Herbsttagung des Politischen Clubs Parteien im Umbruch Alle politischen Parteien arbeiten gegenwärtig an neuen Grundsatzprogrammen. Globalisierung und Standortwettbewerb, demographischer Wandel und soziale Sicherung, solide öffentliche Finanzen und die Dynamik moderner Finanzmärkte – all dies steht am Beginn des 21. Jahrhunderts weit oben auf der Agenda. Dauerhaft tragfähige politische Lösungen sind erforderlich. Dieser Paradigmenwechsel verlangt nach Gestaltung und zwingt die Parteien zu neuem Denken. Das Parteiensystem verändert sich. Schon jetzt, knapp zwei Jahre vor der Bundestagswahl, loten die Parteien Koalitionsmöglichkeiten aus. Wenn Schwarz-Gelb oder Rot-Grün arithmetisch nicht ausreichen, müssen neue Farbenkombinationen angedacht werden. Die Fortsetzung der Großen Koalition ist für Sozialdemokraten und Christdemokraten jedenfalls nicht erstrebenswert. Auf der Herbsttagung des Politischen Clubs, zu der Bundesminister a.D. Theo Waigel Politiker und Politikerinnen aller Parteien an den Starnberger See eingeladen hatte, wurden die unterschiedlichen politischen Ideenentwürfe kontrovers diskutiert und erste Koalitionswünsche benannt: Staatsminister Erwin Huber, Vorsitzender der CSU ----------------------------------------------------------------------- Vertrauen schaffen - Zukunft gestalten - Werte erhalten Vor 50 Jahren hatten CDU/CSU zum ersten und einzigen Mal die absolute Mehrheit (50,2%) erhalten. Für Helmut Kohl war 1983 mit 48,8% die absolute Mehrheit in greifbarer Nähe. Doch spätestens mit eben dieser Bundestagswahl 1983 und der dauerhaften Etablierung der Grünen hat sich die deutsche Parteienlandschaft tiefgreifend verändert. Mit der Linkspartei hat sich nun wieder eine neue Partei etabliert. Die große Konstanz deutscher Regierungskoalitionen und Regierungspolitik scheint damit gefährdet. Volksparteien müssen die ganze Bandbreite der Sorgen und Wünsche der Bevölkerung in sich aufnehmen. Ich nenne dafür drei Kern-Kompetenzen einer modernen Volkspartei: Vertrauen schaffen - Zukunft gestalten - Werte erhalten! Vertrauen schaffen! In Zeiten des raschen technologischen Wandels, der Globalisierung und der demographischen Alterung unserer Gesellschaft wächst das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit, nach Halt, nach Orientierung. Mein Credo ist und bleibt: Vertrauen schaffen wir nur mit ehrlicher, auch unbequemer, aber immer glaubwürdiger Politik. Und ich bin optimistisch: Politische Vernunft ist auch in Zukunft mehrheitsfähig. Zur politischen Vernunft gehören aber nicht nur die richtige Tat, sondern auch die tagtägliche Überzeugungsarbeit, die Motivation der eigenen Leute, die Mobilisierung der Menschen für eine von Verantwortungsethik getragene Politik. Nur, wer sich dieser Vermittlungsaufgabe stellt, schafft auf Dauer politisches Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Und nur mit langem Atem und dem Mut zum unbequemen auch steinigen Weg schaffen wir das große Ziel, das uns als Volkspartei zukunfts- und mehrheitsfähig macht: Vertrauen schaffen durch die Symbiose des Notwendigen mit dem Populären. Zukunft gestalten! Es gibt einen unüberhörbaren Ruf in Deutschland. Es ist der Ruf der Jungen an uns Ältere: Wir wollen nicht für Eure Fehler und für Eure Lebenslügen bezahlen! Keine Generation darf zu Lasten der anderen wirtschaften! Analysen und Reformvorschläge liegen seit Jahren auf dem Tisch. Viele Gutachten mahnen im Kern zu der zentralen Zukunftsinvestitionen des 21. Jahrhunderts: Bildung, Bildung, Bildung! Gerade in einer älter werdenden Gesellschaft müssen wir alle Begabungen fördern, alle Talente entwickeln. Das heißt: Wir müssen deutlich mehr in