Bescheidenheit und Selbstbewusstsein – Transdisziplinarität als Voraussetzung für eine integrale Quartierentwicklung von Prof. Alex Willener Neben der lebensweltlichen Kompetenz der Bewohnerschaft benötigen Analyse− und Entwicklungsprozesse in Quartieren die gebündelte Fachkompetenz verschiedener Disziplinen. Fachleute der Sozialen Arbeit können dabei eine wichtige Rolle spielen. In grösseren und kleineren Städten finden seit einigen Jahren Entwicklungsprozesse in benachteiligten Quartieren statt. Als benachteiligt können Quartiere bezeichnet werden, wenn verschiedene Indikatoren deutlich von den durchschnittlichen Werten der Gesamtstadt oder der Agglomeration abweichen. Zu nennen sind hier beispielsweise eine übermässige Verkehrsbelastung, unattraktive Wohnlagen, räumliche Konzentration von Menschen mit einem niedrigen gesellschaftlichen Status, steigender Anteil der Migrationsbevölkerung verbunden mit ethnischer Heterogenität, unattraktives Wohnumfeld, schlechtes Image. Ob Telli in Aarau, Birch in Schaffhausen oder Kappelerhof in Baden, ob Töss in Winterthur, Basel−/Bernstrasse in Luzern oder Kleinbasel – diese Quartiere tragen oft Lasten für eine ganze Stadt oder Region und erbringen für sie gleichzeitig hohe Integrationsleistungen. Nachdem solche Quartiere jahrelang sich selber überlassen wurden und tendenziell eine Abwärtsspirale erfahren haben, ist es nur folgerichtig, dass sie nun mit Massnahmen der Quartierentwicklung unterstützt werden. Trotz mancher Ähnlichkeiten in den Ausgangslagen unterscheiden sich die Herangehensweisen bei der Analyse und den daraus abgeleiteten Massnahmen in all diesen Quartieren erheblich. Eine Herausforderung stellt dabei die Entwicklung einer der Komplexität der Aufgabenstellung angemessenen Strategie dar: eine funktionale Projektorganisation sowie der Einsatz adäquater Ressourcen und Methoden. Jean−Claude Gillet (1998) nennt das – passend zum hohen Anspruch – , die Kunst der Kombination. Dazu gehört auch die Frage nach der zweckmässigen fachlichen Unterstützung – und auf diese richten wir in diesem Beitrag den Fokus der Betrachtung. Komplexe Ausgangslagen ... Zahlreiche Gegebenheiten, Prozesse und Akteure auf verschiedenen Ebenen prägen das Gesicht eines Quartiers. Erwähnt seien etwa die topographischen Lage, die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Region, raumplanerische Rahmenbedingungen, Marktmechanismen des Boden− und Liegenschaftenmarktes, verkehrspolitische Entscheidungen, demografische oder migrationspolitische Entwicklungen. Neben strukturellen Faktoren (zum Beispiel der fehlende oder eingeschränkte Zugang zum allgemeinen Wohnungsmarkt für bestimmte gesellschaftliche Gruppen) spielen auch die Summe der Entscheidungen von Einzelpersonen und Organisationen eine Rolle (zum Beispiel die Investitionstätigkeit von Liegenschafteneigentümern). Geht es nun darum, die Situation eines Quartiers zu analysieren, um anschliessend dessen Entwicklung in eine erwünschte Richtung zu fördern, ist es entscheidend, den Ist−Zustand und den Ansatzhebel für Veränderungen nicht durch eine bestimmte disziplinäre Brille zu betrachten. Denn je nach Sichtweise kann die Betrachtung einzelner Phänomene zu ganz anderen Erklärungen und in der Folge zu unterschiedlichen Handlungsansätzen führen. Segregation zum Beispiel kann sowohl soziologisch (als Ergebnis sozialer Ungleichheit) als auch ökonomisch (bspw. als Ergebnis von Marktmechanismen auf dem Liegenschaftenmarkt) erklärt und entsprechend anders gewichtet und bearbeitet werden. 