% (!)Methoden und Disziplinen der Philosophie. Überlegungen zur Gegebenheit der Welt. Zugänge der Phänomenologie und Dekonstruktion“ !#' !& *Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Buch 1. Den Haag: Nijhoff 1950. [Hua III/1] *Heidegger, Martin: Zur Bestimmung der Philosophie. Frankfurt am Main: Klostermann 1987. [GA 56/57] *Derrida, Jacques: Limited Inc. Hg. v. Peter Engelmann. Übers. v. Werner Rappl und Dagmar Travner. Wien: Passagen 2001. #"% ' Flatscher Überlegungen zur Gegebenheit der Welt. Zugänge der Phänomenologie und Dekonstruktion Ring-Vorlesung WiSem 2009/2010 Methoden und Disziplinen der Philosophie Dr. Matthias Flatscher Aufbau der Vorlesung Aufbau der Vorlesung I. Phänomenologie als philosophische Strömung II. Edmund Husserl (1859-1938) III. Martin Heidegger (1889-1976) IV. Dekonstruktion als philosophische Strömung V. Jacques Derrida (1930-2004) VI. Zusammenfassung 2 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 1 Flatscher I. Phänomenologie I. Phänomenologie als philosophische Strömung 1. Begriffsklärung und Hauptvertreter • Die Phänomenologie ist eine der maßgeblichen philosophischen Strömung des 20. Jahrhunderts, die weit über den philosophischen Diskurs hinaus wirkt. • Hauptvertreter der klassischen Phänomenologie sind: Edmund Husserl (1859-1938), Martin Heidegger (1889-1976), Jean-Paul Sartre (1905-1980), Maurice Merleau-Ponty (1908-1961). • Phänomenologie heißt übersetzt (von griech. phainomenon [das Erscheinende] und logos [Lehre]) „Lehre vom Erscheinen“. 3 I. Phänomenologie • Das Erscheinen ist nicht als bloßer Schein zu verstehen (Phänomen als bloß subjektiv Erscheinendes vs. einer an sich seienden Wirklichkeit). • Vielmehr muss das Erscheinen als Sichzeigen gefasst werden: wie sich Seiendes für jemanden manifestiert. • Die Phänomenologie geht den Erscheinungsweisen (dem Wie der Gegebenheit) von Seiendem nach (Erfahrung). 4 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 2 Flatscher II. Husserl II. Edmund Husserl (1859-1938) 1. Biographische Eckdaten • • • • • • • • • • • 1859 in Proßnitz/Prostjov (Mähren) geboren 1876-86 Studium der Mathematik, Physik, Astronomie und Philosophie in Leipzig, Berlin und Wien 1887-1901 Privatdozent in Halle 1900 Logische Untersuchungen 1901 Professor in Göttingen 1913 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Ideen I) 1916 Professor in Freiburg 1928 Emeritierung 1933-38 Schikanierungen vonseiten des NS-Regimes 1936 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie 1938 in Freiburg gestorben 5 II. Husserl 2. Die Intentionalität des Bewusstseins • Den methodischen Einsatzpunkt bildet der Doppelsinn des Erscheinens: • Etwas erscheint mir, d. h. der subjektive Vollzug (das Erscheinen für mich) und das objektive Vorliegen des Erscheinens (das Erscheinen von etwas) bilden zwei voneinander nicht ablösbare Momente einer Einheit (Korrelationsapriori). • Welt und Bewusstsein bilden ein Geschehen, das weder auf die Seite des Subjektivismus noch auf die Seite des Objektivismus zu reduzieren ist. 6 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 3 Flatscher II. Husserl • Bewusstsein ist stets ein intentionales Bewusstsein, d.h. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. • Die Vollzugsdimension eines erfahrenden Bewusstseins ist für die Phänomenologie irreduzibel. • Das Sichzeigen des Gegenstandes bleibt an die Gegebenheitsweise für ein Bewusstsein rückgebunden. • Jeder Bewusstseinsvollzug ist somit nur als Gegenstandsbezug denkbar: - Kein Denken ohne Gedachtes, kein Fühlen ohne Gefühltes etc. - Kein Gesehenes ohne Sehen, kein Getastetes ohne Tasten etc. 7 II. Husserl • Die Annahme wird zurückgewiesen, dass das Bewusstsein zunächst leer sei und erst nachträglich mit weltlichen Inhalten gefüllt werden müsste (Container). • Die Phänomenologie lehnt den Subjekt-ObjektDualismus ab. • Das Bewusstsein ist als Bezogenheit zur Welt zu verstehen und nicht selbst als etwas an sich Seiendes. • Das Bewusstsein kommt nicht in einem zweiten Schritt zur Welt, sondern ist immer schon draußen bei den Dingen. 