4 Orbitadystopien Die kraniale Magnetresonanztomographie hilft im Bereich der Weichgewebe Ausmaß und Folgen zerebraler Fehlbildungen zu diagnostizieren. Zu nennen sind z. B. Balkenagenesien und -dysplasien sowie sekundäre Parenchymläsionen. Andere Autoren führen präoperativ ein Echoenzephalogramm (EEG) durch, um die Größe des Ventrikelsystems festzustellen, oder ein Angiogramm, um die intrakranielle Vaskularisation zu lokalisieren (Edgerton et al. 1970; Tessier 1972). Die Angiographie sollte nur in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen, nämlich zur Darstellung ausgedehnter venöser Kollateralkreisläufe (Mühling 1995). Photoaufnahmen können eine zusätzliche Hilfe bei der Beurteilung und Planung der Operation sein (Jackson 1983). Daneben steht im Mittelpunkt der präoperativen Diagnostik die ophthalmologische Untersuchung, da Augenveränderungen mit zu den Hauptsymptomen der kraniofazialen Erkrankungen gehören (Schaefer et al. 1996). Wegen des geringen Alters der Patienten sind oftmals nur indirekte, nonverbale Untersuchungsverfahren möglich (Schaefer et al. 1996). Neben der Beurteilung des Visus, des Gesichtsfeldes, des Farbsehvermögens und der Motilität ist die Fundusskopie wesentlich, um ein Papillenödem als Frühsymptom des erhöhten intrakraniellen Druckes bei Kraniosynostosen rechtzeitig zu erkennen. Neben Stauungspapille und Optikusatrophie lassen sich Impressionen am hinteren Pol des Auges mit Netzhautfältelung erkennen (Lund 1992). Vor allem bei Orbitadystopien muss das binokulare Sehen überprüft werden (Lund 1983; Mühling u. Zöller 1996a). Die klinische Untersuchung erfasst IKD und IPD sowie die Untersuchung der Augenlider auf En- und Ektropion, Kolobome, Trichiasis, Districhiasis, Epikanthalfalten und Ptosis (Fries u. Katowitz 1990). Veränderungen im Aussehen der Lidspalte lassen auf Anomalien der Augenmuskulatur schließen (Jackson et al. 1982). Die genaue Bestimmung des Exophthalmus ist hinsichtlich der Operationsplanung sehr wichtig. Die verschiedenen Fehlbildungen der lateralen Orbitaränder können eine Absolutmessung einschränken. Die Exophthalmometrie nach Hertel ermöglicht eine akkurate Vergleichsmessung der Augen (Fries u. Katowitz 1990; Lund 1992). Anatomie und Funktion des nasolakrimalen Systems werden ebenfalls untersucht (Edgerton et al. 1970; Fries u. Katowitz 1990) und die Olfaktion überprüft (Tessier 1972; Jackson et al. 1982). Durch die HNO-ärztliche endoskopische Untersuchung können Atemwegsbehinderungen lokalisiert und insbesondere Zelen erkannt werden. Bei der Ohruntersuchung gilt es die Paukenbelüftung zu prüfen und assoziierte Fehlbildungen auszuschließen. Im Bereich des stomatognathen Systems sind Begleitfehlbildungen wie Gaumenspalten zu diagnostizieren und Ausmaß und Folgen auf die Entwicklung des Mittelgesichts abzuschätzen. Die neuropädiatrische Untersuchung ist auf zerebrale Funktionsstörungen sowie die psychomotorische Entwicklung des Kindes ausgerichtet. Es wird empfohlen, die Patienten präoperativ einer psychologischen Untersuchung zu unterziehen, um eine geistige Behinderung festzustellen und die Persönlichkeitsstruktur zu dokumentieren. Eltern erwarten oftmals keine mentale Retardierung und sollten daher präoperativ aufgeklärt werden, damit später eine gesicherte Behinderung nicht der Operation zugeschrieben wird (Edgerton et al. 1970). Eine weitere Innovation entwickelte sich auf der Basis der Visualisierungstechniken, welche heute die Diagnosestellung unterstützen können. Auf der Basis der vorhandenen dreidimensionalen Darstellungen des Schädels von CT-Aufnahmen werden computergestützt Schädelmodelle für einen Patienten gefräst und Probeosteotomien am Modell durchgeführt. Am spektakulärsten galt die Einführung der Stereolithographiemodelle. Obwohl