Mit dem Luder Lulu fing es an

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BODO VITUS / PHOTO SELECTION
Starsopranistin Schäfer: Frisch aus dem Fleischerladen
SÄNGER
Mit dem Luder Lulu fing es an
Sie mag Mozart und Madonna, Zwölfton und HipHop:
Jetzt ist die Berliner Starsopranistin Christine Schäfer mit einer
Boulez-CD für den begehrten Grammy nominiert worden.
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REX FEATURES / ACTION PRESS
C
remeschnitte. Das ist das Passwort.
Nur wer von dem süßen Geheimnis
weiß, findet Einlass. Aber nicht mal
auf ihrer Türklingel steht der seltsame
Code; das Namensschild ist leer. Bloß auf
einem der Hausbriefkästen ist das Naschwerk vermerkt. Der Postbote weiß Bescheid: Hier kommen Sendungen rein für
Christine Schäfer, 10115 Berlin-Mitte.
Bulette oder Hackepeter würden, als
verschlüsselte Adressaten, eigentlich besser
passen. Denn als Backfisch hatte Christine,
die Metzgerstochter, durchaus daran gedacht, die elterliche Fleischerei zu übernehmen oder dort zumindest eine Lehre zu
machen, „ich bin halt ein handwerklicher
Typ“. Dann würde sie jetzt, familientreu in
der fünften Generation, in Frankfurt am
Main hinter der Theke stehen und, „da ich
sie immer noch wahnsinnig gern mag“, ein
Loblied auf die Fleischwurst singen.
Stattdessen steht sie auf der Bühne der
New Yorker Met, der Berliner Philharmonie oder des Salzburger Festspielhauses
und singt Bach, Berg, Boulez.
Popstar Madonna
Aufgefrischt und aufgemischt
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s p i e g e l
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Ein Sopran; lyrisch, aber nicht kuschlig;
manchmal zerbrechlich zart, nie aber dünn.
Keine Röhre, kein vokales Triebwerk;
selbst bei vollem Schub kultiviert und noch
in waghalsigen Koloraturen flexibel. Perfekt in der Führung, cool in der Intonation, leuchtend auch in artistischen Hochlagen. So könnte das Hosianna der Branche
schon stimmen, Schäfer sei Deutschlands
erste Operndiva des 21. Jahrhunderts.
Stimmt aber nicht: Christine Schäfer, 37,
ist nicht die Spur Primadonna. Sie sonnt
sich nicht im Chichi der philharmonischen
Liebediener, und sie rauscht auch nicht –
küss die Hand, Frau Kammersängerin –
mit theatralisch wehenden Schals herein,
herum und heraus. Vor allem aber trägt sie
nie die Gloriole einer Begnadeten vor sich
her, sondern – seit letztem Dezember – allenfalls ein stoßsicher geschnürtes Bündel
namens Alva, ihre zweite Tochter.
Die geburtsbedingte Auszeit ist jetzt abgefeiert, Schäfers gehen wieder auf Tour.
Vorletztes Wochenende, für die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss, reisten
Christine und Alva nach Luxemburg, und
wenn die Sängerin zur kommenden Wochenwende, was noch nicht feststeht, nach
New York abheben sollte, dann wird auch
die zweieinhalbjährige Helena zur Crew
gehören. Das Trio soll komplett sein, falls
Mama das blaue Stimmband holt.
Wenn. In Sicht ist die Trophäe durchaus,
sicher ist sie nicht. Am kommenden Sonntag wird die Recording Academy zum 45.
Mal ihre Grammy Awards verleihen, denen
der internationale Musikbetrieb genauso
hysterisch entgegenfiebert wie die Filmbranche den Oscars: Die Veranstalter rechnen mit fast zwei Milliarden Fernsehzuschauern, ein globales Glitzerding wird
erwartet, eine knallige Werbetrommel.