8 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 4 Flatscher II. Husserl 3. Überlegungen zur Wahrnehmung • Jedes wahrgenommene Seiende ist nur in einem subjekt-relativen Erscheinen für ein erfahrendes Bewusstsein gegeben. • Das bedeutet nicht, dass es sich im intentionalen Einssein um eine reelle Immanenz (psychologistischer Idealismus) handelt. • Der Gegenstand der Wahrnehmung bleibt der Wahrnehmung transzendent. 9 II. Husserl • Die Differenz zwischen Wahrgenommenen und Wahrnehmung zeigt sich darin, dass bei unterschiedlichen Wahrnehmungsakten derselbe Gegenstand anders wahrgenommen werden kann. • In der Wahrnehmung ist ein raum-zeitlicher Gegenstand nie vollends erschlossen, sondern notwendig immer nur in Abschattungen gegeben. • Wahrnehmen heißt nichts anderes als das Wahrnehmungsding perspektivisch sehen. 10 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 5 Flatscher II. Husserl • Raumzeitliche Dinge sind im Wahrnehmungsakt nie allseitig gegeben. • Wären sie vollends gegeben, könnte nicht mehr von Wahrnehmung gesprochen werden. • Husserl macht hier auf einen prinzipiellen Unterschied zwischen Wahrnehmung und anderen Arten der Bezugnahme auf Seiendes aufmerksam (z. B. reflexive Akte). • Die perspektivische Gegebenheit und die damit implizierte Unvollkommenheit zeichnet die Wahrnehmung als solche aus. 11 II. Husserl • Die Vorstellung einer vollkommenen Gegebenheit des Wahrgenommenen widerspricht dem Seinssinn des Vernehmens von raum-zeitlichen Dingen. • Die Phänomenologie weist die Annahme zurück, der Wahrnehmung wäre eine bloße Repräsentation des „echten“ Dinges zugänglich. • Die Idee eines Ansichseins des Dinges verkennt, dass das Sich-Geben in Abschattungen zum Gegebensein des Raumdinges gehört. • Es gibt keine wahre Welt hinter der phänomenalen! 12 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 6 Flatscher II. Husserl • Dennoch werden nicht bloß Vorderseiten eines Dinges wahrgenommen. • Jede Dingwahrnehmung impliziert über das originär Gegebene eine (transzendierende) Mehr-Meinung. • Der abgeschattete Gegenstand ist so gegeben, dass vermeintlich Nichtwahrgenommenes (z. B. Rückseite) mitgemeint wird. 13 II. Husserl „Gehen wir von einem Beispiel aus. Immerfort diesen Tisch sehend, dabei um ihn herumgehend, meine Stellung im Raume wie immer verändernd, habe ich kontinuierlich das Bewußtsein vom leibhaftigen Dasein dieses einen und selben Tisches, und zwar desselben, in sich durchaus unverändert bleibenden. Die Tischwahrnehmung ist aber eine sich beständig verändernde, sie ist eine Kontinuität wechselnder Wahrnehmungen. Ich schließe die Augen. Meine übrigen Sinne sind außer Beziehung zum Tische. Nun habe ich von ihm keine Wahrnehmung. Ich öffne die Augen, und ich habe die Wahrnehmung wieder. Die Wahrnehmung? Seien wir genauer. Wiederkehrend ist sie unter keinen Umständen individuell dieselbe. Nur der Tisch ist derselbe, als identischer bewußt im synthetischen Bewußtsein, das die neue Wahrnehmung mit der Erinnerung verknüpft.“ (Hua III/1, 84) 14 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 7 Flatscher II. Husserl • In den unterschiedlichen Gegebenheitsweisen zeigt sich der Gegenstand als derselbe. • In der Wahrnehmung vollzieht sich ein Mehr- und Mitmeinen. • Diese Synthesis-Leistung ist vom Bewusstsein immer schon in einer prä-reflexiven Weise vollzogen. 