Überlegungen zu einer Theaterakademie in Hamburg Michael Börgerding „Um zum Beispiel die Optionen der zeitgenössischen Theaterregisseure zu verstehen, genügt es eben nicht, einen Bezug zu den ökonomischen Bedingungen herzustellen, zum Stand der Subventionen oder der Einspielergebnisse, und nicht einmal zu den Erwartungen des Publikums; man muss sich auf die gesamte Geschichte des Theaters seit 1880 beziehen, in deren Verlauf sich, als Universum der zur Diskussion stehenden Punkte und als Ensemble der wesentlichen Bestandteile einer Aufführung, die spezifische Problematik entwickelt hat, zu der ein Regisseur, der dieses Namens würdig ist, Stellung beziehen muss.“ Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst „Das provokative, kritische, tabuverletzende Theater der Gegenwart bezieht sein oppositionelles Stigma aus der bloßen Einbildung, dass die gesellschaftliche Majorität etwas dagegen haben könnte. Richtig ist aber, dass dieses Theater vielen gleichgültig ist, während sich die daran Interessierten durch gegenseitige Versicherung ihrer ästhetischen Radikalität das Gefühl der Freiheit erst durch eine Vorspiegelung verschaffen.“ Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft Die Theaterakademie als ein Ort des Freiraums Theater rechnen sich nicht. Kunst rechnet sich nicht. Allenfalls rechnet Kunst damit, dass sie scheitern kann. Das ist in einer Welt, in der alles sich rechnet und nichts scheitern darf, mehr als ein Sehnsuchtspunkt. Es ist die Lust auf Verschwendung und Verausgabung, Unverfügbarkeit und Unverantwortlichkeit. Kunst, auch das Theater in all seinen Formen, ist immer ambivalent, sie ist wie jeder Genuss und alle Lüste grundsätzlich unabgeschlossen und verweigert sich jeder Eindeutigkeit, sie reagiert auf die Welt und sie weiß nicht immer eine Antwort. Eine Theaterakademie bildet aus, sie weist die Wege, weiß von den Regeln der Kunst, vermittelt ihre Theatergeschichte und fordert die Lernenden heraus. Und gleichzeitig schützt sie, was in ihr entsteht. Auch das, was sie nicht immer sofort versteht. Die Theaterakademie als ein Ort der Selbstvergewisserung Eine Theaterakademie ist ein Ort, in dem Lehrende wie Lernende miteinander und öffentlich etwas erfahren wollen über sich und über die Welt. Sie ist wie das Theater immer auch ein Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Selbstvergewisserung. Und so wie das Theater ist auch eine Akademie ein Indikator, ob eine Gesellschaft überhaupt ein Interesse hat, über sich selbst etwas zu erfahren. Um als Akademie auf der Höhe der Zeit zu sein, müssen ihre Mitglieder heute auf vieles hören, müssen sie vieles und unterschiedliches lesen und sehen, nicht nur durchorganisierte Lehrpläne, den Literaturkanon oder das Repertoire. Dass „etwas“ nicht stimmt in der Welt, dass diese Welt wartet auf etwas, das sie erlöst, dass sie hofft auf ihren künstlerischen Ausdruck, merkt nur, wer vieles durch sich durchfließen lässt. Das Viele ist auch das Rauschen auf allen Kanälen, das Fließen, das nicht Festzumachende, das Nicht-Identische, „ist der Nil, das Nihil, das Nichts” (Theweleit). Für „Identitätsklöße“ (Sloterdijk) allerdings ist das Nichts nur schwer aushaltbar, sie brauchen das „etwas“, das Vorgedachte, das Formulierte, die Repräsentanz, an die sie sich andocken können. Der innere Motor einer Theaterakademie arbeitet daran, diese produktiven Vielheiten zu erzählen, erfahrbar und mitteilbar zu machen. Die Theaterakademie als ein Ort der Produktion Theater lernen kann nur, wer Theater macht. Und sich dabei zuschauen