Manuskript radioWissen Unterwegs zu heiligen Orten Pilgern in den Weltreligionen AUTORIN: REDAKTION: Sylvia Schopf Bernhard Kastner SPRECHER Einmal im Leben nach Mekka pilgern! Eine religiöse Pflicht für jeden Moslem. SPRECHER In die nordindische Stadt Varanasi reisen täglich Tausende Hindus, um im Ganges ein religiöses Reinigungsbad zu nehmen. ZITATOR „Und der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“ SPRECHER Zum Gipfel des Tai Shan, dem heiligsten Berg Chinas, pilgern Daoisten ebenso wie Konfuzianer und Buddhisten. ZUSPIELUNG 1 „Ich bin von Rom nach Montecassino gepilgert mit zwei französischen Mönchen zusammen. Das war eine gute Erfahrung, auch unterwegs immer wieder aufgenommen zu werden als Pilger.“ (Anselm Grün) SPRECHER Ayers Rock, der monumentale Felsen, der sich aus der Wüstenebene erhebt, ist ein uraltes Pilgerziel der Aborigines, der australischen Ureinwohner. SPRECHERIN Ob Christen, Moslems, Juden oder Buddhisten, Hinduisten oder Aborigines - gepilgert wird weltweit. In den Weltreligionen ebenso wie in vielen Natur- und Stammesreligionen. Und gepilgert wird seit Jahrtausenden. SPRECHER In der Hoffnung auf Heilung zogen bereits in der Antike Kranke zum Heiligtum des Äskulap in Epidaurus, einer kleinen Stadt in Griechenland. Standen schwierige Fragen an oder waren wichtige Entscheidungen zu treffen, machten sich Ratsuchende auf den Weg zum Orakel nach Delphi, dem berühmtesten Heiligtum der antiken Welt. SPRECHERIN Wie, wohin und warum pilgern Angehörige der verschiedenen Religionen? Welche Pilgerformen kennt zum Beispiel das Judentum? SPRECHERIN Schon in der Bibel findet sich eine Reihe von Berichten, die auf eine jüdische Pilgertradition schließen lassen. Das Alte Testament erzählt z. B. von Abraham, der auf Anordnung Gottes seine bisherige Heimat und Familie verlässt und fortzieht zu einem Ort, den Gott ihm zeigen wird. Und auch im Neuen Testament finden sich Hinweise zum Pilgern im Judentum, erzählt der Benediktinermönch Anselm Grün. ZUSPIELUNG 2 Die Juden sind ja jedes Jahr nach Jerusalem gepilgert zu Ostern. Jesus selber ist ja auch hingepilgert, als er 12 Jahre alt war. Also Pilgerschaft war für das Judentum ganz wichtig und da war eben Jerusalem die Stadt, wohin man gepilgert ist. SPRECHERIN Heute ist im Zusammenhang mit Großevents häufig die Rede vom „Pilgern“: Fans pilgern zu Popkonzerten oder Fußballspielen. Doch ursprünglich meint Pilgern nicht einfach Unterwegssein oder Wandern, erklärt Anselm Grün: ZUSPIELUNG 3 Pilgern hat immer eine religiöse, eine spirituelle Dimension. Pilgern meint einmal Auswandern aus Abhängigkeiten, alten Bindungen. Auswandern aus den Gefühlen der Vergangenheit. Dann Unterwegssein, immer auf dem Weg sein, sich wandeln. Und Pilgern heißt auch die Frage: was ist der Sinn meines Lebens, wohin denn bin ich unterwegs. Das Wort „Pilger“ kommt von „peregrinus“, der in der Fremde ist. SPRECHERIN Und anders als die Wallfahrt, die zu einem Ort in überschaubarer Nähe führt, reist der Pilger in die ferne Fremde. Die ist für den heutigen Pilger dank Internet und Reiseführern längst nicht mehr fremd und unbekannt. Zudem ermöglichen die modernen Kommunikationsmittel den ständigen Kontakt mit Familie und Freunden. SPRECHER Und während