Schiller-Gymnasium Witten Facharbeit im Fach Musik Komponieren mit Bild, Raum und Zeit Wie wird Filmmusik komponiert? Verfasserin: Pia Fayner Schuljahr: Q1 2016/17 Fachlehrerin: Frau van den Dool Abgabe: Mai 2017 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung.............................................................................................................. 3 2. Geschichte der Filmmusik.................................................................................... 3 3. Dramaturgie.......................................................................................................... 4 3.1 Filmdramaturgische Grundkonzepte.............................................................. 4 3.2 Musikdramaturgie im Film.…........................................................................ 5 4. Komposition......................................................................................................... 8 4.1 Musikalisches Material................................................................................... 8 4.2 Komponieren mit Raum................................................................................. 9 4.3 Komponieren mit Zeit.................................................................................. 10 4.4 Komponieren mit Klang............................................................................... 11 5. Zusammenfassung.............................................................................................. 13 6. Literaturverzeichnis............................................................................................ 15 7. Anhang................................................................................................................ 16 8. Selbstständigkeitserklärung................................................................................ 17 1. Einleitung Das Komponieren von Musik für einen Film ist eine ganz andere Angelegenheit als das freie Komponieren absoluter Musik, was KomponistenInnen vor eine besondere Herausforderung stellt. Musik hat die Kraft, die gesamte Handlung und Dramaturgie eines Filmes stark zu verändern und zu lenken. Deswegen ist es für KomponistenInnen wichtig, diese Kraft bewusst zu nutzen. Dabei spielen Elemente der Filmdramaturgie, der Filmtechnik und der Musikdramaturgie und -theorie eine Rolle. Meine Facharbeit soll diese Elemente und die Arbeit von FilmkomponistenInnen erklären. Dazu gehören die Entstehung und Entwicklung der Filmmusik, die filmund musikdramaturgischen Herangehensweisen und Kompositionstechniken. 2. Geschichte der Filmmusik Die Verwendung von Musik während einer Filmvorführung fand erstmals in den 1920er-Jahren statt, noch zur Zeit des Stummfilmes. Da die ersten Filmprojektoren großen Lärm erzeugten, versuchte man die Störgeräusche durch live gespielte Klaviermusik zu übertönen. Doch aus der Notwendigkeit, Lärm zu verdecken, entwickelte sich schnell ein Bewusstsein für die Kraft der Musik und die Filmproduzenten begannen Musik gezielt einzusetzen. Neben dem Klavier wurde im Laufe der Zeit vermehrt Schlagzeug gespielt und so dem Film eine Geräuschebene hinzugefügt. Die klassische Musik, besonders die Epoche der Romantik, hat die sich damals entwickelnde Filmmusik stark geprägt. FilmpianistInnen hatten die Möglichkeit, Notenbücher mit klassischen Kompositionen zu verwenden, welche als Vorlagen für bestimmte Filmszenen und Stimmungen