104 Grammys werden in diesem Jahr
vergeben, für Rock, Rap, Reggae und alle
möglichen modischen Verlautbarungen des
Pop-Gewerbes; aber mit immerhin einem
Dutzend Prämien wird auch klassisches
Tongut und damit ein Geschäftszweig bedacht, der abzusterben droht und schon
deshalb für jeden Kick dankbar ist.
Im E-Gewerbe sind diesmal unter anderen der Dirigent Nikolaus Harnoncourt
und der Musik-Multi Daniel Barenboim
nominiert, Hilary Hahn, die schöne Geigenvirtuosin, die amerikanische Sopranistin Renée Fleming und, als einzige deutsche Solistin, Christine Schäfer.
„Klar doch“, sie hat sich „wahnsinnig
gefreut“, bei dieser großen Konkurrenz
schon mal unter die Preiswürdigen befördert worden zu sein, „vor allem mit einer
Produktion“, die sich, da hat sie Recht,
„nun wirklich nicht als süffiger Ohrwurm
anbietet“: Spezereien von Pierre Boulez,
dem Nestor der Neutönerei, haben für das
Musikestablishment immer noch den Hautgout anämischer Kopfgeburten, und auch
die Recording Academy verschließt vor
derlei meist die Ohren.
Kultur
Mozart-Interpretin, Schubert-Sängerin Schäfer*: Selbst bei vollem Schub kultiviert
Zuerst spürte die Vokalistin denn auch
„furchtbaren Bammel“ vor dem vertrackten Notenbild, „die Lernarbeit war heftig“.
Aber dann hatte sie das Stück drauf und erledigte ihren Job wie eine perfekte Sachbearbeiterin für zeitgenössischen Tonsatz.
Aber Schäfer kann auch ganz anders:
verrucht sein, Flittchen, Männer mordendes
Frauenzimmer. Doch auch wenn sie Alban
Bergs Lulu singt und unter Kanzonetten,
Kavatinen und Koloraturen wollüstig zu
Grunde geht, dann nicht als mondäne Konkubine, sondern als ein Häufchen Elend
zwischen Sex und Crime. Und genau mit
diesem kaputten Rollenbild lieferte sie 1995
den Salzburger Festspielen ein Glanzstück.
* Als Cherubino in „Figaros Hochzeit“ bei den Salzburger Festspielen 2001; beim Vortrag der „Winterreise“
während der RuhrTriennale 2002 mit Irvin Gage.
unter der Dusche. Brava, Christine Schäfer
hat es gepackt. Sie könnte zufrieden sein.
Ist sie aber nicht. Das klassische Ritual
stinkt ihr, das philharmonische Establishment sei „scheinbar rettungslos verkrustet“, die Vergreisung der Klientel „nicht
aufzuhalten“: „Bei meinen Liederabenden
sind die meisten Zuhörer über 60.“ Das
aber sei „das Schlimmste“: dass das gängige Repertoire „wie eine heilige Kuh“ behandelt werde, „nur ja nichts Neues probieren“. Das Konzertleben erstarre in
züchtiger Langeweile. Und deshalb büxt
sie immer häufiger aus – und immer kesser.
