Christian Gaedt Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten 1 Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten1, 2 Die überwertige Beurteilung des "organischen Faktors“ Psychische Störungen bei Geistigbehinderten sind - besonders dann, wenn man nur d i e Extremfälle sieht - in ihrer Ausprägung und in ihrer Intensität so beeindruckend anders, daß man Schwierigkeiten hat, die Brücke zur P s yc h o p a t h o l o g i e der klassischen Psychiatrie zu schlagen. Konfrontiert mit diesen Störungsbildern und mit der Unmöglichkeit, sich diesen Problemen über sein wichtigstes diagnostisches und therapeutisches Instrument - dem Gespräch - zu nähern, resigniert der Psychiater leicht und fühlt si c h hilflos. Es ist verständlich, daß er in Abwehr dieser Hilflosigkeit einen Grund für sein Nichtstun sucht und ihn in der globalen Gleichsetzung von psychischen Störungen bei hirnorganischen Störungen mit hirnorganischen Störungen schlechthin fi ndet . P s ychi sch e Störungen bei Geistigbehinderten werden so zu besonderen Ausdrucksformen von der Behi nde run g zu G r u n d e l i e g e n d e n hirnorganischen Störungen. An der Zuständigkeit der Psychiatrie ändert si ch dadurch nichts. Es b e s t e h e n aber k e i n e therapeutischen Erfolgserwartungen mehr und es fällt n i c h t auf, wenn man auf eine kritische Analyse der Lebensbedingungen und auf einen differenzierten t h e r a p e u t i s c h e n Ansatz verzichtet und stattdessen auf Zwangsmaßnahmen und P s ycho pharmaka zurückgreift. Diese überwertige Beurteilung der hirnorganischen Störungen als alleinige Einflußgröße hat die Verdrängung psychischer Störungen bei Geistigbehinderten aus der Psychiatrie ermöglicht. So lesen sich die Kapitel über geistige Behinderung in Psychiatrielehrbüchern eher wie Abhandlungen über Stoffwechselerkrankungen und Genetik. Sie leisten keinen Beitrag zur Lösung der spezifischen Probleme bei der p s yc h i a t r i s c h e n Betreuung dieser Personengruppe. Dies vor allem auch in Fachkreisen tief sitzende Vo ru rt ei l gilt es aufzuweichen. Die Vielfältigkeit ps ychi at ri scher Störungen bei Geistigbehinderten mit all ihren Besonderheiten aber auch mit ihren Übergängen zur Normalpsychiatrie müssen wahrnehmbar werden. Das Ziel muß sein, der therapeutischen Gleichgültigkeit und Resignation eine differenzierte Diagnostik und einen umfassenden therapeutischen Ansatz entgegenzusetzen. Vortrag anlässlich des 1.Neuerkeroöder Forums am 25.Mai 1986 mit dem Titel „Besonderheiten der Behandlung psychisch gestörter geistig Behinderte mit Neuroleptika.. Veröffentlcht in: Neuerkeröder Beiträge 1, Zu beziehen über Evangelische Stiftung Neuerkerode, Krankenhaussekretariat, 38173 Sickte-Neuerkerode, Tel. 05205 201 280 2 Eine ausführliche Darstellung der Psychopharmakabehandlung findet sich bei Gaedt, Chr „Psychopharmakotherapie bei Menschen mit geistiger Behinderung“. Veröffentlich in: Anton Dosen "Psychische Erkrankungen und psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinde rung", S.267-354, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart (1997). Verfügbar über www.christian-gaedt.com 1 Christian Gaedt Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten 2 Die relative Eigenständigkeit psychopathlogischer Prozesse und die führende Rolle der SubjektUmwelt-Beziehung für die Psychopathologie Um