benutzt werden konnten. Zum Beispiel wurde Zug der Zwerge von Grieg verwendet, um eine unheimliche Stimmung zu erzeugen. Durch die Entwicklung des ersten Tonfilmes im Jahre 1927 entstand ein immer höheres Ansehen von Filmmusik, sodass schon bald nahezu jede Stelle eines Filmes mit Musik unterlegt wurde. Das klassische Orchester wurde Hauptwerkzeug der damaligen FilmkomponistenInnen (wie z.B. Arthur Honegger) und es entstanden die ersten Filmorchester. Die Beziehung von Bild und Musik wurde immer enger. Die Musik orientierte 3 sich stärker an Handlungen, Emotionen und Bewegungen, Bild und Ton wuchsen immer mehr zusammen. Außerdem hatte Jazz- und Tanzmusik nach dem zweiten Weltkrieg starken Einfluss auf die damalige Filmmusik. Vor allem die amerikanische Filmmusikszene entwickelte sich enorm. John Williams oder Elmar Bernstein sind beispielsweise noch heute bedeutende Filmkomponisten. In den 1980er-Jahren begann eine immer schneller werdende Entwicklung in filmtechnischen Verfahren, die bis heute anhält. Digitalisierung fand nicht nur in den Kinos statt, sondern auch in den Studios der FilmkomponistenInnen und FilmproduzentInnen. Virtuelle Instrumente, Sampler und Synthesizer können ganze Orchester ersetzen, wodurch heute immer mehr nicht klassische KomponistenInnen den Weg zur Filmmusik finden, wie z.B. Hans Zimmer. 3. Dramaturgie 3.1 Filmdramaturgische Grundlagen Heutzutage ist ein Film ohne Musik kaum mehr denkbar. Während die Bilder des Filmes aktiv Handlungen und Prozesse darstellen, läuft die Musik eher passiv dazu im Hintergrund und wird normalerweise nur unterschwellig wahrgenommen. Dennoch spielt sie wegen ihrer vielfältigen Möglichkeiten eine eigene Rolle im Film, sowohl funktional, als auch dramaturgisch. „Wirkungsorientierte Filmmusik trifft den emotionalen Kern des Filmes. Sie hilft der Geschichte und den Charakteren, wo es nötig ist. Sie treibt voran, schafft emotionale und formale Bezüge, verstärkt das Offensichtliche oder arbeitet das Unsichtbare heraus.“* Hansjörg Pauli unterscheidet dabei zwischen drei dramaturgischen Grundkonzepten: Polarisieren, Paraphrasieren und Kontrapunktieren.** Polarisieren, was bedeutet, dass der Subtext herausgearbeitet wird, wird verwendet, um einem einfachen Gegenstand oder einem Bild eine Emotionalität und Bedeutung zu verleihen. So könnte man zum Beispiel eine einfache Tür dramatisch, * Weidinger: Filmmusik (2. Auflage, 2011), S.23 ** Vgl. Hansjörg Pauli, Filmmusik: Stummfilm, Stuttgart 1981 4 hoffnungsvoll oder verzaubert wirken lassen, ausschließlich durch gezielte Verwendung von Musik. Somit wird der Subtext einer Szene hörbar und erkennbar, wodurch ZuschauerInnen meistens vorausahnen können, was als nächstes passieren könnte. Oftmals findet dies in Eröffnungssequenzen statt. Paraphrasieren bedeutet, dass die Handlung unterstützt und klischeehaft untermalt wird. Zu einer Liebesszene wird passende Liebesmusik gespielt, um die Aussagen der Bilder weiter zu unterstreichen. Oft wird das Paraphrasieren verwendet, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine Sache zu fokussieren. In der Schlussszene eines Liebesfilmes, beim Happy End, würde demnach beim Paraphrasieren der finale Kuss mit einer romantischen Musik untermalt werden. Die bestimmt schwierigste Methode ist das Kontrapunktieren, was bedeutet, dass gegen die Handlung gespielt wird. Hier macht der/die KomponistIn das Gegenteil wie beim