15 II. Husserl 4. Der raum-zeitliche Horizont jeder Wahrnehmung • Die Gerichtetheit des Bewusstseins impliziert, dass bei der Fokussierung auf ein einzelnes Seiendes mehr als nur dieses gegeben ist. • Stets ist der Wahrnehmung mehr mit-gegeben als das direkt Vorgestellte. • Etwas zeigt sich nie isoliert, sondern verweist immer schon auf anderes. 16 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 8 Flatscher II. Husserl „Im eigentlichen Wahrnehmen […] bin ich dem Gegenstande, z. B. dem Papier zugewendet, ich erfasse es als dieses hier und jetzt Seiende. Das Erfassen ist ein Herausfassen, jedes Wahrgenommene hat einen Erfahrungshintergrund. Rings um das Papier liegen Bücher, Stifte, Tintenfaß usw., in gewisser Weise auch ‚wahrgenommen‘, perzeptiv da, im ‚Anschauungsfelde‘ […]. Jede Dingwahrnehmung hat so einen Hof von Hintergrundsanschauungen […].“ (Hua III/1, 71) 17 II. Husserl • Der vernehmbare Gegenstand ist immer in einem räumlichen und zeitlichen Horizont eingebettet. • Der nie restlos gegebene Horizont bildet Hintergrund für jegliches Seiende. • These: Ohne die Vorgegebenheit dieses Kontextes könnte kein Seiendes vernommen werden. 18 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 9 Flatscher II. Husserl 5. Zwischenresümee • Husserl macht auf ein Mehr- und Mit-Mitmeinen des synthetischen Bewusstseins aufmerksam. • Trotz der perspektivischen Rückbindung zeigt sich Seiendes in einer „ganzheitlichen“ Gegebenheitsweise vor einem raum-zeitlichen Horizont. • Die Synthesis-Leistung wird vom Bewusstsein nicht ausdrücklich und nicht nachträglich, sondern immer schon und implizit vollzogen. • „Die äußere Wahrnehmung ist eine beständige Prätention, etwas zu leisten, was sie ihrem eigenen Wesen nach zu leisten außerstande ist. Also gewissermaßen ein Widerspruch gehört zu ihrem Wesen.“ (Hua XI, 3) 19 III. Heidegger III. Martin Heidegger (1889-1976) 1. Biographische Eckdaten 1889 in Meßkirch geboren 1909-1913 Studium der Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften in Freiburg 1919 Privatassistent bei Husserl in Freiburg 1923 Professor in Marburg 1927 Sein und Zeit 1928 Professor in Freiburg 1933-34 Rektor an der Freiburger Universität 1946-1949 Lehrverbot 1950 Holzwege 1976 in Freiburg gestorben 20 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 10 Flatscher III. Heidegger 2. Das menschliche Dasein als In-der-Welt-sein • Das menschliche Dasein ist für ihn dadurch ausgezeichnet, dass es je schon auf die Welt bezogen ist: • „Im Sichrichten auf... und Erfassen geht das [menschliche] Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon »draußen« bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in diesem »Draußen-sein« beim Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne »drinnen«, d. h. es selbst ist es als In-der-Welt-sein, das erkennt.“ (Heidegger, Sein und Zeit, 62) 21 III. Heidegger • Die menschliche Seinsweise (Dasein) wird als „Draußen-sein“ im Sinne eines „Offensein für...“ verstanden. • Das Selbstverhältnis des menschlichen Daseins artikuliert sich immer schon als Mit- und Umweltverhältnis, d.h. als Verständnis von innerweltlichen Seienden. 22 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 11 Flatscher III. Heidegger 3. Abgrenzung von Husserl • Heidegger ringt darum, die Weltlichkeit des menschlichen Daseins und seine Endlichkeit dezidierter zu fassen. • Das theoretische Welterkennen wird als ein abkünftiger Modus begriffen. • Heidegger rekurriert nicht mehr auf erkenntnistheoretische Fragestellungen im klassischen Sinne, sondern nimmt dezidiert den praktischen und vor-theoretischen Umgang mit Seiendem in den Blick. 