KOMPENDIUM ZUR VORLESUNG EINFÜHRUNG IN DIE SOZIALPSYCHIATRIE FÜR STUDENTEN/INNEN DER SOZIALEN ARBEIT UND DER HEILPÄDAGOGIK KATHOLISCHE HOCHSCHULE FÜR SOZIALWESEN BERLIN PROF. DR. MED. RALF-BRUNO ZIMMERMANN Wer alles erklären kann, hat nichts verstanden. C. Haring Liebe Studentin, lieber Student, im Folgenden finden Sie Kopien ausgewählter Folien, die ich in der Vorlesung verwende sowie ausgewählte Dokumente und Texte. Sie stellen einen Ausschnitt des Vorlesungsinhaltes dar und können diese nicht ersetzen, vielmehr handelt es sich um ein grobes Raster der Begriffe und des aktuellen Kenntnisstandes der Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und der Psychotherapie. Außerdem sind darüber hinaus einige häufige neurologische Krankheitsbilder abgehandelt, die eher für das Feld der Heilpädagogik von besonderer Bedeutung sind. Vieles hier Dargestellte ist als Kompendium zum Nachschlagen gedacht, deshalb finden Sie wesentliche Inhalte, Kommentare und praktische Erfahrungen nur in der Vorlesung. Sie werden eine Darstellung der speziellen Methoden der Sozialen und der heilpädagogischen Arbeit vermissen. Diese werden in der Vorlesung am Rande erwähnt, können aber nicht Gegenstand intensiver Bearbeitung sein. So verstanden, kann Ihnen diese Sammlung zur besseren Verarbeitung des Vorlesungsstoffes dienen und vielleicht später das mühsame Nachschlagen in vielen Büchern ersparen, wenn Sie sich kurz über einen Begriff, eine Erkrankung, eine gemeindepsychiatrische Einrichtung o.ä. orientieren wollen. Selbstverständlich kann und will diese Sammlung nicht die Lektüre eines Fach- oder Lehrbuches ersetzen, wenn Sie sich tiefer mit der Materie (resp. den Klienten) beschäftigen wollen. Die recht umfangreiche Literaturliste soll Ihnen die Suche nach allgemeinen und speziellen Publikationen erleichtern, die meisten angegebenen Bücher finden Sie auch in unserer Bibliothek. Für die Studenten/innen der Heilpädagogik sei gesagt, dass dieses Arbeitsfeld für diese Profession sicher teilweise und in manchen Regionen erschlossen ist, allerdings unterscheiden sich die Grundlagen dann nicht sicher erkennbar von jenen der Sozialen Arbeit. Deshalb ist derzeit kein Grund erkennbar, eine unterschiedliche Zusammenstellung der Grundlagen für die beiden Studiengänge zu entwickeln. In der Vorlesung wird dann aber auf die unterschiedlichen Kompetenzen und Herausforderungen eingegangen. Ich wünsche Ihnen ein erfolgreiches Studium und hoffe, die Tür zur (gar nicht so) geheimnisvollen Psychiatrie ein wenig aufgestoßen zu haben. Ralf-Bruno Zimmermann Berlin, im April 2007 2 Inhaltsverzeichnis 1. EINSTIMMUNG ....................................................................................................................................................................6 1.1. STATT EINER EINLEITUNG: EIN HISTORISCHER ZUGANG ZUM FELD.....................................................................6 1.2. EINIGE BESONDERHEITEN UND AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN DES FELDES.............................................8 2. EPIDEMIOLOGIE PSYCHISCHER STÖRUNGEN..............................................................................................................10 3. PSYCHOPATHOLOGIE .......................................................................................................................................................13 3.1. PSYCHOPATHOLOGISCHE SYMPTOME .....................................................................................................................13 3.2. PSYCHOPATHOLOGISCHE SYNDROME ....................................................................................................................16 4. DIAGNOSESTELLUNG IN DER PSYCHIATRIE ..............................................................................................................17 5. KLINISCHE SYSTEMATIK PSYCHISCHER STÖRUNGEN ............................................................................................19 5.1. DAS TRIADISCHE SYSTEM DER PSYCHIATRIE ........................................................................................................19 5.2. EINTEILUNG PSYCHISCHER STÖRUNGEN (NACH ICD 10*) ...................................................................................21 5.3. BEISPIEL FÜR EIN DIAGNOSESCHEMA NACH ICD-10 ............................................................................................22 5.4. ÜBERSETZUNG DER ICD-10 F 20 DURCH DIE PSYCHOSE-SEMINARE ................................................................23 6. DIE SOGENANNTEN „ENDOGENEN“ PSYCHOSEN ......................................................................................................24 6.1. DIE SCHIZOPHRENIEN ................................................................................................................................................24 6.2. DAS DREIPHASENMODELL VON L. CIOMPI..............................................................................................................27 6.3. ZU VERLAUF UND PROGNOSE DER SCHIZOPHRENIEN .........................................................................................28 6.3.1. PROGNOSEMERKMALE NACH H. HÄFNER (2000)..................................................................................................28 6.3.2. VERLAUFSTYPEN DER SCHIZOPHRENIEN ...............................................................................................................29 6.3.3. OUTCOME DER SCHIZOPHRENIEN............................................................................................................................30 6.4. DIE 10 THERAPEUTISCHEN PRINZIPIEN ZUR BEHANDLUNG VON MENSCHEN MIT SCHIZOPHRENIE NACH LUC CIOMPI ................................................................................................................................................................................30 7. DEPRESSION UND MANIE (SYNONYME: BIPOLARE/AFFEKTIVE PSYCHOSEN, ZYKLOTHYMIE) ............................31 7.1. SYMPTOME DEPRESSIVER STÖRUNGEN .................................................................................................................33 7.2. FORMEN DER DEPRESSION.......................................................................................................................................34 7.3. ZUR ÄTIOLOGIE DER DEPRESSIONEN (MÖLLER, 1996) ........................................................................................36 3 8. PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN ....................................................................................................................................37 8.1. ALLGEMEINES..............................................................................................................................................................37 8.2. DIAGNOSTISCHE KRITERIEN FÜR DIE BORDERLINE-PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG ..........................................38 9. ORGANISCH BEDINGTE PSYCHISCHE STÖRUNGEN ....................................................................................................39 9.1. AKUTES HIRNORGANISCHES PSYCHOSYNDROM (AKUTER EXOGENER REAKTIONSTYPUS)............................39 9.1.1. DAS DELIR ....................................................................................................................................................................40 9.2. CHRONISCHES HIRNORGANISCHES PSYCHOSYNDROM (HOPS) ..........................................................................41 9.3. PRIMÄR UND SEKUNDÄR DEGENERATIVE HIRNERKRANKUNGEN ......................................................................42 9.3.1. DIE DEMENZEN............................................................................................................................................................42 9.3.1.1. DEMENZ VOM ALZHEIMER-TYP (ALZHEIMER DEMENZ)...................................................................................42 9.3.1.2. VASKULÄR BEDINGTE DEMENZEN (DURCH STÖRUNGEN DER BLUTZIRKULATION IM GEHIRN; MULTIINFARKTDEMENZ) ..........................................................................................................................................................46 9.3.2. ANDERE PRIMÄR HIRNDEGENERATIVE ERKRANKUNGEN ....................................................................................47 10. SUIZIDALITÄT ...............................................................................................................................................................47 10.1. BEGRIFFE .....................................................................................................................................................................47 10.2. EPIDEMIOLOGISCHE DATEN ......................................................................................................................................48 10.3. ENTSTEHUNGSTHEORIEN ...........................................................................................................................................48 10.4. KLINIK ...........................................................................................................................................................................48 11. ABHÄNGIGKEITSERKRANKUNGEN............................................................................................................................49 11.1. ALLGEMEINES, BEGRIFFE..........................................................................................................................................49 11.2. ALKOHOLKRANKHEIT..................................................................................................................................................51 11.2.1. DIAGNOSEKRITERIEN FÜR DAS VORLIEGEN EINER ALKOHOLABHÄNGIGKEIT NACH ICD-10 .....................53 11.2.2. ABHÄNGIGKEITSTYPEN UND -VERLAUF NACH JELLINEK..................................................................................53 11.2.3. ALKOHOLBEDINGTE FOLGESCHÄDEN..................................................................................................................54 11.2.3.1. IM ENGEREN