SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer Swiss Medical Forum 48 30. 11. 2016 1037 A. de Torrenté Rheumatoide Arthritis: frühzeitig behandeln, Remission erzielen und Schäden begrenzen? 1046 É. Zürcher, F. Balagué, J. Dudler Febrile Arthritis und Hautläsionen 1050 C. H. A. Resch, R. Aeberhard, A. Stucki Eine typische atypische Pneumonie? With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly” 1038 T. Kleinjung, A. Huber Der Hörsturz Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Organe officiel de la FMH pour la formation continue Bollettino ufficiale per la formazione della FMH Organ da perfecziunament uffizial da la FMH www.medicalforum.ch 1035 INHALTSVERZEICHNIS Redaktion Beratende Redaktoren Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Prof. Dr. Stefano Bassetti, Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Dr. Pierre Périat, Basel; Basel; Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj, Basel (Managing editor); Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern; Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds; Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern Advisory Board Dr. Daniel Franzen, Zürich; Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds; Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne Und anderswo …? A. de Torrenté 1037 Rheumatoide Arthritis: frühzeitig behandeln, Remission erzielen und Schäden begrenzen? Übersichtsartikel AIM T. Kleinjung, A. Huber 1038 Der Hörsturz Trotz vielfältiger wissenschaftlicher Anstrengungen ist das Krankheitsbild des Hörsturzes noch nicht vollständig verstanden. Das von einer auf die andere Sekunde einseitig abnehmende Hörvermögen stellt für die Betroffenen oft eine bedrohliche Erfahrung dar. Der Artikel soll eine grundlegende Übersicht über die pathophysiologischen Grundlagen und die Auswahl der geeigneten diagnostischen Massnahmen bieten sowie Vorschläge zur adäquaten Behandlung der Patienten liefern. Was ist Ihre Diagnose? É. Zürcher, F. Balagué, J. Dudler 1046 Febrile Arthritis und Hautläsionen Eine 73-jährige Patientin sucht infolge des schleichenden Auftretens von Arthralgien, Ödemen an den unteren Extremitäten und Hautläsionen vor dem Hintergrund intermittierender Fieberzustände die Poliklinik für Rheumatologie auf. Fallbericht C. H. A. Resch, R. Aeberhard, A. Stucki 1050 Eine typische atypische Pneumonie? Eine 62-jährige Patientin mit seit zwei Wochen bestehendem produktivem Husten stellte sich auf der Notfallstation vor. Unter der antibiotischen Therapie, welche aufgrund der Diagnose einer rechtsseitigen Pneumonie mit Amoxicillin/Clavulansäure oral 5 Tage zuvor begonnen worden war, trat keine Besserung ein. Die Lachtherapie für Ihr Wartezimmer! Christophe Badoux KRANK GESCHRIEBEN ISBN 978-3-03731-153-0 48 Seiten, farbig 15 19 cm, Hardcover sFr. 16.– Bestellnr. E 200 Weitere Informationen finden Sie unter www.emh.ch in der Rubrik „Bücher“. Bestellmöglichkeiten: T. +41 (0)61 467 85 75 F. +41 (0)61 467 85 56 [email protected] www.emh.ch EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG Farnsburgerstrasse 8, CH-4132 Muttenz 1036 INHALTSVERZEICHNIS Leserbrief W. J. Pichler 1054 Iatrogene Hypersensitivitätsreaktion M. Triantafyllidou 1054 Replik Extended abstracts from SMW New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 1054. Rösli Näf – Porträt einer Unbeugsamen Franziska Greising ¡ AM LEBEN Roman 2016. Geb., 500 Seiten CHF 38.– / EUR 36,– ISBN 978-3-7296-0913-6 Zytglogge Verlag Der Süden Frankreichs 1940: Die dreissigjährige Rose aus Glarus übernimmt die Leitung eines Heims für jüdische Kinder aus Deutschland und Österreich. Sie bietet den Kindern in der noch unbesetzten Zone Schutz und Geborgenheit. Nachdem Nazideutschland auch Frankreichs Süden besetzt, nimmt die Bedrohung dramatisch zu. Eines Morgens werden die älteren Jugendlichen in ein Lager verschleppt. Die offizielle Schweiz und das Rote Kreuz kommen nicht zu Hilfe. Rose trifft eine Entscheidung. Zytglogge Verlag | Steinentorstrasse 11 | CH-4010 Basel Tel. +41 (0)61 278 95 77 | Fax +41 55 418 89 19 | [email protected] Impressum Swiss Medical Forum – Schweizerisches Medizin-Forum Offizielles Fortbildungsorgan der FMH und der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin Marketing EMH / Inserate: Dr. phil. 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Die Fotografie des impressionistischen Malers Claude Monet mit seinen schrecklich deformierten Händen dürfte wohl jedem bekannt sein … Die nordamerikanischen und europäischen Richtlinien empfehlen als Initialbehandlung eine Monotherapie mit Methotrexat. Bis diese Wirkung zeigt, dauert es jedoch u.U. Monate und Methotrexat weist häufig schwere, insbesondere hämatologische, Nebenwirkungen auf. Nun scheint es eine weitere Behandlungsmöglichkeit zu geben. Tocilizumab ist ein Interleukin-Rezeptor-6-Blocker, der die Progression bei rheumatischer Arthritis verlangsamen oder aufhalten kann. Ist es möglich, die Patienten schnellstmöglich mit To cilizumab oder einer Kombination aus Tocilizumab + Methotrexat zu behandeln, um eine rasche Remission der Erkrankung zu erzielen? Methode In die zweijährige niederländische randomisierte und doppelt verblindete Studie wurden >18-jährige Patienten ohne vorherige Behand- Vitamin D und Colitis ulcerosa Bei Morbus Crohn wird das Rückfallrisiko durch niedrige Vitamin-D-Spiegel erhöht. Gilt dies auch für Colitis ulcerosa? 70 Patienten mit Colitis ulcerosa in klinischer Remission wurden 12 Monate nach der Bestimmung des Vitamin-D-Spiegels nachbeobachtet. Patienten mit Rückfall hatten signifikant geringere Vitamin-D-Spiegel: 30 vs. 50 ng/ml. Zwar sind die Resultate noch vorläufig, aber vielleicht wäre eine vernünftige Supplementierung eine Möglichkeit? Gubatan J, et al. Clin Gastroenterol Hepatol. 2016; http://dx.doi.org/10.1016/j.cgh.2016.05.035. Kolondivertikulose: Diarrhoe oder Obstipation? Man denkt im Allgemeinen, dass eine symptomatische unkomplizierte Divertikulose mit chronischer Obstipation einhergeht. Eine lung eingeschlossen, die weniger als ein Jahr an rheumatoider Arthritis litten. Sie mussten einen DAS28-Score (Beurteilung der Erkrankung anhand von 28 Gelenken) aufweisen, was mindestens einer geringen Krankheitsaktivität (Score >2,6) entspricht. Die Patienten wurden auf drei Gruppen randomisiert: Initialtherapie mit Tocilizumab + Methotrexat, n = 106, Behandlung mit Tocilizumab allein, n = 103 und mit Methotrexat allein, n = 108. Tocilizumab wurde alle 4 Wochen i.v. in einer Höchstdosis von 800 mg ohne festgelegte Injektionszahl verabreicht. Die orale Methotrexatdosis von 10 mg/Woche wurde alle 4 Wochen um 5 mg gesteigert, bis eine Höchstdosis von 30 mg/Woche erreicht war. Primärer Endpunkt war die Zahl der Patienten mit an haltender Remission. Eine Remission war definiert als DAS28-Score von <2,6 und <4 entzündete Gelenke während 24 Wochen. Zu den sekundären Endpunkten zählten der körperliche Aktivitätsindex und radiologisch nachweisbare Läsionen. Resultate Zu Studienbeginn betrug der DAS28-Score in allen drei Gruppen 5. Unter Tocilizumab + Methotrexat erreichten 86%, unter Tocilizumab allein 84% und unter Methotrexat allein 44% der Patienten eine anhaltende Remission. Die RR für eine anhaltende Remission betrug im Vergleich zu Methotrexat allein, bei der Kombinationsbehandlung 2 und bei Tocilizumab allein 1,86 (p <0,001). Der körperliche Aktivi- schwedische Studie an 742 Patienten, die einer Kolonoskopie unterzogen wurden, ergab bei 17,5% Divertikel. Die Prävalenz für eine Kolondivertikulose nahm mit steigendem Alter zu. Diarrhoe mit unförmigem Stuhl, Schleimausscheidung und Stuhldrang waren positiv mit einer Kolondivertikulose assoziiert. Man sollte sich nicht mit althergebrachten Vorstellungen begnügen … Järbrink-Sehgal ME, et al. Clin Gastroenterol Hepatol. 2016. http://dx.doi.org/10.1016/j.cgh.2016.06.014. Pay for Performance: welche Auswirkung auf die Sterblichkeit? Eine englische Studie hat keinen Nutzen des Programms «Pay for Performance» in Bezug auf die Sterblichkeit festgestellt. Anscheinend sollten die für das Programm aufgewendeten Ressourcen lieber für andere Zwecke (Aufklä- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1037 tätsindex war in der Gruppe mit Kombinationsbehandlung signifikant besser als unter Methotrexat allein. Probleme Insgesamt nahmen ca. 34% der Patienten aufgrund von Nebenwirkungen oder fehlender Wirksamkeit nicht bis zum Studienende teil. Schwere Infektionen traten in den drei Gruppen jeweils bei 3, 4,5 und 3/100 Patientenjahren auf. Kommentar Die Paradigmen der Behandlung von rheumatoider Arthritis sind in Veränderung begriffen. Die zwei Hauptpunkte sind ein schneller Therapiebeginn und das Motto «treat to target», d.h. die Behandlung bis zum Erreichen des gewünschten Resultats, der anhaltenden Remission. Anscheinend ist Tocilizumab in Bezug auf die rasche Erzielung einer anhaltenden Remission wirksamer als Methotrexat. Die radiologisch sichtbaren Veränderungen waren in der Tocilizumab- + Methotrexat-Gruppe und unter Tocilizumab allein nach 52 Wochen geringer als unter Methotrexat allein. Tocilizumab scheint also selbst als Monotherapie, auf jeden Fall für Patienten mit Methotrexatunverträglichkeit, eine gute Alternative zu sein. Eine gute Nachricht für die häufig schwer von der Erkrankung beeinträchtigten Patienten. Bijlsma JWJ, et al. Lancet. 