Bildung und Forschung investieren. Wissen bringt Wohlstand. Deshalb ist Bildung der Schlüssel zur Zukunft. Bildung befähigt zur Teilhabe am Fortschritt. Bildung ist die beste Sozialpolitik. Jeder wird gebraucht! Chancen für alle! Das ist unsere Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage. Werte erhalten! Wir haben unser Grundsatzprogramm neu geschrieben, weil sich die Welt seit 1993 tief greifend verändert hat. Nirgendwo ist das so augenscheinlich wie in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die bittere Wahrheit ist leider: Die Terroristen halten sich nicht nur in Deutschland auf, sie wollen auch hier gegen die Menschen zuschlagen. Wenn uns Extremisten zum Feind erklären, dann haben wir keine Wahl. Wir können Feinden nicht gut zureden, sondern wir müssen uns vor ihnen schützen. Der islamistische Extremismus ist für den Westen auch eine geistig-kulturelle Herausforderung. Dem Zulauf zum islamistischen Extremismus müssen wir deshalb eine eigene geistig-kulturelle Gegenkraft entgegensetzen. Wir müssen uns zur Kraft unserer Werte bekennen - zur unantastbaren Würde des Menschen, zur Nächstenliebe, zur Toleranz und zum Rechtsstaat. Wir müssen auf Gewalt und Terror auch mit einer geistigen und kulturellen Renaissance der Wertegemeinschaft Europas reagieren. Wir in der CSU stehen zum christlichen Menschenbild, zur Würde des Menschen und zum Schutz des Lebens von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Unsere Wegweiser in die Zukunft sind und bleiben die christliche Soziallehre, die Soziale Marktwirtschaft, der Zusammenhalt in Heimat und Nation. Und wir handeln nach den christlich-sozialen Leitlinien von Personalität, Subsidiarität und Solidarität - das sind und bleiben die Grundsätze, die uns als Volkspartei eine starke Identität geben. Ronald Pofalla, Generalsekretär der CDU ------------------------------------------------------------Freiheit und Sicherheit – Die CDU ist die Volkspartei der Mitte Für eine vielfältig veränderte Zeit und im Angesicht neuer großer Herausforderungen hat sich die CDU Deutschlands ein neues Grundsatzprogramm gegeben. Wir halten darin an unserem Wertefundament fest und erneuern uns dort, wo es erforderlich war: Erstens: Wir halten fest am christlichen Menschenbild, dem Bild eines freien und verantwortlichen, eines selbständigen und solidarischen Menschen mit unantastbarer und gleicher Würde. Zweitens: Unsere drei Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit bleiben unverrückbar: Freiheit in Verantwortung, Solidarität in Wechselseitigkeit, Gerechtigkeit vor allem als Chancen-, Leistungsund Generationengerechtigkeit. Drittens: Ehe und Familie sind die Keimzelle der Gesellschaft. Viertens: Die Soziale Marktwirtschaft bleibt unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die wir allerdings erneuern müssen, damit Chancen für alle Wirklichkeit werden. Nicht nur unser Grundsatzprogramm, auch unsere verlässliche und erfolgreiche Regierungspolitik zeigen, dass wir Volkspartei der Mitte sind. Und nachdem der Vorsitzende der SPD die „Neue Mitte“ Gerhard Schröders in die Parteigeschichte entsorgt hat, sind wir die einzige Volkspartei der Mitte in Deutschland. Die Bundestagswahl 2009 wird sich daher um die ganz grundsätzliche Frage drehen: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? In einer rot-rot-grünen staatsbetreuten Gesellschaft, die auf Dirigismus von oben setzt - oder in einer, die auf die Kräfte des einzelnen Bürgers vertraut, der aber um solidarische Unterstützung weiß? Das bleibt der entscheidende Unterschied. Die CDU hält an Ludwig Erhards Leitbild des Verhältnisses von Bürger und Staat fest, das er in seinem berühmten Buch „Wohlstand für alle“ formuliert hat: „Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal verantwortlich sein. Sorge Du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.