Paraphrasieren. Es werden bewusst Widersprüche zwischen Bild und Musik geschaffen, was den Zuschauer zwangsläufig zum Nachdenken bringt. Wenn man zum Beispiel im Bild ein kleines Mädchen im rosa Kleid über eine Wiese hüpfen sieht, dazu aber Beethovens 5. Sinfonie im Hintergrund läuft, entsteht ein starker Kontrast, sodass man als ZuschauerIn überlegen muss, was das bedeuten soll. Diese Methode löst in einzelnen Szenen häufig Unverständnis bei den Zuschauern aus. Deshalb werden kontrapunktierende Motive oft als Leitmotiv zu bestimmten Charakteren oder Gegenständen verwendet, welche im Laufe des Filmes wiederkehren, um indirekte Aussagen über den Gegenstand oder die Person zu treffen. Im Beispiel könnte die Szene bedeuten, dass es sich hier um ein Mädchen handelt, die der äußeren Welt ein braves Dasein vorspielt, aber im Inneren bösartige Absichten in sich hat. Auch hier trägt die Musik einen wichtigen Bestandteil zur Filmhandlung bei. 3.2 Musikdramaturgie im Film „Musikdramaturgie ist das Wissen um Gestalt und Funktionsweise der gesamten Musik eines Films.“* FilmkomponistInnen besitzen heutzutage sehr viele Gestaltungsmöglichkeiten für ihre Musik, schon alleine die unzähligen digitalen Klangmöglichkeiten bieten rie*Schneider: Komponieren für Film und Fernsehen (2011), S. 62 ff. 5 sige Freiheiten. Umso wichtiger wird ein klares Musikkonzept. Anders als bei freien musikalischen Kompositionen und absoluter Musik kommt es hier auf den Bezug zu den verschiedenen gestalterischen Ebenen des Filmes an. Dazu zählen Bildinhalte, Bildbewegungen, Farben, Helligkeitswerte, Bildgestaltung, Schauspielerischer Ausdruck, Dialoge, Geräusche und Atmosphäre (siehe Anhang: M1). Die Filmhandlung wird durch die verschiedenen Schichten, teils auch von Schicht zu Schicht wechselnd, verdeutlicht. Die Gewichtung der musikalischen Sprachmittel in Bezug auf diese Schichten kann unterschiedliche Wirkungen erzeugen. Wenn man beispielsweise in der finalen Tonmischung die Musik wesentlicher dominanter hervortreten lässt als die Geräusche, so wird das Publikum sich wahrscheinlich von der Handlung entfernt fühlen. Das Gegenteil wäre eine Szene, die keine Musik aber Geräusche besitzt, wodurch das Geschehen dem Zuschauer wahrscheinlich realer vorkommt. Die Dramaturgie setzt sich aus den verschiedenen Ebenen des Filmes zusammen. Entscheidend ist am Ende das Zusammenspiel und Gleichgewicht aller Ebenen zum Film als Gesamtkunstwerk. Nach Schneider* basiert die musikalische Dramaturgie auf folgenden Aspekten: 1) emotionale Perspektive, 2) Klangmalerei bzw. Instrumentierung, 3) satztechnischer Stil, 4) Quantität von Filmmusik, 5) Beginn und Ende eines Cues (Filmmusikstückes), 6) Funktionen der Filmmusik, 7) großformale Gestaltungsprinzipien. 1) Die emotionale Perspektive kann dem Publikum helfen, sich mit gewissen Protagonisten besonders zu identifizieren. Durch musikalische Untermalung können bestimmte Filmfiguren in den Vordergrund gestellt werden, andere wiederum durch Musiklosigkeit in den Hintergrund. Eine zu starke Anhäufung von verschiedenen, vordergründigen Protagonisten kann verwirren und die musikalische Wirkung schwächen. Entscheidend hierbei ist die Verknüpfung von gezielter Emotionalität zu einer bestimmten Filmfigur, um die Perspektive und die Emotionen des Protagonisten genauer darzustellen. 