SINNE PSYCHIATRISCHE STÖRUNGEN ........................................................................................54 11.2.3.2. STRUKTURELLE UND FUNKTIONELLE VERÄNDERUNGEN DES NERVENSYSTEMS........................................56 11.2.4. THERAPEUTISCHE ANGEBOTE ..............................................................................................................................59 11.3. MEDIKAMENTENABHÄNGIGKEIT...............................................................................................................................60 11.4. „ILLEGALE“ DROGEN...................................................................................................................................................61 4 12. PSYCHIATRISCHE HILFSANGEBOTE ........................................................................................................................61 12.1. KURZER EXKURS IN DIE GEMEINDEPSYCHIATRIE.................................................................................................61 12.2. AMBULANTE UND KOMPLEMENTÄRE GEMEINDEPSYCHIATRISCHE HILFEN.....................................................63 12.3. STATIONÄRE HILFEN (PSYCHIATRISCHE KRANKENHÄUSER/ABTEILUNGEN)....................................................65 13. THERAPIE PSYCHISCHER STÖRUNGEN..................................................................................................................67 13.1. SOMATOTHERAPEUTISCHE VERFAHREN.................................................................................................................67 13.2. PSYCHOTHERAPEUTISCHE VERFAHREN..................................................................................................................70 13.3. SOZIOTHERAPIE...........................................................................................................................................................71 14. UNTERBRINGUNGSGESETZTE....................................................................................................................................72 14.1. BETREUUNGSGESETZ (BTG) ......................................................................................................................................72 14.2. GESETZ FÜR PSYCHISCH KRANKE MENSCHEN (PSYCHKG) .................................................................................74 14.3. GESETZE ZUR EINGESCHRÄNKTEN SCHULDFÄHIGKEIT UND ZUR MAßREGEL .................................................74 15. DIE EPILEPSIEN ..........................................................................................................................................................76 15.1. ALLGEMEINES..............................................................................................................................................................76 15.2. DIE WICHTIGSTEN EPILEPSIEN UND EPILEPTISCHEN SYNDROME ......................................................................78 15.3. BEHANDLUNG DER EPILEPSIEN................................................................................................................................79 16. LITERATURLISTE..........................................................................................................................................................81 5 1. EINSTIMMUNG „Fürchten Sie sich nicht vor der Psychiatrie! Die Psychiatrie ist in ihrem Wesen einfach und menschlich. Mit gesundem Verstand, etwas Lebenserfahrung und mit warmem Herzen sind ihre Grundlagen leicht zu erfassen. Alles, was Ihnen in der Psychiatrie kompliziert vorkommt, ist nicht gar so wichtig, und oft ist es bloß übertrieben kompliziert dargestellt. ... Vor allem fürchten Sie sich nicht vor Ihren zukünftigen psychiatrischen Aufgaben als Sozialarbeiter/in! Sie werden auch in Ihrer psychiatrischen Arbeit, wie in den meisten sozialarbeiterischen Disziplinen, unendlichem Leid, Elend und dem Tod begegnen. Aber wo Sie dem allen begegnen, so können Sie abwehren, mildern und helfen. In der psychiatrischen Arbeit werden Sie gerade das einsetzen können, was Sie im Sozialarbeiterberuf suchen: Ihre ganze Menschlichkeit, Ihr Mitfühlen, Ihren Hingabewillen, neben dem technischen Können, dem sachlichen Wissen. Vielen werden Sie zur Heilung verhelfen und Sie werden spüren, dass selbst dem Kranken, den Sie nicht heilen können, Ihr Nahesein guttut. Sie werden tief ins Leben hineinsehen. Und neben allen Schwächen und allem Elend werden Sie bei Ihrem psychiatrischen Wirken auch immer wieder etwas anderes staunend erleben: was es Großes im Menschen gibt, selbst im Kranken und Schwachen, Großes an Willen durchzuhalten, Leiden zu überwinden, an der Fähigkeit, anderen beizustehen und für andere da zu sein. Sie werden es bei ihren Kranken entdecken, aber auch bei deren Angehörigen und Helfern.“1 (Aus dem Vorwort von Manfred BLEULER zur 15. Auflage des „Lehrbuch für Psychiatrie“ von Eugen BLEULER, 1983) „Arzt“ und „ärztlich“ sind von mir durch „Sozialarbeiter/in“ und „sozialarbeiterisch“ ersetzt worden... 1.1. STATT EINER EINLEITUNG: EIN HISTORISCHER ZUGANG ZUM FELD2 Einen kurzen Rekurs auf einen Teil der Geschichte der Psychiatrie voranzustellen scheint geboten, weil dieses Handlungsfeld zunächst so unübersichtlich erscheint und weil das Feld selbst, die Menschen, die in ihm als Adressaten Sozialer Arbeit bezeichnet werden können wie auch die professionellen Helfer besonders vielen Missverständnissen und Vorurteilen ausgeliefert sind und waren. Wie wohl kein anderes Arbeitsfeld der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit wurde das psychiatrische in den vergangenen gut 30 Jahren einem gezielten Wandel unterworfen, der das Attribut Reform verdient. Dieser Reformprozess, der in Deutschland in den 1960er Jahren begann, dauert bis heute fort und hat zu einer Neuausrichtung der psychiatrischen Versorgungslandschaft geführt. Wer in diesem Bereich arbeiten will, sollte – neben den anderen – auch um einen historischen Zugang zum Feld bemüht sein, denn der Prozess der Entwicklung hin zu einer sozialpsychiatrischen Versorgungslandschaft sowie der Status der jetzigen Angebote sind hauptsächlich historisch zu verstehen. Das Ringen um eine Konstruktion der normalen bzw. den Umgang mit der kranken seelischen Verfassung der Menschen durchzieht die gesamte Menschheitsgeschichte (SHORTER, 2003). Hier sei an die neuere deutsche Geschichte und besonders die massenhafte Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen während der nationalsozialistischen Herrschaft erinnert: Schier unglaubliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren die Folgen und aus einer aus heutiger Sicht nur wahnhaft zu nennenden Vorstellung von Rassegesundheit und ElimiAus dem Vorwort von Manfred BLEULER zur 15. Auflage des „Lehrbuch für Psychiatrie“ von Eugen BLEULER, 1983) „Arzt“ und „ärztlich“ sind von mir durch „Sozialarbeiter/in“ und „sozialarbeiterisch“ ersetzt worden... 2 Aus: Ralf-Bruno ZIMMERMANN (2005): Sozialarbeit in der Sozialpsychiatrie. In: ORTMANN, K. & WALLER, H.: Gesundheitsbezogene Sozialarbeit. Eine Erkundung der Praxisfelder. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 63-75 1 6 nierung Erbkranker zum Schutz des deutschen Volkskörpers wurden psychisch kranke, geistig behinderte, körperlich kranke und auch gesunde Menschen zwangsweise sterilisiert, durch brutale Menschenversuche gequält und viele getötet. Die Zahl der Opfer lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren, weil viele Unterlagen vernichtet wurden. Es muss davon ausgegangen werden, dass mindestens 8.000 Kinder und 100.000 Erwachsene ermordet und bis zu 400.000 Menschen gegen oder ohne ihren Willen sterilisiert wurden (vgl. PLATEN-HALLERMUND, 1948; MITSCHERLICH und MIELKE, 1960 DÖRNER e.a, 1989; KLEE, 1986; ÄRZTEKAMMER BERLIN e.a., 1989; POLNISCHE GESELLSCHAFT FÜR PSYCHIATRIE, 1993; FINZEN, 1996; ROER und HENKEL, 1996). Nach Ende des zweiten Weltkrieges lag die deutsche stationäre Psychiatrie im bildlichen Sinne in Trümmern: die Anstalten füllten sich rasch mit mittellosen Flüchtlingen und Kriegsverletzten, die weder ausreichend medizinisch noch materiell versorgt werden konnten. Erst Mitte der 1960er Jahre kam es zu einer Befruchtung der deutschen Psychiatrie durch die Entwicklungen im angelsächsischen und skandinavischen Raum: 1966 wird der erste sozialpsychiatrische Lehrstuhl an der Universität Hannover eingerichtet und es entwickelt sich eine rege Diskussion über einen angemessenen Umgang mit psychisch kranken Menschen und eine notwendige Reformierung der Versorgungsstrukturen. Wichtige Dokumente dieser Entwicklungsbemühungen sind der Bericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, der die Lage der Patienten als elend beschreibt und detaillierte Vorstellungen und Forderungen zur Reform enthält (1975) sowie der Bericht der Expertenkommission des Deutschen Bundestages, der die Fäden aufnimmt und die Reformnotwendigkeit konkret weiter fortschreibt (1988). Die hier niedergeschriebenen Grundannahmen haben als wesentliche Eckpfeiler einer materiellen, professionellen und menschlichen Versorgung und Begleitung psychisch kranker Menschen im Wesentlichen heute noch Gültigkeit. Hiernach sollte die psychiatrische Versorgung aus der Domäne der stationären (Langzeit-) Behandlung in Krankenhäusern und Heimen in eine alle denkbaren Hilfsangebote organisierende und bündelnde gemeindenahe und sozial(psychiatrisch) ausgerichtete Versorgungsstruktur überführt werden, wobei vor allem ambulante und komplementäre sowie teilstationäre Angebote (voll)stationäre Einweisungen und Behandlungen auf das unbedingt notwendige Maß zurückführen sollten. Auch wenn der Reformprozess in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder ins Stocken geriet und vielerorts Kritik an bestimmten Entwicklungen geübt wird3, so kann konstatiert werden, dass in vielen Regionen der Prozess der Reform im Kern fortgeschritten ist. In der Konsequenz hat sich ein großer Teil der Begleitung insbesondere chronisch psychisch kranker Menschen vom stationären Setting in ambulante bzw. ambulant-komplementäre Strukturen verlagert. Durch diesen Prozess sollte eine angemessenere Betreuung und Versorgung der von psychischer Krankheit Betroffenen besser organisierbar werden, deren Integration in die Gemeinde gefördert sowie langfristig stationär hospitalisierte Menschen wieder in den soziokulturellen Kontext und das soziale Beziehungsnetz der Gemeinden zurückgeführt werden (sog. Enthospitalisierung bzw. Deinstitutionalisierung).4 Für die Soziale Arbeit in den Feldern der Sozialpsychiatrie hatte dieser Reformprozess zunächst die Konsequenz, dass weit mehr Sozialarbeiter in den Betreuungs- und Begleitungsprozess eingebunden wurden, dies sowohl im stationären Krankenhaussozialdienst durch die Psychiatriepersonalverordnung (KUNZE und KALTENBACH, 1994) als auch im ambulant-komplementären Sektor durch den Aufbau neuer Angebote. Mit der Zunahme der quantitativen Bedeutung der Sozialarbeiter in diesem Feld stellten sich aber auch zunehmend Fragen nach dem spezifischen Profil dieser Berufsgruppe, und spätestens in den vergangenen Jahren machte sich freilich flächendeckend auch in der sozialpsychiatrischen Versorgung ein wachsender Druck durch die Verringerung oder Einfrierung der finanziellen Ressourcen aus der öffentlichen Hand bemerkbar (DEUTSCHER BUNDESTAG, 1975; EXPERTENKOMMISSION, 1988; MEISSEL e.a., 1999). Hier seien etwa die Diskurse um die psychiatrischen Heime, den Mangel an sinnvoller Tagesstrukturierung und die Aufgliederung der Finanzierung der sozialpsychiatrischen Versorgung und Behandlung auf verschiedene Finanzierungsträger genannt. 