“ Der Staat ist für die Rahmenordnungen zuständig, in denen Freiheit und Sicherheit gedeihen können. Wie sehen wir die anderen Parteien? Die Linkspartei ist eine linksradikale Partei, die deutlich gemacht hat, dass sie unser Gesellschaftssystem, die freiheitlich-demokratische Grundordnung überwinden will. Stattdessen will sie einen „demokratischen Sozialismus“ einführen. Damit setzt sich die Linkspartei 2007 das gleiche Ziel wie die SED 1946. „Freiheit durch Sozialismus“ ruft die Partei. Aber Freiheit und Sozialismus schließen sich aus. So gefährlich die Ziele der Linkspartei sind, so erfolgreich treibt sie die anderen linken Parteien vor sich her. So hat sich die SPD nun ebenfalls erneut den „demokratischen Sozialismus“ ins Parteiprogramm geschrieben. Der SPD-Vorsitzende hat seine Partei damit weiter nach links geführt. Er hat die SPD in eine Regierungs- und eine Oppositionspartei gespalten. Einige Beschlüsse des Hamburger SPDParteitags vom Oktober 2007 stehen diametral entgegengesetzt zur Politik der Bundesregierung. Jeder einzelne sozialdemokratische Bundesminister ist auf dem Parteitag abgestraft worden. Die SPD bereitet sich ganz offenkundig auf ein rot-rotes oder ein rot-rot-grünes Bündnis vor. Denn auch die Grünen bewegen sich nach links. Nach der radikalen Verweigerungshaltung der Göttinger Afghanistan-Beschlüsse bedeutet auch die Bundesdelegiertenkonferenz vom Dezember 2007 einen Sieg der linken Basis, die den Vorstand der Partei hinter sich herzieht. Das verabschiedete Konzept der „Grünen Marktwirtschaft“ enthält viel Dirigismus und plumpe „Neoliberalismus“-Kritik. Dagegen ist die FDP neben CDU und CSU die einzige Partei, die genau weiß, dass wir uns auf dem gegenwärtigen Aufschwung nicht ausruhen dürfen und dass weitere Reformen notwendig sind. Sie hat sich nicht zuletzt mit ihrem „Deutschlandprogramm“ vom September 2007 klar als Reformpartei positioniert. Das Problem der FDP ist, dass die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit nicht stimmt. Unsere Gesellschaft besteht nicht nur aus Leistungsträgern. Trotzdem sind die programmatischen Schnittmengen zwischen FDP und CDU groß. Für uns steht daher fest: Die Union will bei der Bundestagswahl 40 % plus x erreichen, um allein mit der FDP regieren zu können. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Stellvertr. FDP-Fraktionsvorsitzende --------------------------------------------------------------------------------------------------------- Starke Freiheit oder starker Staat — Gesellschaft und Staat im Wandel Es geht darum, den Bürgerinnen und Bürgern einen Rückzugsraum zu sichern, in dem sie unbeeinflusst von staatlicher Einwirkung ihre individuellen und persönlichen Angelegenheiten selbst bestimmen, ausgestalten und regeln können. Damals wie heute gilt, dass die Freiheitsgrundrechte der Bändigung staatlicher Gewalt, der Domestizierung des Staates dienen. Grundrechte bewahren Die Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliches Handeln dürfen nicht ausgehöhlt oder umgedeutet werden. Umgedeutet dahin, dass aus ihnen auch ein staatlich einklagbarer Schutzauftrag ableitbar sei, der dann gerade immer tiefere Freiheitsbeschränkungen rechtfertige. So ließe sich mit der staatlichen Schutzpflicht argumentieren: "Schutz vor Terrorismus", "Schutz vor der organisierten Kriminalität", aber auch "Schutz des ungeboren Lebens" oder gar " Schutz vor Umweltzerstörung" - in diesem Sinne wäre Zwang gegen Menschen immer