2) Die Auswahl des Klangmaterials bzw. der Instrumentierung ist entschei- dend für die dramaturgische Wirkung einer Musik. Ein typisches Mittel vieler KomponistenInnen ist „die leitmotivische Bindung eines Instrumentes an eine Fi*Schneider: Komponieren für Film und Fernsehen (2011), S. 64 6 gur“*, welche oftmals auf Klischees beruht. So passt beispielsweise eine Mundharmonika gut zu einem kleinen Jungen, während zu einem kräftigen Bergbauern eher eine Tuba passen würde. Ähnlich wie beim Kontrapunktieren (siehe filmdramaturgische Grundlagen) ist es naheliegend, auch hier möglicherweise ungeahnte Verbindungen vorzunehmen, entgegen den Klischee-Vorstellungen, um tiefer in die Handlung einzugreifen. 3) Ein gezielter satztechnischer Stil dient zusätzlich auch dem gestalteri- schen- und leitmotivischen Profil einer Figur, der im besten Fall von Beginn an zugeordnet wird. Je nach Handlung und Art der Figur, kann der Stil frei gewählt werden (z.B. Jazzharmonik oder klassische Kadenzharmonik). Es sollten jedoch im Normalfall keine riesigen Kontraste verschiedener Stilistiken im Laufe des Filmes entstehen. 4) Die Quantität von Musik innerhalb eines Filmes ist einerseits entschei- dend für die Wirkung einzelner Szenen, aber auch für die Gesamtwirkung des Filmes. Musikarme Filme (meistens 5-25% Musikanteil) wirken informativ, die Bilder stehen für sich, eine realistische Wirkung entsteht. Bei Filmen mit einem sehr hohen Musikanteil (über 50%) hat die Musik eine emotionale Wirkung und kann möglicherweise noch Einfluss auf die Handlung haben. Gute Beispiele dafür sind der Sciene-Fiction-Film Star Trek II (66% Musikanteil) und dem gegenüber Peter Handkes Autoren-Film Die linkshändige Frau (7% Musikanteil). Die Länge der einzelnen Cues spielt hierbei auch eine Rolle. So haben längere Musikstrecken eine wesentlich stärkere Wirkung als viele kurze Cues. Oftmals ist es auch Teil eines musikdramaturgischen Konzeptes, dass sich die Quantität der Musik im Laufe des Filmes verändert, also mehr Musik zu Beginn des Filmes gespielt wird oder umgekehrt. In manchen Fällen wird beispielsweise zu Beginn eines Filmes mehr musikalische Untermalung benötigt, um in die Handlung und Stimmung einzuführen. Genauso kann sich das Konzept hierfür am Handlungslauf orientieren. 5) Beginn und Schluss einer Musik können entweder an das Bild gekoppelt sein und somit akzentuieren. Genauso können Start und Ende eines Cues unabhänig vom Bild sein, um möglicherweise Schnitte zu kaschieren und sanfte Übergänge zu erzeugen. * Schneider: Komponieren für Film und fernsehen (2011), S. 64 7 6) Es gibt sehr viele Funktionen, die Musik haben kann, um einen Film zu dienen. Beispielsweise können unterschiedliche Gefühle erzeugt werden, Ortoder Zeitangaben gemacht oder Zeitempfindungen relativiert werden. Allgemein gilt, je weniger Funktionen eine Musik haben soll, desto besser können diese erfüllt werden. Eine Musik, die zu viele unterschiedliche Aufgaben erfüllen soll, wird eventuell nicht allen gerecht. 7) Großformale Gestaltungsprinzipien können einen Rahmen für die Musik- dramaturgie im Laufe des gesamten Filmes darstellen. Gute Beispiele dafür sind einerseits die Crescendoform oder die Bogenform (siehe Anhang: M2). Die Crescendoform beschreibt ein immer stärkeres, vordergründigeres und deutlicheres Auftreten der Musik. Ein Beispiel dafür ist Spiel mir das Lied vom Tod (Sergio Leone, 1992, Musik komponiert von Ennio Morricone). In diesem Film wird die Musik stetig intensiver. Seltener hingegen ist die Decrescendoform, die das Gegenteil darstellt. Weit verbreitet ist hingegen die Bogenform. Sie beschreibt einen musikdramaturgischen Lauf basierenden auf einem zu Beginn des Films erscheinenden Stückes, welches am Ende auch wiederkehrt. Musikdramaturgische Konzepte können nicht verallgemeinert werden, da jeder Film mit seiner Individualität an Handlung und Figuren und letztlich der individuellen Regie eigene Anforderungen an die Musik hat. Außerdem hängt die Musikdramaturgie eng mit dem Filmgenre zusammen. 