unseren Ansatz verständlich zu machen, muß ich u n s e r e n theoretischen Standort verdeutlichen. Hierzu w i l l i c h kur z auf die Besonderheiten der psychopathologischen Phänomene eingehen. Psychopathologische Erlebnisweisen sind subjektiv erlebte, gestörte Verarbeitungsprozesse der objektiven Realität, d.h., sie sind Ausdruck einer gestörten Beziehung zwischen Individuum und Umwelt. Ihr eigentliches Wesen liegt im psychosozialen Bedingungsgefüge und ist nur in diesem verstehbar zu machen. Als Abwandlung normaler psychischer Prozesse basieren sie auf den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie diese und haben das gleiche hohe Maß an Unabhängigkeit, d.h., sie haben eine eigene Dynamik und ihre Beeinflußbarkeit durch somatische oder soziale Einwirkung ist nicht eindeutig voraussagbar, sondern in Art und Intensität von den ihnen zu Grunde liegenden psychophysischen Strukturen abhängig (K. W E IS E , 1980, Seite 57 ff.). Diese Eigenständigkeit psychischer und damit psychopathologischer Prozesse ist nicht absolut. Das macht therapeutisches Eingreifen möglich. Es stellt sich jedoch die Frage nach dem adäquaten Ansatz. Bei der in der Psychiatrie üblichen Vors tellung von der multifaktoriellen Genese werden diese Ansätze nicht deutlich genug. Hier geht man bekanntermaßen davon aus, daß ein bestimmtes psychopathologisches Syndrom durch das Ineinanderwirken verschiedener gleichwertiger P a r t i a l systeme des Organismus entsteht. Die ganzheitliche Organisation eines sich selbst steuernden Organismus geht bei dieser partikularistischen Betrachtungs-weise verloren. Die relative Eigenständigkeit der psychischen Prozesse bleibt un-verständlich. Erklärbar wird die relative Eigenständigkeit erst durch die Annahme einer hierarchischen Gliederung u n d der Dominanz des jeweils übergeordneten Systems.( V g l . L.PICKENHAIN, 1968,). Hirnorganische Störungen treffen den biologischen B e r e i c h , also die Ebenen der Stoffwechselregulation und der neurophy-siologischen Systeme. Psychische Prozesse u n d d a m i t a u c h psychopathologische Prozesse müssen in die diesen übergeordneten höheren Hierarchieebenen l o k a l i s i e r t w e r d e n , de r en höchste wiederum als strukturelle Grund-lage für die "Persönlichkeit" anzusehen ist. Diese Grundlagen sind psychophysische Strukturen, die in der lebensgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt entstanden sind. Indem sie subjektive Erlebensweisen und persö nl i c hk ei t ssp ez i fi sc he s Verhalten ermög-lichen, garantieren s i e g l e i c h z e i t i g d i e erwähnte relative Unab-hängigkeit "psychologischer Prozesse". Psychopathologische Störungen sind vorrangig als S t örun gen dieses Bereiches aufzufassen, also als Störungen der Subjekt-Umwelt-Beziehung (K. WEISE, 1968). Hier finden sie auch ihre subjektive Bedeutung. Störungen im biologischen Bereich können sich nur indirekt auf die Psychopathologie auswirken, d.h. unter der Vermittlung der dazwischen Christian Gaedt Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten 3 geschalteten Ebenen. Sie sind damit Kompensationsmechanismen und Modifikationen ausgesetzt. Ob also z.B. eine Hemmung der Synthese eines bestimmten Neurotransmitters zu einer Störung des Gleichge-wichtes zwischen Erregung und Hemmung in dem betreffenden neuro -physi ol ogischen System führt, hängt