rechtfertigbar. Um des vermeintlichen Freiheitsschutzes willen, werden dabei immer intensivere Eingriffe in die Freiheit aller ganz selbstverständlich in Kauf genommen. Der Schutzstaat, der immer stärker in die Privatsphäre eindringt, erscheint geradezu als Garant für die Freiheit aller. Keinen „Gläsernen Bürger“! Immer stärker werden weit im Vorfeld krimineller, terroristischer Verdächtigungen persönliche Daten erfasst, wie gerade mit der beschlossenen Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsverbindungsdaten, aller in Deutschland telefonierenden, surfenden, mailenden Bürgerinnen und Bürger. Pauschal werden alle verdächtigt. Immer früher können die Kontendaten der Bürger von vielen Behörden festgestellt werden, der Blick in die Konten ist dann nicht mehr schwer. Viele Maßnahmen mögen für sich allein sinnvoll erscheinen. Die Überwachung des Bürgers, die Herstellung von Bewegungsprofilen und die immer leichter miteinander zu verbindenden Millionen Datenberge zeigen jedoch, dass der gläserne Bürger keine Mär einiger Fundamentalisten ist. Dass das Bundesverfassungsgericht allein in den letzten vier Jahren u.a. beim Lauschangriff, Luftsicherheitsgesetz, Europäischen Haftbefehl, Rasterfahndung, präventiven Telefonabhören die Notbremse ziehen musste, ist ein Armutszeugnis der Politik und Ausdruck ihres fehlenden Grundrechtsverständnisses. Arbeitsmarktreformen sind notwendig Keine Frage: Endlich greift der Wirtschaftsaufschwung spürbar auf dem Arbeitsmarkt. Endlich steigt die Erwerbsquote der über 55Jährigen auf nun fast 50 %. Umso wichtiger ist es, die positive Entwicklung nicht zu gefährden und keine falschen Weichen zu stellen. Konsequenzen für eine vorwiegend an der Verantwortung des einzelnen und an seinen Gestaltungsmöglichkeiten orientierte Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik sind: - Arbeitsmarktreformen, die die Kosten auf Arbeit versuchen zu senken, anstelle der Verlängerung des Arbeitslosengeldes. Für das richtige angestrebte Ziel, die Beschäftigungsquote gerade der älteren Arbeitnehmer zu erhöhen, wäre die Verlängerung des ALG 1 eindeutig kontraproduktiv. - Die Agenda 2010 darf eben nicht grundlegend verändert werden. Notwendig unter dem Gesichtspunkt der Stärkung der Eigenverantwortung wäre, das Schonvermögen zur Altersvorsorge anzuheben. - Die Tarifhoheit muss respektiert werden, es sollten keine gesetzlichen Mindestlöhne, weder branchenspezifisch noch generell eingeführt werden. Gerade im Dienstleistungsbereich wird das Wachstum der betroffenen Wirtschaftszweige beschnitten, mithin von Branchen, die gerade auch für weniger qualifizierte Arbeitnehmer zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten bereitstellen können. - Anreize zur Arbeitsaufnahme müssen wie in der Agenda 2010 bestehen bleiben. - Ein angemessenes Mindesteinkommen könnte am ehesten durch das bedarfsgerechte Bürgergeld und eben nicht durch eine allgemeine Grundsicherung mit einem in jedem Fall garantierten Einkommen durch den Staat zwischen 600 und 800 Euro erzielt werden. Eigenverantwortung des einzelnen stärken Auch für die allgemeine Gesellschaftspolitik muss das Credo von „mehr Freiheit wagen“ wieder mehr Gültigkeit haben. Die Antidiskriminierungsgesetzgebung hat mehr Bürokratie, mehr Arbeit für Anwälte und nicht mehr Bewusstsein für die wichtigen Werte der Toleranz, Achtung von Minderheiten und von behinderten Menschen gebracht. Eigenverantwortung des einzelnen stärken muss besonders vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung auch die Maxime für die Zukunftsausrichtung der sozialen Sicherungssysteme sein. Hier ist die große Koalition weiter entfernt denn je von