23 III. Heidegger 4. Etwas als etwas verstehen • Seiendes ist zunächst nicht als bedeutungsnacktes Ding erschlossen, sondern aus dem besorgenden Zutunhaben verständlich. • Die Seinsweise dieses Seienden nennt Heidegger „Zeug“, das in einer „Um-zu“-Struktur gegeben ist (Seinsweise der Zuhandenheit) • Z. B. Der Bleistift fungiert für mich als Schreibwerkzeug, um meine Notizen zu machen. 24 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 12 Flatscher III. Heidegger • Seiendes begegnet nie neutral und nie indifferent (als bloßes Was), sondern aus der Praxis eines bestimmten Umgangs (spezifisches Wie). • Dabei haben wir Seiendes immer schon als etwas verstanden. • Die Als-Struktur ist vor-prädikativ und prä-reflexiv. • Seiendes ist dabei stets als bedeutsames in einer konkret-ganzheitlichen Weise erfahren. 25 III. Heidegger • Gehört werden nicht Schallwellen oder Lautkomplexe, die nachträglich interpretiert werden müssten, sondern etwas als etwas, z. B. als Hundegebell auf der Straße. • Selbst unbekannte Geräusche hören wir als Unbekanntes. • Die Als-Struktur ist für Heidegger unumgänglich: 26 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 13 Flatscher III. Heidegger „»Zunächst« hören wir nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad. […] Es bedarf schon einer sehr künstlichen und komplizierten Einstellung, um ein »reines Geräusch« zu »hören«. Daß wir aber zunächst Motorräder und Wagen hören, ist der phänomenale Beleg dafür, daß das [menschliche] Dasein als In-der-Welt-sein je schon beim innerweltlich Zuhandenen sich aufhält und zunächst gar nicht bei »Empfindungen«, deren Gewühl zuerst geformt werden müsste, um das Sprungbrett abzugeben, von dem das Subjekt abspringt, um schließlich zu einer »Welt« zu gelangen. Das Dasein ist als wesenhaft verstehendes zunächst beim Verstandenen.“ (Heidegger, Sein und Zeit, 163f.) 27 III. Heidegger 5. Die tragende Rolle der Bewandtnisganzheit • Um etwas als etwas erfahren zu können, muss es aus einem Bewandtniszusammenhang verstanden werden. • Es zeigen sich keine isolierten Einzeldinge, sondern sie kommen in vielfältigen Beziehungen stehend zum Vorschein. • Alle erfahrende Begegnung mit Seiendem vollzieht sich nur vor dem Hintergrund eines Beziehungsganzen. 28 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 14 Flatscher III. Heidegger „In den Hörsaal tretend, sehe ich das Katheder. […] Was sehe »ich«? Braune Flächen, die sich rechtwinklig schneiden? Nein, ich sehe etwas anderes. Eine Kiste, und zwar eine größere, mit einer kleineren daraufgebaut? Keineswegs, ich sehe das Katheder, an dem ich sprechen soll, Sie sehen das Katheder, von dem aus zu Ihnen gesprochen wird, an dem ich schon gesprochen habe. Es liegt im reinen Erlebnis auch kein – wie man sagt – Fundierungszusammenhang, als sähe ich zuerst braune, sich schneidende Flächen, die sich mir dann als Kiste, dann als Pult, weiterhin als akademisches Sprechpult, als Katheder gäben, so daß ich das Kathederhafte gleichsam der Kiste aufklebte wie ein Etikett. All das ist schlechte, mißdeutete Interpretation […].“(GA 56/57, 71) 29 III. Heidegger • Heidegger wendet sich gegen die nachträgliche Zusammensetzung zunächst isolierter Bestandteile. • Fundierungszusammenhänge auszumachen ist eine falsche Inblicknahme des verstehenden Wahrnehmens. 30 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 15 Flatscher III. Heidegger • „Ich sehe das Katheder gleichsam in einem Schlag; ich sehe es nicht nur isoliert, ich sehe das Pult als für mich zu hoch gestellt. Ich sehe ein Buch darauf liegend, unmittelbar als mich störend (ein Buch, nicht etwa eine Anzahl geschichteter Blätter mit schwarzen Flecken bestreut), ich sehe das Katheder in einer Orientierung, Beleuchtung, einem Hintergrund.