davon ab, ob die Akuität und d i e Intensität di e Gegenregulation überfordern. Ob sich daraus für kurze Zeit oder längerfristig eine psychopathologische Symptomatik ent-wickelt und ob diese als Unruhe, als Angst, als Aggression oder als Stereotypie wahrnehmbar wird, ist abhängig von der Funktionsfähigkeit und den i ndi vi duel l en Verarbeitungsmechanismen der psycho-physischen Strukturen, v o n s p e z i f i s c h e n Vorerfahrungen, von dem Grad der Belastung durch das soziale Umfeld und von der Bedeutung, di e das entstehende Symptom in der ubjekt/Umweltauseinandersetzung bekommt. Psychopharmaka greifen auf der Wirkebene der Neurotransmitter an. Ihre Wirksamkeit ist also den geschilderten Bedingungen unterworfen. Sie w i r d größer sein, wenn d i e u r s p r ü n g l i c h e Störung dem Wirkort der Psychopharmaka naheliegt und sie wird geringer sein, wenn d i e Störung schon ihren Niederschlag in der Persönlichkeitsstruktur ge-funden und damit eine Subjektive Bedeutung gewonnen hat. Konsequenzen für den therapeutischen Ansatz Diese Gedanken si nd ni c ht neu. Sie haben in den s i e b z i g e r Jahren di e Umorientierung der Psychiatrie zur Sozialpsychia-trie eingeleitet. Ich betone sie nur d e s h a l b , w e i l d i e s e Prinzipien keineswegs mit der gleichen Selbstverständlichkeit auch für Geistigbehinderte als gül t i g anerkannt werden. Die Praxis wird hier weiterhin von reduktioni-stischen organischen Vorstellungen beherrscht. Die relative Eigenständigkeit psychopathologischer Prozesse und d i e dominierende R ol l e der Subjekt/Umweltbeziehung in der Psycho-pathologie aber haben auch für d e n t h e r a p e u t i s c h e n Ansatz bei Geistigbehinderten wichtige Konsequenzen: 1. Es gi bt keinen Grund für einen nai v en t h e r a p e u t i s c h e n Opti-mismus. Wegen der relativen Eigenständigkeit psychopathologischer Prozesse kann man nicht erwarten, daß durch e i n e Behebung der organischen Störungen, f al l s dies möglich werden würde, oder durch e i n e Normali si erung der Lebensbedingungen alleine alle psychischen Störungen bei G e i s t i g b e h i n d e r t e n verschwinden. Erforderlich bleiben spezifische psychotherapeutische Methoden. 2. Die dominierende Rolle der Subjekt/Umweltbeziehungsstörung in der Psychopathologie eröffnet andererseits neue Wege zur Therapie, d i e bisher durch di e überwertige Beurteilung des organischen Faktors verstellt waren. Pathogen wirkende Faktoren der Lebensgeschichte und der aktuellen Lebenssituation Christian Gaedt Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten 4 werden zum Verständnis und für den t herapeuti schen A n s at z wichtig. Die Besonderheiten der Psycho-pathologie und d a m i t auch der Therapie - al so auch der Psycho-pharmakotherapie - werden durch diese Faktoren mindestens ebenso sehr gepr ä gt wie durch die der Behinderung zu Grunde liegende hirnorganische Störung. Besonderheiten psychischer Störungen bei Geistigbehinderten 1. Unreife der psychischen Gründfunktionen: Die bestehenden hirnorganischen Störungen b e e i n f l u s s e n von früher Ki ndhei t an die Auseinandersetzungen mit der U m w e l t und damit insbesondere das Mutter-Kind-Verhältnis. B e i der zentralen Be-deutung, di e dieses bei der Aus bi l dun g der psychischen Grund-ausstattung zur Anpassung an die soziale Umwelt hat, entsteht hier ein zusätzliches Risiko einer fehl geleiteten frühen Entwicklung. Die Ichfunktionen bleiben als Folge davon oft unreif. Betroffen davon s i nd z.B. Reizabschirmung, Impulskontrolle, Urteilsfähigkeit, Realitätskontrolle, Antizipation usw. Psychopathologische Syndrome bei Geistigbehinderten werden durch diese unreifen Ichfunktionen in komplizierter Weise geprägt (vgl. KONARSKI j r. und.CAVALLIER, 1982). 