4 Auf die z.T. erheblich differenten Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten zwischen 1945 und 1989 (und darüber hinaus in den einzelnen Bundesländern) kann hier nicht eingegangen werden. 3 7 1.2. EINIGE BESONDERHEITEN UND AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN DES FELDES5 Entgegen der häufig verwendeten Begriffe Gemeindepsychiatrie bzw. gemeindenahe Psychiatrie wird hier bewusst der Begriff der Sozialpsychiatrie verwendet, weil eine zeitgemäße Psychiatrie meiner Auffassung nach theoretisch und methodisch – neben vielen möglichen anderen – immer zwingend eine ausgewiesene soziale Perspektive auf die Phänomene der Entstehung, des Verlaufs und der Folgen psychischer Erkrankung für die Betroffenen und ihr soziales Umfeld werfen und einnehmen muss. Aus dieser Perspektive heraus werden dann psychisch kranke Menschen im Zuge der Hilfeleistungen natürlich nicht aus ihren sozialen Bindungen, ihren Lebensorten und -bezügen entwurzelt und deshalb immer auch gemeindenah und dort vernetzt beraten und behandelt. Umgekehrt muss eine gemeindenahe Psychiatrie nicht zwingend den genannten sozialen Schwerpunkt haben, nur weil ihre Hilfsangebote geographisch gemeindenah organisiert sind. Zu den Besonderheiten der Sozialpsychiatrie gehören unter anderem, dass sie in vielfältige und teils sehr verschieden ausgestaltete Institutionen und Versorgungsangebote aufgefaltet ist (etwa von der Krankenhausbehandlung bis zur niederschwelligen Beratung in Kontakt- und Beratungsstellen oder aufsuchenden Diensten), dass die speziellen Aufgabenprofile der Professionellen (eben auch der SozialarbeiterInnen) stark differieren, je nachdem, ob akut erkrankte oder chronisch erkrankte Menschen stationär oder ambulant behandelt werden, ob berufliche oder soziale Rehabilitation im Vordergrund steht usf., dass die Arbeit mit und für psychisch kranke Menschen traditionell stark sozialpolitisch, ja tatsächlich psychiatriepolitisch aufgeladen ist, dass die Haltung und die daraus abgeleiteten Behandlungsansätze dem Phänomen psychische Erkrankung gegenüber in den vergangenen Jahrzehnten eine Wandlung erfahren haben, die zu Recht mit dem Begriff Psychiatriereform bezeichnet wurde, dass ein großer Teil der Hilfsangebote für Betroffene psychischer Erkrankung aus steuerfinanzierten Ressourcen getragen wird (z. B. über die Eingliederungshilfe nach SGB XII), dass aber andererseits die Organisation und Finanzierung vieler Hilfen durch eine Zersplitterung der Kostenträgerschaft kompliziert ist, durch die die sinnvolle Komposition der Hilfen aus verschiedenen Bereichen administrativ sehr aufwendig ist, dass es einerseits eine (zunehmende) Rückbesinnung auf medizinisch-biologische Konstrukte zum Verständnis und zur Behandlung psychischer Störungen, andererseits aber eine starke sozial bzw. psychosozial ausgelegte und begründete Beratungs- und Behandlungsstrategie in weiten Feldern der ambulanten und komplementären Seite gibt, dass die aktuell beschriebene Notwendigkeit zur Neubesinnung nicht allein aus ökonomischen Zwängen heraus, sondern auch bezüglich neuer und alter fachlicher Herausforderungen resultiert (new chronic patients, Heime usw.), dass paradigmatische Veränderungen bezüglich der Steuerung und Ausgestaltung der Hilfen stattgefunden haben (etwa: Fallmanagement des Sozialhilfeträgers in Berlin oder Einführung des individuellen Behandlungs- und Rehabilitationsplanes) (vgl. Aktion Psychisch Kranke 2005), dass es eine überdurchschnittliche Publikationsaktivität gibt, die aber selten explizit eng an der Sozialarbeit ansetzt, geschweige denn, aus ihren Reihen stammt, dass in diesem Arbeitsfeld ein hoher quantitativer Anteil der dort tätigen Professionellen durch SozialarbeiterInnen gestellt wird, dass die Sozialarbeit in Teilen bzw. in Personen sicher längst die qualitativen Kriterien für eine – im besten Sinne – Klinische Sozialarbeit erfüllt, andererseits aber erst in den letzten Jahren entsprechende Konzepte ausgearbeitet bzw. fortgeschrieben wurden, Aus: Ralf-Bruno ZIMMERMANN (2007): Klinische Sozialarbeit und Sozialpsychiatrie. Erscheint demnächst in ORTMANN, K. RÖHL, D. (Hrg.): Klinische Sozialarbeit 5 8 dass eine Vielzahl an Weiterbildungsmöglichkeiten abgeboten wird, die aber kaum trennscharf einzelne Berufsgruppen different anspricht, allerdings inzwischen speziell für SozialarbeiterInnen fokussierte Masterstudiengänge entwickelt wurden (Berlin, Fulda/Wiesbaden, Coburg, München). Wenn jüngst über eine Krise in der Sozialpsychiatrie geschrieben wurde, so ist dies zu einem Teil vor dem Hintergrund einer in vielen Teilen Deutschlands und vielen Bereichen der Sozialpsychiatrie gelungenen Psychiatriereform in den letzten 30 Jahren zu sehen, die zuletzt durch dramatische Haushaltsengpässe der Kommunen (und anderer Kostenträger) in Form von Mittelkürzungen konterkariert zu werden drohte. Hieraus wurden einerseits Forderungen nach gesellschaftlichen und sozialpolitischen Lösungen formuliert, wie sie etwa in den Soltauer Impulsen und der Debatte um sie nachzuvollziehen sind (Schernus et al. 2004 und 2007; Reumschüssel-Wienert 2005). Andererseits wird diese Situation als Herausforderung angesehen, das eigene Handeln kritisch in Frage zu stellen und neue Wege in der Sozialpsychiatrie auszuarbeiten, die u.a. eine Überprüfung der bislang verwendeten Ressourcen hinsichtlich ihrer Effektivität und Effizienz beinhalten und aufzeigen. Hier wird etwa eine Umbesinnung in Richtung konsequenter Inklusion psychisch erkrankter Menschen ebenso diskutiert wie die verstärkte Einbindung bürgerschaftlichen ehrenamtlichen Engagements (Regus 2006, Eikelmann et al. 2005). Überdies gibt es Teilbereiche der psychiatrischen Versorgung, die von der Psychiatriereform nicht oder kaum berührt wurden und in der jüngeren Vergangenheit verstärkt in den Fokus der Betrachtung gerückt wurden. Hierzu gehört etwa die nicht-gelingende Steuerung der Hilfen gerade für schwer und chronisch erkrankte Betroffene, für die es in Deutschland immer noch zum Teil unzureichende bzw. unangemessene Hilfsangebote gibt und deshalb ihr Weg häufig in die Obdachlosigkeit oder in Heime führt (Egetmeyer et al. 2003; Manderla et al. 2007). In den vergangenen Jahren wurde mit unterschiedlichen Wortschöpfungen eine (relativ) neue Herausforderung für die Sozialpsychiatrie beschrieben: zunächst im angelsächsischen Bereich eine mit new chronic patients, hierzulande dann mit neue Chroniker, Systemsprenger oder schwierige Klienten bezeichnete Gruppe von Menschen, die im jungen bis mittleren Erwachsenenalter bereits schwer chronisch psychisch krank, meist mit einer zusätzlichen Suchtproblematik, dabei immer von erheblichen sozialen bzw. dissozialen Problemlagen betroffen sind und bislang nicht angemessen mit den vorgehaltenen Beratungs- und Behandlungsstrukturen erreicht werden können (Ropers et al. 1999). Schließlich ist die bereits angedeutete Rückbesinnung auf eine stärker biologisch-materialistische Perspektive innerhalb der medizinischen Psychiatrie zu attestieren, die durchaus kritisch zu sehen ist, wenn sie sich nicht als einen Ansatz unter vielen versteht und mit den anderen korrespondieren will (Zimmermann 2005b). Aus alledem lässt sich unter anderem ableiten, dass sich die Sozialpsychiatrie auf erreichte Standards berufen kann, sich in einigen Bereichen aber erstmals oder erneut neu ausrichten muss. Bezogen auf die in der Sozialpsychiatrie Beschäftigten lohnt sich ein Blick auf die Implikationen für die Sozialarbeit: für unsere Fragestellung stellt sich als eine wichtige, womöglich für die Soziale Arbeit eher gefährliche, denn nützliche Dynamik heraus, dass die Sozialarbeit in den unterschiedlichsten Teilbereichen der Sozialpsychiatrie mit ihren je verschiedenen Anforderungsprofilen traditionell mit einer Reihe anderer Professionen konkurriert. In der Vergangenheit ist es ihr zwar gelungen, an verschiedenen Stellen des Versorgungssystems Fuß zu fassen, andererseits aber auch einen Profilverlust erlitten zu haben, indem nicht mehr klar erkennbar ist, was das Besondere und/oder Einzigartige in der Herangehensweise von SozialarbeiterInnen ist. Nach dem verkürzten Motto: „alle (Berufsgruppen) machen hier alles“ ist so bisweilen aus einer multidisziplinären Synergie eine disziplinäre Schwächung der Sozialarbeit entstanden, indem sie ihre eigenen Konturen zugunsten einer Annäherung an andere Professionen mit zweifelhaftem Ertrag aufgab. Selbstverständlich ist daneben auch in manchen Institutionen ein für alle (vor allem die Betroffenen) sinnstiftendes und weiterführendes transdisplinäres Denken und Handeln elaboriert worden (Mittelstraß 2003, Balsiger 2005), äußerst vorsichtig ausgedrückt lässt sich aber eher die Tendenz ausmachen, dass die Sozialarbeit ihre fachlichen Potentiale in diesem Feld bei weitem nicht optimal Profil findend und demonstrierend einbringen konnte. 