“ (GA 56/57, 71) 31 III. Heidegger a) Schlagartig und unmittelbar, d. h. nicht aus irgendwelchen Prozessen – etwa theoretischen Reflexionsvorgängen – resultierend, zeigt sich das Katheder als Katheder. b) Diese Unmittelbarkeit ist in einen Gesamtzusammenhang eingebettet (vgl. akademisches Umfeld), von woher das Pult allererst seine Bedeutung (vgl. Ort für den Vortragenden) erhält. c) Im Vordergrund steht nicht ein theoretisches Erfassen, sondern der praktische Umgang. Das Zutunhaben ist dabei an lebensweltliche Vollzüge des menschlichen Daseins (vgl. Wiederholung von „ich“) rückgebunden. d) Selbst diejenigen, die den akademischen Kontext nicht kennen, werden dem Katheder eine bestimmte Bedeutung vor einem bestimmten Hintergrund zuschreiben. 32 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 16 Flatscher III. Heidegger 6. Zwischenresümee • Verstehen heißt etwas als etwas zu verstehen. • Die hermeneutische Als-Struktur ist immer schon vollzogen. • Etwas erscheint daher nie bedeutungsnackt und auch nie isoliert. • Um etwas als etwas zu verstehen, muss es aus einer Bedeutungsganzheit erfahren werden. • Dieser Gesamtkontext ist an den Vollzug des erfahrenden Selbst rückgebunden. 33 IV. Dekonstruktion IV. Dekonstruktion als philosophische Strömung 1. Einsatzpunkt der Dekonstruktion • Als Hauptvertreter der Dekonstruktion gilt Jacques Derrida. • Im Gegensatz zu einer (negativ konnotierten) Zerschlagung der Tradition möchte die De-kon-struktion eine Auseinandersetzung mit der Überlieferung betonen. • „Die Bewegungen dieser Dekonstruktion rühren nicht von außen an die Strukturen. Sie sind nur möglich und wirksam, können nur etwas ausrichten, indem sie diese Strukturen bewohnen [...]. Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mitteln der alten Struktur zu bedienen [...].“ (Derrida, Grammatologie, 45) 34 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 17 Flatscher IV. Dekonstruktion • Derrida unterstellt der Metaphysikgeschichte den Rückgriff auf ein regulierendes Zentrum und die Inanspruchnahme einer Geschlossenheit der Systeme. • Er überprüft die überkommenen Fundierungsverhältnisse auf ihre Stringenz und zeigt, inwiefern die scheinbar sicheren Fundamente aufgrund interner Widersprüche ins Wanken geraten. 35 V. Derrida V. Jacques Derrida (1930-2004) 1. Biographische Eckdaten 1930 in El-Biar (Algerien) geboren 1952–54 Studium an der École Normale Supérieure in Paris 1960-64 Wissenschaftlicher Assistent an der Sorbonne 1965-84 Maître-Assistant an der École Normale Supérieure 1967 De la grammatologie 1972 Marges de la philosophie Ab Mitte der 1980er Jahre wendet sich D. explizit Fragen des Ethischen und Politischen zu. 2004 in Paris gestorben 36 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 18 Flatscher V. Derrida 3. Thesen Derridas • Es gibt keine ungeteilte Unmittelbarkeit oder ein reines Ereignis. • Alles, was uns gegeben ist, ist in Wiederholungszusammenhängen gegeben. • Singuläres Sichereignen und wiederholte Bezugnahmen schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. 37 V. Derrida 4. Derridas Konzeption der Iterabilität (Wiederholbarkeit) • Das Wie der Wiederholung ist weder von einem vollziehenden Ich noch von einem Kontext restlos zu kontrollieren oder vollends abzuschließen. • In der Wiederholung wird nicht ein selbst-identischer Kern repetiert, sondern durch die Iteration konstituiert sich erst eine (Quasi-)Identität. • Die Als-Struktur wird sich dabei stets als prekäre erweisen. • Stets wird das „Etwas-als-etwas-Verstehen“ auch anders verstanden werden können. 