lässt. Die Theaterakademie will produzieren: Szenen, Stücke, Opern. Will und muss Theater machen. Den Ausdifferenzierungen und der Medialisierung der Wirklichkeit antwortet sie mit Ausdifferenzierungen in Sprachen und Stilen, in Themen und Stoffen, mit dem Rückzug auf das ureigene - das Spielen, das Singen und das Sprechen, Einfühlung, Darstellung, Verwandlung -, ebenso wie mit einer Öffnung diesen neuen Wirklichkeiten und Medien gegenüber, technisch wie thematisch (Tanz, Musik, Film, bildende Kunst). Eine neue Formensprache entsteht, die nicht nur Schauspiel und Musik integriert, sondern auch die alten Trennungen von E- und U-Kultur überbrückt. Die Popularisierung von Stoffen, die mögliche Nähe zur Pop-Kultur, die doppelte, ironische Lesart ist nur dann ein Problem, wenn es beliebig wird, was man tut, oder wenn ein bestimmter Stil, eine bestimmte Handschrift als absolut erhoben wird. Die Theaterakademie entwickelt ein eigenes offenes künstlerisches Profil in der offenen Konstellation aus dem Zeitkern des Textes – eines Klassikers wie eines Zeitgenossen – auf der einen Seite und dem Zeit- und Ästhetik-Bewusstsein des Regisseurs wie der Schauspieler oder Sänger auf der anderen Seite. Die Theaterakademie als ein Ort der Entgrenzung und Vernetzung Das klassische Sprechtheater mit seiner literarischen Bezugnahme ist nicht mehr ausschließliches Zentrum der Arbeit am Stadt- und Staatstheater, andere Zeichensysteme sind dazu gekommen. Das gleiche gilt ganz sicher und z.T. schon länger für das Musiktheater, das oft mehr und manchmal weniger als die traditionelle Oper ist. Hans-Thies Lehmanns „postdramatisches Theater“ ist eine Beschreibungskategorie, keine ästhetische Forderung. Sie hält fest, was im und mit dem Theater passiert ist. Die Befreiung der Zeichen verhilft dem Theater zu neuen Formensprachen. Manches davon ist beim ersten Sehen schwer zu entziffern, aber auch andere Zeichensysteme wie Schreib- und Spielweisen sind ja lesbar (& erlernbar) – und lustvoll erlebbar. Das Theater war immer eine riesige Zeichenwerkstatt und selbst das Theater der wildesten Dekonstruktion hat seine ästhetischen Gesetze. Die Entgrenzung der Zeichen und der Sparten produziert die permanente Aufgabe der Neu-Vernetzung. Und so wie intellektuelles, versponnenes oder entfesseltes Regie-, Schauspieler- und Musiktheater notwendig ist, um aus Literatur; Musik und Theorie energiegeladenes Miterleben zu machen, so sind wache Autoren, lebendige Komponisten und zeitgenössische Stücke unabdingbar für ein sich weiterentwickelndes und eben nicht sich in leeren Kreisbewegungen wiederholendes Theater. Es geht tatsächlich immer noch weiter. Bisweilen auch zurück – wissend, dass kein künstlerischer Befreiungsakt vor inflationärem Gebrauch oder gar Scharlatanerie geschützt ist. Die Theaterakademie als ein Ort der Theorie „Ihren einschüchternden Charakter haben humanwissenschaftliche Theorien weitgehend verloren“, stellt Jochen Hörisch in seiner Handreichung ‚Theorie-Apotheke’ lakonisch fest. Analytische Philosophie, Dekonstruktion, Strukturalismus, System-, Diskurs- oder Simulationstheorie: Dass junge Theatermenschen zu Theoriegebilden aller Art ein eher entspanntes wenn nicht gar kein Verhältnis haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Das ist nicht unbedingt gleich ein Verhängnis, kann aber dazu führen, dass man immer nur die gleichen Geschichten gleich erzählt, und keinen Begriff davon hat, wie sich die ewig gleichen Geschichten – die Theatergeschichten von Liebe und Hass, Schuld und Sühne – sich immer