einem soliden Reformkurs. Kein wenigstens zaghafter Schritt in den Aufbau einer zweiten Säule der Kapitaldeckung in der Kranken- und Rentenversicherung ist in Sicht, stattdessen eine Ausdehnung der Leistungen in der Pflegeversicherung, ohne diese Umsteuerung wenigstens zu beginnen, verbunden mit einem Anstieg der Beiträge im nächsten Jahr. Es ist die Aufgabe des Liberalismus, darauf zu achten, dass Freiheit nicht unter die Räder gerät. Mit Beharrlichkeit für Realismus und Nüchternheit einzutreten, auch und gerade dort, wo es unbequem ist, das ist die Verantwortung liberaler Politik. Sonst wird es schwierig, den säuselnden Einflüsterern, die unter dem Deckmäntelchen des starken Staates überall Freiheitsrechte abbauen, Paroli zu bieten. Christian Ude, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München ---------------------------------------------------------------------------------------------Alte Befindlichkeiten und neue Fragestellungen: Deutschlands Parteien auf dem schwankenden Boden der Globalisierung Parteiprogramme sind auch nicht mehr, was sie einmal waren. Früher haben sie den Parteien klare Ziele vorgegeben, spielten in der politischen Debatte eine zentrale Rolle, trugen zur inhaltlichen Unterscheidung der Parteien bei und beflügelten mit ihren Zukunftsvisionen die jeweilige Anhängerschaft. Heute werden sie kaum noch zur Kenntnis genommen und tragen vornehmlich zur Politikverdrossenheit bei, indem sie deutlich machen, wie wenig das Regierungshandeln mit den vorangegangenen programmatischen Versprechungen zu tun hat. Früher gab es noch Unterschiede Früher hatten die Parteiprogramme noch eindeutige geistige Wurzeln, etwa in der Geschichte der Arbeiterbewegung oder in christlichen Lehren oder im Liberalismus. Heute verkünden sie fast wörtlich übereinstimmend die gleichen Werte, mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Wohlstand, mehr Solidarität, mehr Geld für jedermann, für das Gute und Schöne. Lieber reich und gesund als arm und krank. Auch klare politische Alternativen wurden aufgezeigt, etwa beim Aufbau der Bundesrepublik: Einheit oder Westorientierung, Überwindung des Kapitalismus oder Marktorientierung? Heute besteht politische Strategie von Parteien viel mehr darin, ins Klientel der Konkurrenz vorzustoßen. Die Christenunion propagiert plötzlich eine Kinderbetreuung, die sie vor einigen Jahren noch als staatlichen Eingriff in die Familie gebrandmarkt hat. Und sie bekennt sich dazu, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und zwar schon seit Jahrzehnten, was vorher jahrzehntelang heftig in Abrede gestellt worden ist. Umgekehrt versuchte die SPD unter Gerhard Schröder, als „neue Mitte” ins Unionsmilieu vorzudringen. Nicht programmatische Klarheit mit deutlicher Abgrenzung von der Konkurrenz ist das Ziel, sondern das Besetzen politischer Positionen im Themenfeld des Wettbewerbers. Widerspruch zwischen Programm und Praxis Am schlimmsten aber ist für das Wahlvolk der Widerspruch zwischen Programm und Praxis vor allem bei den Parteien, die Regierungsverantwortung übertragen bekommen. Die SPD beispielsweise beklagte in ihren programmatischen Aussagen und Wahlkämpfen die soziale Kälte einiger Kürzungen der Regierung Kohl, die sie dann später nach ihrem Wahlsieg bei weitem übertroffen hat. Umgekehrt hat die CDU mit Angela Merkel an der Spitze vieles verurteilt, was sie in der Regierungsverantwortung selbstverständlich beibehält, von der Ökosteuer bis zur Gewerbesteuer. Selbst für Oppositionsparteien gilt, dass ihr reales Handeln wenig mit den programmatischen Aussagen zu tun hat, wenn die noch aus Zeiten der Regierungsverantwortung stammen. So haben die