38 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 19 Flatscher V. Derrida • Jede vermeintliche Unmittelbarkeit oder jedes singuläre Ereignis ist gespalten, von einer Wiederholbarkeit durchzogen: • „Die Zeit und der Ort des anderen Mals (the other time) arbeiten und verändern schon at once, sogleich, das erste Mal, den ersten Schlag und das at once. Solcherart sind die Tücken, die mich interessieren: das andere Mal im ersten Mal, mit einem Schlag, at once.“ (Derrida, Limited Inc., 103; Übers. mod.) 39 V. Derrida • Jeder Moment ist zugleich konstituiert und gespalten durch die Wiederholbarkeit dessen, was sich darin als Singuläres ereignet. • Identitäten (etwas als etwas) liegen nicht fertig vor, sondern sie generieren sich nur und immer wieder (anders) in der Zeit aus diesen Akten der Wiederholung. • Die Differenz fungiert somit als inhärentes Moment der Identität, indem sie für Veränderungen stets schon geöffnet ist, um (anders) zu bleiben. • Die Iterabilität ist dabei zugleich Bedingung der Möglichkeit und Bedingung der Unmöglichkeit jeder Identität und damit jedes Verstehens von etwas als etwas. 40 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 20 Flatscher VI. Zusammenfassung VI. Zusammenfassung • Die Phänomenologie konterkariert einen Subjekt-ObjektDualismus, indem sie die Gerichtetheit des Daseins zur Welt herausstreicht. • Husserl macht auf ein Mehr- und Mit-Mitmeinen des synthetischen Bewusstseins aufmerksam. • Trotz der perspektivischen Rückbindung zeigt sich Seiendes in einer „ganzheitlichen“ Gegebenheitsweise vor einem raumzeitlichen Horizont. • Die Synthesis-Leistung wird vom Bewusstsein nicht ausdrücklich und nicht nachträglich, sondern immer schon und implizit vollzogen. 41 VI. Zusammenfassung • Verstehen heißt für Heidegger stets etwas als etwas zu verstehen. • Die hermeneutische Als-Struktur ist immer schon vollzogen. • Etwas erscheint daher nie bedeutungsnackt und auch nie isoliert. • Um etwas als etwas zu verstehen, muss es aus einer Bedeutungsganzheit erfahren werden. • Dieser Gesamtkontext ist an den Vollzug des erfahrenden Ich rückgebunden. • Derrida konterkariert eine vermeintlich stabile Als-Struktur, indem er die Rückbindung aller singulären Ereignisse an Wiederholungspraktiken aufzeigt. 42 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 21 Flatscher Literatur Literatur • Derrida, Jacques: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. • Derrida, Jacques: Limited Inc. Hg. v. Peter Engelmann. Übers. v. Werner Rappl und Dagmar Travner. Wien: Passagen 2001. • Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 161986. [SZ] • Heidegger, Martin: Zur Bestimmung der Philosophie. Frankfurt am Main: Klostermann 1987. [GA 56/57] • Husserl, Edmund: Analysen zur passiven Synthesis. Den Haag: Nijhoff 1966. [Hua XI] • Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Buch 1. Den Haag: Nijhoff 1950. [Hua III/1] 43 http://homepage.univie.ac.at/matthias.flatscher/ 22 70 Analyse der Erlebnisstruktur deres, das »Etwas«, angehängt wurde. pas Erleben und das }?Elebte als solches sind nicht wie seiende Gegenstände zusammengestückt~ Die Nicht-Sachartigkeit des Erlebnisses und jedes Erlebnisses überhaupt ließe sich prinzipiell schon an diesem einzigen Erlebnis zum absoluten, schauenden Verständnis bringen. § 14. Das Umwelterlebnis Wir wollen aber, nicht lediglich zum Zweck der Verständniserleichterung, ein zweites Erlebnis uns vergegenwärtigen, das zum ersten in einem gewissen Kontrast steht, das uns zugleich mit der Sichtbarmachung dieses Kontrastes in der Problemrichtung fördert. Das erste, das Frageerlebnis »Gibt es etwas?