2. Entwicklungsniveau spezifische Ausprägung der Symptomatik Der Grad der geistigen Behinderung bestimmt die Art und Weise der Auseinandersetzung m i t der Umwelt. P s yc hopat hol ogi sche Symptome, die ja in dieser A u s e i n a n d e r s e t z u n g e r k e n n b a r werden, werden ent-sprechend des Entwicklungsniveaus verschieden ausgestaltet sein. Dies gilt für alle Formen psychischer Störungen, im Zusammenhang mit der Frage der Therapie m i t Psychopharmaka interessieren uns jedoch vorrangig die Abwandlungen schizoprenieformer ("psychotischer") Störungen bei ver-schiedenem Entwicklungsstand. Wir gehen dabei davon aus, daß es keine Unvereinbarkeit von geistiger Behinderung und schizophrenieformen ("psychotischen") Störungen g i b t (vgl, ROMANCZYK u. KISTENER, 1982, S.147 ff.), daß m an vielmehr die psychotische Grund-störung bei a l l e n Formen geistiger Behinderungen finden kann. Ein Patient mit einer differenzierten Sprachfähigkeit wird unter den Bedin-gungen einer psychotischen Störung eine andere Symptomatik zeigen als ein Patient, bei dem diese Funktionen nicht entwickelt sind. Man wird also nach Entwicklungslinien dieser Störung suchen und diese bis in die frühesten Entwicklungsstadien verfolgen müssen. 3.Vermittelte Umweltbeziehungen Ein geistig behinderter Mensch kann sich nicht die Fähigkeit aneignen, um in den vorgegebenen gesellschaftlichen Strukturen seinen Lebensraum selbst zu organisieren. Er ist auf pädagogische Mitarbeiter als vermittelnde Instanz z w i s c h e n ihm und der Umwelt angewiesen. Es besteht also praktisch ein verlängertes Eltern-Kind-Verhältnis, d a s in v i e l f ä l t i g e r Weise seine psychische Gesundheit und im Falle von Störungen Diagnostik und The-rapie beeinflußt. Dieses Problem wird noch dadurch verschärft, daß der Behinderte nicht einzelnen Mitarbeitern, sondern Mitarbeitergruppen gegenübersteht. Wegen der großen Bedeutung wird dieses Problem im n ä c h s t e n Christian Gaedt Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten 5 R eferat eingehend behandelt werden. 4. Institutionelle Dauerbelastung Geistigbehinderte leben, zumindest im Erwa ch se n en al t e r, in der Regel in Gruppen mit anderen Geistigbehinderten , d i e jeweils mehr oder weniger deutliche psychische Auffälligkei ten zeigen. Die Dichte von pathologischen V e r h a l t e n s w e i s e n bestimmt oft das Wohngruppenmilieu. Heimbewohner s i n d o h n e Einflußmöglichkeiten diesen ungünstigen Bedingungen ausgeliefert und müssen so oft ein Leben lang am Rande ihrer Kompensations-fähigkeiten leben. Hinzu kommen noch andere i nstitutionelle Gegebenheiten, so insbesondere d i e s i c h s t ä n d i g wiederholende Trennungssituation durch P ersonal flukt uat ion, Verlegungen und Schichtwechsel . 