nicht objektiv messbar, können zweifelsfrei wichtige Informationen für die Korrektur eines Hypertelorismus von einem Stereolithographiemodell gewonnen werden (Sailer et al. 1998). Der Einsatz der Modelle erleichtert zwar die räumliche Vorstellung, lässt sich aber nur bedingt zur Planung und Simulation einsetzen. Ihre Anwendung unterliegt heute noch vielen Grenzen, wie dem hohen Kostenaufwand und Zeitverlust, sowie möglichen Artefakten in der CTDarstellung. Weiterhin sind Instrumentennavigationssysteme in Diagnostik und Operationsplanung verfügbar, die dem Operateur ermöglichen, eine pathologische oder anatomische Struktur des Patienten im Operationssitus gezielt aufzusuchen sowie die Instrumentenposition im Operationssitus auf einem dreidimensional rekonstruierten Bilddatensatz des Patienten darzustellen. Die Planung operativer Eingriffe am Bildschirm ermöglicht, Osteotomielininen festzulegen, die Konsequenzen, Alternativen, aber auch Risiken der operativen Verfahren präoperativ ohne Gefährdung des Patienten zu evaluieren. Schließlich können auf dieser Basis Operationssimulationen durchgeführt werden, bei denen beispielsweise Knochensegmente herausgelöst und in eine neue Position verlagert werden (Hassfeld et al. 1995). Historischer Überblick über die angewandten Operationsverfahren bei Orbitadystopien Die frühen Versuche, Fehlbildungen der Orbita zu beheben, bestanden darin, sie durch kleinere Weichteilkorrekturen oder in Verbindung mit Knochenaugmentationen zu korrigieren. 1950 berichteten Webster u. Deming über 8 Patienten mit Hypertelorismus, die sie durch palliative Maßnahmen wie Verlagerung der Augenbrauen, Elimination der Epikanthalfalten oder Korrektur der bifiden Nase zu the- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Zöller, J.E., A.C. Kübler, W.D. Lorber, J. Mühling: Kraniofaziale Chirurgie (ISBN 9783131313911) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 130 rapieren versucht hatten. Lewin (1952) verbesserte die Orbitakontur eines Apert-Patienten durch Auflagerung von Onlay-Knochentransplantaten auf den Infraorbitalbereich, nahm eine Korrektur des Nasenprofil mittels Rhinoplastik vor und versuchte eine Annäherung der Augenbrauen in der Mittellinie mittels Augenbrauenstifts zu simulieren, um einen weiteren operativen Eingriff zu vermeiden. Auch Longacre (1968) therapierte einen Exophthalmus bei Mittelgesichtshypoplasie durch Auflagerung von Onlay-Transplantaten. Converse u. Smith (1970) osteotomierten den mittleren Anteil des Nasenrückens und versetzten operativ extrakraniell in 3 Fällen Teile der medialen Orbitawand mit den Ligg. canthalia nach medial. Die Osteotomie erfolgte durch oder hinter der Tränengrube. Der Bereich der lateralen Orbitawand wurde zur Kompensation der Volumenvergrößerung mit alloplastischen Implantaten aufgefüllt. Später wurde dann die Osteotomie bis in den medialen Bereich des Orbitabodens extendiert und der Saccus einschließlich des Ductus lacrimalis mobilisiert. Tessier (1972) näherte 1962 nach extrakranieller medianer Resektion die medialen Anteile des Orbitabodens und eines Teils der medialen Orbitawand in der Medianen an. Schmid erzielte 1966 einen wesentlichen Erfolg bei einem unilateralen Hypertelorismus. Unter Ausnutzung des gut pneumatisierten Sinus führte er über den subkraniellen Zugang Resektionen im Bereich von Stirn, Nasenbein, Nasenseptum durch und räumte endonasal störende Ethmoidalzellen aus. Dadurch wurde die Osteotomie und Verlagerung der gesamten medialen Wand, des medialen Drittels des Orbitabodens und des Orbitadachs ermöglicht (Schmid 1967). Auch die Telekanthusoperation nach Mustardé (1963, 1971) führte bei geringfügigem Hypertelorismus mit einer Vergrößerung der IKD zu einer Verbesserung. Offensichtlich wurde jedoch