4. Komposition 4.1 Musikalisches Material Melodik, Harmonik, Tempo, Rhythmus und Instrumentierung sind die Grundbausteine einer Musik. Die bewusste oder oftmals auch unbewusste Verwendung dieser Grundparameter ist entscheidend, da sich eine Musik aus ihnen zusammensetzt. Doch nicht immer sind alle Bausteine gleichzeitig nötig. Eine gute musikalische Untermalung einer Szene könnte auch nur eine einfache Melodie ohne harmonisches Gerüst sein. Genauso könnte eine Filmszene lediglich mit Harmonien ohne eine Melodie untermalt werden. Eine Melodie wird oft als leitmotivische Bindung an einen Gegenstand verwendet, da sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer weckt und am stärksten hervortritt. Sie kann einen Spannungsbogen besitzen, sich aus einzelnen kleinen Motiven zu8 sammensetzen oder aus längeren Läufen bestehen. Sticht eine Melodie zu stark hervor und lenkt von der Handlung ab, muss sie zurückhaltender eingesetzt werden. Anders ist es mit der Harmonik, welche von den Zuschauern meistens gar nicht bewusst wahrgenommen wird. Für Filmmusik ist ein harmonischer Boden entscheidend für die Grundemotionalität, da die Harmonik die emotionale Farbe der Musik darstellt. Es gibt keine genaue Grenze zwischen Melodie und Harmonie, da eine Melodielinie mit ihren Tönen auch eine Harmonik und damit eine emotionale Farbe besitzt. Genauso können Harmonien durch Stimmführungsregeln auch eine leichte Melodie aufweisen. Je nach dramaturgischer Idee können sie beliebig verwendet werden. 4.2 Komponieren mit Raum „Beim Hören von Musik entstehen Imaginationen des Räumlichen.“* Es existieren verschiedene Möglichkeiten, ein solches Raumgefühl zu erzeugen. Einerseits durch gezielte Verwendung von Tonalität, Intervallen, Akkorden, Klangstrukturen, Modulationen sowie Satzmustern, also durch musikalischen Raum. Räumliche Bewegungsformen eines Tones wie Gehen, Gleiten, Durchgang, Schritt oder Sprung sind entscheidend. Ein(e) KomponistIn kann ein Gefühl der drei Dimensionen eines Raumes erzeugen, z.B. Enge, Weite oder Höhe. Er/Sie kann sich beispielsweise dabei Frequenzunterschiede (hoch - tief, gezielte Intervalle), Dynamik (vorne - hinten) oder die Positionierung der Musiker (links - rechts) zu Nutze machen. Nur ein einziger Ton kann Imaginationen eines Raumes beim Publikum auslösen. Ein Beispiel dafür ist Richard Wagners Rheingold-Vorspiel (siehe Anhang: M3): Mit dem Erklingen eines dunkeln „Es“ der Kontrabässe wird die Tiefe des Rheines für die ZuhörerInnen spürbar gemacht.