man früher das Pilgerziel erst nach monatelanger, strapaziöser und gefahrvoller Reise erreichte, verkürzen und erleichtern heute Verkehrsmittel wie Auto, Bahn oder Flugzeug die Reise. SPRECHERIN Wurde dem Pilger im Mittelalter noch dringlich geraten, ein Testament vor seiner Abreise zu machen, muss heute kein Pilger mehr mit Wegelagerern und Räubern rechnen und um Leib und Leben fürchten. Bestimmte Vorschriften sind jedoch - je nach Religion - zu beachten. SPRECHERIN Wer sich als Moslem zur wichtigsten Pilgerreise im Islam aufmacht - und sie ist eine religiöse Pflicht für jeden Gläubigen -, für den gibt es genaue Regeln. Die „Hadsch“ - so der arabische Begriff - kann man nur im 12. Monat des islamischen Jahres durchführen. Nicht-Moslems ist die Teilnahme an der Hadsch nicht erlaubt und Frauen dürfen sie nur in Begleitung eines männlichen Verwandten machen. Der Pilger muss zudem gesund sein und sich die Pilgerfahrt finanziell leisten können; das heißt: Er darf sich nicht wegen der Pilgerreise verschulden. SPRECHERIN Ilija Trojanow, der aus Bulgarien stammende und in Deutschland aufgewachsene Reiseschriftsteller, hat ein Buch über seine Pilgerreise nach Mekka geschrieben. Darin erzählt er auch von den besonderen Vorbereitungen. ZITATOR „In den Wochen vor den festgelegten Tagen der Pilgerschaft spricht der Imam in seiner Predigt am Freitag von der Bedeutung der Hadsch und von den Pflichten des Pilgers. Das göttliche Gesetz verlangt …, dass man seine familiären und geschäftlichen Verhältnisse in Ordnung bringt, bevor man aufbricht. Der Pilger sollte ausreichend Geld für seine Familie hinterlassen, und keine Schulden.“ SPRECHERIN Zudem gibt es für den Pilger genaue Vorschriften, wie er oder sie sich zu kleiden hat. Und nur in der vorgeschriebenen Kleidung darf man die Pilgerstätten betreten. SPRECHER Frauen müssen sich wie sonst auch verhüllen. Gesicht und Hände dürfen jedoch nicht verhüllt sein. Männer müssen sich in zwei ungenähte, weiße Tücher - den ‚Ihram’ wickeln, erzählt Ilija Trojanow. ZITATOR „Die Freunde hatten den Ihram, jene zwei weißen Tücher aus Frottee, für mich gekauft; nun halfen sie mir, ihn anzulegen. … Mit dem Anlegen des Ihram war ich in den Zustand des Pilgers getreten … Für mich galten von nun an in vielem die umgekehrten Regeln als für … die ‚normalen’ Gläubigen. Im Ihram war es mir verboten, Haare und Nägel zu schneiden, genähte Kleidung oder Kopfbedeckung, feste Schuhe oder Socken zu tragen, Parfüm zu benutzen, das Gesicht zu verdecken, Geschlechtsverkehr zu haben, Tiere zu töten .., zu kämpfen und zu streiten.“ SPRECHERIN Was man wann und wie während der mehrtägigen Hadsch zu tun hat, ist genau festgelegt. Ein Besuch des Grabes von Mohammed, dem Religionsstifter, gehört dazu, Waschungen, das siebenmalige Zurücklegen einer 400 m langen Wegstrecke zwischen zwei Hügeln und das so genannte „Stehen vor Gott“ – ein Gebets- und Andachtstag am heiligen Berg Arafat. ZITATOR “Um mich herum widmeten sich alle der schweigsamen Innenschau – es war völlig still bei dieser Kontemplation der vielen.