« ergab sich uns seinem Gehalt nach aus dem Verfolg der Annahme eines einzigen und ausschließlichen Sachzusammenhangs als existentem (Verabsolutierung der Sachartigkeit). Das möchte den Anschein erwecken, als wäre uns beim jetzigen Stand unserer Problematik die Wahl eines anderen Erlebnisses zu Zwecken der Analyse vorgeschrieben. Das ist nicht der Fall; und daß es nicht der Fall zu sein braucht, daß vielmehr eine bestimmt faßbare Möglichkeit besteht, jedes Erlebnis in die Analyse einzubeziehen und es als Exempel zu nehmen, läßt sich evident machen. Aber dieser Bereich der Auswahlmöglichkeit erstreckt sich doch nur auf meine Erlebnisse, die ich habe, die ich gehabt habe. Geben wir das zu, steigern wir die >Voraussetzungen< noch um eine ganz grobe. Ich bringe mir selbst nicht nur für mich ein neues Erlebnis zur Gegebenheit, sondern bitte Sie alle, jedes vereinzelte Ich-Selbst, das hier sitzt, dasselbe zu tun. Und zwar wollen wir uns in ein bis zu einem gewissen Grade einheitliches Erlebnis versetzen. Sie kommen wie gewöhnlich in diesen Hörsaal um die gewohnte Stunde und gehen auf Ihren gewohnten Platz zu. Dieses Erlebnis des »Sehens Ihres Platzes« § 14. Das Umwelterlebnis 71 halten Sie fest, oder Sie können meine eigene Einstellung ebenfalls vollziehen: In den Hörsaal tretend, sehe ich das Katheder~. Wir nehmen ganz davon Abstand, das Erlebnis sprachlich zu formulieren. Was sehe »ich«? Braune Flächen, die sich rechtwinklig schneiden? Nein, ich sehe etwas anderes. Eine Kiste, und zwar eine größere, mit einer kleineren daraufgebaut? Keineswegs, ich sehe das Katheder, an dem ich sprechen soll, Sie sehen das Katheder, von dem aus zu Ihnen gesprochen wird, an dem ich schon gesprochen habe. Es liegt im reinen Erlebnis auch kein - wie man sagt - Fundierungszusammenhang, als sähe ich zuerst braune, sich schneidende Flächen, die sich mir dann als Kiste, dann als Pult, weiterhin als akademisches Sprechpult, als Katheder gäben, so daß ich das Kathederhafte gJeichsam der Kiste aufklebte wie ein Etikett. All das ist schlechte, mißdeutete Interpretation, Abbiegung vom reinen Hineinschauen in das Erlebnis. Ich sehe das Kathege:rgleich,~ sa.:gI..in einem Schlag; ich sehe es nicht nur isoliert, ich sehe das Pult als für mich zu hoch gestellt. Ich sehe ein Buch darauf liegend, unmittelbar als mich störend (ein Buch, nicht etwa eine Anzahl geschichteter Blätter mit schwarzen Flecken bestreut), ich sehe das Katheder in einer Orientierung, Beleuchtung, einem Hintergrund. Gewiß werden Sie sagen, das mag im Erlebnis unmittelbar vorfindlich sein, für mich, in gewisser Weise auch für Sie, denn auch Sie sehen diese Holz- und Bretter-Anordnung als Katheder. Dieser Gegenstand, den wir alle hier wahrnehmen, hat lt:gendwie die bestimmte Bedeutung »Kathede~«. Anders ist es schon, wenn wir einen Bauern vom hohen Schwarzwald in den Hörsaal führen. Sieht der das Katheder, oder sieht er eine Kiste, einen Bretterverschlag?ßr sieht »den Platz für den Lehrer«, er sieht den Gegenstand als mit einer Bedeutung behaftet. Ge§etzt den Fall, jemand sähe eine Kiste, so sähe er nicht ein Stück Holz, eine Sache, einen Naturgegenstand. Aber denken wir uns einen Senegalneger als plötzlich aus seiner Hütte hier herein verpflanzt. Was er, diesen Gegenstand anstarrend, sähe, Analyse der Erlebnisstruktur § 15. Vorgang und Ereignis wird im einzelnen schwer zu sagen sein, vielleicht etwas, was mit~auberei zu tun hat, oder etwas, hinter dem man guten Schutz gegen Pfeile und Steinwürfe fände, oder aber, was das vVahrscheinlichste ist, er wüßte damit nichts