Grünen als Regierungspartei der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme hohen Stellenwert beigemessen und drastische Kürzungen mitgetragen, um dann – kaum in die Opposition entlassen – 80 Milliarden für alle zu versprechen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer wurde in keinem Parteiprogramm angekündigt, die SPD vollbrachte aber das Kunststück, im Wahlkampf 2 % als Ausplünderung der kleinen Leute anzuprangern und nach der Wahl einen „Kompromiss” über 3 % zu schließen. Wen wundert es da, dass die Bevölkerung Ankündigungen politischer Parteien vom Grundsatzprogramm über die Wahlprogramme bis zu den konkreten Aussagen im Wahlkampf kaum noch zur Kenntnis nimmt? Ich behaupte: Das Problem ist nicht ein Theoriedefizit, sondern die Glaubwürdigkeitslücke. Die entscheidende Frage jeder Programmdiskussion müsste also lauten, was man wirklich unter den politischen Rahmenbedingungen und in der gegebenen Finanzlücke realisieren kann, und nicht, welche Wünsche sich übereinander türmen lassen, um jeder denkbaren Zielgruppe das Blaue vom Himmel zu versprechen. Parteiprogramme sollten nicht wohlklingende Verheißungen stapeln, die dann das reale politische Handeln umso armseliger erscheinen lassen, sondern realistische Auskunft geben, was man in den heute diskutierten Konfliktfragen konkret zu tun gedenkt. Das ist dann weniger visionär, aber konkreter und damit auch relevanter. Was kann Politik überhaupt? Eine entscheidende Aufgabe für die politischen Parteien liegt darin, ehrlich Auskunft zu geben, was politisch überhaupt noch beeinflusst werden kann angesichts europäischer Verträge, internationalisierter Wettbewerbssituationen und globaler Arbeitsteilung. Omnipotenz-Fantasien, wonach ein weltwirtschaftlich bedingter Aufschwung einem Kanzlerkandidaten zu verdanken sei, führen unweigerlich bei der Wählerschaft zu der logischen Konsequenz, dass „die Politik” auch für den folgenden Abschwung verantwortlich sei, auch wenn die weltwirtschaftlichen Faktoren durch nationale Gesetzgebung überhaupt nicht zu beeinflussen sind. Ehrliche Auskunft über die Grenzen der Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten würde zwar zur Ernüchterung beitragen und rauschhafte Begeisterung ausschließen, dafür aber auch vor ungerechtfertigten Enttäuschungen schützen und einen Dialog mit der Bürgerschaft auf Augenhöhe ermöglichen. Boris Palmer, Bündnis 90/Die Grünen, Oberbürgermeister der Stadt Tübingen ------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Die Auswirkungen des Klimawandels auf das politische Klima in Deutschland Wer den Klimawandel in seinen Produkten nicht berücksichtigt, kann sehr schnell vom Markt verschwinden. Das gilt auch für die Politik. Deshalb setzen wir Grünen auch zukünftig auf eine wirksame Klimaschutzpolitik. Die Grünen müssen den Klimaschutz in den Mittelpunkt ihrer Arbeit rücken. Und es muss klar sein, wir stehen nur für die zur Verfügung als Koalitionspartner, die endlich die wirksamen Maßnahmen, die notwendigen Maßnahmen zum Klimaschutz anpacken. Wer das nicht will, soll bitte mit anderen koalieren. Mögliche Koalition: Rot - Grün Die Grünen können zum Beispiel mit der SPD koalieren. Wir haben ja auch schon Erfolge in der letzten Regierungsverantwortung verzeichnen können. Wenn es aber um Straßenbau oder Kohlekraftwerke geht, ist Rot keinen Deut grüner als Schwarz. Denkbare Koalitions-Variante: Schwarz - Grün Die Union hat sich in den vergangenen Jahren erstaunlich bewegt. Ich glaube, dass es darum geht, produktive Kräfte zusammenzubringen, die vielleicht gar nichts miteinander zu tun haben. Ganz konkret, die CDU steht für die Wirtschaft. Die Grünen stehen