“ SPRECHERIN A und O – und das im wahrsten Sinne des Wortes: Anfang und Ende jeder Pilgerreise nach Mekka ist die Umrundung der Kaaba, jenes schwarzen quaderförmigen Gebäudes im Innenhof der großen Moschee von Mekka. ZITATOR „Der Anblick war ergreifend. …. Die einfache Form der Kaaba, das schwarze Brokat …, der pilgergesättigte Innenhof, der Strudel um den unbeugsamen Kubus herum. Die Atmosphäre von Erregung und Beglückung, aufgeladen mit den Lebensträumen, die sich in diesem Augenblick verwirklichten. … Wir überließen uns dem Strudel, um das Tawaf zu absolvieren, das siebenmalige Umkreisen der Kaaba.“ SPRECHERIN Siebenmal - und zwar gegen den Uhrzeigersinn – müssen die Pilger die Kaaba umrunden und ihr dabei möglichst nahe kommen, was gar nicht so einfach ist angesichts der Menschenmassen. Gelingt es dem Pilger nicht, heißt das: er muss weiter nach Gott streben und unbedingt noch einmal nach Mekka kommen, dem Geburtsort von Mohammed. SPRECHERIN Ein Heiligtum zu umrunden ist ein Pilgerritual, das man in vielen Religionen findet. So ziehen schon seit Jahrtausenden Buddhisten und auch Hindus über strapaziöse Wege hinauf zum Berg Kailash in Tibet, den sie auf einem 53 Kilometer langen Weg umrunden – und zwar im Uhrzeigersinn! Dabei erfährt sich der Pilger nach buddhistischer Vorstellung als Teil der Welten-Ordnung, denn der 6.700 Meter hohe Kailash ist für Buddhisten der mystische Weltenberg, der Nabel der Welt, um den sich alles dreht. So auch der Pilger. Der rezitiert bei der Umwanderung Mantras wie die heiligen Silben „OM MANI PADME HUM. SPRECHER Mindestens einmal sollte der heilige Berg umrundet werden. Besser jedoch drei Mal; noch besser 13 Mal. Und wem es sehr ernst ist, der umrundet den Kailash 108 Mal, denn das ist die heilige Buddha-Zahl. Besondere Demut zeigt derjenige Pilger, der den Weg nicht zu Fuß zurücklegt, sondern sich der Länge nach niederwirft und sich so Körperlänge um Körperlänge vorwärts bewegt – und das auf 53 Kilometern! SPRECHERIN Neben Bergheiligtümern sind den Buddhisten besonders jene Orte heilig, an denen der Gautama Siddharta, der spätere Buddha, gewirkt hat. Ein beliebtes Pilgerziel ist zum Beispiel die nordindische Stadt Sarnath, wo Siddharta der Überlieferung nach seine erste Predigt hielt. Und nicht weit entfernt davon liegt der Ort Bodh Gaya. Hier wurde der gebürtige Fürstensohn erleuchtet und zum Buddha. Gerhard Schweizer, der diese Pilgerstätte besucht hat, erzählt in seinem Buch „Pilgerorte der Weltreligionen“, was er dort gesehen hat. ZITATOR Zu Hunderten umrundeten die Gläubigen singend den Tempel im Uhrzeigersinn, den Rundgang vielfach wiederholend, immer mit Verbeugungen vor dem Bodhi Baum …Unter dem Baum saßen etwa 30 Mönche in weinroten Roben. Sie skandierten rhythmische Gebete, ... schlugen Zimbeln, Schellen, Trommeln, zwei der Mönche stießen zeitweise in Langhörner, die auf dem Boden lagen.“ SPRECHERIN In kaum einer Religion wird so viel zu heiligen Stätten gepilgert wie im Hinduismus. Ständig sind in Indien Gläubige unterwegs zu einem Tempel, einem heiligen Berg - oder zum Ganges. Der zweitgrößte Fluss Indiens, auch liebevoll „Mutter Ganges“ genannt, ist für Hindus einer der wichtigsten spirituellen Orte. Er verkörpert nach hinduistischem Glauben die Göttin Ganga und diese symbolisiert Reinheit. Deshalb tauchen Pilger zur spirituellen Reinigung ins Gangeswasser – unabhängig davon wie verschmutzt der Fluss heute