wieder neu und ganz anders abspielen. Blickt man in ein gerade erschienenes Glossar der Gegenwart findet man ein paar Schlüssel- und Stichworte, deren Relevanz für unsere Gesellschaft sofort deutlich aufscheinen, von denen das Theater aber nur selten erzählt, oft nicht mal weiß: Aktivierung, Branding, Community, Evaluation, Flexibilität, Globalisierung, Intelligenz, Kreativität, Mediation, Nachhaltigkeit, Performanz, Risiko, Selbstverantwortung, Unternehmer, Virtualität, Wellness, Zivilgesellschaft. Theorien sind dazu da, die Wahrheit zu sagen. Nichts anderes will das Theater. Allerdings lassen sich Theorien eher im Plural denken als Wahrheiten. Wenn dann noch die Konjunkturen der Welt- und Menscherklärungen sich überholen, ist es schwer, den Überblick zu bekommen oder zu behalten. Eine Theaterakademie, die nicht aufgeht in einer begrifflosen Gegenwart, kann in dieser schon länger dauernden „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) Wege zeigen und suchen. Die Theaterakademie als ein Ort der Öffnung Theaterleute – Hochschullehrer vielleicht etwas weniger – sind immer gefährdet, dass sie nur im Theater etwas sehen und erleben, nur vom Theater etwas verstehen stecken. Die „Welt“ da draußen – eine Welt der harten sozialen Realitäten und scheiternden Biographien – diese Welt „da draußen“ dringt nicht immer bis in die Spielpläne, bis in die Lehrpläne vor. Vielleicht sollten wir – Theatermacher wie Dozenten – versuchen, das Theater wie die Hochschule als ein selbstreferentielles System zu unterlaufen und dem (systemtheoretisch gesprochen) „Sinn“ des Betriebs Theater / Hochschule: nämlich bloße Selbsterhaltung etwas entgegenzusetzen, was Erfahrung heißen könnte, aus der Welt da draußen kommt, und von dem es lohnt zu erzählen. Vielleicht muss man auch dabei, um noch etwas zu spüren, bereit sein, einige Filter – ästhetische Gewissheiten, politische Korrektheiten – zu vergessen. Dass es nichts mehr zu erzählen gäbe und alles schon durchgespielt sei, ist Unsinn oder Denkfaulheit. Entscheidend ist doch, wie man Geschichten erzählt. Ein anderes Problem ist viel schöner und spannender: dass es viel zu viel zu erzählen gibt. Genug für uns alle. Die Theaterakademie als ein Ort des Erzählens Walter Benjamin schrieb über den Erzähler: „Die Ausrichtung auf das praktische Interesse ist ein charakteristischer Zug bei vielen geborenen Erzählern. Jede wahre Erzählung führt, offen oder versteckt, ihren Nutzen mit sich. Dieser Nutzen mag einmal in einer Moral bestehen, ein andermal in einer praktischen Anweisung, ein drittes in einem Sprichwort oder in einer Lebensregel - in jedem Falle ist der Erzähler ein Mann, der Rat weiß.“ Praktischer Nutzen und Rat wissen: es geht also in allem, was wir als Künstler oder Lehrer tun, keineswegs um einen etwaigen Sinn des Lebens, um eine politische Botschaft. Es geht darum, anderen zu helfen, sich durchs Leben zu schlagen, es geht um eine spitzbubenhafte Komplizenschaft mit dem befreiten Menschen. Walter Benjamin: „Diese Komplizität empfindet der reife Mensch nur bisweilen, nämlich im Glück; dem Kind aber tritt sie zuerst im Märchen entgegen und stimmt es glücklich.“ Es geht bei jedem Erzählen, im Theater wie im Seminar, um das Glück. Davon zu erzählen ist aber das Schwierigste – und oft nur in der Negation möglich – und im Theater das Notwendigste. „Das Ratsamste, so hat das Märchen vor Zeiten die Menschheit gelehrt, und so lehrt es noch heute die Kinder, ist, den Gewalten der mythischen Welt mit List und Übermut zu begegnen.“ (wiederum Walter Benjamin).