für die Umwelt. In Zukunft müssen wir beides zusammenbringen. Es hat keinen Sinn, diese beiden Kräfte gegeneinander in Stellung zu bringen. Deswegen meine ich, eine schwarz-grüne Koalition könnte gerade dann, wenn sie umweltfreundliche Technologien als Triebfeder für wirtschaftliche Entwicklung begreift, mehr nach vorne bringen, als das klassische Verbleiben der Parteien in Schnittmengentheorien. Und es ist auch so, dass vieles von dem, was Rot-Grün überhaupt nicht mehr durchgebracht hat, weil die Wirtschaft dagegen war, mit Schwarz-Grün kein Problem wäre. Das sieht man jetzt. Die CDU regiert mit und plötzlich sind Dinge, die Rot-Grün niemals hätte schaffen können, möglich zum Beispiel die Mehrwertsteuererhöhung wäre mit Rot-Grün nie im Leben umsetzbar gewesen, die Wirtschaft hätte das verhindert. Und wenn sich das nutzbar machen lassen würde für die Ökologie, dann wäre das ein echter Fortschritt. Die Grünen-Wählerinnen und Wähler schätzen Angela Merkel sehr und sie scheint grüne Ideen ebenfalls zu mögen. Bei den Bundestagswahlen 2009 – so ist meine Prognose - wird „SchwarzGrün“ deutlich mehr Prozentpunkte erreichen als „Rot-Grün“. Daraus ergibt sich für mich die Frage: Mit welcher Koalition lässt sich mehr Klimaschutz erreichen? Meine Antwort lautet: mit Schwarz-Grün! Die Grünen können ihr ganzes Know-how in Umweltschutzangelegenheiten in diese Koalition mit einbringen und die Union hingegen kann auf die Wirtschaftsleute bauen, die Macht, Einfluss und Geld besitzen. Die CDU steht für die Wirtschaft. Die Grünen stehen für die Umwelt. In Zukunft müssen wir beides zusammenbringen. Für mich ist Schwarz-Grün unter der Voraussetzung, dass Angela Merkel nicht nur Symbolpolitik betreibt, sondern ernsthaft den Klimaschutz anpackt, durchaus eine Denkmöglichkeit. Andre Brie, Mitglied der Gruppe Die Linke im Europäischen Parlament ----------------------------------------------------------------------------------------------------- Die Linke. Links von allen oder fähig zum strategischen Projekt? Der Widerspruch zwischen der Selbstdefinition der Linken - klar links von allen anderen Parteien, auch der SPD - und ihrer prinzipiellen Opposition zur gegenwärtigen Politik einerseits und der erklärten Absicht, einen Beitrag zu einem neuen politischen Projekt in Deutschland und in der Europäischen Union zu leisten andererseits, die Beteiligung an einem Mitte-Links-Bündnis, einer rot-rot-grünen Koalition auf Bundesebene eingeschlossen, ist offensichtlich und groß. Ich bin jedoch erstens überzeugt, dass dieser Widerspruch vermittelbar ist. Zweitens plädiere ich dafür, dass die Linke bereits für die Bundestagswahl 2009 ihre Voraussetzungen für eine rot-rot-grüne Koalition schafft. Die Notwendigkeit einer klaren linken Opposition Ich möchte nur auf drei Gründe eingehen: Erstens sind wir mit einer beispiellosen sozialen Spaltung der Gesellschaft konfrontiert. Trotz der wirtschaftlichen Konjunktur und der deutlichen Verringerung von Arbeitslosenzahlen, sind viele Millionen Menschen in der Bundesrepublik in prekären und unsicheren Arbeitsverhältnissen, im Niedriglohnsektor oder beziehen das ALG I beziehungsweise II. Allein 440.000 Menschen erhalten ALG II, obwohl sie einen Vollzeitjob haben. Es entsteht eine millionenstarke neue Klasse der Ausgegrenzten und sozial Entsicherten. Für die Gesellschaft wird diese Politik bedrohlich werden. Gesellschaftliche Spaltung zerstört Demokratie und demokratische Wertorientierung, Solidarität, Gemeinsinn und Toleranz. Zweitens: Seit mindestens 15 Jahren hat sich im politischen System der Bundesrepublik eine zunehmende Vertretungslücke aufgetan: Tendenziell nahm die Wahlbeteiligung