2016;388(10042):343–55. rung) oder spezifische Erkrankungen eingesetzt werden als für die allgemeinärztliche Praxis. Ryan AM, et al. Lancet. 2016;388(10041):268–74. Fäkales Mikrobiom und Bronchiolitis bei Kindern Forscher haben 40 aufgrund einer Bronchiolitis ins Spital eingewiesene mit 115 gesunden Kindern gematched. Ihr Durchschnittsalter betrug 3 Monate. Ein fäkales Mikrobiom mit Bacteroides war, verglichen mit einem Mikrobiom mit Enterobacter/Veillonella, signifikant (OR 3,9) mit Bronchiolitis assoziiert. Letztere kann eine schwere rezidivierende Erkrankung mit Langzeitfolgen sein. Könnte man das fäkale Mikrobiom dieser Kinder nach der ersten Bronchiolitisepisode verändern? Hasegawa K, et al. Pediatrics. 2016;138(1). http://dx.doi.org/10.1542/peds.2016–0218. 1038 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM Von der Diagnose zu einer rationalen Therapie Der Hörsturz Prof. Dr. med. Tobias Kleinjung, Prof. Dr. med. Alex Huber Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie, UniversitätsSpital Zürich Trotz vielfältiger wissenschaftlicher Anstrengungen ist das Krankheitsbild des Hörsturzes noch nicht vollständig verstanden. Das von einer auf die andere Sekunde einseitig abnehmende Hörvermögen stellt für die Betroffenen oft eine bedrohliche Erfahrung dar. Der Artikel soll eine grundlegende Übersicht über die pathophysiologischen Grundlagen und die Auswahl der geeigneten diagnostischen Massnahmen bieten sowie Vorschläge zur adäquaten Behandlung der Patienten liefern. Definition und Hintergrund Unter dem Begriff «Hörsturz» versteht man eine plötzlich aufgetretene, in aller Regel einseitige, cochleäre Hörstörung bis hin zur Ertaubung. Somit stellt der Begriff mehr eine Beschreibung eines Symptoms als eine klassische Diagnose dar. Der englische Sprachraum wird diesem Phänomen mit der Bezeichnung als «sudden sensorineural hearing loss» (SSNHL) bzw. «sudden deafness» gerecht. Da die Bezeichnung im engeren Sinne für die Formen der akut aufgetretenen cochleären Schwerhörigkeiten reserviert sein sollte, für die eine zugrunde liegende Ursache nicht erkennbar ist, kann der Zusatz «idiopathisch» das Krankheitsbild des Hörsturzes noch weiter präzisieren («idiopathic sudden sensorineural hearing loss», akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust) [1–3]. Um die Diagnose eines Hörsturzes zu stellen, wird in der Regel das Tonaudiogramm als massgeblicher Parameter herangezogen. Hier findet sich eine einseitige Hörminderung im Sinne einer sensorineuralen Schwerhörigkeit, also mit deckungsgleicher Luft- und Kno- Tobias Kleinjung chenleitungshörschwelle. Die exakte Beschreibung als sieht für das Krankheitsbild des SSNHL einen Hörver- sensorineurale Schwerhörigkeit trägt dem Umstand lust von mindestens 30 dB HL in drei aufeinanderfol- Rechnung, dass anhand des Reintonaudiogramms genden Frequenzen im Vergleich zum gesunden Ge- keine Differenzierung der Lokalisation der Schwer- genohr vor. Dieser Hörverlust sollte in weniger als hörigkeit zwischen dem Innenohr (Cochlea) und dem 72 Stunden entstanden sein [4, 5]. Die deutschsprachige Hörnerven vorgenommen werden kann. Gleichwohl Leitlinie «Hörsturz» der Arbeitsgemeinschaft der Wis- ist in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle der senschaftlich ursächliche Schaden im Bereich der Cochlea anzuneh- (AWMF), zuletzt aktualisiert im Jahr 2014, hingegen men, sodass auch häufiger der unschärfere Begriff der verzichtet auf eine exakte Definition des Ausmasses «Innenohrschwerhörigkeit» verwendet wird. des Hörverlustes in dB und klassifiziert hinsichtlich Ab welchem Ausmass der sensorineuralen Schwerhö- Frequenzbereich in Hochton-, Mittelton-, Tiefton- und rigkeit der Begriff des Hörsturzes gebraucht werden pantonale Hörstürze [3]. Die Leitlinie der amerikani- kann, wird unterschiedlich definiert. Die im angel- schen Akademie für Otorhinolaryngologie-Kopf-Hals- sächsischen Sprachraum gebräuchliche Definition chirurgie stützt sich zwar im Wesentlichen auf das SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1038–1045 Medizinischen Fachgesellschaften 1039 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 30 dB HL-Kriterium, erkennt allerdings auch gering- pektive die Haarzellen, zu schädigen und so ein Ver- gradigere Hörverluste im Rahmen des Krankheitsbil- ständnis für die molekularen Mechanismen im Innen- des an [2]. ohr zu gewinnen. Letztlich finden sich Hinweise für Der Hörsturz ist ein häufiges Krankheitsbild und stellt vaskuläre, rheologische, inflammatorische, metabo- für den Betroffenen je nach Ausmass und Begleitsymp- lische, mechanische, autoimmune und genetische Pro- tomen (Tinnitus, Schwindel) eine bedrohliche Situation zesse, die am Entstehen des akuten sensorineuralen dar. Das plötzliche Auftreten führt dazu, dass sich Pa- Hörverlustes beteiligt sein können [11]. Am wahrschein- tienten mit den entsprechenden Symptomen bei unter- lichsten ist, dass ein Zusammenspiel verschiedenster schiedlichsten Fachärzten (ORL-Ärzten, Hausärzten, Faktoren, die individuell unterschiedlich ausgeprägt Notfallärzten, Internisten) vorstellen können [6]. Für sein können, zum klinischen Bild eines Hörsturzes den behandelnden Arzt ergibt sich die Schwierigkeit, führen. Jüngere Erkenntnisse vermuten, dass eine dass aufgrund der unbekannten Ätiologie kein allge- pathologische Aktivierung einer zellulären Stressreak- mein anerkanntes Standardtherapieverfahren existiert. tion in der Cochlea mit Freisetzung von Sauerstoff- Zusätzlich stellt der adäquate Zeitpunkt des Therapie- und Stickstoffradikalen zur Schädigung der Haarzellen beginns eine Herausforderung dar, da eine spontane führt und somit den nachfolgendem Hörverlust be- Hörerholung ohne therapeutische Intervention in der dingt [12]. Literatur in 32–65% der Fälle beschrieben wird [5]. Klinisches Erscheinungsbild Epidemiologie Der Begriff «Hörsturz» deutet auf den in aller Regel Der Hörsturz gilt neben dem lärminduzierten, dem al- plötzlichen Beginn der Symptomatik hin. Innerhalb ters- und dem medikamentenbedingten Hörverlust als von Sekunden oder wenigen Minuten erlebt der Betrof- die häufigste Ursache für eine sensorineurale Schwer- fene einen einseitigen Hörverlust, der von unter- hörigkeit [7]. In Industrienationen ist laut klassischer schiedlicher Ausprägung sein kann. Die Störung kann Literatur mit einer Inzidenz von 5–20 Neuerkrankungen als geringe Hörminderung auftreten, bei der noch be- pro 100 000 Einwohnern je Jahr zu rechnen [8], wobei es stimmte Tätigkeiten wie etwa das Telefonieren mög- auch Hinweise für deutlich höhere Zahlen gibt (160 Neu- lich sind, kann sich aber auch bis hin zu einer völligen erkrankungen pro 100 000 Einwohner) [9]. Der Hörsturz Gehörlosigkeit äussern. Definitionsgemäss fehlt eine ist eine Erkrankung des mittleren Lebensalters mit Verbindung zu anderen Erkrankungen, die das Auftre- einem Maximum zwischen 45 und 55 Jahren, wobei ten des Hörverlustes erklären könnten. Somit ist die Männer und Frauen gleich häufig betroffen sind [7]. Das Symptomatik für den Betroffenen schwer einzuordnen Auftreten im Kindesalter stellt eine absolute Rarität dar und wird in vielen Fällen als bedrohlich empfunden. [10]. Die Häufigkeit der Diagnosestellung in Verbindung Ein beidseitiger Hörsturz wird in der Literatur mit mit aufwendiger Diagnostik, verschiedensten Therapie- einer Rate von unter 5% als Rarität beschrieben [13]. verfahren bis hin zu kostenintensiven Rehabilitations- Das häufigste Begleitsymptom ist in 80% der Fälle ein massnahmen können in der Zusammenschau zu einer gleichseitiger Tinnitus. Mit ähnlicher Häufigkeit wird volkswirtschaftlich relevanten Kostenbelastung führen. ein Druckgefühl im betroffenen Ohr beschrieben. Bei Die Erstellung der in den letzten Jahren publizierten 30% der Patienten besteht zusätzlich zum Hörverlust Leitlinien soll dazu beitragen, auf der Grundlage evidenz- ein Schwindelgefühl, sodass zusätzlich zu der cochleä- basierter Medizin geeignete Diagnose- und Therapie- ren Störung auch von einer vestibulären Dysfunktion verfahren zu identifizieren, sowie unnötige und un- ausgegangen werden muss [6]. Weitere von Patienten wirksame Prozeduren zu vermeiden [2, 3]. beschriebene Symptome sind Hyperakusis (gesteigerte Geräuschempfindlichkeit), Diplakusis (Doppelthören) Pathophysiologische Grundlagen oder Dysakusis (verzerrtes Gehör). Ein pelziges Gefühl um die Ohrmuschel (periaurale Dysästhesie) wird mit Der Entstehungsmechanismus eines Hörsturzes konnte der fehlenden akustischen Rückkoppelung bei Berüh- bisher noch nicht im Detail geklärt werden. Es existieren rung der Ohrmuschel erklärt. allerdings verschiedenste Theorien, wie der Hörverlust Viele Studien haben sich der Suche nach möglichen zustande kommen könnte. Diese modellhaften Vor- Risikofaktoren für das Auftreten eines Hörsturzes ge- stellungen resultieren überwiegend aus Tierversuchen, widmet. Letztlich lässt sich hier kein einheitliches Bild bei denen versucht wurde, durch bestimmte Mani- finden. Häufig genannt werden Komorbiditäten, die zu pulationen (z.B. Lärmtrauma, Minderdurchblutung, Durchblutungsstörungen