9 2. EPIDEMIOLOGIE PSYCHISCHER STÖRUNGEN6 Psychische Störungen kommen sehr häufig in unserer Gesellschaft vor, auf diese plakative Formel können zunächst die Ergebnisse vieler epidemiologische Studien –bei all der Widersprüchlichkeit ihrer Ergebnisse – gebracht werden. Ohne auf die grundsätzliche Problematik der Konstruktion psychiatrischer Diagnostik und der auch daraus resultierenden methodischen Fehlerquellen epidemiologischer Studien eingehen zu können7, sei hier referiert, dass die in großen Studien errechneten Inzidenzraten für Schizophrenien relativ weit auseinander gehen, aber eher im zweistelligen Bereich (zwischen 10 und 20 je 100.000 Einwohner) liegen (LEFF, 2000: S. 54-56). Weiter lässt sich festhalten, dass Angst- und depressive Störungen sehr häufig weltweit und in Deutschland vorkommen8 und die schweren depressiven Störungen (etwa als Major Depression) häufiger sind als die Schizophrenien (WITTCHEN, 2000: S. 359). Nimmt man ein anderes Maß, nämlich den Anteil der wichtigsten Krankheiten an der Verursachung von vorzeitigem Tod und Behinderung (disability-adjusted life years), so stehen in den sog. entwickelten Ländern die psychischen Störungen zusammen mit den Folgen von Alkohol- und Drogenabhängigkeit an der Spitze (HÄFNER, 2000: S. 181f.). Andere deskriptiv-epidemiologische Methoden (über die Messung der Inanspruchnahme von Diensten) ergaben, dass in einer repräsentativen Stichprobe in den USA gut 14% der Erwachsenen innerhalb eines Jahres Hilfe in einer psychiatrischen oder psychosozialen Einrichtung wegen psychischer Probleme nachfragte (WEYERER, 1995: S. 84). In Oberbayern waren es 7,5 % der Erwachsenen, die psychiatrische Hilfe i.e.S. (fachärztliche Beratung oder Behandlung) in Anspruch nahm. Werden dagegen Hausärzte befragt, wie viele ihrer Patienten (auch) psychisch krank sind, so kommen Raten von 20-35% zustande (a.a.O.: S. 84f.). Eigenen Untersuchungen zufolge wurde der Berliner Krisendienst als ein neu aufgebauter Baustein der sozialpsychiatrischen Versorgung in Berlin innerhalb von zwei Jahren von gut 53.000 Menschen über 80.000fach in Anspruch genommen (ZIMMERMANN und BERGOLD, 2003; BERGOLD und ZIMMERMANN, 2003). Die z.T. kontrovers diskutierten Zuwachsraten psychischer Störungen in der Bevölkerung sind schwer einzuschätzen: Vergleiche mit zeitlich weit zurückliegenden Studien sind kaum möglich, da damals in aller Regel nur schwere (und hier: psychotische) Störungen gezählt wurden. Andererseits gibt es Hinweise bzw. eindeutige Befunde für Verschiebungen von spezifischen Prävalenzen und Inzidenzen (etwa: leichter Rückgang der Schizophrenien, Zunahme der Depressionen und Demenzen). Von entscheidender Bedeutung sind aber für die Soziale Arbeit die aus psychischen Störungen resultierenden Hilfe- und Unterstützungsbedarfe der Klienten. Einige empirische Studien können hier hilfreich hinzu gezogen werden: so lässt sich aus großen katamnestische Untersuchungen, deren Laufzeit zum Teil über 30 Jahre betrug, ablesen, dass ein großer Anteil der an Schizophrenie erkrankten Menschen einen relativ großen Unterstützungsbedarf im Bereich der psychosozialen Beratung und Betreuung haben: in 20 bis 40% der Fälle wurde ein ungünstiger Verlauf festgestellt und insbesondere Merkmale einer sozialen Desintegration gefunden (vgl. HÄFNER, 2000: S. 118ff.). Es konnte aber auch gezeigt werden, dass es viele Faktoren sind, die den Verlauf einer Schizophrenie (positiv oder negativ) beeinflussen: so ist neben einem höheren Erkrankungsalter auch eine gute soziale Einbindung vor Erkrankungsbeginn als protektiver Faktor herausgearbeitet worden (a.a.O: 143ff.). Aufwendigen theoretischen und empirischen Arbeiten folgend ist anzunehmen, dass die Behandlungsund Betreuungsmaßnahmen selbst (bzw. ihr Fehlen), namentlich im psychosozialen Bereich, einen erheblichen Einfluss auf die Prognose schwerer psychischer Erkrankungen haben (gemeint sind hier Arbeiten etwa von CIOMPI, 1998 und HÄFNER, 2000). 6 Aus: Ralf-Bruno ZIMMERMANN (2005): Sozialarbeit in der Sozialpsychiatrie. In: ORTMANN, K. & WALLER, H.: Gesundheitsbezogene Sozialarbeit. Eine Erkundung der Praxisfelder. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 63-75 7 So sei hier die unterschiedliche Bewertung der für eine Diagnose geforderten Symptome einer Schizophrenie zwischen den USA und den europäischen Ländern genannt und auf das Problem der Standardisierung von Kategorien (etwa stationär behandlungsbedürftig) hingewiesen. 8 Die sehr stark variierenden epidemiologischen Ergebnisse kommen auf eine Lebenszeitprävalenz von 15-30%. 10 Über die Analyse der Anzahl und der verursachten Kosten vorhandener Angebote für (schwer) psychisch kranke Menschen lassen sich sekundär Trends einer sozialmedizinischen Bedeutung der Erkrankungen bzw. ihrer Folgen ableiten. Sie spiegeln im Falle der Sozialpsychiatrie zum Beispiel einen Paradigmenwechsel (von der stationären zur ambulanten Versorgung) und nicht etwa einen Gestaltwandel der psychischen Störungen (hin zu weniger schwerwiegenden Verläufen) wider. So stehen im Land Berlin etwa für die Jahre 1993 bis 2001 einem Abbau von rund 2.500 Krankenhausbetten in den psychiatrischen Krankenhäusern oder Krankenhausabteilungen ein entsprechender Aufbau von rund 2.800 Plätzen im betreuten Wohnen für psychisch kranke Menschen gegenüber. Betrachtet man dazu noch die tagesatzfinanzierten Angebote für die Hilfen bei der Tagesstrukturierung (Tagesstätten) von über 1.000 Plätzen, so wird rein quantitativ der strukturelle Umbau der Versorgungslandschaft deutlich: die Anzahl der Plätze im Betreuten Wohnen für psychisch kranke Menschen (2.798) lag zum Ende des Jahres 2003 nur noch knapp unter jener der stationär-psychiatrischen Betten (2.853) (SENATSVERWALTUNG FÜR GESUNDHEIT, SOZIALES UND VERBRAUCHERSCHUTZ, 2002 und 2004). Für das Bundesgebiet wird ein Bettenabbau in psychiatrischen Kliniken von gut 33.500 zwischen 1991 und 2001 bei einer im gleichen Zeitraum fast auf das Doppelte angestiegenen Fallzahl und einer deutlich gesunkenen durchschnittlichen Verweildauer errechnet (BUNDESAMT FÜR STATISTIK, 2003). Schließlich werden als Planungsgrößen immer wieder die Bettendichte der stationären Versorgung (pro 1.000 Einwohner) sowie die durchschnittliche Verweildauer der Patienten in Tagen ins Feld geführt: während die Bettendichte (pro 1.000 Einwohner) in Deutschland im Zeitraum 1993-2001 von 0,85 auf 0,66 (zum Vergleich in Berlin: von 1,51 auf 0,68) sank, ging die durchschnittliche Verweildauer von 50,6 auf 27,1 Tage (Berlin: von 69,0 auf 21,7) zurück (SENATSVERWALTUNG FÜR GESUNDHEIT, SOZIALES UND VERBRAUCHERSCHUTZ, 2003). Auch diese Zahlen verdeutlichen den Umbau: weniger und kürzere, dafür aber häufigere stationäre Behandlung auf der einen, fast überall ein deutlich besser ausgebautes ambulant-komplementäres Netz auf der anderen Seite. Unbestritten sind also die Relevanz psychischer Störungen, ihre individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen und ihre gesundheitsökonomische Bedeutung im Allgemeinen und für die Soziale Arbeit im Besonderen. Dementsprechend wird sich die Soziale Arbeit in diesem Feld auch mit den Strukturen der Versorgung und ihrer Weiterentwicklung beschäftigen müssen. Anzahl der an bestimmten psychischen Störungen Erkrankter (Weltbevölkerung; Schätzung der WHO, 1998) Angststörungen 400 Millionen Affektive Störungen 340 Millionen Geistige Behinderung 60 Millionen Schizophrenien 45 Millionen Senile Demenz 29 Millionen 11 12 3. PSYCHOPATHOLOGIE Die Psychopathologie ist die Lehre von der Symptomatik psychischer Störungen bzw. die deskriptive Betrachtung seelischer Störungen/Auffälligkeiten. Im Folgenden sind die wichtigsten Bereiche und Begriffe aufgeführt. Sie werden dann bei den einzelnen Krankheitsbildern wieder aufgeführt. Ein Krankheitszeichen bezeichnet man als Symptom. Verschiedenen Symptome, die typischerweise gleichzeitig bei einem Klienten vorkommen können, werden als Syndrom zusammengefasst, ohne dass damit automatisch eine bestimmte Erkrankung bestehen muss. 3.1. PSYCHOPATHOLOGISCHE SYMPTOME Bewusstseinsstörungen quantitativ - Benommenheit (schläfrig, verlangsamt, (noch) weckbar) - Somnolenz (apathisch, stark verlangsamt, Einschlafneigung, noch weckbar) - Sopor (nur durch starke Reize weckbar, keine verbalen Äußerungen mehr) - Koma (nicht weckbar, keine Abwehrbewegung auf Reiz) qualitativ (-produktiv) - Delir (ängstlich-gefärbte psychomotorische Unruhe, Desorientierung) - Dämmerzustand (scheinbar geordnetes Verhalten ÎEpilepsien, pathologischer Rausch) Orientierungsstörungen Die Orientierung eines Menschen kann in verschiedenen Dimensionen gestört bzw. verändert sein. Mann spricht dann auch etwa von zeitlicher Desorientierung - zur Zeit - zur Situation - zum Ort - zur (eigenen) Person Störungen der Konzentration, Aufmerksamkeit, Auffassung Weitgefasste Bereiche der seelischen und geistigen Leistungsfähigkeit, die in unterschiedlicher Qualität und Quantität eingeschränkt sein können. Gedächtnisstörungen (mnestische Störungen) - Neu (Frisch-) Gedächtnis - Alt (Langzeit-) Gedächtnis Störungen der Intelligenz - grobe Prüfung in der Exploration - feinere Prüfung mittels Intelligenztests 13 Formale Denkstörungen - gehemmt: mühsam, schleppend, wie gegen Widerstand - perseverierend: ständig wiederkehrende Denkinhalte, Grübeln, Sinnieren - Gedankenabreißen: plötzliche Unterbrechung, Gedanken werden als weggenommen oder gestoppt erlebt - verlangsamt - beschleunigt/ideenflüchtig: ständig neue, assoziativ verbundene Denkinhalte - eingeengt: beschränkt auf wenige Inhalte, kaum Wechsel möglich - umständlich: weitschweifig, ausladend - paralogisch: Entgleisung auf Nebensächliches, Verschmelzen verschiedener In- halte - inkohärent: schwer nachvollziehbarer Zusammenhang der Denkinhalte, gestörter Satzbau, Wortneuschöpfungen (Neologismen) Wahn Wahn kann als krankhaft gewertete Fehlbeurteilung der zwischenmenschlich (an sich) gültigen Realität beschrieben werden, ein durch Logik und Erfahrung unkorrigierbarere Irrtum, der auch nicht auf der Überzeugung einer