** Die Darstellung eines Raumes kann einerseits die Vertonungen des Ortes einer Szene, beispielsweise einer engen Küche oder der weiten Prärie bedeuten. Doch das Gefühl eines Raumes kann sich oftmals auch auf psychische Größe eines oder *Schneider: Komponieren für Film und Fernsehen (2011), S.111 ** Interpretation nach Schneider 9 mehrerer ProtagonistInnen beziehen. Die psychische Größe eines Menschen, auch Ich-Größe genannt, ist abhängig von ihrer subjektiven Wahrnehmung über ihre Umgebung. Je mehr Räume ein Mensch erkundet, desto größer und weiter auch der Raum seiner Ich-Größe. So wäre beispielsweise die Ich-Größe eines ländlichen Bauers um 1400 recht klein und einfach, da er normalerweise nicht viel mehr von der Welt sieht als sein Dorf und vielleicht die nächstgrößere Stadt. In der Geschichte der letzten 500 Jahre entwickelte sich nicht nur gesellschaftlich, sondern auch musikgeschichtlich eine Raumvergrößerung. Heutzutage ist durch den technischen Fortschritt ständige Mobilität und Verbindung zur ganzen Welt möglich. Genauso hat sich in der Musikgeschichte über Mozart, Beethoven, Bruckner und Mahler eine immer stärkere Komplexität der Musik, sowohl in der Satztechnik, der Instrumentalentwicklung, Differenzierung der Dynamik, Erweiterung des Frequenzbereiches, als auch in der Struktur des Modulationsverhaltens entwickelt. Beispielsweise würde leitmotivisch zu einem kleinen Mädchen, mit kleiner Raumgröße/Ich-Größe, eher eine harmonische Dur-Melodie ohne komplexere Strukturen passen, als eine Sinfonie von Mahler. Insgesamt gibt es viele musikalische Sprachmittel um das Gefühl eines Raumes beim Publikum zu erzeugen. Dramaturgisch spielt dies eine wichtige Rolle für die Vertonung von realen Räumen oder psychischen Räumen. 4.3 Komponieren mit Zeit Wenn man sich die Macht musikalischer Zeit zu nutzen machen möchte, muss man sich mit Rhythmus, Metrum, Takt, Tempo und Repetition befassen, da dies die Grundlagen musikalischer Zeit sind. „Wir können 'Zeit' nicht isoliert erfassen. […] 'Zeit' ist dem Menschen im 'Rhythmus' fassbar.“* Das Gefühl von Rhythmus ist ein Ur-Verstehen des Menschen, denn schon ab der 24. embryonalen Woche ist das Ohr, als erstes funktionierendes Sinnesorgan, ausgeprägt. Schon ab diesem Zeitpunkt nimmt der Embryo nicht nur die Stimme der Mutter wahr, sondern viel stärker zunächst ihren Pulsschlag, als eine Form von Rhythmus, doch nicht als eindimensionalen Taktgeber, sondern vielmehr als *Schneider: Komponieren für Film und Fernsehen (2011), S.138 10 ein binäres System, in dem die Schläge unterschiedlich und unregelmäßig vorkommen. Rhythmische Gesten zielen im wesentlichen auf das Unterbewusste des Publikums, sodass die Feinfühligkeit des/der KomponistIn hier viel entscheidender ist, als akademisches Wissen. Eine Filmmusik ist erfolgreich, wenn sie es schafft, das Publikum auf eine Art Zeitreise zu schicken. So ist es die Herausforderung des/der FilmkomponistIn mit der Musik ein passendes Zeitgefühl oder eine passende Zeitqualität zu erzeugen, um dem Film eine eigene Zeit zu verleihen. Eines der wichtigsten Mittel ist die Beschleunigung oder Verlangsamung filmischer Zeit mithilfe von Musik. Je lauter und präsenter die Musik in einer Szene ist, desto mehr Einfluss kann sie auch auf die Zeit haben. Mit nur wenigen Takten Musik können im Film mehrere Stunden, Tage oder Wochen vergangen sein. Ähnlich wie bei den Musikdramaturgie-Konzepten hängt diese subjektive Zeitmodifikation vom Bezug zum Bild des Filmes ab, sodass die zeitlichen Gestaltungsmittel der Musik (Rhythmus, Metrum etc. s.o.) nur im Zusammenspiel mit dem filmischen Rhythmus (Schnitt, Kamerafahrten und Einstellungsdauern) zu einem gezieltem Zeitgefühl des Filmes bzw. der Szene kommen kann. Des Weiteren ist für die Zeitgestaltung der Musik die Symmetrie einer Melodie, das heißt die satztechnische Form und die rhythmischen Motive, wichtig. Genauso hat der/die KomponistIn die Wahl zwischen gerader oder ungerader Zeit, beispielsweise zur Akzentuierung der Rhythmen oder dem entgegengesetzt zum Ausdruck von Freiheit und Lebendigkeit. Mittel für ungerade Zeit sind beispielsweise Taktwechsel, Synkopierungen oder freies Spiel ohne Metrum. Der gesamte Bereich der musikalischen Zeit stellt viele kompositorische Mittel zur Verfügung. 