beitragen können, wie Dia- Applikation von Aminoglykosiden) das Innenohr, res- betes mellitus, Adipositas, Hypertonus, Nikotinkonsum SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1038–1045 1040 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM und Hypercholesterinämie. Allerdings führen Un- Für die Ohrmikroskopie und insbesondere für die schärfen im jeweiligen Studiendesign (z.B. fehlende tonaudiometrische Diagnostik ist aber in aller Regel Kontrollgruppe) und unterschiedliche Definitionen die Überweisung zum ORL-Fachspezialisten vorzuneh- (z.B. des Hörsturzes) dazu, dass ein allgemein akzep- men. Eine Übersicht der basisdiagnostischen Mass- tierter Zusammenhang bisher nicht hergestellt werden nahmen bietet folgende Liste: konnte. Ein häufiger von den Patienten postulierter und beobachteter Zusammenhang des Hörsturzes ist der Faktor «Stress» [1]. Während die durch Stress induzierten hormonellen Vorgänge, die Veränderungen auf Ebene der Synapsen und Neurotransmitter bis hin zu den neuroplastischen Aktivitätsveränderungen im Gehirn mittlerweile beschrieben werden können [14, 15], fehlt noch eine allgemein akzeptierte Erklärung für die ursächliche Wirkung dieser Vorgänge bei einer akuten cochleären Hörstörung. Übersicht über die basisdiagnostischen Massnahmen bei Verdacht auf einen Hörsturz. – Anamnese – Otoskopie/Ohrmikroskopie – Stimmgabelprüfung nach Weber und Rinne – Orientierende Vestibularisprüfung (Nystagmusprüfung mit der Frenzelbrille) – Kopfimpulstest – Reintonaudiogramm mit Luft- und Knochenleitung (Vertäubungsmöglichkeit erforderlich) Diagnostik Differenzialdiagnosen Der Hörsturz stellt im eigentlichen Sinne eine Aus- Die weiterführende Diagnostik ist abhängig von schlussdiagnose dar, da definitionsgemäss der zugrunde bestimmten Verdachtsmomenten, die sich aufgrund liegende Mechanismus nicht bekannt ist und somit der Anamnese oder des zeitlichen Verlaufs ergeben. auch nicht gefunden werden kann. Somit ist es die Eine Zusammenstellung der wichtigsten Differenzial- Aufgabe der klinischen und apparativen Diagnostik, diagnosen des Hörsturzes mit den entsprechend er- mögliche andere Ursachen der akut aufgetretenen forderlichen diagnostischen Massnahmen enthält Ta- sensorineuralen Hörminderung im Sinne von Diffe- belle 1. renzialdiagnosen, die einer spezifischen Therapie zugeführt werden können, zu entdecken. Die ärztliche Her- Reintonaudiometrie ausforderung liegt nun darin, im rationalen Sinne, die Der wichtigste Parameter für die Diagnose und Quan- Abklärungen in ihrer Art und Abfolge so zu gestalten, tifizierung des Hörsturzes ist neben der Anamnese dass zeitgerecht die entsprechende Therapie begonnen und der unauffälligen Ohrmikroskopie das Reintonau- werden kann. Dementsprechend wird zwischen einer diogramm. Der Ablauf sollte so gestaltet sein, dass die unbedingt erforderlichen Basisdiagnostik und Mass- Messung des Audiogramms spätestens zwei bis drei nahmen unterschieden, die nur bei einer bestimmten Tage nach Auftreten der Symptome arrangiert werden Befundkonstellation oder bei wiederholten Hörverlust- kann. ereignissen mit zwischenzeitlicher Hörerholung in Im Falle eines Hörsturzes sind auf dem betroffenen Frage kommen. In der Auswahl und Bewertung der ein- Ohr die Knochenleitungs- und Luftleitungsschwelle zelnen Methoden bieten die kürzlich erschienen Leit- identisch, also deckungsgleich. Die exakte Beschrei- linien der amerikanischen und deutschen Fachgesell- bung eines Hörsturzes kann anhand der im Tonaudio- schaften eine wertvolle Hilfestellung. gramm betroffenen Frequenzen und anhand des Ausmasses des Hörverlustes vorgenommen werden. Basisdiagnostik Somit werden Hochton-, Mittelton-, Tiefton- und pan- Als generelle Basis sind bei jedem Verdacht auf einen tonale Hörstürze voneinander unterschieden. Hörsturz eine fundierte Anamnese, eine Otoskopie Isolierte mittelfrequente Hörstürze sind selten (Abb. 1). (bei pathologischen Befund Ohrmikroskopie), eine Bei Tieftonhörstürzen kommt als pathophysiologische Stimmgabeluntersuchung, eine orientierende Unter- Grundlage ein endolymphatischer Hydrops in Frage suchung mit der Frenzelbrille (Nystagmusprüfung), (Abb. 2). Hier ist die Remissionsrate eher hoch. Hoch- die Durchführung des Kopfimpulstestes sowie eine tonhörstürze sind häufig und weisen öfter eine un- detaillierte tonaudiometrische Untersuchung mit iso- befriedigende Hörerholung nach Therapie auf. Als Ma- lierter Messung der Luft- und Knochenleitungs- ximalvariante findet sich der komplette, pantonale schwelle erforderlich. Hörverlust im Sinne der akut aufgetretenen Ertaubung Die meisten dieser Techniken können sicherlich in der (Abb. 3). Wichtig ist, dass bei der Bewertung des akuten hausärztlichen oder internistischen Praxis erfolgen. Hörverlustes auch vorbestehende Hörschäden, etwa SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1038–1045 1041 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM Tabelle 1: Übersicht über die Differenzialdiagnose des Hörsturzes mit entsprechenden diagnostischen Massnahmen. durch Vergleich mit dem Gegenohr bzw. mit vorbekannten Tonaudiogrammen, einbezogen werden (Abb. 4). Differenzialdiagnose des Hörsturzes Wegeweisende diagnostische Massnahmen Ceruminalpropf, Otitis media (Schallleitungsschwerhörigkeit) Otoskopie/Ohrmikroskopie/Stimmgabel in das betroffene Ohr lateralisiert Lärmtrauma/Knalltrauma Anamnese serten Beschwerden auch in Form eines Spontan- Labyrinthitis Anamnese (Mittelohraffektion, Schmerzen, Schwindel) (zur gleichen Seite) äussern. Sollten hier längerfristige Ohrmikroskopie (entdifferenziertes Trommelfell, Trommelfelldefekt, Sekretion) Evt. CT des Felsenbeins Herpes zoster oticus Anamnese (Schmerz, Schwindel) Ohrmikroskopie Inspektion (Bläschen, Facialisparese) Perilymphfistel mit Affektion des runden oder ovalen Fensters Anamnese (schweres Heben?) Vestibuläre Diagnostik Eine Mitbeteiligung des Vestibularorgans kann sich neben den typischerweise als Drehschwindel geäusnystagmus oder eines pathologischen Kopfimpulstests Auffälligkeiten vorhanden sein, so ist die vestibuläre Diagnostik auch um apparative Tests (kalorische Prüfung, Videonystagmographie, Video-Kopfimpulstest, Prüfung der Otolithenorgane mittels vestibulär evozierter myogener Potenziale) zu erweitern. Labor CT des Felsenbeines (freie Luft in der Cochlea oder im Bogengangsystem?) Eine routinemässige Testung von Laborparametern Autoimmunassoziierter Innenohr-Hörverlust Anamnese (meist beidseitiger Hörverlust) unterschiedliche Angaben, die von einer relativ um- Vestibularisschwannom und andere Geschwülste im Bereich des Felsenbeines oder des Kleinhirnbrückenwinkels Anamnese Innenohr- und Mittelohrbarotrauma Anamnese (Tauchen, Fliegen) Labordiagnostik fangreichen Prüfung (Blutbild, Gerinnung, ANA, ANCA, Vestibuläre Diagnostik MRT des Felsenbeines und Schädels Ohrmikroskopie Psychogene Schwerhörigkeit Hirnstammaudiometrie Anamnese (Schwindel im Vordergrund) Vestibuläre Diagnostik Liquorverlustsyndrom CRP, Lues-Serologie etc.) [6, 16] bis hin zu einer Empfehlung der Unterlassung («strong recommendation against») reichen [2]. Letztlich konnten multiple Studien bisher nicht zeigen, dass es eine für den Hörsturz typische Laborkonstellation gibt, die auch noch für die Anamnese Otoakustische Emissionen Morbus Ménière bleibt umstritten. Hierzu existieren in der Literatur Wahl einer geeigneten Therapie von Bedeutung wäre. Aus diesem Grunde sollte eine Laborbestimmung beim Verdacht auf einen Hörsturz immer einer spezifischen, individuellen Fragestellung dienen und nicht MRT des Felsenbeines (ggf. auch mit Hydropsdarstellung) routinemässig erfolgen. Anamnese Bildgebung Störungen des Herz-Kreislauf-Systems (relevante Hypotonie, Herzoperationen) Ein weiterer, uneinheitlich gehandhabter Punkt ist die Frage nach einer routinemässig bei Verdacht auf Hörsturz zu veranlassenden Bildgebung. Hierzu empfiehlt die British Society of Otolaryngologists – Head and Neck Surgeons in jedem Fall eines asymmetrischen Hörverlustes, sei er akut oder langsam progredient aufgetreten, die Durchführung einer Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels, auch wenn die Hirnstammaudiometrie einen unauffälligen Befund ergeben hat [6]. Letztlich geht es um den Ausschluss einer Raumforderung im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels, des inneren Gehörgangs und der Cochlea oder auch den Hinweis für Demyelinisierungen oder einer Evidenz für thrombotisch oder hämorrhagische Ereignisse [6]. Die amerikanische Leitlinie wehrt sich gegen eine routinemässige Bildgebung bei Hörsturz und empfiehlt die Unterlassung einer Computertomographie (CT) des Schädels als initiale diagnostische Massnahme. Dies geschieht insbesondere vor dem Abbildung 1: Darstellung eines Tonaudiogramms bei Hörsturz im mittelfrequenten Bereich links bei einem 70-jährigen Patienten (rote Kurve = rechtes Ohr, blaue Kurve = linkes Ohr, ] = Symbol für Knochenleitung mit Vertäubung links). SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1038–1045 Hintergrund, dass in den USA viele Jahre bei der Verdachtsdiagnose eines Hörsturzes ein Schlaganfall als mögliche Ursache mittels CT aus Sorge vor Regress- 1042 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM ckenwinkels (z.B. Vestibularisschwannom) nicht wirklich geeignet ist. Sollte die asymmetrische Schwerhörigkeit über einen längeren Zeitraum (z.B. 4–6 Wochen) trotz adäquater Therapie persistieren, so stellt sich zu diesem Zeitpunkt die Frage nach der Abklärung einer retrocochleären Pathologie (z.B. Vestibularisschwannom, syn. Akustikusneurinom). Die MRT des Felsenbeins ist heute der Goldstandard für die Klärung der Frage nach einer cochleären (Blutung, Raumforderung) oder retrochleären Pathologie. Bei grösser angelegten Untersuchungen konnte bei etwa 4% der Patienten mit dem klinischen Bild eines Hörsturzes in der Folge ein Vestibularisschwannom im MRT gefunden werden [17, 18]. Die Hirnstammaudiometrie stellt eine kostengünstigere Alternative dar, weist allerdings eine niedrigere Sensitivität und Spezifität als die MRT auf [19]. Abbildung 2: Darstellung eines Tonaudiogramms bei Hörsturz im tieffrequenten Bereich rechts bei einem 55-jährigen Patienten (Symbole siehe Abbildung 1, [ = Symbol für Knochenleitung mit Vertäubung rechts). Sollte man in Erwägung ziehen, die audiologische Diagnostik über die Tonaudiometrie hinaus zu erweitern, sollten sämtliche überschwelligen Hörprüfungen (z.B. Hirnstammaudiometrie, Stapediusreflexmessungen) erst mit einem Abstand von einer Woche nach dem Beginn der Symptomatik erfolgen. Dies geschieht, um das Innenohr vor einer zusätzlichen Lärmbelastung durch hohe Schallpegel (über 70–80 dBSPL) zu schützen. Selbiges gilt auch für die MRT, bei der Schalldruckpegel zwischen 90 und 100 dB(A) erreicht werden können [20]. Hier sollte immer auf einen adäquaten Lärmschutz (Kapselgehörschutz und Ohrenstöpsel) geachtet werden. In der sofortigen Abklärung des Hörsturzes sollte die MRT nur zum Einsatz kommen, falls anderweitige Symptome (Kopfschmerzen, Schwindel) einen schwerwiegenden neurologischen Notfall (z.B. Hirnblutung, Ischämie) vermuten lassen. Therapie Abbildung 3: Darstellung eines Tonaudiogramms bei pantonaler akut aufgetretener Ertaubung rechts bei einer 48-jährigen Patientin (die nach unten gerichteten Pfeile symbolisieren, dass die Knochenleitung nur gefühlt, aber nicht gehört wurde). Die Therapie des Hörsturzes orientiert sich an den modellhaften pathophysiologischen Grundlagen. Da diese allerdings mehr als hypothetische Vorstellungen zu werten sind und die genaue Ursache nicht bekannt ist, überwiegt ein gewisser «therapeutischer Polyprag- ansprüchen abgeklärt wurde. Sowohl die amerikani- matismus». Somit kommen bei der Therapie vor allem sche wie auch die deutsche Leitlinie empfehlen, die entzündungshemmende und durchblutungssteigernde Schnittbildgebung des Schädels nur im Fall spezifi- Medikamente zum Einsatz [21]. Es ist allgemein aner- scher Fragestellungen beim Hörsturz anzuwenden und kannt, dass der Hörsturz nicht als medizinischer die Art des Verfahrens (MRT des Schädels oder des Fel- Notfall, sondern als medizinischer Eilfall angesehen senbeines versus CT der Region) dementsprechend an- werden darf. Hier wird der Tatsache der hohen Spon- zupassen [2, 3]. Hierbei gilt es zu beachten, dass die CT- tanremissionsrate Rechnung getragen. Es gilt, dass die Untersuchung des Schläfenbeins und des Schädels für Therapie innerhalb der ersten zwei bis drei Tage nach die Abklärung einer retrocochleären Pathologie im Be- Beginn der Symptomatik einsetzen sollte, wobei natür- reich des inneren Gehörgangs und des Kleinhirnbrü- lich der subjektive Leidensdruck individuell berück- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1038–1045 1043 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM Studie, dass sich nach mittleren Steroiddosen (125 mg Prednisolon i.v.) die Konzentration des Kortisolspiegels in der humanen Perliymphe unwesentlich von der bei Kontrollpatienten unterschied, nach einer hohen Dosis von 250 mg Prednisolon i.v. hingegen eine signifikante Erhöhung des Kortisolspiegels in der Perilymphe zu messen war [25]. Die Hochdosissteroidtherapie beim Hörsturz lässt sich in verschiedenen Darreichungsformen durchführen. Neben der Applikation von 250 mg Prednison i.v. über einen Zeitraum von 3–5 Tagen mit folgender Dosisreduktion ist auch die einfachere, nahezu dosisäquivalente, orale Verabreichung von 40 mg Dexamethason über 3 Tage mit nachfolgender Reduktion auf 10 mg Dexamethason (Tag 4–6) möglich. Bei insgesamt unsicherer Evidenzlage bezüglich der Steroidtherapie beim Hörsturz [22] wird derzeitig in einer aufwendigen, randomisierten, kontrollierten, dreiarmigen, multizentrischen Studie in Abbildung 4: Darstellung eines Tonaudiogramms bei isoliertem Hochtonhörsturz rechts (3–8 kHz) bei einem 45-jährigen Patienten. Auch die linke Seite weist im hochfrequenten Bereich einen geringgradigen Hörschaden auf. Der Verlust auf dem Gegenohr beträgt aber mehr als 30 dB HL in mehr als 3 Frequenzen. Deutschland (HODOKORT-Studie) die Wirksamkeit der Hochdosissteroidtherapie im Vergleich zur internationalen Standarddosis (60 mg Prednison p.o.) evaluiert [7]. sichtigt werden muss [3]. Leider ist das Evidenzniveau Neben der systemischen Darreichungsform ist seit der internationalen Literatur hinsichtlich der Therapie einigen Jahren auch die lokale Steroidapplikation (in- als niedrig einzuschätzen, da nur sehr wenige kontrol- tratympanal) eine mögliche Alternative. Eine Studie lierte und randomisierte Studien auf hohem Evidenz- von Rauch et al. [26] konnte zeigen, dass die Wirkung niveau existieren [22]. Insbesondere bei geringer aus- von mehrmalig intratympanal applizierter Steroidlö- geprägten Hörstörungen ist aus diesem Grund auch sung (40 mg/ml Methylprednisolon) mit einer 14-tägi- eine abwartende Haltung nach entsprechender Patien- gen oralen Standardtherapie von 60 mg Prednison tenaufklärung über die möglichen Therapieformen beim Hörsturz vergleichbar ist. Mittlerweile hat sich eine ernstzunehmende Option. die lokale Darreichungsform für Situationen bewährt, bei denen aufgrund der Nebenwirkungen eine syste- Steroide mische Verabreichung von hochdosierten Steroiden Die weltweit meistgebrauchte Standardtherapie besteht obsolet ist (z.B. Diabetes mellitus, Immunsuppression, in einer systemischen Applikation von Steroiden [7]. Schwangerschaft). Weiterhin wird die lokale Therapie Die Rationale dafür liegt in der modellhaften Vorstel- bei Versagen der systemischen Therapie im Sinne einer lung einer möglichen antiinflammatorischen Wirkung, Reserve-(Zweitlinien-)Therapie angeboten [2, 7]. der Unterdrückung einer autoimmunen Reaktion, in der Verbesserung der cochleären Mikrozirkulation und in einer Reduktion des endolymphatischen Drucks [23]. Erhebliche Abweichungen fin- Die weltweit meistgebrauchte Standardtherapie besteht in einer systemischen Applikation von Steroiden. den sich allerdings in der Dosierung, der Dauer und der Wahl der Darreichungsform (oral, i.v., intratympa- An der ORL-Klinik des UniversitätsSpitals Zürich hat nal). Während sich insbesondere in den englischspra- sich entsprechend den oben beschriebenen Erkennt- chen Ländern (USA, Grossbritannien) eine Therapie nissen eine Vorgehensweise durchgesetzt, wie sie mit maximal 60 mg Prednison/d p.o. über einen Zeit- schematisch in der Abbildung 5 dargestellt ist. Dieser raum von 7–14 Tagen als Standard etabliert hat [2, 6], Prozederevorschlag ist konform mit den international hat sich in mitteleuropäischen Ländern vielerorts eine veröffentlichten Leitlinien [2, 3]. systemische Therapie mit hochdosierten Steroiden durchgesetzt. Die letztere Herangehensweise begrün- Andere Therapieformen det sich auf Studien, bei denen im Vergleich zu niedriger Verschiedenste andere medikamentöse Therapiefor- dosierten Therapieschemata die Hochdosistherapie men werden und wurden aufgrund der hypothetischen mit Steroiden effektiver war [24], und dem Hinweis einer Vorstellungen der Pathophysiologie zur Behandlung SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1038–1045 1044 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM Patient mit Verdacht auf Hörsturz Basisdiagnostik: – Anamnese – Ohrinspektion – Stimmgabelprüfung – Orientierende vestibuläre Untersuchung – Tonaudiometrie Bestätigung der Verdachtsdiagnose ohne Hinweise auf sonstige Ursache des sensorineuralen Hörverlustes Systemische Steroidtherapie: Dexamethason 40 mg/d 1-0-0 an Tag 1–3 Dexamethason 10 mg/d 1-0-0 an Tag 4–6 Ggf. zusätzlich Esomeprazol 40 mg 1-0-0 Kontraindikation für eine systemische Steroidtherapie Ausreichende Hörerholung (Unterschied in den betroffenen Frequenzen zum gesunden Gegenohr 15 dB HL oder weniger) Intratympanale Steroidtherapie: 3-malige intratympanale Injektion einer Steroidlösung (Fertigspritze mit 6,6 mg Dexamethason und 2 mg Natriumhyaluronat in 1 ml) in örtlicher Betäubung innerhalb einer Woche Abschluss der Therapie Fehlende Hörerholung (Unterschied in den betroffenen Frequenzen zum gesunden Gegenohr mehr als 15 dB HL) Rezidiv-Hörsturz Erweiterung der Diagnostik: z.B. MRT, Hirnstammaudiometrie etc. Auch bei erfolgreicher erneuter Therapie Abbildung 5: Flussdiagramm der therapeutischen Vorgehensweise bei diagnostiziertem Hörsturz am UniversitätsSpital Zürich. des Hörsturzes angewendet. Hierunter zählen Virosta- ten und mittel- bis höhergradigem Hörverlust. Die chir- tika (z.B. Valacyclovir), Rheologika (z.B. Pentoxifyllin), urgische Exploration der Fensternischen sollte Fällen Antihistaminika (Betahistin), Thromobozytenaggrega- mit adäquatem Trauma bei entsprechender Klinik tionshemmer, Plasmaexpander (Hydroxyethylstärke) (Schwindel, höhergradiger Hörverlust) und idealerweise und Antoxidanzien (Zink). nachweisbarer intracochleärer Luft (CT) vorbehalten Weiterhin existieren Untersuchungen zur Wertigkeit bleiben. von plasmapheretischen Verfahren (z.B. zur Fibrinogenabsenkung) und zur Therapie mittels hyperbarer Oxygenation. Prognose Als chirurgische Massnahme wird die Inspektion und Von einer günstigen Prognose ist bei isolierter Schwer- Abdichtung der runden und ovalen Fensternische im hörigkeit im Tief- und Mittelfrequenzbereich bzw. bei Mittelohr bei möglicher Perilymphfistel diskutiert. insgesamt geringgradigem Hörverlust auszugehen. Sämtliche dieser Verfahren konnten sich international Die Prognose verschlechtert sich, je grösser der initiale nicht durchsetzen. Dies liegt im Wesentlichen an der Hörverlust ist, und ist am ungünstigsten bei an Taub- mangelhafteren Evidenzlage, die in mehreren Metaana- heit grenzender Schwerhörigkeit. Ein zusätzlich vor- lysen nachgewiesen wurde [27, 28]. Lediglich für die hy- handener und mittels Diagnostik objektivierbarer perbare Sauerstofftherapie sehen die amerikanischen peripher vestibulärer Schwindel stellt ein weiteres un- Leitlinien eine mögliche Indikation bei jüngeren Patien- günstiges Zeichen dar. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1038–1045 1045 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM Das Wichtigste für die Praxis • Der Begriff des «Hörsturzes» beschreibt einen in seiner Pathophysiologie noch nicht verstandenen, also idiopathischen, plötzlich aufgetretenen, einseitigen sensorineuralen Hörverlust. • Die Spontanremissionsrate liegt je nach Studie und Definition etwa zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Patienten. • Die Therapie des Hörsturzes wird als Eilfall (innerhalb von 72 Stunden) und nicht als Notfall gesehen. • Zur Diagnosestellung ist neben der Anamnese, der otoskopischen (bzw. ohrmikroskopischen) Untersuchung und der Stimmgabelprüfung vor allem ein Tonaudiogramm erforderlich. • Laborkontrollen und zerebrale Bildgebung (cochleäre/retrocochleäre Pathologie) sollten nur bei spezieller Fragestellung oder protrahiertem Verlauf trotz adäquater Therapie (4–6 Wochen) erfolgen. • Nicht jeder Hörsturz bedarf einer Behandlung (z.B. geringgradiger Hörverlust). • Als massgebliche therapeutische Option hat sich international die systemische und/oder lokale Steroidbehandlung durchgesetzt. Danksagung Die Autoren danken Frau Dr. med. Stefanie Vannotti, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin, Zürich, herzlich für die kritische Durchsicht des Artikels. Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Bildnachweis Bild S. 1038: © Ilexx | Dreamstime.com Literatur 1 2 3 Korrespondenz: Prof. Dr. med. Tobias Kleinjung 4 Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie UniversitätsSpital Zürich 5 Frauenklinikstrasse 24 CH-8091 Zürich Tobias.Kleinjung[at]usz.ch 6 Hesse G. Akute Innenohrschwerhörigkeit. Innenohrschwerhörigkeit. Heidelberg: Thieme; 2015:44–54. Stachler RJ, Chandrasekhar SS, Archer SM, Rosenfeld RM, +Schwartz SR, Barrs DM, et al. Clinical practice guideline: sudden hearing loss. Otolaryngol Head Neck Surg. 2012;146(3 Suppl):1–35. AWMF-Leitlinien. Hörsturz (akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust 2014. 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Cochrane Database Syst Rev. 2012;8:CD006987. 1046 WAS IST IHRE DIAGNOSE? Die Diagnose dieser komplexen klinischen Bilder beruht vor allem auf einer systematischen Anamnese und einer eingehenden klinischen Untersuchung Febrile Arthritis und Hautläsionen Dr. med. Élodie Zürcher a , Prof. Dr. med. Federico Balagué b , Prof. Dr. med. Jean Dudler b a Service des urgences, Hôpital fribourgeois, Fribourg; b Service de rhumatologie, Hôpital fribourgeois, Fribourg Fallbeschreibung Infektion hindeuten würden. Sie hat den Kanton seit 20 Jahren nicht verlassen, und abgesehen von einem Élodie Zürcher Eine 73-jährige Patientin sucht infolge des schleichen- schlechten Gebiss liegen keine Hinweise auf eine An- den Auftretens von Arthralgien, Ödemen an den unte- steckung mit einem Infektionserreger vor. Die Patien- ren Extremitäten und Hautläsionen vor dem Hinter- tin ist bei einigermassen guter Gesundheit, sie wird le- grund intermittierender Fieberzustände die Poliklinik diglich aufgrund von Bluthochdruck behandelt und für Rheumatologie auf. erhält infolge einer Hypothyreose eine Substitutions- Sogleich klagt sie über Gelenkschmerzen, die vor drei therapie. Wochen an den Füssen und Sprunggelenken begonnen Bei der klinischen Untersuchung wird eine ausgeprägte und sich schliesslich auf alle Gelenke ausgebreitet ha- und symmetrische Polyarthritis festgestellt, welche die ben, auch auf die Handgelenke, Ellbogen, Schultern so- Schultern, die Ellbogen, die Handgelenke, mehrere Fin- wie auf ein Kniegelenk. Die Schmerzen sind eindeutig gergrundgelenke, ein Kniegelenk und einige Zehen- entzündlicher Natur, treten in der Nacht auf und füh- grundgelenke betrifft. Die Patientin ist überdies von ren zu einer Morgensteifigkeit von über zwei Stunden. zahlreichen kutanen, rötlichen und bei der Palpation Zweimal traten bei der Patientin ausserdem Fieberzu- schmerzhaften Knötchen bedeckt, vor allem an den un- stände von bis zu 38,5 °C auf, vor allem morgens. Darü- teren Extremitäten, aber auch an den Armen, im Ge- ber hinaus bemerkte sie am ganzen Körper die Bildung sicht und am Dekolleté. Der Rücken und der Bauch sind schmerzhafter, kutaner Knoten, die sie als «Hasel- hingegen ausgespart (Abb. 1). Der übrige klinische Be- nüsse» beschreibt. Sie berichtet dagegen nicht von ei- fund liefert keine weiteren Hinweise, insbesondere ner Myalgie oder von Symptomen, die speziell auf eine sind keine Lymphadenopathie oder Anzeichen einer Abbildung 1: Multiple, noduläre, entzündliche Hautläsionen an den unteren und oberen Extremitäten sowie an der Hand. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1046 –1049 1047 WAS IST IHRE DIAGNOSE? pulmonalen, kardiovaskulären, gastrointestinalen oder 2. Welches diagnostische Vorgehen ist zu diesem Zeitpunkt neurologischen Störung zu beobachten. am sinnvollsten? Die Ergebnisse der Laboruntersuchungen deuten auf ein Entzündungssyndrom hin (Blutsenkungsge- schwindigkeit: 60 mm/h, CRP 30 mg/l). Das kleine Blutbild ist normal und die Transaminasenwerte und das Kreatinin sind unauffällig. a) b) c) d) e) Gelenkpunktion Hautbiopsie CT des Brust-, Bauch- oder Beckenraums PET-Untersuchung ANA, Antinukleosome und ANCA Eine Gelenkpunktion gibt im vorliegenden Fall nur we1. Welcher erste Eindruck von dieser älteren Patientin mit nig zusätzliche Informationen. Es besteht kein Zweifel, Symptomen einer febrilen Polyarthritis und Hautläsionen dass es sich um eine entzündliche Störung handelt, trifft ihrer Ansicht nach zu, und welche ersten Schritte sind und die Wahrscheinlichkeit liegt bei beinahe Null, dass einzuleiten? a) b) c) d) e) Infektionserreger oder Mikrokristalle nachweisbar Eine febrile Arthritis gilt bis zum Nachweis des Gegenteils als septisch: notfallmässige Hospitalisation mit empirischer Antibiotikatherapie. Eine febrile Polyarthritis mit Hautläsionen ist, besonders in subakuten Fällen, im Allgemeinen viral bedingt: symptomatische Behandlung mit nichtsteroidalen Antirheumatika. Eine symmetrische Polyarthritis mit Knötchen ist, angesichts der Prävalenzdaten, einfach eine klassische, noduläre rheumatoide Arthritis: die erforderlichen Untersuchungen durchführen. Dieses klinische Bild ist untypisch: eine eingehende Überprüfung ist angezeigt. Eine febrile Polyarthritis kommt bei über Siebzigjährigen häufig vor und erfordert keine weitere Untersuchung. sind, die eine formelle und definitive Diagnose ermöglichen würden. Die Hautveränderungen, die bei der Patientin zu beobachten sind, erinnern stark an ein Erythema nodosum, auch wenn das Bild ein wenig untypisch im Hinblick auf die Ausdehnung der Läsionen ist. Allerdings ist das Erythema nodosum nur eine von verschiedenen Formen von Pannikulitis, die sich alle in ihren Merkmalen und Ätiologien unterscheiden. Es ist darum wichtig, den genauen histologischen Typ der Hautläsionen zu bestimmen, und die Hautbiopsie ist diesbezüglich ein einfacher und letztlich wenig invasiver Eingriff. Zwar ist es stets verlockend, angesichts einer wenig Auch wenn eine febrile Monarthritis bis zum Nachweis eindeutigen Problemstellung eine CT-Untersuchung des Gegenteils als septisch gilt, geht eine polyarthriti- des Brust-, Bauch- oder Beckenraums durchzuführen, sche Erkrankung nur in seltenen Fällen auf eine Infek- besonders bei Vorliegen eines Entzündungssyndroms, tion zurück (eventuell eine Oligoarthritis, aber gewiss gleichwohl ist der Nutzen gering. Während bei sympto- keine polyarthritische und symmetrische Erkran- matischen Patienten mit erhöhter Blutsenkungsge- kung). Eine akute febrile Polyarthritis ist hingegen mit schwindigkeit Krebserkrankungen häufig sind (70 von hoher Wahrscheinlichkeit viralen