bestimmten (Sub-)Kultur oder Religion beruht. Meist vollzieht sich die Entwicklung eines Wahns in einem mehr oder weniger längeren Prozess mit entsprechender Dynamik. - Wahnstimmung: Stimmung von Unheimlichkeit, Dinge und Situationen bekommen eine unbestimmte Bedeutung - Wahnwahrnehmung: reale Wahrnehmungen werden umgedeutet - Wahneinfall: plötzlich auftretende wahnhafte Überzeugung (wird von der Betroffenen gelegentlich als „Eingebung“ oder „Erleuchtung“ bezeichnet) - Wahnarbeit: Wahn wird ausgestaltet, verfestigt durch innere oder äußere Wahrnehmungen - Wahnsystem: Ausbau einer inhaltlich geschlossenen Wahnstruktur - Wahndynamik: von stürmisch-produktiv bis affektleer-residual -häufige Wahninhalte: Größen-, Verarmungs-, Beziehungs-, Liebes-, Beeinträchtigungs-, Verfolgung-, Eifersuchts-, Schuld-, hypochondrischer, religiöser Wahn... Wahrnehmungsstörungen - Illusionäre Verkennungen: reale Umwelteindrücke werden fehlgedeutet - Halluzinationen (Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmungen), können alle Sinnesgebite betreffen: - akustische - optische - olfaktorische/gustatorische (Geruchs-, Geschmackshalluzinationen) - taktile/haptische (Berührungshalluzinationen) - zoenästhetische (Leibhalluzinationen) - Intensitätsminderung/-steigerung der Wahrnehmung - veränderte Gestaltwahrnehmung (größer, kleiner, verändert, entfernter) - déjà vu, jamais vu 14 Ich-Störungen - Depersonalisation: die ganze Person oder Teile werden als fremd oder verändert erlebt, meist unkonkret (Gestalt, Geschlecht, Abstammung, Rolle usw.) - Derealisation: Umgebung wird fremd, verändert, künstlich usw. erlebt - Gedankenausbreitung: andere können die eigenen Gedanken „lesen“ - Gedankeneingebung: Gedanken werden von außen beeinflusst/gemacht erlebt - Gedankenentzug: Gedanken werden weggenommen - Appersonierung: Vorstellung, ein anderer zu sein bzw. dessen Eigenschaften zu haben - alternierende/multiple Persönlichkeit: „doppeltes Bewusstsein“, mehrere Persönlichkeiten (bzw. deren Anteile) werden erlebt Zwänge und Zwangsbefürchtungen (Phobien) sind unausweichlich (imperativ), obwohl sie von den Betroffenen selbst als unsinnig oder unangemessen erkannt werden - Zwänge: Wasch-, Zähl-, Denk-, Handlungs-, Vermeidungs- ... - Phobien: Agoraphobie (weite Plätze), Akrophobie (Höhe), Klaustro-(geschlossene Plätze), Zoo- (best. Tiere), Sozialphobie (bekannte u. unbekannte Personen) Störungen der Stimmung und des Affektes Affekte sind ausgeprägte bis heftige Gefühlszustände, die meist nicht sehr lang anhalten (Glück, Wut…). Dagegen bezeichnet Stimmung eher einen länger andauernden Gefühlszustand (Traurigkeit, Fröhlichkeit …) - Ambivalenz: gleichzeitig Bestehen widersprüchlicher Gefühle - Parathymie: Affekt/Stimmung passt qualitativ oder quantitativ nicht zur aktuellen Situation - Affektarmut - Gefühl der Gefühllosigkeit - Affektstarre - Affektlabilität: schneller Wechsel der Affekte - Affektinkontinenz: mangelnde Steuerbarkeit, Affekt schwillt rasch an und wieder ab - häufige Affektsyndrome - depressives Syndrom - manisches Syndrom - schizophrenes Affektsyndrom - Angstsyndrom - dysphorisches (mißmütig-gereiztes) Syndrom - hypochondrisches Syndrom Störungen des Antriebs (und der Psychomotorik) Die Katatonie kann in Form des katatonen Sperrungszustandes (Stupor) oder als katatoner Erregungszustand (mit gesteigertem Antrieb und Bewegungsunruhe vorkommen. - Antriebsminderung - Hypokinese, Akinese, Stupor (wenig bis kein Antrieb) - Mutismus („Sprachlosigkeit“ bei erhaltener neurologisch-motorischer Sprechfähigkeit) 15 - Katalepsie (Haltungsverharren, oft in unüblichen Haltungen, Bewegungsstereotypie) - Antriebssteigerung - Hyperkinese, katatone Erregung, Raptus - Ambitendenz, Automatismen (wie „Sinnentleerte Handlungen, Tics, Negativismus), Manierismen (übertrieben wirkende Gestik und Mimik) Aggressionen Neben den „gesunden“ kommt es im Zusammenhang mit psychischen Störungen auch immer wieder zu schweren Aggressionen, die sich gegen andere Personen, Sachen oder gegen sich selbst richten können. - Fremdaggression - Autoaggression Impulshandlungen - Pyromanie (dranghaftes Feuerlegen) - Sammeltrieb (sog. Messie-Syndrom) - Kleptomanie (Stehl“sucht“) - Dipsomanie (periodisch dranghaftes Trinken – muss nicht Alkohol sein) Suizidalität Die Ausprägung des Wunsches, zu sterben wird in zwei Schweregraden eingeteilt. - latent - akut 3.2. PSYCHOPATHOLOGISCHE SYNDROME Durch Zusammenfassung einzelner psychischer, somatischer und anamnestischer Befunde (Symptome) erfolgt die (vorläufige) Einordnung in ein psychopathologisches Syndrom. Verschiedene Ursachen können zum gleichen Syndrom führen, gleiche Ursachen können verschiedene Syndrome bedingen. BEISPIELE SPEZIELLER SYNDROME: - Verwirrtheitszustand Delirantes Syndrom Dämmerzustand Hirnorganisches Psychosyndrom Hirnlokales Psychosyndrom Depressives Syndrom Vitalisiertes („leibnahes“) depressives Syndrom Manisches Syndrom Paranoid-halluzinatorisches Syndrom Katatones Syndrom Hebephrenes Syndrom Neurasthenisches Syndrom 16 - Apathisches Syndrom Hypochondrisches Syndrom Angstsyndrom Zwangssyndrom Konversionssyndrom … 4. DIAGNOSESTELLUNG IN DER PSYCHIATRIE Die Stellung einer Diagnose (Feststellung einer Krankheit) ist in der Psychiatrie komplex und vollzieht sich in verschiedenen Schritten, die zum teil eine längere Zeit beanspruchen. Der Natur der Vielgestaltigkeit menschlichen Seins, gerade im Bereich des Fühlens, Denkens und Wollens ist die kontroverse Debatte um die Sinnhaftigkeit psychiatrischer Diagnostik geschuldet. In der Vorlesung wird dieses Problem ausführlich diskutiert. Befunde (körperlich, psychisch, anamnestisch) + apparative Untersuchungsergebnisse (etwa cCT, MRT, EEG, Blutuntersuchungen) = vorläufige (syndromatische) Diagnose + Verlaufsbeobachtung + weitere Untersuchungen = Diagnose PSYCHIATRISCHE ANAMNESE Anamnese = Erinnerung; Krankheits-/Lebensgeschichte des Patienten nach seiner Erinnerung Die Erhebung einer individuellen Anamnese spielt in der Sozialpsychiatrie eine entscheidende Rolle zum Verständnis eines Klienten in seinem Sogewordensein. Die behutsame und zielgeleitete Anamnese ist mit psychisch leidenden Menschen als eine besondere Kunst zu bezeichnen und stets als Teil der intensiven professionellen, gleichwohl menschlichen Begegnung einzuschätzen. Krankheitsanamnese: frühere Erkrankungen - psychisch - körperlich aktuelle Erkrankung/Störung/Befindlichkeit - Symptome - Krankheitsbeginn - bisherige Behandlung 17 Biographische Anamnese: Biographie des/r Patienten/in - Schwangerschaft/Geburt - frühkindliche Entwicklung - Beziehung zu Eltern und Geschwistern - schulischer Werdegang - berufliche Entwicklung - sexuelle Reifung/Entwicklung - Ehe und Familie - Lebensgewohnheiten, Persönlichkeitszüge, (Ab-) Neigungen, Fähigkeiten - aktuelle Lebensumstände Familienanamnese - psychosoziale Situation der Eltern - Wertvorstellungen/Erziehungsstil der Eltern - psychische Erkrankungen/Störungen in der Familie Fremdanamnese: - Bericht von Familienangehörigen, Freunden/innen, Nachbarn, Kollegen usw. Hier ist stets besonders sorgsam abzuwägen, mit wem, zu welcher Zeit und mit welchem Zweck über einen betroffenen Klienten gesprochen wird. Natürlich ist in der Regel die Zustimmung des Klienten erforderlich. 18 5. KLINISCHE SYSTEMATIK PSYCHISCHER STÖRUNGEN 5.1. DAS TRIADISCHE SYSTEM DER PSYCHIATRIE I Überwiegend körperlich begründbare Störungen II Ursachen einzelne Störungsbilder Primäre Hirnerkrankungen (Trauma, Entzündung, Degeneration, Intoxikation, Tumor, Durchblutungsstörungen...) oder Systemerkrankungen (Infektionen, Organschädigungen, Hormonstörungen, Vitaminmangel...) genetische Disposition + psycho(gen)soziale Faktoren = multifaktoriell akute exogene Psychose oder chronisches hirnorganisches Psychosyndrom - Demenzen - Delire - Oligophrenien - Morbus Pick - Progressive Paralyse - Multiple Sklerose - Epilepsien Schizophrenien Affektive Psychosen (=Zyklothymien) -Manie -Depression schizoaffektive Psychosen Neurosen Persönlichkeitsstörungen Reaktionen (depressive , Trauerusw.) Abhängigkeitserkrankungen Sexuelle Deviationen Endogene Psychosen III psychogen / psychosozial (+ evtl. genetisch) Überwiegend psychogene Störungen 19 5.2. EINTEILUNG PSYCHISCHER STÖRUNGEN (NACH ICD 10*) F0 organisch bedingte Störungen Org. bed. Syndrome Delire Demenzen F5 Verhaltensauffälligkeiten, physiologisch oder hormonell Essstörungen Schlafstörungen St. der Sexualität St. im Wochenbett F1 Abhängigkeit/Sucht F2 Schizophrenien F3 Affektive Störungen Alkohol Opiate Cannabinoide Hypnotika Halluzinogene Andere Substanzen Polyvalente Abh./Sucht verschiedene Subtypen und Verlaufsformen Manie Depression Bipolare Störung Dysthymia Andere F6 Störungen der lichkeit F7 Persön- Intelligenzminderungen F8 Störungen der lung paranoide leicht Sprachschizoide mittel Lesedissoziale schwer Rechtschreibemotional instabile schwerst Rechenhistrionische Kombinierte zwanghafte Autismus Abhängige gemischte Pyromanie usw. St. der Sexualpäferenz Fetischismus Voyeurismus usw. * Derzeit in Deutschland verwendete „Internationale Klassifikation psychischer Störungen“ der WHO 21 F4 Neurosen/Belastungen somatoforme Störungen Phobien Angststörungen Zwangserkrankungen „Reaktionen“ Konversionsstörung Psychosomatosen Neurasthenie F9 Entwick- Störungen des Kindesund Jugendalters Hyperkinese Verhaltensstörungen depressive phobische Mutismus andere 5.3. BEISPIEL FÜR EIN DIAGNOSESCHEMA NACH ICD-10 Diagnostische Leitlinien der Schizophrenie Erforderlich für die Diagnose „Schizophrenie“ ist mindestens ein eindeutiges Symptom (oder gewöhnlich zwei mehr oder weniger eindeutige) der Gruppen 1, 2 oder 3 oder mindestens zwei Symptome den Gruppen 4, 5 oder 6. Diese Symptome müssen fast ständig während eines Monats oder länger eindeutig vorhanden gewesen sein. 1. Gedankenlautwerden, -eingebung oder -entzug, -ausbreitung, Wahnwahrnehmung. 2. Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Wahninhalte anderer Art, Gefühl des Gemachten bzgl. Körperbewegungen, Tätigkeiten, Empfindungen. 