damit keine Verlagerung des Auges erreicht. Da bei allen diesen Verfahren keine signifikante Medialverlagerung von Bulbus und Periorbita erfolgte, sondern die Fehlbildungen lediglich durch Auflagerungsplastiken „maskiert“ oder aber nur ein kleiner Teil des Orbitarandes versetzt wurde, führten diese Eingriffe zwangsläufig nicht zum Erfolg. Ein günstiges Ergebnis war lediglich in Fällen von geringgradigem Hypertelorismus zu erzielen. Zur Therapie von Orbitadystopien, insbesondere des Hypertelorismus, hat sich die Technik der „funktionellen Orbita“ durchgesetzt. Die Erhaltung der „frontalen Krone“ als Referenz- und Fixationselement hat sich zur Vermeidung von Über- und Unterkorrekturen bewährt. Die paranasale streifenförmige Resektion ist dabei der medianen vorzuziehen, da hierbei Riechsinn und Prominenz der Nase erhalten werden können. Tessier (1974) und Psillakis et al. (1981) berichteten in diesem Zusammenhang über die Problematik der Resorption von Knochentransplantaten zur Rekonstruktion der Nase nach medianer Resektion. Im Gegensatz zu der vollständigen 131 Mobilisation bei der „funktionellen Orbita“ ist die sagittale Spaltung der lateralen Orbitawand nach Jackson et al. (1982) bzw. McCarthy et al. (1990a) technisch schwieriger und ermöglicht nicht die Reduktion der häufig mit dem Hypertelorismus vergesellschafteten vergrößerten bizygomatischen Distanz. Eine Variation der Hypertelorismusoperation stellt die Technik der „facial bipartition“ dar. Tessier (1993) sieht bei diesem Verfahren wegen des im Vergleich zum Monobloc-Advancement verkleinerten Totraums die Gefahr einer Infektion als wesentlich geringer an. Im Gegensatz zu dem zweizeitigen frontoorbitomaxillären Vorgehen besteht aber auch bei der medianen Spaltung des Gesichts eine deutlich erhöhte Infektionsgefahr und die Notwendigkeit, eine sichere Barriere gegenüber dem Endokranium zu schaffen. Zudem konnte die starke Expansion der Gaumenbreite eine unerwünschte Folge der Technik der „facial bipartition“ sein (Tessier 1987). Mühling u. Zöller (1995b) geben daher einem getrennten Vorgehen, nämlich zunächst der Orbitotomie und in 2. Sitzung der LeFort-I-Osteotomie den Vorzug, da erfahrungsgemäß bei der Technik der „facial bipartition“ nur extrem selten eine suffiziente Verzahnung erreicht werden kann. Stricker u. Hepner (1971), Edgerton u. Jane (1980) sowie Epstein et al. (1975) befürworten die Durchführung der Hypertelorismusoperation im 3.–5. Lebensjahr, dem üblichen Alter der sensorischen Stabilität, um einen binokulären Sehakt zu ermöglichen und einer Amblyopie vorzubeugen. Gegen einen solchen frühen Eingriff spricht die dann noch hohe Lage der Zahnkeime. Je nach Lage der Zahnkeime sollten die Orbitotomien im 6.–8. Lebensjahr erfolgen, da sie in diesem Entwicklungsstadium durch ihre schon tiefere Lage weniger gefährdet und die Kieferhöhlen besser pneumatisiert sind. Dann ist die Osteotomie im Mittelgesicht wesentlich schonender und ohne Gefährdung des stomatognathen Systems durchzuführen (Jackson 1983; Mühling et al. 1992). Ein funktioneller Gewinn ist auch zu diesem Interventionszeitpunkt besser objektivierbar (Mühling u. Zöller 1996b; Zöller 1996). Einseitige Sehschwächen können zunächst durch Okklusion des „guten“ Auges behandelt werden (Schäfer et al. 1996). Freihofer u. Obwegeser (1981) empfehlen einen Eingriff im Hinblick auf Wachstumsstörungen nach selektiver Osteotomie der Orbita und ihrer Umgebung sogar erst nach Abschluss des Mittelgesichtswachstums. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Zöller, J.E., A.C. Kübler, W.D. Lorber, J. Mühling: Kraniofaziale Chirurgie (ISBN 9783131313911) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Historischer Überblick über die angewandten Operationsverfahren bei Orbitadystopien