1 ... erfordern die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen Diese Einsicht führt dazu, dass bei Quartieranalysen zwingend unterschiedliche fachliche Sichtweisen eingesetzt werden müssen. Dies wohlverstanden nicht etwa als Ersatz für die Sichtweise der dort lebenden Bevölkerung – die Nutzung ihrer lebensweltlichen Kompetenz im Sinne einer alltagsnahen Expertenschaft ist unerlässlich und Voraussetzung für einen gelingenden Quartierentwicklungsprozess –, sondern im Sinne einer fachlichen Unterstützung der berechtigten Veränderungsanliegen der Akteure im Quartier. Diese sozusagen durch den Gegenstand begründete Notwendigkeit der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen kann ergänzt werden durch eine normative. Der Ansatz der nachhaltigen Entwicklung, weltweit gültig als Massstab für Entwicklungsprozesse (in Quartieren, Gemeinden, Regionen), geht bekanntlich von den drei Nachhaltigkeitsdimensionen Gesellschaft, Ökonomie und Ökologie aus. Wenn diese Dimensionen auch in ihrem Wirkungszusammenhang ernst genommen werden, ist inter− oder transdisziplinäre Zusammenarbeit die logische Konsequenz. Der Artikel von Colette Peter in diesem Heft zeigt den Nutzen interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Soziokultur und Raumplanung im Badener Quartier Kappelerhof. Die optimale Ergänzung beider Arbeits− und Sichtweisen wurde dort nicht zuletzt durch die gegenseitige Offenheit und das Interesse an der Arbeit der anderen Disziplin gefördert. Noch breiter angelegt war die Analyse im Luzerner Quartierentwicklungsprojekt BaBeL, wo unter anderem planungsrechtliche Grundlagen, die Situation der Liegenschaftenbesitzenden, soziale und soziokulturelle Aspekte, Umweltschutz, Städtebau, Architektur und Verkehr aus der Sicht der jeweiligen Fachleute einbezogen wurden. Diese unterschiedlichen Analyseebenen bildeten eine solide Grundlage für die in einem partizipativen Verfahren entwickelten sechs verschiedenen Szenarien mit je unterschiedlichen Ansatzhebeln für eine zukünftige nachhaltige Entwicklung des Quartiers. In einem anschliessenden Beteiligungsprozess wurde aus den Bestandteilen der einzelnen Szenarien ein so genanntes Konsensszenario entwickelt, das nun die Basis für 16 Umsetzungsbausteine (mit je mehreren Teilprojekten) bildet. Die fachliche Breite wurde im Projekt BaBeL erleichtert durch eine Projektleitung aus VertreterInnen von vier Teilschulen der Fachhochschule Zentralschweiz (Wirtschaft, Soziale Arbeit, TechnikGestaltungsowie der Stadt Luzern (Stadtplanung, Integration). Dass es aber nicht damit getan ist, dass einzelne DisziplinenvertreterInnen nebeneinander je ihren Job machen, zeigt sich spätestens in der Umsetzungsphase eines Entwicklungsprozesses, wo schnell sichtbar wird, dass die beste Wirkung nicht mit je isolierten Massnahmen, sondern nur mit integralen Projektansätzen erzielt werden kann. So kann etwa − um beim Beispiel BaBeL zu bleiben − die Neugestaltung eines hässlichen Strassendurchgangs durch den Einbezug von Kindern und des anliegenden Gewerbes mit soziokulturellen und ökonomischen Massnahmen verknüpft werden. Oder die ausserschulische Betreuung und Förderung von Kindern kann mit Massnahmen zur Aufwertung von Grünräumen verbunden werden. Solche kombinierte Teilprojekte führen dann beispielsweise zu weiterer zielgerichteter Zusammenarbeit von so unterschiedlichen Berufsleuten wie Architekten, Künstlerinnen, Animatoren und Wirtinnen. Der Ansatz der Transdisziplinarität ... Unter Transdisziplinarität versteht man das fächerübergreifende Zusammenarbeiten verschiedener Disziplinen, wobei im Gegensatz zur Interdisziplinarität von einem gemeinsamen Konzept ausgegangen wird. Im Projekt BaBeL bildete denn auch das zu Beginn des Projektes entwickelte gemeinsame Verständnis von Quartierentwicklung eine wichtige Basis der Zusammenarbeit. 