3. Kommentierende Stimmen oder dialogische Stimmen, die über den Patienten sprechen, haben eine ähnliche Bedeutung wie fast alle halluzinierten Stimmen, die Wochen oder Monate ständig vorhanden sind. 4. Neben den charakteristischen Wahninhalten, die oben erwähnt sind, können flüchtige, parathyme und nur teilweise ausgearbeitete Wahngedanken jeglichen Inhalts oder überwertige Ideen auf die Diagnose hinweisen, wenn sie von Halluzinationen, gleichgültig welcher Sinnesmodalität, begleitet sind. 5. Verflachte oder inadäquate emotionale Reaktionen, zunehmende Apathie, Sprachverarmung 6. Gedankenabreißen Einschiebungen in den Gedankenfluß, was zu Danebenreden und Zerfahrenheit führt Die Prodromalphase (vor Beginn produktiver psychotischer Symptomatik) mit unspezifischen Symptomen wie Interessenverlust an der Arbeit, an sozialen Aktivitäten, allgemeiner Angst, Depressivität u.a. wird in das Zeitkriterium von einem Monat nicht einbezogen. Klar definierter Wahn und Halluzinationen sind nicht immer vorhanden, besonders bei chronischen Krankheitsbildern. Die Diagnose geht dann oft vom Vorhandensein sog. „negativer“ Symptome (5 und 6) aus. aus: MÖLLER: Psychiatrie, Stuttgart 1996 22 5.4. ÜBERSETZUNG DER ICD-10 F 20 DURCH DIE PSYCHOSE-SEMINARE Aus: BOCK, T. e.a. (1997): Es ist normal, verschieden zu sein. 23 6. DIE SOGENANNTEN „ENDOGENEN“ PSYCHOSEN 6.1. DIE SCHIZOPHRENIEN Begriffsentwicklung KRAEPELIN (1893) sieht im Vordergrund der damals häufigen Defektzustände und der Schizophrenia simplex den frühzeitigen dementiellen Abbau und nennt deshalb die Erkrankung Dementia Praecox (= „vorzeitiges Verblöden“). Erst E. BLEULER differenziert die verschiedenen Verlauf- und Erscheinungsformen und prägt den Begriff Schizophrenien. Er löst schnell die diskriminierenden Begriffe wie Verblödungsirresein, Jugendirresein und Verblödungspsychose ab. In diesem Jahrhundert durchlief die Vorstellung der Ursachen und der daraus abgeleiteten Behandlungsansätze verschiedene Stadien: standen Vererbungskausalitäten in den 30er Jahren (mit ihren rassenwahnhaften und menschenverachtenden Konsequenzen) im Vordergrund, so waren es soziogenetische Vorstellungen in den 60er und 70er Jahren (COOPER). Die Labeling-Hypothese der Psychoanalyse (Schizophrenie als Neurosevariante) setzte sich ebenfalls nicht durch. Aktuell stehen sich sozialpsychiatrische, biologische und psychodynamische Modelle gegenüber oder werden zu einer differenzierten Synthese des Wissens über die Schizophrenien gebündelt und münden in entsprechende komplexe Behandlungsansätze (vgl. u.a. Luc CIOMPI, Thomas BOCK). Es gibt sicher kaum eine psychische Störung, über die eine solch klischeehafte Vorstellung in der Bevölkerung besteht, auch aus diesem Grund sind Betroffene einem erheblichen Stigmatisierungsdruck ausgesetzt. Definitionsversuche M.BLEULER (1985): Nach unserem heutigen Wissen bedeutet Schizophrenie in den meisten Fällen die besondere Entwicklung, den besonderen Lebensweg eines Menschen unter besonders schwerwiegenden inneren und äußeren disharmonischen Bedingungen, welche Entwicklung einen Schwellenwert überschritten hat, nach welchem die Konfrontation der persönlichen inneren Welt mit der Realität und der Notwendigkeit zur Vereinheitlichung zu schwierig und zu schmerzhaft geworden ist und aufgegeben worden ist. Aus den Psychoseseminaren (AG der Psychoseseminare (2001): Es ist normal, verschieden zu sein.): Eine schizophrene Psychose ist zu verstehen als ein Zustand extremer Dünnhäutigkeit – mit dem Risiko der Überflutung durch Wahrnehmungen von Außen und Impulsen von Innen und der Flucht in eine andere / eigene Realität als Schutz. Diese Durchlässigkeit gilt in beide Richtungen: Inneres dringt ungehindert nach Außen und nimmt als Vision oder Stimme Gestalt an. Reale äußere Reize, Spannungen und Konflikte, die wir im „normalen“ Zustand filtern und verdrängen, treffen ohne jede Abwehrchance ins Innere. In der Regel kann/sollte Therapie sich nicht mit dem Herstellen eines dickeren Fells begnügen: Sie darf sich bei der Analyse Angst auslösender Reize nicht von vorneherein auf das Innenleben beschränken (mit der Gefahr alles zu „psychologisieren“), sondern muss auch die Gefahren des realen Lebens ernst nehmen. 24 Häufigkeit • • Risiko, zu erkranken (in allen Kulturen) ca. 1% der Bevölkerung Prävalenz (Stichtag): 0,5-1% Symptome • • Denken und Sprache: zerfahren/inkohärent, Konkretismus, Neologismen, Paragrammatismus usw. • Affektveränderungen: Parathymie, „läppisch“ (-hebephren), Ambivalenz, Affektstarre, Depression (!), Angst(!) • Katatonie („Anspannung“): von katatonem Stupor bis Raptus, Flexibilitas cerea (wächserne Biegsamkeit), Katalepsie, Echopraxie... • Halluzinationen: akustisch (meist Stimmen=Phoneme, die auch kommentierenden oder befehlenden Charakter haben können: kommentierende oder imperative Phoneme), optisch (unbestimmt bis szenisch), taktil, zoenästhetische... • • Wahn: Verfolgungs-, Vergiftungs-, hypochondrischer, Eifersuchts-Wahn • • kognitive Störungen: ... der Informationsaufnahme und –verarbeitung Ich-Störungen: Depersonalisation, Derealisation, Erlebnisse des Gemachten, Störungen der Meinhaftigkeit (Gedankenentzug, -eingebung, -abreißen) sog. Negativsymptome: Antriebsarmut, Teilnahmslosigkeit, sozialer Rückzug, „Gefühlsverarmung“, Interesselosigkeit... als positive Symptome werden Wahn, Halluzination und Denkstörung bezeichnet → Beachte: die Ausgestaltung der einzelnen Symptomatik ist individuell sehr verschieden Untergruppen • • • • paranoid-halluzinatorische Schizophrenie o im Vordergrund stehen Wahn und Halluzination hebephrene Schizophrenie o im Vordergrund stehen Störungen im Verhalten und Denken (bizarr, maniriert, unernst), kann schon im Jugendalter beginnen, hat eine schlechte Prognose katatone Schizophrenie o im Vordergrund stehen teils schwere Störungen in Antrieb und Psychomotorik, relativ gute Prognose Schizophrenia Simplex o Langsamer (schleichender) Verlauf mit wenig charakteristischen Symptomen und Entwicklung einer Wesenänderung (Sonderlinge, Kauze). Problematische Diagnose Ätiologie • • • • • genetisch (gestörte Hirnreifung und/oder Entwicklung des Neurotransmittersystems) traumatisch-morphologisch (frühe Verletzungen des Gehirns) psychosozial/psychodynamisch insgesamt sprechen alle Befunde für eine Vielschichtigkeit der Ursachen für die Schizophrenien (multifaktoriell) Siehe hierzu das Dreiphasenmodell von Luc CIOMPI Beginn • Beginn der Symptome: meist zwischen 15.-30. Lj. (selten sind Kinder betroffen), keine Geschlechterbindung, schleichend oder akut, Prodromi (Vorboten) sind häufig, werden aber oft nicht als solche erkannt. Verlaufsformen 25 • einfach-progredient - akut-rezidivierend - alle Kombinationen (siehe Verlaufskurven) Prognose • • • Faustregel: o 1/3 Remission o 1/3 mäßige Residualbildung (Reststörung) o 1/3 schwere Residualbildung ca. 50% der Betroffenen leben ohne größere Einschränkungen Residuum: Kombination aus früherer akuter Symptomatik mit Vorherrschen sogenannter Negativsymptome (s.o.), aber: Nebenwirkung der medikamentösen Behandlung können (u.a.) eben diese Negativsymptome Literatur: siehe alle Lehrbücher, herausragend: Heinz Häfner (2000): Das Rätsel Schizophrenie 26 6.2. DAS DREIPHASENMODELL VON L. CIOMPI 27 6.3. ZU VERLAUF UND PROGNOSE DER SCHIZOPHRENIEN 6.3.1. PROGNOSEMERKMALE NACH H. HÄFNER (2000) 28 6.3.2. VERLAUFSTYPEN DER SCHIZOPHRENIEN 29 6.3.3. OUTCOME DER SCHIZOPHRENIEN 6.4. DIE 10 THERAPEUTISCHEN PRINZIPIEN ZUR BEHANDLUNG VON MENSCHEN MIT SCHIZOPHRENIE NACH LUC CIOMPI 30 1. Systematische Einbeziehung des relevanten sozialen Umfeldes: Dies betrifft sowohl Angehörige als auch andere wichtige Bezugspersonen wie Betreuer etc. 2. Vereinheitlichung der verfügbaren Informationen: Betroffene, Angehörige und professionelle Helfer sollten über klare und einheitliche Informationen über die Art der Erkrankung, Verlauf, Ausgang und Prognose, Risikofaktoren sowie Behandlung und Prophylaxe verfügen. 3. Weckung gemeinsamer, positiv-realistischer Zukunftserwartungen: Aufseiten von Betroffenen, Angehörigen und professionellen Helfern 4. Stufenweises Erarbeiten konkreter, gemeinsamer Behandlungsziele: Zwischen allen Betroffenen sollen konkrete Nah und Fernziele vereinbart werden, auf die gemeinsam hingearbeitet wird. 5. Koordination und Kontinuität: Anzustreben ist die fortlaufende Abstimmung aller Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen sowie die Realisierung eines Höchstmaßes an konzeptioneller und personeller Kontinuität; ein professioneller Betreuer sollte für die gesamte Dauer der Behandlung, also u. U. über Jahre, als zentrale Bezugsperson fungieren und für den ,roten Faden' sorgen. 6. Vereinfachung des therapeutischen Feldes: Dies gilt sowohl für die Schaffung übersichtlicher und spannungsarmer stationärer Milieus als auch für übersichtliche und bezüglich Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar strukturierte ambulant-komplementäre Kontexte. 7. Einfachheit und Klarheit im Umgang: Insbesondere affektiv-kognitiv übereinstimmende Kommunikation. (Eure Rede sei: ja, ja, nein, nein!) 8. Fortlaufende Optimierung von Anforderungen: Über und Unterforderungen sind gleichermaßen zu vermeiden. Immer nur ein wichtiger Wechsel auf einmal (z.B. in der Wohn-, Arbeitsoder Beziehungssituation). 9. Flexible Kombination von unterschiedlichen Therapieansätzen: Erst die Kombination von pharmako-, psycho- und soziotherapeutischen Verfahren je nach individuellem Bedarf und Bedürfnis verspricht optimale, „synergetische“ Wirkungen. 10. Beachtung spezifischer Zeitfaktoren: Zum Beispiel Zeiten für Veränderungen und Zeiten für Stabilität, ,Eigenzeiten' und persönliche Tempi von Betroffenen, zeitliche Dynamiken von Dekompensation und Remission usw. 7. DEPRESSION UND MANIE (SYNONYME: BIPOLARE/AFFEKTIVE PSYCHOSEN, ZYKLOTHYMIE) Es handelt sich um eine Gruppe von Erkranklungen bei denen es zu einer erheblichen Auslenkung von Stimmung und Affekt in die depressive und/oder manische Dimension kommt. Die Auslenkungen treten in mehr oder weniger klar abgrenzbaren Phasen auf. Dabei kommt es sowohl vor, dass Betroffene allein depressive oder manische Phasen erleben als auch, dass bei einem Menschen im Verlauf sowohl manische als auch depressive Phasen vorkommen. 