangelium gemässe Stiftung der Kirche aus Gottes
Wort und ihre Bestimmung als Verkündigungs- und Nachfolgegemeinschaft.
4. Reformiert meint die Begrenztheit und Irrtumsanfälligkeit aller kirchlichen Bekenntnisse und theologischen Einsichten einer Kirche, die als wanderndes Gottesvolk in
der irdischen Diaspora mit ihrem Herrn unterwegs ist.
Diese Bestimmungen gelten für alle grossen christlichen Konfessionen in gleicher Weise.
Ihrer Abgrenzungsfunktion als Konfessionstitel ist sachlich-theologisch unbegründet.
Keine Konfession kann sich exklusiv auf eines dieser Merkmale berufen. Also bloss Namen und nichts als Schall und Rauch? Nicht ganz!
«Einen Namen trägt niemand für sich allein. Man trägt ihn um der anderen willen, die ihn
gebrauchen […]. [D]ie Identität der christlichen Kirche hängt an ihrem christlichen Na-
17
18
19
Vgl. dazu und zum Folgenden Heinrich Heppe, Ursprung und Geschichte der Bezeichnungen «reformirte» und «lutherische» Kirche, Gotha 1859.
Heppe, Ursprung, a.a.O., 71.
Heppe, Ursprung, a.a.O., 75.
7
men.» Kirche ist nur Kirche, wenn sie ihr Auftreten und Handeln «in strengster Ausschliesslichkeit an einen Namen bindet: an den Namen Jesus Christus, über den sie
selbst nicht verfügt, der ihr vielmehr – wie jedem Kind der unverwechselbare Personenname – von einem anderen gegeben ist». 20 Wo sich Menschen in seinem Namen versammeln, da ist Christus und da entsteht Kirche. Der Name der Kirche ist mit dem gegeben, der in der Kirche bekannt wird. Kirche ist Leib Christi und trägt seinen Namen. Konfessionelle Titel sind allenfalls menschliche Klammerbemerkungen oder Fussnoten zu
diesem Namen.
Solche Namenszusätze können einen Aspekt betonen ohne diesen absolut d.h. an die
Stelle des einen Namens zu setzen (das käme einer kirchlichen Irrlehre, Häresie, gleich).
Die entscheidende Frage lautet also, was Ihre Kirche mit dem Namenszusatz öffentlich
kenntlich machen will. Ich stelle abschliessend fünf Varianten in alphabetischer Reihenfolge zur Diskussion:
1. «evangelisch»: Der Zusatz betont theologisch die evangeliumsgemässe Ausrichtung
und kirchenpolitisch die Verbundenheit der reformatorischen Oppositionsparteien in
einer gespaltenen Kirche.
2. «evangelisch-reformiert»: Der Zusatz hebt kirchenpolitisch die Übereinstimmung mit
und die Differenz zu den reformatorischen Oppositionsparteien hervor.
3. «reformiert»: Der Zusatz fokussiert theologisch auf die bleibende Zumutung der kritischen Selbstprüfung und richtet sich in seinem inklusiven Anspruch an die ganze
Kirche.
4. «reformiert-evangelisch»: Der Zusatz begreift die reformatorische Bewegung als unabgeschlossenen theologischen Prozess und grenzt sich kirchenpolitisch gegenüber
einem lutherisch-fixen Konfessionsverständnis ab.
5. «reformiert-katholisch»: Der Zusatz schliesst theologisch an das Anliegen der Reformation an und hält kirchenpolitisch an der unverzichtbaren kirchlichen Einheit fest.
Die unterschiedlichen Gewichtungen resp. Tendenzen, die mit den «Namen» zum Ausdruck gebracht werden, lassen sich mit Hilfe einer Grafik veranschaulichen. Die horizontale Achse präsentiert ein Kontinuum zwischen den Polen einer ekklesialen und einer
ekklesiologischen Bestimmung von Kirche. «Ekklesial» steht dabei für einen an kirchenpolitischen und organisationstheoretischen Vorgaben orientierten Kirchenbegriff, «ekklesiologisch» für ein dezidiert biblisch-theologisches Verständnis von Kirche. Auf der vertikalen Achse zwischen den Polen eines exklusiven und inklusiven Gemeinschaftskonzeption werden die Grade der Ökumenizität abgebildet, also die Art und Weise, wie der
Kirchenbegriff ein eher ausschliessendes oder umgekehrt ein gemeinsames und übergreifendes Verständnis von Kirche nahelegt. Werden die sechs Titel in das Schema übertragen, ergibt sich ungefähr das folgende Bild:
20
Christian Link, Die Kennzeichen der Kirche aus reformierter Sicht: Michael Welker/David Willis (Hg.),
Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998,
271–294 (271).
8
inklusiv
reformiertkatholisch
reformiert
ekklesiologisch
ekklesial
evangelisch
evangelischreformiert
reformiertevangelisch
exklusiv
Von der Referenzposition «reformiert-katholisch» im Quadrat oben rechts, die den Standort des reformatorischen Anliegens repräsentiert, zeigt der Abstand zu den anderen Titeln deren Entfernung von dem reformatorisch-theologischen Ausgangspunkt an.
[email protected]
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