5. Fehlen von Lebensperspektive und orientierender Normen Für den Geistigbehinderten gi bt es in der Regel keine ges el l schaftlich vorgeprägten s i n n v o l l e n u n d b e d e u t u n g s v o l l e n Lebensläufe. Es fehlt i hnen d i e Perspektive. Sie leben ohne V o r -bi l d er und ohne Zukunft. Sie leben in der U n v e r b i n d l i c h keit. Der von einer Lebens-perspektive ausgehende "Zwang" zur psychischen Ge-sundheit fällt weg. Übrig bl ei bt e i n als Anpassungsdruck erlebter Normalisierungs-zwang bzw. ei n Ausweichen in regressive Tenden-zen. Vor a l l e m in pädago gi sch gut geführten Einrichtungen f a l l e n auch di e übl i ch e n gesellschaftlichen Sanktionen zur Verstärkung von sozialen N o r m e n , a l s o d i e Strafen, weg. Sie werden im Zusammen-hang m i t der Diskussion um d i e In di k at i on 4 ( " D i s z i p l i n i e r u n g " ) s e h e n , d a ß d i e s durchaus etwas m i t den Besonderheiten d e r m e d i k a m e n t ö s e n Behandlung zu tun hat. Indikationsgruppen - Voraussetzung für eine differenzierte Pharmakotherapie Eine diese Besonderheiten aufnehmende Psychopathologie für Geistigbehinderte ist noch ni cht geschrieben. Ansätze hierzu finden sich bei SZYMANSKI (1980) und bei MATSON und BARRETT (1982). Zu ei ner gezielten Pharmakotherapie braucht man jedoch definierte Indikationen, d i e si ch aus einer differenzierenden Befunderhebung ergeben. Di e damit zusammenhängenden schwie -ri gen Fragen haben wi r offen gelassen bzw. auf einer pragmatischen Ebene gelöst. W i r sprechen schl i c ht von "Indikationen" und meinen damit ein hypo-thetisches Konstrukt zwischen Symptom und Krankheitseinheit. Im Zusammenhang m i t der Pharmakotherapie interessierten uns zunächst nur Christian Gaedt Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten 6 solche Störungen, di e w i r m i t P s yc h o p h a r m a k a behandeln wollten, bzw. mußten. Im Hi nbl i c k auf unsere Untersuchungen kann man dies auf di e Anwendungsgebiete der Neuro-leptika einengen. Zunächst haben wir uns deshalb auf Patienten mit der klassischen Schizophrenie-Symptomatik beschränkt. Im Rahmen unserer Untersuchung sprechen w i r in di esem F a l l von der Indikation 1.4. Durch die Erfahrungen mit Absetzversuchen bei Patienten, die über Jahre hinweg Neuroleptika erhalten hatten, ohne daß aus den Unter-lagen hervorging, was der urs prüngli che Anlaß war, haben wir gelernt, d i e Indikationsliste zu erweitern. Häufig haben wir in diesen Fällen nach Absetzen der Neuroleptika das Auftreten einer Symptomatik beobachtet, d i e den von SÜLLWOLD (1973) beschriebenen Störungen bei Schizophrenien in der Latenzphase entsprechen, also z.B. ü b e r k o n t r o l l i e r t e s Verhalten, Verlust der Alltagsroutine, Angst vor k o m p l e x e n Situationen u.a. In Anlehnung an SÜLLWOLD sprechen wi r von "präpsychotischen Störungen". In unserer U n t e r s u c h u n g ist dies di e Indikation 1.3. Eine weitere Ergänzung unserer Indikationsl iste wurde durch die F ü l l e von Problemen notwendig, di e in den W o h n g r u p p e n durch Heimbewohner verursacht wurden, deren a u f f ä l l i g s t e s Merkmal eine nie ermüdende Unruhe war. Während sich die oben geschilderten "präpsychotischen" Störungen m i t der A n n a h m e eines Zusammen-bruches von Ichfunktionen bei noch funktionierenden Kompensations- und Kontrollmechanismen gut e r k l ä r e n ließen, lag es für uns nahe, in diesen F ä l l e n e i n erhöhtes allgemeines Erregungsniveau bei gleich-zeitiger Insuffizienz der Ichfunktionen