31 Häufigkeit - Risiko, zu erkranken: 0,6-1% (depressive Phasen sind häufiger als manische) - Prävalenz (Stichtag): ca. 1% Symptome der depressiven Phasen • • • • • • • • • • • • Stimmung: niedergedrückt, traurig, hoffnungslos, schwermütig, ängstlich(!), mürrisch, Gefühl der inneren Leere, Gefühl der Gefühllosigkeit, mutlos, hilflos, unschlüssig, wankelmütig Affekt: flach, wenig schwingungsfähig Antrieb: vermindert bis stuporös oder agitiert-getrieben Psychomotorik: verlangsamt, erschwert, Mangel an Frische und Spannung, Verminderung der Mimik und Gestik Denken: verlangsamt, gehemmt, eingeengt, ideenarm, scheinbare Intelligenzminderung, Schuldgefühle Wahn: hypochondrisch, Verarmungs-, Schuld-, nihilistischer, Versündigungs-, evtl. mit paranoider Färbung (Pseudo-)Halluzinationen: „innere Stimme“, anklagende Stimmen, olfaktorische Zwänge: Zwangsbefürchtungen, -gedanken, -handlungen, Grübelzwang Aufmerksamkeit u. Auffassung: reduziert Tagesrhythmus: Morgentief, abends Stimmungsaufhellung Suizidalität: latent oder akut (nie unterschätzen!) somatische Komponente: Schlafstörungen, Appetitmangel, gastrointestinal (Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung/Diarrhoe), Herz/Kreislauf, urogenital, Libido u. Potenz, Engegefühle usw. Symptome der manischen Phasn • • • • • • • • • • Stimmung: gehoben, gut (bis best-) gelaunt, sorglos heiter, mitreißend-fröhlich bis gereizt, unkontrollierbar, erregt, euphorisch, Glückseligkeit, strahlender Optimismus Affekt: dauerhaft glücklich, expansiv, dabei leicht aggressiv werdend Antrieb: gesteigert, überaktiv, Rededrang, reduziertes Schlafbedürfnis Psychomotorik: gesteigert bis ausufernd-unbremsbar, z.T. heftiges Gestikulieren, rastlose Vielgeschäftigkeit Denken: beschleunigt bis assoziativ-aufgelockert (ideenflüchtig), Größenideen, Kritikschwäche („Kaufrausch“), Selbstüberschätzung, Wortspiele Wahn: Größen-, Liebes-, selten: VerfolgungsHalluzinationen: selten, eher flüchtig (optisch, akustisch) Aufmerksamkeit und Konzentration: scheinbar gesteigert Suizidalität: keine, aber: Fehlhandlungen im Rahmen des Krankheitsgeschehens somatische Komponente: Appetitmangel bis -verlust („ich brauche nichts!“), Schlafstörungen, Hypersexualität Ätiologie • • • → genetisch traumatisch (körp. Erkrankungen, seelisch) psychosozial/psychodynamisch multifaktoriell Beginn und Verlauf 32 • • 30.-40. Lj., Frauen häufiger von depressiver Phase betroffen (7:3) schleichend oder akut Verlauf • • • • • • • • phasenhafter Verlauf (zyklothym): mehr oder weniger gut abgrenzbare manische oder depressive Phasen Verlaufsformen: - mono(phasisch)polar depressiv: einmalig oder rezidivierend - mono(phasisch)polar manisch: " - bipolar: " - „rapid cycler“: besonders schneller Wechsel der Phasen Dauer der Phasen: Im Schnitt 3-4 Monate (Tage bis Jahre, manische Phasen eher kürzer) Intervall zwischen den Phasen: in der Regel vollständige Remission (s.u.) Häufigkeit der Rezidive: ca. 20% erleben nur eine Phase, 25% aber mehr als 8 Phasen Nähe zu Schizophrenien: - Fragliche Diagnose: schizoaffektive Psychose mit Symptomen der Schizophrenien und der Manie/Depression (Häufigkeit unsicher) Prognose: „nur“ 7% der Betroffenen entwickeln ein Residuum Aber: bis 20% Suizidhäufigkeit! Abgrenzung zu anderen Depressionsformen: -phasenhafter Verlauf, Tagesrhythmus, psychotische Komponente, Kausalität mit Auslösesituation schwerer herstellbar Literatur: alle Lehrbücher, speziell: MEYER & HAUTZINGER (2004): Manisch-depressive Störungen. Anmerkung Definition für Psychose: „Vorübergehende oder sich stetig verschlechternde psychiatrische Erkrankung (Störung) mit erheblicher Einschränkung /Beeinträchtigung psychischer Funktionen mit vor allem gestörtem Realitätsbezug, mangelnder Einsicht und Fähigkeit, üblicher sozialer Norm bzw. Lebensanforderung zu genügen.“ Im Gegensatz zum inzwischen gebräuchlichen professionellen Jargon, in dem Psychose gleichgesetzt wird mit Schizophrenie umfasst der Begriff Phänomene, das bei einer Vielzahl von psychischen Störungen vorkommen kann (so etwa auch bei Demenzen, Abhängigkeitserkrankungen, Fieber, neurologischen und internistischen Erkrankungen usw. Problem: unklare Definition, die auch nicht einheitlich verwendet wird. Zudem schwierige Abgrenzung gegenüber nicht-psychotischen Störungen. Neurose: „Psychisch bedingte Gesundheitsstörung, deren Symptome unmittelbare Folge und symbolischer Ausdruck eines krankmachenden seelischen Konfliktes sind, der unbewusst bleibt. Der Konflikt liegt in der (frühen) Kindheit und die Symptomatik spiegelt einen Kompromiss zwischen Triebwünschen und einer ihre Verwirklichung verhindernden Abwehr wider.“ (nach S. FREUD) Problem: Definition ist hypothetisch und die Diagnose kann nur im Rahmen einer psychoanalytischen Anamnese oder Therapie verifiziert werden. 7.1. SYMPTOME DEPRESSIVER STÖRUNGEN (aus Möller, 1996) 33 7.2. FORMEN DER DEPRESSION • • • • • sog. endogene Depression (affektive Psychose s. oben) reaktive Depression („depressive Antwort“ auf Lebensereignisse) neurotische Depression sog. Involutionsdepression (Spätdepression im Senium) körperlich begründbare Depression o symptomatische Depression (Medikamente (!), Erkrankungen s.u.) 34 • • • • o (hirn-)organische Depression (posttraumatisch, Demenzen, Epilepsien...) Saisonale Depression („Winterdepression“) Wochenbettdepression larvierte Depression (stellt sich in Form körperlicher Symptome dar) klimakterische Depression zu 5a.: Medikamente: Analgetika, Antiphlogistika, Antirheumatika, Antibiotika, Antiepileptika, Antihypertonika, Anti-Parkinsonmittel, Appetithemmer, Hypnotika, Tranquilizer, Immunsuppressiva, Migränemittel, Neuroleptika, Nootropika, Kortisonpräparate... Erkrankungen: Über- und Unterfunktion von Schilddrüse, Nebenschilddrüse oder Nebenniere; Herzinsuffizienz, Herzfehler, arterielle Hyper- und Hypotonie, Herzschrittmacher, Z.n. Bypass-OP; Colitis, Hepatitis, Leberzirrhose, chronische Pankreatitis; Niereninsuffizienz, chronische Pyelonephritis, Prostataadenom, Hämodialyse, Z.n. Nierentransplantation; Rheumatismus; Anämie, Porphyrie, Hyper- und Hypoglykämie, Vitaminmangel (z.B. Folsäure); Infektionen; Intoxikationen; Z.n. Radiatio (Bestrahlung); tumoröse Erkrankungen... 35 7.3. ZUR ÄTIOLOGIE DER DEPRESSIONEN (MÖLLER, 1996) 36 8. PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN 8.1. ALLGEMEINES ältere Bezeichnungen: Psychopathien, abnorme Persönlichkeiten, akzentuierte Persönlichkeiten, Charakterneurosen Definition von Persönlichkeit Die Summe aller psychischen Eigenschaften und Verhaltensbereitschaften, die dem einzelnen seine eigentümliche, unverwechselbare Individualität verleihen. Definitionsversuche Persönlichkeitsstörung (PST) Störungen des Verhaltens und Fühlens, die nicht als Reaktion auf äußere Ereignisse zu verstehen sind und nicht durch neurotische Symptome bestimmt sind. Das Verhalten und die Einstellungen sind nicht Ich-fremd. Von Persönlichkeitsstörung spricht man dann, wenn eine Persönlichkeitsstruktur durch starke Ausprägung bestimmter Merkmale so akzentuiert (betont hervorgehoben) ist, dass sich hieraus ernsthafte Leidenszustände und/oder Konflikte ergeben. Eine Persönlichkeitsstörung liegt dann vor, wenn durch Ausprägungsgrad und/oder die besondere Konstellation von psychopathologisch relevanten Merkmalen dieser Bereiche erhebliche subjektive Beschwerden und/oder nachhaltige Beeinträchtigungen der sozialen Anpassung entstehen. Problem der PST Abgrenzung zum „Normalen“, Individuellen, Neurotischen Einteilung • paranoide • schizoide • „antisoziale“ (dissoziale) • Borderline-Persönlichkeitsstörung • histrionische • narzisstische • zwanghafte (anankastische) • selbstunsichere (vermeidende) • dependente („abhängige“) • asthenische „Die Tatsache, dass keine ich-fremden Symptome im Vordergrund stehen, sondern die Einstellung gegenüber der Umwelt, macht es problematisch, diese Menschen ohne weiteres als abnorm oder krankhaft zu etikettieren. Es ist aber ebenso problematisch, es nicht zu tun, etwa einfach an ihren Willen zu appellieren, ihnen oder ihrer Erziehung Schuld und Verantwortung zuzuschreiben. Diese Verhaltensweisen bringen für die Gesellschaft und für die Menschen häufig erhebliche Belastungen mit sich und, wenn Ärzte und Psychotherapeuten nicht ihre Stimme erheben, nimmt die Gesellschaft häufig selbst gewöhnlich unterdrückend oder strafend Stellung“ (Walter BRÄUTIGAM, 1994) 37 8.2. DIAGNOSTISCHE KRITERIEN FÜR DIE BORDERLINE-PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG 38 9. ORGANISCH BEDINGTE PSYCHISCHE STÖRUNGEN Ätiopathogenese Ursächlich sind akute oder chronische körperliche Hirn- oder Allgemeinerkrankungen: akute oder chronische Intoxikationen (Alkohol, Drogen, Medikamente, Blei, Mangan, Quecksilber, Schwefelkohlenstoff, Arsen, Thallium, Kohlenmonoxid, Pestizide, Pilzgifte...); Hirntraumata, Entzündungen des Gehirns, Hirntumoren, Arteriosklerose, Herzerkrankungen, Nieren- u. Leberversagen, Dialyse, Hypoglykämie, Hyper- u. Hypothyreose, Vitaminmangel….. und unbekannte Ursachen (etwa Alzheimer-Demenz) Je nach Dosierung bzw. Ausprägung der Grundstörung entwickelt sich eine akute oder chronische Störung. Die psychopathologische Symptomatik ist wenig spezifisch für die einwirkende Ursache. Epidemiologie Die organisch bedingten psychischen Störungen werden tendenziell eher unterschätzt. Sie zählen zu den häufigen Erkrankungen überhaupt. Zwischen 17 und 40% der in Allgmeinkrankenhäusern behandelten Patienten leiden unter solchen Störungen, wobei besonders häufig Delirien (akute Verwirrtheitszustände) beobachtet werden. Es wird unterschieden zwischen akuter und chronischer Verlaufsform. 9.1. AKUTES HIRNORGANISCHES PSYCHOSYNDROM (AKUTER EXOGENER REAKTIONSTYPUS) Symptomatik • BEWUSSTSEINSSTÖRUNG Leitsymptom • ORIENTIERUNGSSTÖRUNG „ • KONZENTRATIONSSCHWÄCHE „ • AUFFASSUNGSSCHWÄCHE „ • MERKFÄHIGKEITSSTÖRUNG „ • Störung der Psychomotorik • Störung der Stimmung und des Affektes • Störung des Denkens • Wahrnehmungsstörungen • Ich-Störungen • Wahnvorstellungen/illusionäre Verkennungen ⇒ neurologische und internistische Symptomatik Die Symptome treten in verschieden starker Ausprägung und Kombination meist relativ schnell zunehmend auf. Subtypen • Delirium • Verwirrtheitszustand • Dämmerzustand Verlauf Meist Wochen bis wenige Monate; Symptomatik ist grundsätzlich reversibel in Abhängigkeit der Entwicklung der Grunderkrankung bzw. des Giftes. 