2 Da sich transdisziplinäre Arbeitssituationen unter anderem aufgrund der Informationsfülle sowie der sich oftmals gravierend unterscheidenden fachspezifischen Sprache, Begriffe und Definitionen nur schwer herstellen lassen, bedarf es der Fähigkeit von Personen, moderierend und vermittelnd einen kritischen Dialog zu initiieren und zu fördern . Transdisziplinarität führt zum Erkennen übergreifender Fragestellungen. Dieser Vorgang ist gemäss Mittelstrass (1987) geleitet von einer Öffnung der Disziplinen auf Ungewissheit hin. Denn die Aufgabenstellungen sind weniger von vornherein vorgegeben, sondern werden von einem heterogenen Kreis von Fachleuten und Betroffenen in einem jeweils spezifischen und lokal verankerten Kontext gemeinsam definiert. Eine solcherart verstandene Zusammenarbeit erleichtert denn auch die Entwicklung einer kontextuell angepassten und integral verstandenen Strategie sowie die kreative Entwicklung von Methoden und Wegen. Diese transdisziplinäre Zusammenarbeit hat noch einen ganz praktischen Zusatznutzen. Trotz anerkanntem Handlungsbedarf verfügen die Kommunen oft nicht über die nötigen Budgetmittel für Quartier− oder Stadtentwicklungsprozesse. Dem Bund und den Kantonen fehlt es (im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern ) am politischen Willen, die Städte für solche Aufgaben in angemessenem Ausmass zu unterstützen. Es ist deshalb wichtig, geplante Entwicklungsprozesse durch die Bündelung von Finanzierungsquellen auf der Ebene Bund, Kantone und private Werke zu unterstützen. Bei einem transdisziplinären Team wachsen die Chancen, allfällig vorhandene Finanzflüsse zu bündeln. ... und die Rolle der Sozialen Arbeit Was bedeutet die Forderung nach Transdisziplinarität nun für Fachleute der Sozialen Arbeit, die in Quartier− oder Stadtentwicklungsprozesse involviert sind? Zunächst kann festgestellt werden, dass Fachleute der Sozialen Arbeit eine doppelte Rolle als Expertin für soziokulturelle Fragestellungen (Aufgabenorientierung) sowie als Prozessfachperson (Prozessorientierung) spielen können. Voraussetzung ist natürlich, dass sie sich in ihrer Ausbildung vertiefte Kompetenzen im Bereich der Gemeinwesenentwicklung aneignen konnten. Unsere eigenen Erfahrungen und die Beobachtungen in der Praxis zeigen aber auch, dass beispielsweise soziokulturelle AnimatorInnen in unterschiedlichsten Funktionen und Rollen Entwicklungsprozesse mitgestalten, die zwischen direktiv und nicht−direktiv changieren. Bei direktivem Rollenverhalten ergreifen sie die Initiative, leiten (Teil−)projekte, betreiben Aktivierung und fördern die Beteiligung. Bei nicht−direktiver Rollenausübung unterstützen sie Initiativen oder Aktivitäten aus der Bewohnerschaft durch geeignete Mittel. Diese Rollen schliessen sich gegenseitig nicht aus, sie können in unterschiedlichen Prozessen oder in unterschiedlichen Phasen des Prozesses eingesetzt werden. Diese Rollen stellen somit auch Kompetenzbereiche dar, die je nach kontextuellem Bedarf eingesetzt werden können. Voraussetzung ist allerdings immer, dass sich Sozialarbeitende ihren Platz in solchen Prozessen durch Kreativität und Kompetenz erarbeiten. Die wichtigste Rolle in Entwicklungsprozessen ist jedoch jene der intermediären Instanz, wie sie von verschiedenen Autoren beschrieben wird. Während die intermediäre Rolle im Allgemeinen als vermittelnde Position zwischen der Lebenswelt der Bewohnerschaft und der Ebene der Politik und Verwaltung verstanden wird, kann sie im Kontext der transdisziplinären