Sieglinde Hartmann – Tischvorlage zur 2. Vorlesung SS 2011: Die Entdeckung der Liebe im Mittelalter: Vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein I. Kritische Reflexion des Begriffs ‚Mittelalter’ und methodische Aufgaben Traditionelle Einteilung westlicher Geschichte in griechisch-römische Antike, christliches Mittelalter und Neuzeit. Neuere Gliederungsversuche: 1) Bisherige Epochenbegriffe durch neue Paradigmen zu ersetzen: ‚Vormoderne – Moderne’. 2) Synchrone Geschichtsbetrachtungen: ‚Synchronie – Diachronie’. Mit der Synchronie im Blick, vermisst man die flächenmäßige Ausdehnung eines geschichtlichen Phänomens und aus Sicht der Diachronie ermisst man die zeitliche Dauer, von den Anfängen bis zu den Endpunkten oder Ausläufern geschichtlicher Entwicklungen bzw. Bewegungen. 3) Eine dritte Form der Geschichtsbetrachtung bietet folgende Vorgehensweise: Man behält zunächst Epochenbegriffe als begriffliche Leitmarken bei. Sodann wendet man sich den ausgewählten Gegenständen mit dem Blick synchronischer Detailanalyse zu und versucht erst danach, die solchermaßen herausgestellten Besonderheiten in einem geschichtlichen Kontinuum zu verorten. II. Die Epochengliederung des Mittelalters das Frühmittelalter von ca. 750-1100 = Gründerzeit des Mittelalters, Epoche nach der Völkerwanderung, von der Begründung des christlichen Römischen Kaiserreiches durch Karl den Großen bis zur Konsolidierung der römisch-christlichen Kaiserherrschaft in Westeuropa. das Hochmittelalter von 1100-1250 = Kernphase des Mittelalters: kulturelle, politische und wirtschaftliche Blütezeit der höfischen Kultur, Entstehung der klassischen Werke deutscher und französischer Literatur, erstes Zeitalter (mentaler) Entdeckungen: Seele, Liebe, Individuum. das Spätmittelalter von 1250-1500 = beträchtlicher wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungsschub im Innern (Aufblühen städtischer Kultur + Erfindung des Buchdrucks), Expansion nach Außen durch Fernhandel und Entdeckungen in Ost-Asien und Amerika = Zeitalter der Entdeckungen. III. Epochengliederung der deutschen Sprachgeschichte: ca. 750-1050 Althochdeutsch 1050-1350 Mittelhochdeutsch 1350-1650 Frühneuhochdeutsch seit 1650 Neuhochdeutsch IV. Blütezeit höfischer Literatur = Staufische Klassik = Herrschafts-Epoche der 3 Kaiser aus der Dynastie derer von Hohenstaufen (Schwaben) Kaiser Friedrich I. Barbarossa (ca. 1122-1190), sein Sohn Kaiser Heinrich VI. (1165-1197) und sein Enkel Kaiser Friedrich II. (1194-1250). Trägerschicht höfischer Kultur: Ritter. Definition des Begriffs ‚Ritter’: = Bezeichnung für die wehrhaften, schwer gerüsteten, berittenen Krieger des europ. Mittelalters. Bewaffnung: Lanze, Schwert, Schild, Panzer, Helm. Seit den Kreuzzügen – Wandel im Selbstverständnis der berittenen Krieger: neues Ideal: „miles christianus“. 1. Pflicht: Gottesdienst (Kreuzzug), 2. Pflicht: Minnedienst. Ethische Grundlage: Tugendkatalog. Militärische Ausbildung als Knappe bei fahrendem Ritter oder in Fürstendienst. Erhebung in Ritterstand durch Schwertleite. Historisches Beispiel: Das Mainzer Pfingstfest von 1184: Schwertleite der Söhne Kaiser Friedrich Barbarossas. Literarisches Beispiel: Siegfrieds Schwertleite im ‚Nibelungenlied’. Sek.-Lit.: Ehlers, Joachim: Die Ritter. Geschichte und Kultur. München 2006 (= C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2392). V. Die wissenschaftlichen Wiederentdecker der mittelalterlichen Literatur: Gebrüder Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859); Werke: ‚Deutsche Grammatik’, ‚Das Deutsche Wörterbuch’ (32 Bände, 1854-1960); Karl Lachmann (1793-1851) = Begründer der historisch-kritischen Editionsmethode und Erfinder des ‚normalisierten Mittelhochdeutsch’. VI. Die wissenschaftliche Edition von Minnesangtexten Die von Lachmann erarbeitete Textausgabe des deutschen Minnesangs erschien 1857 unter dem Titel ‚Des Minnesangs Frühling’: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus berarbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Band I Texte. 37., revidierte Auflage. Stuttgart: S. Hirzel Verlag 1982. 