Ursprungs, bis das 790 Fällen laut einer Studie), sind okkulte Tumoren Gegenteil nachgewiesen ist. Allerdings sind die Hautlä- sehr selten (2/790) und es bestehen fast immer direkte sionen untypisch und erinnern nur wenig an einen vi- lokale Anzeichen (68/70). ralen Ausschlag, und auch die Progression spricht ge- Ähnliches trifft ohne Zweifel auch auf eine PET-Unter- gen diese Ätiologie, da virale Erkrankungen im suchung zu, und es liegen noch weniger Hinweise vor, Allgemeinen selbstlimitierend sind. die auf einen konkreten Nutzen einer PET-Untersu- Eine rheumatoide Polyarthritis führt nicht zu Fieber chung in dieser Situation hindeuten würden, ganz ab- von 38,5 °C, sondern höchstens zu subfebrilen Zustän- gesehen von Fragen der Strahlenbelastung und der den, und die rheumatoiden Knötchen sind nicht ent- Kostenrückerstattung. Auch wenn einer der Vorteile zündlich, nicht schmerzhaft und treten vor allem an einer PET-Untersuchung bei einem Entzündungssyn- den Streckseiten und an Stellen auf, die einer mechani- drom ist, dass eine Erkrankung der grossen Blutgefässe schen Belastung ausgesetzt sind. Dies ist bei den beob- erfasst werden kann, ist der diesbezügliche Nutzen achteten Läsionen offenbar nicht der Fall. noch umstritten, und das klinische Bild weist in die- Sobald eine virale oder mikrokristalline Erkrankung sem Fall keineswegs auf eine solche Pathologie hin. ausgeschlossen ist, beschränkt sich die Differenzialdia- Des Weiteren lässt in diesem Fall nichts zwingend auf gnose einer febrilen Polyarthritis mit Fieber von eine Kollagenose oder ANCA-assoziierte Vaskulitis ≥38,5 °C auf seltene systemische Krankheiten, Vaskuli- schliessen, und die Wahrscheinlichkeit, bei einer älte- tiden und autoinflammatorische Erkrankungen. Bei ren Patientin leicht erhöhte antinukleäre Antikörper dieser Patientin mit hochfebriler Polyarthritis und nachzuweisen, ist verhältnismässig hoch. Es ist wenig atypischen Hautläsionen ist eine eingehende Überprü- wahrscheinlich, dass einer dieser Tests entscheidende fung ohne Zweifel angezeigt. Erkenntnisse ergibt, weit wahrscheinlicher ist hinge- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1046 –1049 1048 WAS IST IHRE DIAGNOSE? gen, dass im Grenzbereich liegende Werte dazu veran- Form einer rheumatoiden Polyarthritis auftreten, lassen würden, weitere Untersuchungen ohne konkre- beim Erwachsenen ist diese Assoziation indes selten, ten Nutzen durchzuführen. weshalb kein Anlass dafür besteht, systematische Un- Im vorliegenden Fall ergab die Hautbiopsie eine Er- tersuchungen zu deren Erfassung durchzuführen. krankung vom Typ lobuläre Pannikulitis mit lympho- Eine Gicht wäre ein weit klassischeres Erscheinungs- histiozytärem Infiltrat ohne Hinweis auf eine granulo- bild einer lymphoproliferativen Krankheit. Auch wenn matöse Reaktion oder untypische Neutrophile oder 90% der Gichtfälle auf eine Ausscheidungsstörung der Lymphozyten. Das klinische Bild spricht eher für eine Nieren zurückgehen, sind 10% durch einen aufgrund Panarteriitis nodosa oder eine noduläre Vaskulitis als verschiedener Begleiterkrankungen erhöhten Harn- für ein Erythema nodosum mit septaler Pannikulitis. säurespiegel bedingt (insbesondere durch Leukämie oder andere lymphoproliferative Krankheiten). Im vor- 3. Welche Ätiologie der Polyarthritis und der Hautläsionen liegenden Fall lag der Harnsäurespiegel bereits bei ist bei dieser Patientin am wahrscheinlichsten? 405 µmol/l, und bei Nachweis einer Hyperurikämie muss ein Blutbild zum Ausschluss dieser Diagnose a) b) c) Sarkoidose Morbus Crohn Medikamentös d) Infektiös (vor allem Streptokokken oder Mycobacterium tuberculosis) Andere e) durchgeführt werden. Das Alter der Patientin spricht mit Sicherheit nicht ge- Die häufigsten Ätiologien eines Erythema nodosum sind in der Tat Infektionen (Streptokokken, Tuberkulose, Infektion der oberen Atemwege, Yersiniose), Arzneistoffe (orale Kontrazeptiva, Penicillin, Sulfonamide), einige systemische Erkrankungen und insbesondere die Sarkoidose und entzündliche Erkrankungen des Verdauungstraktes sowie Schwangerschaft, auch wenn in mehr als der Hälfte der Fälle keine Ursache ermittelt werden kann. Im vorliegenden Fall hat die Biopsie jedoch gezeigt, dass es sich nicht um ein Erythema nodosum handelt, sondern um eine Pannikulitis anderen Typs. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, eine Hautbiopsie durchzuführen (ausser in ganz eindeutigen Fällen). Die Diagnose wurde letztlich einfach aufgrund eines Blutbildes gestellt, allerdings aufgrund eines grossen: Dieses zeigte eine diskrete Anämie, eine Thrombozytopenie und vor allem eine moderate Leukozytose (14 G/l mit 54% Blasten), weshalb schliesslich als endgültige Diagnose eine myelomonozytäre akute myeloische Leukämie (AML) festgestellt wurde. 4. Die Patientin leidet also an einer AML, die in Form einer febrilen Polyarthritis mit Hautläsionen auftritt. Welches Erscheinungsbild wäre typischer und würde es rechtfertigen, systematisch eine Leukämiediagnose zu erwägen? a) b) c) d) e) gen das Vorliegen einer Chondrokalzinose, allerdings besteht kein Zusammenhang mit der onkologischen Diagnose. Leukämien verursachen nur in geringem Ausmass fokale osteolytische Läsionen, können aber für eine Osteopenie und somit für eine Osteoporose mit sekundären Frakturen prädisponieren oder daran beteiligt sein. Abgesehen vom Myelom ist dieses Erscheinungsbild jedoch selten, und nicht bei jeder potenziell untypischen Fraktur muss nach einer Leukämie gesucht werden. Auch wenn es vorstellbar ist, dass eine Osteonekrose durch eine lokalisierte Thrombose vor dem Hintergrund einer extremen Leukostase bedingt ist, sind Osteonekrosen im Allgemeinen idiopathisch oder stehen mit der Einnahme von Kortikoiden oder Alkoholmissbrauch im Zusammenhang; deshalb muss nicht systematisch eine Leukämie in Betracht gezogen werden. 5. Die Patientin zeigt rheumatologische Symptome in einem paraneoplastischen Kontext. Bei welchem klassischen rheumatologischen Erscheinungsbild muss systematisch eine eingehende Untersuchung zur Feststellung einer allfälligen Krebserkrankung erfolgen? a) b) c) d) e) Rheumatoide Polyarthritis bei älteren Patienten Lumboischialgie Dermatomyositis Arthralgie und Entzündungssyndrom Polymyalgia rheumatica Auch wenn bei einer rheumatoiden Polyarthritis, vor allem in seronegativen Fällen, oftmals auf die Möglich- Rheumatoide Polyarthritis Gicht Chondrokalzinose Pathologische Fraktur Knochennekrose keit einer zugrunde liegenden Krebserkrankung verwiesen wird, ist dieser Fall extrem selten und es ist nicht indiziert, systematisch nach einer solchen Erkrankung zu suchen, wenn keine einschlägige Anam- Eine Krebserkrankung, vor allem eine Leukämie oder nese oder ein klinisches Symptom darauf hindeuten. ein Lymphom, kann zwar besonders bei Kindern in Im Falle einer Lumbalgie oder Lumboischialgie sollte SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1046 –1049 1049 WAS IST IHRE DIAGNOSE? zwar eine systematische Suche nach «Red-Flag-Symp- oder eine Krebserkrankung in Betracht gezogen. Infol- tomen» erfolgen, andere Untersuchungen als eine gedessen werden zahlreiche radiologische und biome- Röntgenaufnahme oder schlimmstenfalls eine MRT dizinische Untersuchungen durchgeführt. Eine febrile des Rückenmarks sind jedoch nicht angezeigt. Polyarthritis ist jedoch nur selten septisch, und im All- Dagegen rechtfertigt derzeit eine Dermatomyositis gemeinen sind eine rheumatoide Polyarthritis und beim Erwachsenen systematische und eingehende Un- eine Kollagenose schlimmstenfalls subfebril. tersuchungen zur Erfassung einer Krebserkrankung, Auch wenn oftmals eine paraneoplastische Krankheit da diesbezüglich eine extrem häufige Assoziation zu erwogen wird, besonders wenn ein Entzündungssyn- beobachten ist. Für dieses allgemeine Vorgehen wer- drom vorliegt, ist der Nutzen eingehender und syste- den in den nächsten Jahren wohl verbindlichere Re- matischer onkologischer Untersuchungen sehr gering. geln erlassen, nachdem die Entwicklung von Tests zur Abgesehen von der Dermatomyositis sollte kein rheu- Bestimmung neuer, spezifischer, häufig mit einer para- matologisches Krankheitsbild zu einer systematischen neoplastischen Dermatomyositis assoziierter Autoan- Suche nach einer Krebserkrankung Anlass geben, je- tikörper abgeschlossen ist. denfalls nicht zu Beginn und wenn keine onkologi- Bei symptomatischen Patienten mit erhöhter Blutsen- schen Ereignisse in der Vergangenheit bekannt sind. kungsgeschwindigkeit sind Krebserkrankungen wie Grundlagen für die Diagnosestellung angesichts dieser erwähnt häufig, gleichwohl sind in diesen Fällen fast komplexen klinischen Bilder ist vor allem eine syste- immer direkte lokale Anzeichen festzustellen, und matische Anamnese und eine eingehende klinische eine systematische Suche nach einer Tumorerkran- Untersuchung zur Erfassung aufschlussreicher Hin- kung ist wahrscheinlich nicht sinnvoll, wenn keine kli- weise, so wie in diesem Fall, in dem einfach ein grosses nischen Hinweise vorliegen. Die Polymyalgia rheuma- Blutbild durchgeführt wurde. tica schliesslich ist nicht dafür bekannt, als paraneoplastische Krankheit aufzutreten. Doch weil es sich letztendlich um ein wenig spezifisches Bild han- Disclosure Statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. delt, ist auch hier die systematische Suche nach klinischen Hinweisen angezeigt, nicht jedoch nach einer Krebserkrankung selbst. Literatur 1 2 Diskussion 3 Bei systemischen rheumatologischen Beschwerden – Korrespondenz: mit oder ohne Fieber – werden häufig eine Infektion 4 Dr. med. Élodie Zürcher Service des urgences Hôpital fribourgeois Antworten: Frage 1: d. Frage 2: b. Frage 3: e. Frage 4: b. CH-1708 Fribourg Frage 5: c. elodie.zuercher[at]h-fr.ch SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1046 –1049 5 Sox HC, Liang MH. The erythrocyte sedimentation rate. Guidelines for rational use. Ann Intern Med. 1986;104(4):515–23. 