ab, die Zahl der Nichtwähler, die sich von den Parteien nicht vertreten fühlten, nahm zu. Es steht außer Zweifel, dass eine solche politische Vertretungslücke demokratisch und politisch gefährlich ist, zumal sie von rechtsextremer und xenophober Seite genutzt werden kann und wird. Drittens: In Deutschland haben sich wichtige Elemente eines politischen Wechsels herausgebildet. Der tiefe Pessimismus, bezogen auf die eigenen Lebensperspektiven bei größeren Teilen der Bevölkerung, die starke Differenz zu den politischen Institutionen der Bundesrepublik, die als Instrumente einer unsozialen Politik gesehen werden, und die mehrheitliche Unterstützung alternativer Forderungen gehören dazu. Ende des Jahres 2006 waren zwei Drittel der Bevölkerung der Auffassung, dass es in der Bundesrepublik ungerecht zugehe, ein Drittel sah sich auf der Verliererseite. Erstmals waren mehr Bürger mit der Funktionsweise der Demokratie in Deutschland eher unzufrieden als zufrieden. Fast alle fühlen sich durch die allgemeine Unsicherheit bedroht. Konturen einer politischen Ąlternative Wenn die Politik der vergangenen zwei Jahrzehnte an ihr Ende gekommen ist, weil ihre Reformpotenziale erschöpft sind und sie zu massenhafter sozialer Exklusion, gesellschaftlicher Spaltung und Ungerechtigkeit geführt hat, weil sie auch eine Reproduktions-, Demokratie- und Sicherheitskrise bedeutet, dann geht es für die Linke auch nicht nur um einzelne Korrekturen, sondern um einen politischen Richtungswechsel in Deutschland. Seine zentralen Elemente werden eine moderne Wiedergewinnung des Öffentlichen, des Gemeinwohls, gesellschaftliche Solidarität, sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit sein müssen. So meine ich beispielsweise, dass bei Hartz IV tatsächlich sofortige Korrekturen vor allem in der Höhe der finanziellen Beihilfe erforderlich sind. Die Linke sollte jedoch nicht die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe in Frage stellen, sondern sich dafür einsetzen, aus diesen Zahlungen heraus schrittweise und längerfristig eine bedarfsunabhängige Grundsicherung für alle Menschen zu entwickeln. Das Konzept eines dritten Wirtschaftssektors, jenseits von Öffentlichem Dienst und privater Wirtschaft, eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors vor allem im Bereich sozialer und ökologischer Dienstleistungen, geht in eine ähnliche Richtung und könnte ein wirksamer Beitrag zu einer neuen Vollbeschäftigung auf ökologisch nachhaltiger und sozial würdiger Grundlage sein. Die politischen Wettbewerber der Linken werden natürlich auch mit Forderungen nach stärkerer Verteilungs- und Steuergerechtigkeit konfrontiert werden, nach einer Re-Regulierung der internationalen Finanzmärkte, einer anderen Umwelt- und Energiepolitik, nach einer Stärkung von Bürgerrechten und partizipativer Demokratie und insbesondere einer anderen Bildungspolitik, die Schule als Ort von sinnvollem Leben und Solidarität fördert. Das größte Problem für die Linke wird sich zweifelsohne in der Außen- und Sicherheitspolitik ergeben. Angesichts des offensichtlichen Versagens internationaler Interventionspolitik in Afghanistan oder im Irak sind wesentliche Veränderungen tatsächlich nötig. Aber es ist auch klar, dass die gegenwärtigen außenpolitischen Vorstellungen der Linken grundsätzlich nicht mit denen der SPD und der Grünen kompatibel sind. Es ist Vieles offen in der Linken. Konkrete und gemeinsame Programmatik fehlen aus erwähnten Gründen noch. Aber ich bin überzeugt, dass die Linke das Potenzial dafür besitzt und das Sie sich darauf einstellen sollten, dass die Linke ihre Voraussetzungen für ein Mitte-Links-Bündnis schaffen wird.