anzunehmen, d i e d i e Aufgabe hätten, diese übermäßige Erregung si t uat iv angemessen in Handlung umzusetzen. A l l e Heimbewohner, bei denen w i r diese Störung vermuteten, haben wir der Indikationsgruppe 1.1 zugeordnet. In der Indikationsgruppe 1.2 haben w i r Heimbewohner zusammengefaßt, d i e übl i cherwei se ni cht un ruh i g oder erregt wirkten und im ganzen sozial gut angepaßt waren. Ihr Problem bestand darin, daß sie bei geringfügigen Kränkungen unkontrolliert aggressiv und damit extrem gefährlich werden konnten. Unsere hypothetische ichpsychologische Interpretation war, daß in diesen Fällen eine ausreichende Impulskontrolle fehlte. Der Indikationsgruppe 1 m i t ihren Untergruppen l i e g t e i n e gewisse Systematik zu Grunde. Das V e r b i n d e n d e i st u n s e r e Annahme, daß ihnen Störungen der Ichfunktion zu Grunde liegen. Unsere Hypothese ist, daß die Unterschiede zwischen den mit diesen Indikationen bezeichneten Stö-rungen auf verschiedenem Ausprägungsgrad von drei Faktoren b e - r u h e n : 1. e i n e Funktionsschwäche neurophysiologischer Systeme, 2. ei ne Schwäche der psychischen Anpassungsfunktion, d.h., ei ne Schwäche von Ichfunktionen, wie z.B. R e i z a b s c h i r m u n g u n d Impulskontrolle und 3. ein unterschiedlicher Entwicklungs-stand. So nehmen w i r an, daß die psychotischen Störungen bei höherem Entwicklungsstand sich unter dem B i l d einer Schizo-phrenie zeigen (Indikation 1.4}, während die gleiche Störung bei niedrigem Entwicklungsstand zu einer undifferenzierten Unruhe führt (1.1). Die Indikation Christian Gaedt Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten 7 1.3 wäre dann a l s Z w i schenstufe aufzufassen. Da es eine weitere Annahme von uns ist, daß die Neuroleptika ihren thera-peutischen Effekt hauptsächlich über eine Abstützung oder eine Ent-lastung der Ichfunktionen entfalten, sind es gerade diese Gruppen, bei denen wi r die Gabe von Neuroleptika in therapeutischer Absicht akzeptieren. Dies gi l t nicht für die Indikation 4. Hier sind Heimbewohner zusam-mengefaßt, die für die Wohngruppen oder für die ganze Einrichtung zu einem Problem geworden sind, w e i l s i e auf Grund persönlichkeits-integrierter Handlungstendenzen entweder sich selbst oder andere in Gefahr bringen oder aber extreme Störungen des Zusammenlebens hervorrufen. Hierzu gehören z.B. Wegläufer, Heimbewohner mit aggressiven Durchsetzungsstrategien, Heimbewohner mit demonstrativ selbstschädigendem Verhalten u.a. Vi el e dieser Heimbewohner würden, wenn sie nicht geistig behindert wären, über Polizei und Strafvollzug "angepaßt" bzw. isoliert werden. Als Geistigbehinderte stehen sie außerhalb des Wirkungsbereiches gesellschaftlicher Strafmaßnahmen und sind "Patienten" der psychiatrischen Dienste. Das ist nur dann ein Vorteil, wenn di e Therapie wi rkli ch e i n e Erweiterung der Lebensmöglichkeiten anstrebt und die Medizin nicht als Strafvollzugsersatz mißbraucht w i r d . D i e d a m i t zusammenhängen ethischen Probleme werden in der Öffentlich-keit kaum diskutiert. In unserer Einrichtung lehnen wir für den Einsatz von Psychopharmaka bei dieser Indikation die Bezeichnung "Therapie" ab. Das bedeutet nicht, daß diese Maßnahmen nicht gerechtfertigt wären. Sie sind oft d i e einzige Möglichkeit, Kat ast ro ph e n abzuwenden und langfristig eine befriedi-gende E n t w