ist und alles andere als „rein“. SPRECHER Auch nach Varanasi, dem früheren Benares, strömen täglich bis zu 10.000 Pilger. Nicht wenige kommen, um an diesem heiligen Ort zu sterben. Für die meisten geht es jedoch darum, in Varanasi - wie einst Gott Shiva - ein reinigendes Bad im Ganges zu nehmen. Gerhard Schweizer hat dieses Ritual beobachtet und beschrieben: ZITATOR “Die Männer meist in weißen Gewändern, die Frauen in bunten Saris. … Rufend und singend strömen sie über die Ufertreppen hinab … Das unbebaute Ufer auf der anderen Seite des Flusses liegt noch bleigrau im Morgennebel. Dort steigt scharf umrissen die rote Scheibe der Sonne auf und lässt das Wasser leuchten. Dies ist der Augenblick, in dem an den kilometerlangen Ghats, den Treppen zum Ganges, Tausende Männer und Frauen in den Fluss steigen, kurz untertauchen und sich dann betend der Sonne im Osten zuwenden.“ SPRECHERIN Jerusalem! Die schon lange umkämpfte Stadt ist spirituelles Zentrum gleich für drei Weltreligionen. Seit mehr als 3.000 Jahren reisen Juden in die Heilige Stadt. Der Tempel, das einstige jüdische Pilgerziel, das auch Jesus mit seinen Eltern besuchte, wurde bereits im Jahr 70 n. Chr. zerstört. Geblieben ist die Klagemauer, an der jüdische Pilger sich bis heute zum stillen Gebet versammeln und ihre Wünsche und Bitten hinterlassen - auf kleinen Zetteln, die sie in die Mauerritzen stecken. SPRECHERIN Den gläubigen Moslem zieht es nach Jerusalem, weil hier laut Koran der Prophet Mohammed von einem Felsen aus mit seinem Pferd in den Himmel aufgestiegen ist. Es ist dieselbe Stelle, an der zuvor schon Abraham seinen Sohn Isaak wie gefordert opfern wollte. Zum Gedenken an diese Ereignisse wurde im Jahr 691 der prächtige Felsendom in Jerusalem gebaut; und die Stadt für Moslems die Drittheiligste nach Mekka und Medina. SPRECHERIN Für die Christen ist Jerusalem nicht nur der älteste, sondern auch der wichtigste Pilgerort. Bereits ab dem 2. Jahrhundert reisten Gläubige von weit her in die Stadt, in der Jesus gelebt und gewirkt hatte, in der er verurteilt und gekreuzigt wurde. Anfangs übernahm man jüdische Bräuche wie den Tempelbesuch. SPRECHER Heute ziehen christliche Pilger betend und singend oder auch schweigend zu verschiedenen Pilgerstationen in der Stadt. Zum Gedenken an den Leidensweg pilgert man z.B. auf der „Via dolorosa“, dem Kreuzweg, bis hinauf zum Felsen Golgatha, dem Ort, an dem Jesus gekreuzigt wurde. SPRECHERIN Außer Jerusalem gibt es für Christen noch eine Vielzahl anderer Pilgerziele. Es sind Orte, an denen Maria oder Heilige wie Franz von Assisi oder der Apostel Jakobus verehrt werden. SPRECHER Seit über 1.000 Jahren pilgern Gläubige in die nordspanische Stadt Santiago de Compostela zur Grabstätte des Apostels Jakobus. Wichtig ist dabei der Weg, das wochenlange Unterwegssein, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auf dem Pferd. Der Jakobusweg hat sich seit einigen Jahren zum Trend entwickelt. Aus den unterschiedlichsten Gründen sind Christen ebenso wie Nicht-Christen unterwegs nach Santiago de Compostela, dem drittwichtigsten Pilgerziel der Christen. SPRECHERIN Und zum zweitwichtigsten Pilgerziel führen - einem Sprichwort zufolge - alle Wege. Nach Rom! SPRECHERIN Die Ewige Stadt ist nicht