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Armin Stucki c a Infektiologie, Medizinische Klinik, Spital Thun; b Medizinische Klinik, Bürgerspital Solothurn; c Medizinische Klinik, Bürgerspital Solothurn Fallbeschreibung (Blutdruck 96/61 mm Hg), grenzwertig tachykard (Herzfrequenz 93/min), subfebril (Temperatur 37,8 °C) und Anamnese einer verminderten peripheren Sauerstoffsättigung Die 62-jährige Patientin mit seit zwei Wochen bestehen- (SpO2 91% mit 2 l Sauerstoff). Über der Lunge fanden dem produktivem Husten stellte sich Ende November sich rechts basale Rasselgeräusche. Laborchemisch 2014 auf der Notfallstation vor. Unter der antibiotischen zeigte sich in der Blutgasanalyse eine schwere respira- Therapie, welche aufgrund der Diagnose einer rechts- torische Partialinsuffizienz mit pO2 von 47 mm Hg seitigen Pneumonie mit Amoxicillin/Clavulansäure (Norm >80 mm Hg), pCO2 von 31,9 mm Hg (Norm 35– oral fünf Tage zuvor begonnen worden war, kam es zu 45 mm Hg). Das Blutbild zeigte eine Leukozytose mit keiner Besserung. Anamnestisch bestanden keine Be- 33 000/µl und einem Neutrophilen-Anteil von 91% gleitsymptome und chronische Begleiterkrankungen (36% Linksverschiebung) sowie eine normochrome waren nicht bekannt. Die Umgebungsanamnese, Reise- normozytäre Anämie mit einem Hb von 112 g/l. Die und Berufsanamnese waren ohne Risikofaktoren. Die LDH mit 531 U/l (Norm bis 248 U/l) sowie das erhöhte Patientin hat bis zu Beginn des Hustens geraucht (akku- Bilirubin mit erniedrigtem Haptoglobin zeigten eine mulativ 20 «packyears»). Hämolyse an. Weiterhin fanden sich erhöhte Transaminasen mit einer ASAT von 75 U/l (Norm bis 31 U/l) Christiane H. A. Resch Befunde und einer ALAT von 105 U/l (Norm bis 34 U/l). Das CRP Bei Vorstellung auf der Notfallstation zeigt sich die wies bei Eintritt einen maximal Wert von 323 mg/l Patientin in reduziertem Allgemeinzustand, hypoton (Norm <5 mg/l) auf. Das Legionellen- und Pneumokokkenantigen im Urin waren negativ. Die Hepatitis-Bund -C-Serologie war negativ. Ein HIV-Test wurde nicht durchgeführt. Auf der Notfallstation wurde ein CT der Lunge durchgeführt. Dieses zeigte multiple lobuläre Infiltrate der Lunge rechts mit peribronchialen Verdichtungen, v.a. basal, mit einem «Tree in bud»-Zeichen, sowie reaktiven kleinen hilären und infrakarinären Lymphknoten (Abb. 1 und 2). Die Patientin wurde zur nichtinvasiven Beatmung auf die Intensivstation aufgenommen und die antibiotische Therapie auf eine Kombinationstherapie mit Ceftriaxon und Clarithromycin umgestellt. Die Mykoplasmenserologie vom Eintrittstag (zweite Krankheitswoche) war mit dem Enzyme-linked Immunosorbent Assay (EIA) IgM und IgG negativ. Ein Rachenabstrich zur Mykoplasmendiagnostik mittels PCR wurde verordnet, jedoch nicht abgenommen, und in den Akten im weiteren Verlauf als negativ abgegeben. Diagnose und Verlauf Bei progredienter laborchemisch bestätigter Kälteagglutinin-assoziierten Anämie (Nachweis Anti-I-Kälteagglutinine drei Tage nach Eintritt) mit einem miniAbbildung 1: Thorax-CT frontal: «Tree in bud»(Baum in Blüte)-Muster der rechten Lunge. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1050–1052 malen Hb von 65 g/l und persistierend schlechtem 1051 FALLBERICHT Diskussion Der Anteil der M. pneumoniae-Infektionen an den ambulant erworbenen Pneumonien ist schwierig zu bestimmen und liegt zwischen 2–23% [1]. Eine epidemiologische Untersuchung bei Schweizer Erwachsenen mit ambulant erworbener Pneumonie konnte in 50% einen Erreger nachweisen und fand einen Anteil der Mykoplasmen-bedingten Pneumonien von 7,5% [2], bei Erwachsene in Deutschland betrug der Anteil 12,3% [3]. Bei den symptomatischen Infektionen mit M. pneumoniae im Erwachsenenalter dominieren Infektionen der unteren Atemwege (Bronchitis, Pneumonie) mit langsamem Symptombeginn. Die Inkubationszeit kann bis zu 3 Wochen betragen [1]. Der wichtigste klinische Hinweis zur Diagnose einer M. pneumoniae-verursachten ambulanten Pneumonie ist der persistierende hartnäckige Husten ohne Ansprechen auf Betalaktamantibiotika. Der Husten kann produktiv sein und im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf eine Farbveränderung Abbildung 2: Thorax-CT transversal: «Tree in bud»(Baum in Blüte)-Muster der rechten Lunge. zeigen. Weitere Symptome sind Rhinorrhoe, Pharyngitis, Ohrenschmerzen, Sinusitis und selten Dyspnoe. Die Lungenauskultation ist meist unauffällig. Laborchemisch findet sich meist eine Leukozytenzahl unter Allgemeinzustand wurde eine bronchioalveoläre Lavage 10 000/µl. Bei bis zu 25% der Patienten finden sich (BAL) zur erweiterten Diagnostik durchgeführt. In der höhere Werte, aber selten höher als 15 000/µl [1]. allgemeinen bakteriologischen Untersuchung fand Die häufigste extrapulmonale Manifestation ist die sich Wachstum von oberer Atemwegsflora. Die Immun- Kälteagglutinin-assoziierte Hämolyse (Kälteantikörper- fluoreszenz für Pneumocystis jirovecii, das Direktprä- nachweis bei 60%) durch IgM-Autoantikörper gerichtet parat für säurefeste Stäbchen und die PCR für Myko- gegen das I-Antigen auf den Erythrozyten. Schwere bakterium tuberculosis, die Selektivkulturen für hämolytische Verläufe sind selten [1]. Legionellen, Nocardien, Mykobakterien und Pilze so- Der Verlauf der Infektion mit M. pneumoniae ist oft wie die PCR für respiratorische Viren blieben negativ. mild. Schwere Verläufe sind möglich und wahrschein- Der hohe klinische Verdacht auf eine Mykoplasmen- lich bedingt durch Virulenz-Faktoren des Erregers, z.B. infektion konnte mit positiver PCR für Mykoplasma durch Produktion eines Zytotoxins, welches auch als pneumoniae erhärtet werden. Die Gensequenz, welche «community aquired respiratory distress syndrom eine Makrolidresistenz anzeigt, konnte nicht gefun- toxin» bezeichnet wird [1]. Eindeutige patientenabhän- den werden (Institut medizinische Mikrobiologie TU gige Risikofaktoren für schwere Verläufe (z.B. Immun- Dresden). Die zwölf Tage nach Eintritt (4. Krankheits- suppression, Genetik, Rauchen, COPD, Sichelzellanä- woche) wiederholte Mykoplasmenserologie zeigte eine mie) konnten bislang nicht identifiziert werden [1]. Serokonversion mit IgM 20 VE (Virotech Einheiten, Konventionell radiologisch zeigen sich retikulonodu- Norm <9–11 VE) und IgG 62 VE (negativ <9–11 VE) im EIA. läre Infiltrate, die uni- oder bilateral auftreten können, Mit diesen Resultaten konnte die Verdachtsdiagnose gelegentlich mit Pleuraerguss (5–20%), Atelektasen einer schweren Mykoplasmenpneumonie mit Kälteag- oder Konsolidationen. Im Computertomogramm zeigen glutin-assoziierter hämolytischer Anämie bestätigt sich zentrilobuläre noduläre Verschattungen oder werden. Das Ceftriaxon wurde gestoppt und die Thera- auch «Tree in bud»-Zeichen (Baum in Blüte), lobuläre pie mit dem Makrolidantibiotikum bis zu einer totalen oder segmentale Milchglastrübungen, v.a. in den basa- Dauer von 14 Tagen weitergeführt. Unter dieser Thera- len Lungenanteilen [1]. pie kam es innert zehn Tagen zur Normalisierung der Eine ambulante mikrobiologische Diagnostik ist meist Entzündungswerte. Die hämolytische Anämie wurde nicht nötig, da sich oft ein gutes Ansprechen auf die mit Steroiden behandelt. Die Patientin konnte nach empirische Therapie zeigt. In der akuten Diagnostik 12 Tagen Spitalaufenthalt in stabilem Allgemeinzu- hat die traditionelle Serologie ihren Stellenwert gegen- stand entlassen werden. über der PCR aus dem Pharynx-Abstrich verloren. Sie SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1050–1052 1052 FALLBERICHT ist abhängig vom Zeitpunkt der Bestimmung im Krank- Infektionen mit makrolidresistenten M. pneumoniae Dr. med. Christiane H. A. Resch heitsverlauf (Sensitivität in der ersten Krankheitswoche schwerer verlaufen [1]. Wirksame Alternativantibiotika Fachärztin für 21%, in der zweiten Woche 56% und in der dritten Woche bei Erwachsenen sind Chinolone und Tetrazykline. 