Zusammenarbeit auch in der Förderung des Dialogs und der Vermittlung zwischen den Disziplinen bestehen. Nicht selten ist auch der Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Vertretern unterschiedlicher Teile der Stadtverwaltung in Gang zu bringen . Dass eine solche in mehrfachem Sinne verstandene intermediäre Rolle höchst anspruchsvoll ist, versteht sich von selbst. Marcel Spierts’ (1998) Bild des eigensinnigen Gleichgewichtskünstlers – der Fachperson, die alle ihre Sinne braucht, um die Gleichgewichte laufend herzustellen, bringt den hohen Anspruch auf den Punkt. 3 Aus den Erfahrungen der verschiedenen Prozesse können drei wesentliche Folgerungen für die transdisziplinäre Zusammenarbeit gezogen werden: Es lohnt und bewährt sich, die Alltags− oder Lebensweltkompetenz der Akteure vor Ort mit ExpertInnenkompetenz in ein Gleichgewicht und in einen fruchtbaren prozesshaften Austausch zu bringen. Die Komplexität von Ausgangslagen in Quartier− oder Stadtentwicklungsprojekten erfordert eine Strategie im Sinne einer kontextuell angepassten Kombination von Analyse−, Aktivierungs− und Beteiligungsmethoden, von Kommunikations− und Konzeptaufgaben. Diese prozessorientierten Aufgaben können nicht abgekoppelt werden von fundierter fachlicher Kompetenz, hauptsächlich in den Bereichen Planung, Gestaltung, Ökonomie und Sozialer Arbeit. Transdisziplinäre Zusammenarbeit ist deshalb eine Voraussetzung für ein integrales Vorgehen. Fachleute der Sozialen Arbeit haben die Chance, in solchen transdisziplinären Teams eine wichtige Rolle der Vermittlung und der fachlichen Unterstützung zu spielen. Dabei sollten sie eine Mischung aus Bescheidenheit und Selbstbewusstsein an den Tag legen. Bescheidenheit deshalb, weil trotz der steigenden Zahl von Publikationen niemand wirklich weiss, wie Quartierentwicklung funktioniert. In jedem Quartier und in jedem Prozess stehen wir vor neuen unerwarteten Gegebenheiten – Selbstüberschätzung wäre hier fehl am Platz. Selbstbewusstsein hingegen deshalb, weil auch die Partnerinnen und Partner aus den anderen Disziplinen mit ihren herkömmlichen Instrumenten und Werkzeugen in diesen auch für sie neuartigen Prozessen an Grenzen stossen und ihre Verfahrensweisen teilweise neu erfinden müssen. Literatur: Gillet, J.−C. (1998): Animation. Der Sinn der Aktion. Luzern Häberli R./Grossenbacher−Mansuy, W. (1998): Transdisziplinarität zwischen Förderung und Überforderung. Erkenntnisse aus dem SPP Umwelt Hinte, W. (1998): Bewohner ermutigen, aktivieren, organisieren. Methoden und Strukturen für ein effektives Stadtteilmanagement in: Alisch, M. (Hrsg.) (1998): Stadtteilmanagement. Voraussetzungen und Chancen für die soziale Stadt. Maier, K./Michelsen, G. (2003): Nachhaltige Stadtentwicklung braucht intermediäre Instanzen, in: Maier, K./Michelsen, G. (2003): Nachhaltige Stadtentwicklung – eine Herausforderung für Umweltkommunikation und Soziale Arbeit, Frankfurt am Main Mittelstrass, J (1987): Die Stunde der Interdisziplinarität?, in: Kocka, J.: Interdisdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt am Main netlexikon, akademie.de, www.lexikon−definition.de 4 Spierts, M. (1998): Balancieren und Stimulieren. Methodisches Handeln in der soziokulturellen Arbeit, Luzern Zum Autor Prof. Alex Willener ist Dozent und Projektleiter im Institut WDF der HSA Hochschule für Soziale Arbeit Luzern, Team Soziokultur. Er ist zurzeit an verschiedenen Quartierentwicklungsprojekten beteiligt, lehrt in Modulen, die sich mit Gemeinwesenentwicklung befassen und leitet den Nachdiplomkurs Transkulturelle Kompetenzen im Sozial− und Bildungsbereich. www.avenirsocial.ch 5