anzufangen,ßlso ~~jilI~ bloß Farbenkomplexe und Flächen, eine bloße Sache, ~n Etwas, das es einfachhin gibt? Also mein Sehen und das des Senegalnegers sind doch grundverschieden. Sie haben nur noch das Gemeinsame, daß in beiden Fällen etwas gesehen wird. Mein Sehen ist ein im höchsten Grade individuelles, das ich keinesfalls ohne weiteres der Erlebnisanalyse zugrundelegen darf, denn die Analyse soll doch am Ende im Zusammenhang einer Problembearbeitung allgemeingültige, wissenschaftliche Resultate liefern. Gesetzt, die Erlebnisse wären grundverschieden, es gäbe überhaupt nur meine Erlebnisse, so behaupte ich, sind doch allgemeingültige Sätze möglich. Darin liegt, daß diese Sätze auch von dem Erlebnis des Senegalnegers gälten. Sehen wir nochmal von dieser Behauptung ab, und bringen wir uns das Erlebnis des Senegalnegers nochmal zur Gegebenheit. Selbst wenn er das Katheder als bloßes Etwas, das da ist, sähe, hätte es für ihn eine Bedeutung, ein bedeutungshaftes Moment. Es besteht aber die Möglichkeit, zur Evidenz zu bringen, daß die Annahme, der plötzlich hierher verpflanzte nichtwissenschaftliehe (nicht: kulturlose) Senegalneger sähe das Katheder als bloßes Etwas, das existiert, widersinnig, nicht widersprechend, d. h. logisch-formal unmöglich ist. Vielmehr wird der Neger Qas Katheder sehen als ein Etwas, »mit dem er nichts anzufangen weiß«. Das Bedeutungshafte des »zeuglichen Fremdseins« und das Bedeutungshafte »Katheder« sind ihrem Wesenskern nach absolut identisch. In dem Erlebnis des Kathedersehens gibt sich mir etwas aus einer unmittelbaren Umwelt. Dieses Umweltliche (Katheder, Buch, Tafel, Kollegheft, Füllfeder, Pedell, Korpsstudent, Straßenbahn, Automobil usf. usf.) sind nicht Sachen mit einern bestimmten Bedeutungscharakter, Gegenstände, und dazu noch. aufgefaßt als das und das bedeutend, sondern das Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne I~den gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen. In einer -Umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist alles ~h.aft, »es weltet«, was nicht zusammenfällt mit dem »es ·wertet«. (Das Problem des Zusammenhangs bei der gehört zur Idee der eidetischen Genealogie der primären Motivationen und führt in schwierige Problemsphären. ) 72 73 § 15. Vergleich der Erlebnisstrukturen. Vorgang und Ereignis Vergegenwärtigen wir uns wieder das Umwelterlebnis, mein Kathedersehen. Finde ich im reinen Sinn des Erlebnisses, hinschauend auf mein sehendes Verhalten zu dem umwelthaft sich gebenden Katheder, so etwas wie ein Ich? In diesem Erleben, in diesem Hinleben zu, liegt etwas von mir: Es geht mein Ich voll _~us sich heraus und schwingt mit in diesem >Sehen<, ebenso wie das Eigene des betreffenden Negers in seinem Erleben des »Etwas, womit er nichts anfangen kann« mitanklingt. Genauer: NU_Tin dem Mitanklingen des jeweiligen eigenen Ich erlebt es ~in Umweltliches, weltet es, und wo und wenn es für mich wel_tet, bin ich irgendwie ganz dabei. Halten wir daneben das Frageerlebnis. Darin finde ich mich selbst nicht vor. Das Etwas überhaupt, nach dessen »es geben« gefragt ist, weltet nicht. Das Welthafte ist hier ausgelöscht, fassen wir jedes mögliche Umweltliehe als Etwas überhaupt. Dieses Fassen, Fest-stellen als Gegenstand überhaupt, lebt auf Kosten der Zurückdrängung meines eigenen Ichs. Es liegt im Sinne des Etwas überhaupt, daß ich nicht in der Fest-stellung seiner als solchen mitschwinge, sondern dieses Mitschwingen, dieses Mitherausgehen meiner ist unterbunden. Das Gegenstand-, das Objektsein als solches berührt mich nicht. Das Ich, das fest-stellt, bin ich gar ~J~t.~~hr. Das Feststellen als Erlebnis ist nur noch ein Rudi-