nur der Sitz des Oberhauptes der katholischen Kirche, sondern auch ein Ort, um zu den Wurzeln des christlichen Glaubens, zu den Heiligen der ersten Stunde zu pilgern. Dazu gehören die Grabstätten von zwei Aposteln, die für die Entstehung des Christentums von zentraler Bedeutung sind. ZITATOR "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen." SPRECHER Ob Jesus seinen Jünger Petrus tatsächlich auserwählt hat, das Fundament seiner Kirche zu sein, ist umstritten. Tatsache jedoch ist, dass sich über seinem Grab die größte Kirche der Christenheit erhebt: der Petersdom, Zentrum und Wahrzeichen des Katholizismus. SPRECHERIN Das Grab von Paulus, einem römischen Staatsbürger, der vom Christenverfolger zum Verkünder des christlichen Glaubens wurde und ohne dessen Engagement sich die Lehre Jesu nicht als Weltreligion etabliert hätte, befindet sich ebenfalls in einer Kirche in Rom. Sie gehört zu den sieben Kirchen, die Rompilger seit Jahrhunderten aufsuchen, um den Wurzeln ihrer Religion nachzuspüren, um zu beten, um Buße zu tun. SPRECHERIN In jeder Religion gibt es eine Vielzahl von heiligen Orten, zu denen Gläubige pilgern. Es sind Grabstätten von Heiligen oder der Geburtsort des Religionsstifters wie im Falle von Mekka. Andere Orte sind Pilgerziel, weil hier ein für die Gläubigen wichtiges Ereignis stattfand wie zum Beispiel die Erleuchtung Buddhas oder die Kreuzigung Jesu. SPRECHER Manche Orte sind spirituelles Zentrum für mehrere Religionen wie z.B. Jerusalem. Oder der Berg Kailash in Tibet, zu dem Buddhisten und Hinduisten gleichermaßen pilgern. Der heiligste Berg Chinas, der „Tai Shan“, rund 550 Kilometer südlich von Peking ist Pilgerziel gleich für drei spirituelle Strömungen: für Daoisten ebenso wie Konfuzianer und Buddhisten. SPRECHERIN Zu jeder Pilgerreise gehören bestimmte Rituale, die die Gläubigen auf dem Weg oder nur am Ziel vollziehen. Es sind Opfer- und Reinigungszeremonien wie das Bad im heiligen Ganges oder das Umrunden eines spirituellen Zentrums. Das kann ein heiliger Berg sein oder die Kaaba in der Moschee von Mekka. Auch das Rezitieren von Mantras, heiligen Texten oder Gebeten gehört zum Pilgern in den verschiedenen Religionen. Pater Anselm Grün: ZUSPIELUNG Man hat Gebete verrichtet für bestimmte Menschen. Es gab ja die Pilgerschaft im eigenen Interesse, um einen eigenen Weg zu klären und es gibt die Pilgerschaft für jemanden. Und da gibt es dann bestimmte Gebete und Gottesdienste. Und es gibt als Pilgerrituale die Beichte. Hat man verbunden mit der Pilgerschaft. SPRECHERIN Wer sich aufmacht zu einem heiligen Ort, für den gelten in vielen Religionen besondere Regeln oder Vorschriften. Sie können das Verhalten betreffen – z.B. enthaltsam leben während der Pilgerreise - aber auch die äußere Erscheinung. Der Islam schreibt z. B. eine bestimmte Pilgerkleidung vor. Santiago-Pilger erkennt man an der Jakobusmuschel, und ein Palmzweig kennzeichnet den Jerusalempilger. Für die großen Reinigungszeremonien bestreichen sich Sadhus, die hinduistischen Bettelmönche, von Kopf bis Fuß mit weißer Asche. SPRECHER Tagelang zu Fuß unterwegs. – Unter gleißender Sonne - Im Gepäck nur das Allernötigste. - Schweißtreibend und kräftezehrend über steile Treppen oder schmale Pfade zum