4.4 Komponieren mit Klang Im Vergleich zu einer Melodie oder einem Motiv ist ein Klang nicht etwas, das voranschreiten will oder eine Aussage trifft, sondern seine Bedeutung liegt im Dasein. Die klanglichen Möglichkeiten für eine(n) KomponistIn sind spätestens seit dem 20. Jahrhundert sehr groß, denn nicht nur durch die heutigen Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung, sondern auch durch die zunehmende Freiheit 11 und Expressivität der Musik der letzten Jahrhunderte sind keine Grenzen mehr gesetzt. Ein(e) FilmkomponistIn muss sich, um sich seine/ihre eigene Farbpalette anzueignen, mit Instrumentalgeschichte und mit den Stilistiken verschiedener Kulturen und Epochen auseinander setzen. „Der 'Klang' in der Musik entspricht der 'Farbe' in der Malerei.“* Traditionell werden Instrumentalfarben erst nach der Entwicklung eines Gerüstes aus Melodien, Harmonien und Rhythmen konzipiert. So, wie bei der Malerei meistens erst nach einer Skizze mit Farben gemalt wird. Doch mittlerweile beginnen viele FilmkomponistInnen zuerst mit der Klangsuche und entwickeln aus Klangideen ihre Musiken (s.o. vgl. mit Musikdramaturgie, Klangmalerei und Instrumentierung). Die Filmkomposition mit akustischen Instrumenten und Klängen muss von der elektronischen Komposition unterschieden werden. Trotzdem überschneiden sich beide Bereiche in vielerlei Hinsicht, da viele FilmkomponistInnen beispielsweise mit synthetischen Klängen und Instrumenten an ihren Ideen arbeiten und doch letztlich die Stücke mit realem Orchester und Musikern aufgenommen werden. Genauso kann man mit realen Musikern und virtuellen Sounds gleichzeitig zusammen arbeiten. Für die Komposition mit richtigem Orchester sind Kenntnisse und Fähigkeiten in den Bereichen Orchestration und Instrumentierung notwenig. Dazu zählen einerseits die Kenntnisse einzelner Instrumente, ihre Klangcharakteristika, Tonumfänge, Spielweisen, typische Einsatzmöglichkeiten und andererseits ihr akustisches Verhalten während einer Tonaufnahme. Außerdem zählen Kenntnisse der Geschichte der Instrumental- und Klangentwicklung und der typischen Instrumentalkombinationen, Tutti-Formen und Ausdrucks- und Klangmöglichkeiten einzelner Orchestergruppen dazu. Letztlich steht die Besetzung der Instrumente in Beziehung zur Satztechnik, was mit der historischen Entwicklung zusammenhängt (z.B. Fuge und Consort in der Barockzeit, also Besetzung der Stimmen mit gleichen Instrumenten). Ein weiteres wichtiges Mittel in der Instrumentalkomposition ist die dynamische Einrichtung und das Artikulieren von Einzelstimmen. Sie dienen als ein Mittel zum Ausdruck von Emotionalität. *Schneider: Komponieren für Film und Fernsehen (2011), S. 190 12 Die Entwicklung des Orchesters während der Romantik stellt heute einen zentralen Teil der Kino- und Filmsinfonik dar. Die Größe der Orchester und des Klangspektrums erweiterten sich bis zur größten Orchesterbesetzung in der expressionistischen Epoche (1900-1914) mit