100%) und vom Alter der Patienten mit schlechterer Zusammenfassend passt bei diesem Fall die Anamnese Sensitivität bei Erwachsenen gegenüber Kindern [4]. einer bisher gesunden Patientin mit einer ambulant Zur definitiven Diagnose mittels Serologie wird ein erworbenen Pneumonie ohne Ansprechen auf ein Pe- CH-3600 Thun vierfacher Titeranstieg mit zeitlichem Abstand ver- nicillin-Antibiotikum, mit den radiologischen Befun- Christiane.Resch[at] langt. Die Sensitivität der PCR liegt zwischen 73–92% den und der hämolytischen Anämie gut zum Bild einer mit einer Spezifität von 96–100% [1]. Mykoplasmenpneumonie. Auch eine Begleithepatitis ist Milde Infektionen des oberen Respirationstrakts sind unter der Infektion mit Mykoplasmen möglich. Passend im Gegensatz zu Pneumonien nicht unbedingt be- ist auch, dass die Serologie in der 2. Krankheitswoche handlungsbedürftig. Die antibiotische Therapie kann bei der erwachsenen Frau noch negativ ist. Untypisch die Symptomdauer reduzieren und die erhebliche An- ist die ausgeprägte Leukozytose, da sich Mykoplasmen- steckungsrate von 18% bei Erwachsenen in einer Insti- infektionen oft mit normaler Leukozytenzahl präsen- tution, bis zu 81% bei Kindern innerhalb einer Familie, tieren. Bei schweren Verläufen sind hohe Entzündungs- zusammen mit Standardhygiene-Massnahmen auf werte wie in diesem Fall möglich. Die Diagnose konnte unter 1% senken [1]. Erste Wahl der Therapie sind Mak- durch die PCR aus der BAL, die Serokonversion und rolidantibiotika (Azithromycin für 5 Tage, Clarithromy- dem gute Ansprechen auf die Therapie bestätigt wer- cin für 10 Tage). Seit 2000 sind weltweit zunehmende den. Es gab es keine Anhaltspunkte für einen weiteren Makrolidresistenzen bei Mykoplasma pneumoniae be- Infektfokus als Erklärung für die hohen Entzündungs- kannt, welche in Asien bis 69% betragen [1]. Bei Erwach- zeichen. Ein pharyngealer Abstrich hätte die Diagnose- senen in Deutschland fand sich eine Makrolidresistenz stellung beschleunigt und die invasive Diagnostik hätte bei 3,1% der Erwachsenen mit ambulant erworbener vermieden werden können. Korrespondenz: Innere Medizin Mitglied der FMH Medizinische Klinik Spital Thun Krankenhausstrasse 12 spitalstsag.ch Mykoplasmenpneumonie in den Jahren 2011–2012 [3] und bei Schweizer Kindern von nur 2% in den Jahren 2011–2013 [5]. Bisher fehlen eindeutige Belege, dass Danksagung Wir danken Herrn Dr. C. Drahten, Radiologie Bürgerspital Solothurn, für die Bereitstellung und Befundung der Bilder der Computertomographie des Thorax und Frau Dr. de Roche, Infektiologie Spital Thun, für die Durchsicht des Manuskriptes. Disclosure statement Das Wichtigste für die Praxis Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. • Schwere Verläufe von Mykoplasma pneumoniae-Infektionen sind möglich aufgrund einer Zytotoxinproduktion des Erregers. • Eine ambulante mikrobiologische Diagnostik ist nicht nötig. Eine empi- Literatur 1 rische Therapie sollte bei schweren Verläufen schnell begonnen werden. • Die häufigste extrapulmonale Manifestation ist die Kälteagglutininassoziierte Hämolyse. 2 • Die Serologie hat in der akuten Diagnostik nur noch einen Stellenwert in Kombination mit dem molekulargenetischen Nachweis: Mykoplasma pneumoniae-PCR aus Pharynxabstrich oder bronchoalveolärer Lavage. • Bei fehlendem Ansprechen auf Makrolidantibiotika muss an eine Mak- 3 rolidresistenz gedacht werden, welche molekulargenetisch getestet werden kann (Reiseanamnese). 4 • Erste Wahl zur Therapie sind Makrolide. Alternativen sind Tetrazykline und Chinolone. • Gute Dokumentation kann invasive Eingriffe vermeiden. • Ein HIV-Test ist bei einer schweren Pneumonie, die nicht auf die initiale Therapie anspricht, indiziert. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1050–1052 5 Ellison RT III, Donowitz GR. Acute pneumonia. Holzmann RS, Simberkoff MS. Mykoplasma pneumoniae and atypical pneumonia. In: Mandell, Douglas, and Bennett’s Principles and Practice of Infectious Diseases; Vol. 1 and 2. Churchill Livingstone, 8th revised edition. 201 5 . pp. 834–9, pp. 2183–9. doi:10.1007/s00417-015-2950-1. Garbino J, Sommer R, Gerber A, Regamey C, Vernazza P, Gennè D, et al. Prospective epidemiologic survey of patients with community-acquired pneumonia requiring hospitalization in Switzerland. Int J Infect Dis. 2002; 6(4):288–93. doi: 10.1016/s1201-9712(02)90163-3. Dumke R, Schnee C, Pletz MW, Rupp J, Jacobs E, Sachse K, et al. CAPNETZ Study Group. 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Der Fall des 49-jährigen Patienten mit Verdacht auf eine durch 5-Aminosalicylsäure (5-ASA) induzierte Polyserositis gehört dazu. Er ist informativ, da es immer schwierig ist, bei Systemreaktionen ohne Hautbefund auf eine medikamentenallergische Reaktion zu schliessen. Zu einigen Aussagen im Bericht möchte ich allerdings gerne aus allergologisch-immunologischer Sicht Stellung nehmen: Es wird zurecht angemerkt, dass «eine Bluteosinophilie hinweisend auf das Vorliegen einer Hypersensitivitätsreaktion sein» kann. Warum werden dann im ganzen Bericht keine Angaben zur Anzahl der Eosinophilen gemacht? Selbst wenn diese im Normbereich gelegen hätten, wäre diese Angabe wichtig. Eine Systemerkrankung mit massiver Eosinophilie schränkt die Differentialdiagnose stark ein: es könnte sich hier gut um eine abortive Form eines DRESS («drug rash with eosinophilia and systemic symptoms»), aber ohne «rash» gehandelt haben [1], vor allem, falls ein bekanntermassen DRESS-verursachendes Medikament vor Kurzem in die Therapie eingeführt worden war. Die «Hitliste» dieser DRESS-auslösenden Medikamente ist erfreulicherweise relativ übersichtlich, wird von den Antiepileptika und Sulfonamid-haltigen Substanzen angeführt und sollte allen klinisch tätigen Medizinern bekannt sein [1]. Ca. 30% der medikamentös ausgelösten Systemreak tionen weisen keine Eosinophilie auf, weshalb die Erkrankung auch DIHS («drug-induced hypersensitivity syndrome«) genannt wird [2]. Aber die meisten Fälle eines DRESS/DIHS weisen zumindest eine massive Lymphozytose mit Erhöhung der aktivierten Lymphozyten («Virozyten») auf [2], auch hierzu fehlen leider die Angaben. Bei interstitieller Nephritis mit Leukozyturie – wie im vorliegendem Fall – wäre eine Differenzierung der Granulozyten im Urin hilfreich: Eosinophile wären pathognomonisch für eine medikamentös bedingte Nephrits [3]. Leider wurde auch dies nicht erwähnt. Der Lymphozytentransformationstest (LTT) ist entgegen den Angaben der Autoren bei systemischen Hypersensitivitätsreaktionen nicht selten positiv: bei zehn selbst beobachteten Patienten mit Sulfsalazin-induziertem DRESS war die Reaktion in sechs Fällen positiv auf Sulfapyridin und in weiteren vier Fällen auch gleichzeitig positiv auf 5-ASA, die im vorliegenden Fall involviert war. Ein positives Resultat ist bei derartigen Fällen beweisend für den Auslöser (oder mehrere Auslöser). Unterstreichen möchte ich, dass von einer Provokation bei systemischen Hypersensitivitätsreaktionen mit potentiell tödlichem Ausgang unbedingt abzuraten ist [4]. Zudem ist unbekannt, wie lange und mit welcher Dosis provoziert werden müsste. Auch wir fanden bei den vier Fällen mit 5-ASAinduzierter Sensibilisierung (neben Sulfapyrin) keine Kreuzrreaktivität auf Acetylsalicylsäure (ASS) im LTT, was die These der fehlenden Kreuzreaktiviät zwischen 5-ASA und ASS unterstützt. Im diskutierten Fall werden auch weitere – leider immer noch weit verbreitete – aber falsche Annahmen bei Medikamentenallergien aufgeführt: Bei den systemischen Hypersensitivitätsreaktionen wie DRESS/DIHS, wozu ich auch den vorliegenden Fall mit Polyserositis, Nephritis, wahrscheinlich cholestatischer Hepatitis (?) zählen würde, handelt es sich um eine erworbene, T-Zell-bedingte Immunreaktion, ausgelöst durch das Medikament [5]; der Begriff idiosynkratisch hilft nicht weiter und sollte vermieden werden. Die Angabe «eine [idiosynkratische] Medikamentenreaktion ist dosisunabhängig» ist ebenfalls überholt. Medikamentenallergische Reaktionen sind natürlich dosisabhängig [6]: ein ganz wesentlicher Faktor bei diesem und anderen DRESS-/DIHS-Fällen ist die Tatsache, dass die auslösenden Medikamente in sehr hohen Konzentrationen gegeben werden und die Reaktion oft erst nach Dosissteigerung auftritt, teilweise nach monate- bis jahrelang gut tolerierter Therapie (eigene Beobachtung). Die Tagesdosis von Mesalazin ist immerhin 4 g! Auch die anderen DRESS/DIHS auslösenden Medikamente wie Carbamazepin, Sulfamethoxazol/ Trimetoprim etc. werden durchwegs in hohen Konzentrationen, meist >1 g/d, verabreicht. Wie man sieht, iatrogene Fälle stimulieren immer wieder die Diskussion, die mit der SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(48):1054 Intention «primum nihil nocere» aber wohl stets gerechtfertigt ist. Prof. Dr. med. Werner J. Pichler Korrespondenz: Prof. Dr. med. Werner J. Pichler ADR-AC GmbH Holligenstrasse 91 CH-3008 Bern werner.pichler[at]adr-ac.ch 1 2 3 4 5 6 Pichler WJ, Wendland T, Hausmann O, Schnyder B, Fricker M, Pichler C, Helbling A. DRESS (Drug Rash with Eosinophilia and Systemic Symptoms). Eine Schwere, oft verkannte Medikamentenallergie. Schweiz Med Forum. 2011; 11(48):879–884. Shiohara T, Iijima M, Ikezawa Z, Hashimoto K. The diagnosis of a DRESS syndrome has been sufficiently established on the basis of typical clinical features and viral reactivations. Br J Dermatol. 2007;156:1083–1084. Spanou Z, Keller M, Britschgi M, Yawalkar N, Fehr T, Neuweiler J, Gugger M, Mohaupt M, Pichler WJ. Involvement of drug-specific T cells in acute drug-induced interstitial nephritis. J Am Soc Nephrol. 2006; 17(10):2919–27. Aberer W, Bircher A, Romano A, Blanca M, Campi P, Fernandez J, et al. European Network for Drug Allergy (ENDA); EAACI interest group on drug hypersensitivity. 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Maria Triantafyllidou Assistenzärztin Innere Medizin, Kantonsspital Luzern