Für eine Videoproduktion von Robert
Schumanns „Dichterliebe“, die ihr Lebenspartner Oliver Herrmann inszenierte, verkroch sie sich, nur in Federboa und Spitzenfummel
gehüllt, in eine rauchige
Berliner Kaschemme und
besang dort, eine filterlose
Zigarette zwischen den Lippen, den „wunderschönen
Monat Mai“. Bei der ersten
RuhrTriennale im vergangenen Herbst trat sie – hochschwanger – Schuberts „Winterreise“ in einem Boxring
an und reichte während der
Darbietung ihrem Klavierbegleiter Irvin Gage saure
Gurken. Und wenn sie im
Radio Plattentipps gibt, legt
sie immer nur Pop-Titel auf:
„Wir müssen nicht die Jungen zu Beethoven führen,
sondern die Alten auf Pop
einstimmen.“
Sie selbst kennt keine
Gütertrennung. Madonna,
sagt die Schubert-Interpretin
Schäfer, sei „einfach Spitzenklasse“, Whitney Houston
glänze mit „geradezu phänomenalen Koloraturen“,
bei HipHop und TripHop
passierten heute „sehr viel
aufregendere Dinge“ als beim
steifleinenen Zeremoniell klassischer Soireen. „Warum nicht mittels Modem und
Mischpult auch mal in die Substanz und die
Strukturen altehrwürdiger Partituren eingreifen?“
Ehrenwort, da wäre sie dabei. Durch
technisch manipulierte und verfremdete
Klassik-Produktionen, glaubt sie, könnte
das Repertoire „in unglaublich vielen Variationen“ aufgefrischt werden; auch ließen
sich tönende Altwaren durch zeitgenössischen Tonsatz aktualisieren: „Warum zum
Beispiel nicht Heinrich Schütz à la Christine Schäfer?“
Sollte sich für derlei unerhörte Paarungen keine der etablierten CD-Gesellschaften erwärmen, will sie die Novitäten selbst in Umlauf bringen. Einen Namen für ihr Label hätte sie schon: Cremeschnitte.
K LAUS U MBACH
DAVID BALTZER / ZENIT
Das Luder Lulu hatte es Christine Schäfer schon angetan, als sie noch bei den Ursulinen in die Penne ging. Wenn seinerzeit
das Zwölfton-Stück auf dem Programm der
Frankfurter Oper stand, rannte der Teenager hin, „ich konnte einfach nicht genug
davon kriegen“: „‚Lulu‘ ist schuld, dass ich
Sängerin werden wollte.“
Fast genauso vernarrt war das Mädchen
in Strawinskis Jahrhundert-Schocker „Sacre du printemps“. „Wenigstens einmal am
Tag“ ließ sie sich vom Wumm der berüchtigten Nummer besoffen dröhnen. Und
selbst komponiert hat sie damals auch,
„lauter wahnsinnig laute Sachen“, unter
deren brachialen Akkorden die Wände im
Fleischerladen wackelten. „Meine Eltern
RUTH WALZ
Und nun liegt Schäfer ausgerechnet mit
einem echten Außenseiter im Rennen.
Boulez’ Komposition „Pli selon pli“ (Falte
auf Falte), eine Hommage an den französischen Symbolisten-Dichter Stéphane
Mallarmé (1842 bis 1898), gehört zu den
diffizilsten und faszinierendsten Partituren
der musikalischen Neuzeit.
Tatsächlich scheint der fünfteilige Sonette-Zyklus für Schäfer wie gemacht: ein
Fest der Nuancen zwischen fahlen Klangschleiern und polierter Brillanz, lyrisch in
der Stimmung, kristallklar in der Diktion,
mit Sopranspitzen von gestichelter Präzision und mit Halbtönen von narkotischem
Reiz. Kurzum, ein Glasperlenspiel der Gurgel – und ein belkantistischer Härtetest.
haben mich für bekloppt erklärt“ – und
ihr nach dem vorzeitigen Abgang vom Lyzeum ein Musikstudium in Berlin spendiert. Bei den dortigen Festwochen debütierte sie 1988 in der Uraufführung von Aribert Reimanns „Nachtträumen“.
Damit war sie auf der Szene, aber noch
längst nicht oben. Ihre Stimme sei zu klein
für die Oper, kritisierten Gesangspädagogen. Sie wirke blass, nörgelten Kritiker, fast unnahbar. Schäfer sei ein flippiger
Twen mit ein bisschen Soubretten-Charme
in der Kehle, mehr nicht.
Inzwischen hat Schäfer jede Menge
Mozart (Cherubino, Pamina, Zerlina, Constanze) gesungen, die Gilda in „Rigoletto“,
die Sophie im „Rosenkavalier“, Donizettis
übergeschnappte Lucia di Lammermoor.
Bach singt sie, Schubert, Johann Strauß.
Unter Abbado, Rattle, Harnoncourt und
d e r
s p i e g e l
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