i c k l u n g einzuleiten. Um deutlich werden zu lassen, daß es sich dabei nicht um eine therapeutische - also letztlich um eine ärztliche - Verantwortung geht, gi bt es für di ese Problemfä11e den "Beratungskreis des Leitenden Arztes bei Zwangsm aßnah men", in dem zumindest anstaltsöffentlich der E i n s a t z von Psychopharmaka und das Fehlen von Alternativen probl emat i siert werden kann. In die Untersuchung wurden noch zwei weitere Indikationsgruppen einbezogen, die jedoch wegen ihrer geringen Häufigkeit keine Rolle spielten. Diese sollen zum Schluß erwähnt werden, Es sind die Indikationen 2 und 3. Die Indikation 2 umfaßt Patienten, bei denen ein manisches Syndrom im V o r d e r gr u n d steht, die Indikation 3 ist ein Sammeltopf für alle möglichen Symptombilder, di e in die bisher genannten G r u p p e n n i c h t eingeordnet werden konnten. Diese Indikationen sind sicherlich nicht eindeutig abgrenzbar und mög-licherweise in sich nicht homogen. Sie haben sich in der Planungsphase dieser Untersuchung mehrfach geändert und die Ergebnisse legen wei-tere Di fferenzi erungen nahe, w i r betrachten sie als Arbeitsbegriffe, die uns bei der systematischen Erfahrungssammlung im Umgang mit den Psychopharmaka helfen und möglicherweise dabei auch mehr Einsichten in die Psychopathologie bei Geistigbehinderten vermitteln. Christian Gaedt Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten 8 Christian Gaedt Überlegungen zu der Anwendung von Psychopharmaka bei geistig Behinderten 9 Literatur KONARSKI, E A, CAVALIER, A R (1982). Current models of psychopathology. In Matson, J.L., Barrett, R.P. (Eds.) Psychopathology in mentally retarded. New York: Grune & Straton MATSON, J.L.,BARRETT, R.P. (1982) Affektive Disorders. In Matson, J.L., Barrett, R.P. (Eds.) Psychopathology in mentally retarded. New York: Grune & Straton PICKENHAIN, L.(1968) Methodologische Probleme bei der Untersuchung biologischer Faktoren bei psychiatrischen Erkrankungen. In: Pickenhain, L. u, Thom,A. (Hrsg.) Beiträge zu einer allgemeinen Theorie der Psychiatrie. Heft 35, S7.9 - 120, VEB Gustav Fischer Verlag, Jena, 1968 ROMANCZYK R.G. u.. KISTENER O.A (1982).Psychosis and Mental Retardation. Issues of Coexistence. In: Matson, J.L., Barrett, R.P. (Eds.) Psychopathology in mentally retarded. New York: Grune & Straton SZYMANSKI, L.S. (1980) Individual Psychotrherapy with retarded Persons.In: Szymanski L S, Tanguay P E (Eds.) (1980). Emotional Disorders of Mentally Retarded Persons. Baltimore: University Park Press SÜLLWOLD, L (1973) Cognitive Primärstörungen und die Differentialdiagnose Neurose/beginnende Schizophrenie. In: H.Huber (Hrsg.) 2.Weisenauer SchizophrenieSymposium, Mai 1973. F.K.Schattauer Verlag, Stuttgart-New York WEISE, K. (1968) Zur Stellung der Psychopathologie und zu einigen methodologischen Fragen ihrer Entwicklung. In: Pickenhain, L. u, Thom,A. (Hrsg.) Beiträge zu einer allgemeinen Theorie der Psychiatrie. Heft 35, S. 47 – 77, VEB Gustav Fischer Verlag, Jena, 1968 Eine ausführliche Darstellung der Psychopharmakabehandlung findet sich bei Gaedt, Chr „Psychopharmakotherapie bei Menschen mit geistiger Behinderung“. Veröffentlich in: Anton Dosen "Psychische Erkrankungen und psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinde rung", S.267-354, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart (1997)