Berggipfel hinauf. - Übernachten in Massenunterkünften - Wind und Wetter ausgesetzt. Auf bloßen Knien rutschend, über Stock und Stein dem Pilgerziel entgegen. SPRECHERIN Warum setzen sich Pilger solchen körperlichen – und zuweilen auch seelischen Herausforderung und Härten aus? Warum tun sie sich das an? ZUSPIELUNG 5 Viele gehen auf den Pilgerweg, um persönliche Probleme zu klären. Viele, die in Schuld geraten sind, sind ja gepilgert, um sich frei zu gehen von der Schuld, um zu zeigen, dass sie bereit sind, neu anzufangen und sich auf den Weg zu machen. SPRECHERIN So der Benediktinermönch Anselm Grün. Und nicht nur im Christentum, sondern in allen Religionen sind Buße und spirituelle Reinigung zentrale Pilgergründe ebenso wie das Danken und Bitten. SPRECHER Man pilgert zu einem heiligen Ort, um Gott, einer Gottheit, einem Heiligen zu danken. Für eine lebenswichtige Hilfe, für eine Gesundung. Man bittet um Heilung. Die eigene oder die eines anderen. Um spirituelles Wachstum. Um Erleuchtung bittet der Buddhist; und der Hindu hofft, durch eine Pilgerreise schneller aus dem Kreislauf der Wiedergeburten erlöst zu werden. SPRECHERIN Und last but not least geht es ums Suchen. Man sucht nach Gott, nach sich selbst, nach dem Sinn des Lebens. Die Pilgerorte und Rituale in den Religionen unterscheiden sich, doch die Motive für das Pilgern sind sehr ähnlich; der Unterschied liegt in der Gewichtung. Geht es vorrangig um Buße? Um spirituelle Reinigung? Um Selbst- und Sinnsuche? Um Gott-Suche? Letztendlich geht es immer um Wandel und Ver-Wandlung, die der Pilger sucht, wünscht, erhofft. Wie bei einem Übergangsritus so vollzieht sich auch die Wandlung beim Pilgern in drei Phasen. SPRECHER Am Anfang stehen Abschied und Trennung. Der Pilger löst sich von seinem Alltag, bricht auf ins Ungewisse, lässt Sicherheiten zurück. SPRECHERIN Es folgt die Phase des Übergangs, der Transformation, die gekennzeichnet ist durch Ambivalenzen. Man ist weder im Alten noch im Neuen. Leere und Einsamkeit ebenso wie Erschöpfung gehören dazu und auch ein Gefühl des „Flow“, des Einsseins mit der Situation. Der Ausstieg aus dem Alltag und das Unterwegssein machen neue Erfahrungen möglich; Gotteserfahrungen und gegebenenfalls auch Grenzerfahrungen. Der Pilger entdeckt ungewohnte Perspektiven. Er erlebt sich und andere neu. Anders. SPRECHER Am Ende steht die Rückkehr, die Wiedereingliederung, die Re-Integration. Wer als Pilger unterwegs war, kehrt nicht als der Gleiche in seinen Alltag zurück. Denn wie es schon der griechische Philosoph Thales von Milet formulierte: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. SPRECHERIN Die Suche nach Wandel und Veränderung, nach Gott, nach dem Sinn des Lebens, nach sich selbst - das ist es, was Pilgernde bewegt beziehungsweise in Bewegung bringt. Und das weltweit und seit Jahrtausenden, weiß Anselm Grün: ZUSPIELUNG 6 Das Pilgern ist uralt, also alle Religionen kennen Pilgerschaft. Überall gibt es heilige Orte, zu denen man gepilgert ist. Also, es war immer schon ein Bedürfnis zu gehen und diese Form von Meditation, die auch den Körper mit einschließt, die auch die Natur mit einbeschließt, die entspricht einfach dem Wesen des Menschen. Pilgern ist ein Urprinzip des Menschen. ENDE