2 VII. Die mittelalterliche Überlieferung von Minnesangtexten Die Kleine Heidelberger Liederhandschrift = Hs. A, die Weingartner oder Stuttgarter Liederhandschrift = Hs. B und die Große Heidelberger oder Manessische Liederhandschrift = Hs. C. Hs. A = Die ‚Kleine Heidelberger Liederhandschrift A’ - Universitätsbibliothek Heidelberg, Signatur Codex palatinus germanicus 357 = Pfalzgräflich deutsche Handschrift cpg 357; Pergamenthandschrift, 45 Blätter; Entstehung: Ende des 13. Jahrhunderts; Herkunft: Elsass (?). Inhalt: 791 Strophen (ohne Melodien) von 29 Minnesängern. Gliederung in Autorkorpora; ‚Autorkorpus’ (= Singular) leitet sich von lat. „auctor“ = Dichter plus „corpus“ = wörtlich: Körper, im übertragenen Sinn: ein Werk, das einem Autor zugehörig ist, ab. Gattungshierarchische Anordnung der Texte: Hoher Minnesangs, satirische Lieder im ‚niederen’ Stil Neidharts. zum Schluss Sangsprüche mit lehrhaftem Inhalt. Gisela Kornrumpf: ‚Heidelberger Liederhandschrift A’, Artikel in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 3, Berlin und New York 1981, Spalte 577-584. Digitale Version: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg357/. Hs. B: ‚Weingartner Liederhandschrift’ – Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Signatur: HB XIII 1; Pergamenthandschrift, 157 Blätter, Entstehung: Anfang des 14. Jahrhunderts in Konstanz am Bodensee; Inhalt: 900 Strophen von 25 namentlich bezeichneten Minnesängern sowie 25 Autorbildnisse. Die Liedkorpora sind nach Autoren in ständehierarchischer Abfolge angeordnet. Gisela Kornrumpf: ‚Weingartner Liederhandschrift’, Artikel in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 10, Berlin und New York 1999, Spalte 809-817. Digitale Version: http://digital.wlb-stuttgart.de/digitale-sammlungen. Hs. C = Die Manessische Handschrift oder die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift C’, Universitätsbibliothek Heidelberg, Signatur Codex palatinus germanicus 848 = Pfalzgräflich deutsche Handschrift cpg 848; Pergamenthandschrift im Großfolioformat; 426 Blätter; Gewicht: über 7 kg; Entstehung: Anfang des 14. Jahrhunderts in Zürich; Auftraggeber: Züricher Patrizier namens Rüdiger Manesse; Inhalt: 6000 Strophen von 140 namentlich bezeichneten Minnesängern sowie 138 ganzseitige Autorbildnisse; Anordnung der Liedkorpora in ständehierarchischer Abfolge. Gisela Kornrumpf: ’Heidelberger Liederhandschrift C’, Artikel in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 3, Berlin und New York 1981, Spalte 584-597. Digitale Version: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848. Mittelalterlich-hierarchische Gesellschaftsordnung: Mittelalterliche Ständelehre 1. Stand - geistlicher Stand: ora (lat. = bete, Imperativ von orare) mhd. pfaffen 2. Stand - weltlicher Adel: pugna (lat. = kämpfe, Imperativ von pugnare) mhd. ritter 3. Stand = Bauern und Stadtbürger: (labora = arbeite, Imperativ von laborare) mhd. bûman, Land- oder Stadtbewohner, die von Handarbeit lebten. Hierarchie der Geistlichkeit: Papst, Kardinal, Erzbischof, Bischof, Abt, Priester, Mönch Hierarchie des weltlichen Adels: 1) Hochadel: Kaiser, König, Herzog, Markgraf, Graf; 2) Niederer Adel: Freiherr, Ministeriale (= mhd. dienstman). Neuer Handschriftenfund: 1.2.4. Das ‚Budapester Fragment’ (Bu) – Széchényi-Nationalbibliothek, Budapest, Signatur: Cod. Germ. 92. Inhalt: 3 Pergamentblätter; Entstehungszeit: Ende 13. Jahrhunderts ; Ort: Bayern. Inhalt: Liedtexte mit Autorbildnissen zu dem Burggrafen von Rietenberg, zu dem Burggrafen von Regensburg und zum Kürenberger. Gisela Kornrumpf: ‚Budapester Liederhandschrift’, Artikel in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 11, Berlin und New York 2004, Spalte 305-307. Wandel der Editionsmethoden und die moderne Textkritik Für die Edition im engeren Sinne haben sich zwei grundsätzliche Modelle herausgebildet: 1) sogenannte kritische Ausgabe = Rekonstruktion des mutmaßlich ursprünglichen Textes. 2) bereinigter Handschriftenabdruck (nach Leithandschriftenprinzip) = Abdruck der besten (oft der ältesten) Handschrift meist in normalisierter Form. Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. 2. Auflage. Stuttgart: Reclam 2010.