z.B. Mahler, Strauss, und Strawinsky. Bewusstes Einsetzen der Instrumentengruppen bringt viele Möglichkeiten mit sich. So besteht auch hier der Bezug zum Räumlichen (hoch - tief, vorne hinten), durch die innere Belebung des Orchesterklanges und die Frage nach der Lautstärkenintensität. Beispielsweise könnte man ein Gefühl von Enge oder Weite erzeugen. Ein Mittel dafür ist zum Beispiel das Setzen mehrerer Bläser innerhalb einer Oktave. So entsteht durch die hohe Frequenzdichte ein Gefühl von Enge. Die vielfältigen Möglichkeiten der Orchesterkomposition stellen FilmkomponistInnen vor eine große Herausforderung. Daher ist ein genaues dramaturgisches Konzept wichtig, um die Anzahl der Mittel zu beschränken. Je nach musikalischer Vorstellungen arbeiten viele FilmkomponistInnen überwiegend mit elektronischem Klangmaterial. Gerade wenn nach Klängen mit Ausdruck von Irrealität, Weiträumigkeit oder Komplexität (oftmals in Kriminal-, Sciene-Fiction-, oder Horrorfilmen) gesucht wird, sind synthetische Klänge akustischen Instrumenten und Klängen oft überlegen. Die modernen Synthesizer weisen eine enorme Klangkomplexität auf, die sich in verschiedenen Parametern steuern lässt (z.B. decay, sustain oder release). So kann ein Klang nach den individuellen Vorstellungen hell, dunkel, hart, weich, shpärisch oder kratzig geformt werden. 5. Zusammenfassung Nach der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Elementen der Komposition von Filmmusik, ihrer Entstehungsgeschichte, den Dramaturgiekonzepten und den Kompositionstechniken, sind mir die Funktionen, Aufgaben und Möglichkeiten einer Filmmusik deutlich geworden. Sie ist für den heutigen Film unabdingbar, da sie unterschwellige Aussagen trifft, welche die Emotionen und Empfindungen der Zuschauer prägen. Der Film alleine könnte dies in diesem Maße nicht leisten. Ihr Einfluss auf die Dramaturgie und Handlung eines Filmes kann jedoch nur im Zusammenspiel mit den anderen filmischen Parametern funktionieren. 13 Dieses Zusammenspiel spiegelt sich im Arbeitsalltag einer Filmproduktion gut wieder. Ständige Kommunikation zwischen RegisseurInnen, ProduzentInnen, KomponistInnen und ToningenieurInnen ist wichtig für eine erfolgreiche Filmproduktion. Außerdem wurde mir durch die Auseinandersetzung mit Kompositionslehren von Filmmusik deutlich, welche Wirkungen durch verschiedene Parameter erzeugt werden können und welche Möglichkeiten mit ihnen entstehen. Die Arbeitsweisen und Denkprozesse einer Filmmusikproduktion sind genauso wie die Elemente einer Filmproduktion ziemlich komplex. 14 6. Literaturverzeichnis (Bibliographie): • Kümpel, Philipp: Filmmusik in der Praxis. Komponieren – Produzieren – Verkaufen. Bergkirchen: PPVMEDIEN Gmbh, 2 2010. • Pauli, Hansjörg: Filmmusik. Stummfilm, Stuttgart: Klett-Cotta, 1981 • Schneider, Enjott: Komponieren für Film und Fernsehen. Ein Handbuch. Mainz: Schott Music Gmbh & Co. KG, 4 2011. • Weidinger, Andreas: Filmmusik. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2 2011 15 7. Anhang: M1: Ebenen des Filmes (Quelle: Schneider: Komponieren für Film und Fernsehen (2011), S. 63) M2: Großformale Gestaltungsprinzipien (Quelle: Schneider: Komponieren für Film und Fernsehen (2011), S. 69) 8. Selbstständigkeitserklärung: Ich erkläre, dass ich die Facharbeit ohne fremde Hilfe angefertigt habe und nur die im Literaturverzeichnis angeführten quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Pia Fayner 17