9.1.1. DAS DELIR Definition Das Delir ist ein unspezifisches psychopathologisches Syndrom, das insbesondere durch Störungen des Bewusstseins, der Wahrnehmung und der Psychomotorik gekennzeichnet ist und als akuter exogener Reaktionstypus durch verschiedene Ursachen bedingt sein kann. Grundsätzlich sind Delire reversibel. Es handelt sich um eine akute Dekompensation der Hirnfunktion. Häufigkeit Sehr häufige psychische Störung (ca. 10-20% aller stationär behandelten Patienten an einem Allgemeinkrankenhaus, in chirurgischen Abteilungen bis zu 30%), wahrscheinlich häufig nicht richtig diagnostiziert. In ca. 20% der Fälle gelingt es nicht, die Ursache für das Delir zu finden. Ursachen (Auswahl) • Internistische Erkrankungen o Herz-Kreislaufo Lungeno Infektionen (zerebral oder systemisch; hohes Fieber) o Arteriosklerose o Elektrolytstörungen o Exsikkose (Austrocknung) o Hormonstörungen • Akute und chronische Hirnerkrankungen • Operationen • Vergiftungen o Medikamente o psychotrope Drogen o Schwermetalle o Substanzentzug o Drogen o Alkohol o Medikamente • Medikamente (unerwünschte Wirkung, Wechselwirkung, Überdosierung, Entzug) o Antibiotika o Analgetika (Opiate, Salicylate) o Kardiaka (Betablocker, Clonidin, Digitalis) o Antituberkulostatika (Isoniazid) o Psychopharmaka (Antidepressiva, Sedativa) Antiepileptika Antiphlogistika (Kortison, Ibuprofen) Anti-Parkinson-Mittel (L-Dopa) Symptome • Bewusstseinsstörung • Verminderung der Wachheit (Vigilanzminderung) • Störungen der Orientierung (zeitlich, örtlich, situativ, autopsychisch) • Psychomotorische Unruhe (ggf. Wechsel von Hypo- und Hyperaktivität) 40 • Produktive Symptome (optische Halluzinationen) • Vegetative Symptome (Tachykardie, Hyperhidrosis, Tremor) • Störungen des Denkens, der Aufmerksamkeit • Gedächtnisstörungen • Störungen von Stimmung und Affekt (Angst, Erregbarkeit, Aggressivität) • Erhöhte Irritabilität und Suggestabilität • Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus Verlauf Meist rasche Entwicklung einer akuten Symptomatik innerhalb von Stunden. Wechselhaftes Auftreten bzw. rascher Wechsel der einzelnen Symptome bzw. der Ausprägung der Symptomatik. Die Symptomatik geht i.d.R. innerhalb weniger Tage oder Wochen zurück. Therapie Zwei Strategien • Diagnose und Behandlung der Grunderkrankung, -störung • Symptomatische Behandlung der psychiatrischen Symptomatik (medikamentös und milieutherapeutisch) -> siehe auch unter Alkoholfolgekrankheiten 9.2. CHRONISCHES HIRNORGANISCHES PSYCHOSYNDROM (HOPS) Symptomatik • Störungen der Mnestik (Gedächtnis) mit Konfabulationen LEITSYMPTOM • Orientierungsstörungen „ • Auffassungsstörungen • Konzentrationsschwäche • Urteilsschwäche • Gedankenarmut • Perseverationen (Wiederholung gleicher Denkinhalte, Haften an eingeschlagener Vorstellung) • Affektlabilität bis -inkontinenz • Störungen der Stimmung • evtl. Wahnsymptomatik, Ich-Störungen • Wesensänderung oder -akzentuierung ⇒ KEINE Bewusstseinsstörung ⇒ neurologische und internistische Symptomatik der Grunderkrankung Subtypen • • • dementielle Prozesse (s.u.) organisch amnestisches Syndrom (KORSAKOW-Syndrom) hirnlokales Psychosyndrom (mit relativ spezifischer Symptomatik je nach Lokalisation der Schädigung) Verlauf • chronisch-progredient (langsam fortschreitend) oder subakut (mäßig akut) 41 9.3. PRIMÄR UND SEKUNDÄR DEGENERATIVE HIRNERKRANKUNGEN 9.3.1. DIE DEMENZEN Demenz ist ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewusstsein ist nicht getrübt. Die kognitiven Beeinträchtigungen werden gewöhnlich von Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation begleitet, gelegentlich treten diese auch eher auf. Dieses Syndrom kommt bei Alzheimer-Krankheit, bei zerebrovaskulären Störungen und bei anderen Zustandsbildern vor, die primär oder sekundär das Gehirn betreffen. Die Alzheimer-Demenz ist eine primär degenerative zerebrale Krankheit mit unbekannter Ätiologie und charakteristischen neuropathologischen und neurochemischen Merkmalen. Sie beginnt meist schleichend und entwickelt sich langsam aber stetig über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Epidemiologie der Demenzen Neuere Studien ergeben, dass das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, mit dem Alter steigt: ca. 1% der 60-64jährigen leiden an einer Demenz und mit jeder weiteren halben Dekade verdoppelt sich der Anteil ca. 25% der 85-89jährigen und fast 1/3 der über 90jährigen sind betroffen insgesamt liegt der Anteil der Betroffenen unter den über 65jährigen bei ca. 7% Für Männer und Frauen ergeben sich unterschiedliche Risiken, allein wegen der höheren Lebenserwertung der Frauen: das Risiko für heute 65jährige Männer, im Verlauf an einer Demenz zu erkranken, liegt bei 16%, für 65jährige Frauen bei 34%. 9.3.1.1. DEMENZ VOM ALZHEIMER-TYP (ALZHEIMER DEMENZ) Beginn schleichend nach dem 65. Lebensjahr, seltener davor. Im Prinzip gelten die o.g. Hauptsymptome. Etwas differenzierter (nach Volker FAUST): geistige und gen/Symptome • • • • • • • • • seelische Beeinträchtigun- Gestörte Erinnerung an kurz zurückliegende Einzelheiten (Kurzzeitgedächtnis) wie Gespräche, Besuche, Art der letzten Mahlzeit, eigene Tätigkeiten usw. Später auch Störungen des Langzeitgedächtnisses (Schulzeit, frühe Erwachsenenjahre). Verlust der Fähigkeit, die Vergangenheit und Gegenwart zeitlich und inhaltlich auseinanderzuhalten. Orientierungsstörungen: wie man heißt, wo man wohnt oder sich gerade aufhält, wann geboren, wie alt, welcher Tag, welche Uhrzeit (wacht nachts auf und verlangt das Frühstück) usw. Schwierigkeiten, Dinge wiederzufinden, vom Hausschlüssel bis zum geparkten Auto, oder nicht mehr wissen, wo und in welche Richtung man fahren muß ("Geisterfahrer"). Schließlich einfache Aufgaben nicht mehr angemessen lösen können, trotz konkreter mündlicher und schriftlicher Anweisungen. Rasche Ermüdbarkeit bis hin zur völligen Kraftlosigkeit. Die Sprache wird immer ungenauer, mit Füllwörtern "geflickt" ("Dingsda"; "na, Du weißt schon was" usw.). Dazu vermehrt Umschreibungen, Wortwiederholungen und vor allem Wortfindungsstörungen. Zuletzt Störungen des Sprachverständnisses und der Sprachproduktion. Störungen des Benennens: anfangs dicht danebenliegende Bezeichnungen, später gröbere Benennungsfehler. Die entsprechenden Namen oder Bezeichnungen fallen im Gespräch oder auf Vorhalten der Objekte nicht mehr ein. 42 • Handlungsstörungen: Die Betroffenen wissen oft, was sie tun wollen, können ihre Absicht aber nicht realisieren. Folge: Probleme mit Schriftbild, Körperpflege, An- und Auskleiden, Essen und Trinken, Hobbys u. a. • Störungen des Erkennens: Selbst altbekannte Personen und Gegenstände werden nicht mehr erkannt. • Auf normale Sinnesreize (Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen) kann nicht mehr adäquat reagiert werden. • Lese-, Schreib- und Rechenstörungen. • Antriebsstörungen: nachlassende Willenskraft, sich ein Ziel zu setzen und dieses gleich zu verfolgen. Die meisten Bewegungsabläufe sind verlangsamt (besonders an den Händen). Dafür dauernde Bewegungsunruhe mit "Nesteln und Herumfingern", ständiges Spielen mit Taschentüchern, Stiften, Besteck, fahrige Gesten, Auflesen von Flocken, Fäden usw. • Gemütsstörungen: anfängliche Irritation, Niedergeschlagenheit, Resignation, schließlich Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, zuletzt ernstere depressive Zustände. Dazu fast immer Angst (Zukunftsangst, diffuse Angst, "Angst vor ich weiß nicht was" usw.). Aber auch Reizbarkeit, Aggressivität, ja Wutausbrüche, schließlich gemütsmäßig schwankend, emotional flach, hin- und hergerissen, stimmungsmäßig leicht beeinflussbar und ablenkbar bzw. umstimmbar. • Hypochondrische Befürchtungen vor irrealen seelischen, vor allem aber körperlichen Beeinträchtigungen. • Sinnestäuschungen: Trugwahrnehmungen beim Sehen (sieht sich z. B. im Fernsehen auftreten), Hören (Geräusche, Stimmen), Schmecken (übersüßt, versalzen), Riechen (Fäulnis, Gas), Tasten (Missempfindungen bis hin zur Gewalteinwirkung). • Wahnvorstellungen: ein meist reizbar-misstrauisches bis aggressiv-feindseliges Verhalten, vor allem nach außen gerichtet. Beispiele: "fremde Person im eigenen Zimmer oder Bett", "Diebstahl", "Untreue" (des aufopfernd pflegenden Partners) usw. Folge: entsprechende Reaktionen wie Verstecken von Habseligkeiten, Zurückweisung alter Freunde, Brüskierung von Angehörigen etc., die sich - als gefährliche Konsequenz - dann natürlich nach und nach zurückziehen. Der Patient gerät dadurch noch stärker in die Isolation. Weitere seelische und psychosoziale Auffälligkeiten sowie Verlaufs-Charakteristika • Je nach Persönlichkeitsstruktur bzw. Verlaufsform besteht anfangs der verzweifelte Versuch, das geistig-seelische Defizit zu überspielen und sich unverändert Aufmerksamkeit und Zuwendung zu sichern (was häufig respektlos, aber nicht ganz unzutreffend beschrieben wird mit: "liebenswürdige Verblödung"), später zunehmend resigniert, niedergeschlagen, verzweifelt und depressiv. • Auch Versuch, alle Einbußen zu verleugnen, in Abrede zu stellen, ggf. anderen anzulasten (Abwehr, Fehlleistungen nicht realisiert, Scham), schließlich jedoch zunehmende Gleichgültigkeit. • Zuletzt häufig (jedoch nicht grundsätzlich) keine Schuldgefühle mehr zu erwarten, eher Bagatellisierungs- und Vertuschungsversuche ("missliche Umstände", andere Personen schuld). • Neigung zu Gedächtnislücken wird durch Erzählen zufälliger Einfälle oder Geschichten überspielt, sogenannte Konfabulationen. • Anfangs um Freundlichkeit bemüht (s. o.), später zunehmend ungeduldig, reizbar, missgestimmt, wütend, rasch erregt, mitunter auch ironisch bis sarkastisch. Bei allem eine sonderbare Atmosphäre der Unverbindlichkeit um sich verbreitend (Fehlurteil: Arroganz). Dann ist die Stimmung weniger bedrückt bis gequält, eher gleichgültig bis frostig-"wurstig". • Teils (vor allem anfangs) Minderwertigkeitsgefühle bis Verzweiflungsausbrüche, teils (insbesondere im weiteren Verlauf) immer unkritischere Selbstüberschätzung, bisweilen sogar überhöhte Selbstanforderung, manchmal groteske Kompensationsversuche. • Plötzlich ausbrechende Angst- oder Panikzustände ohne Grund (geht auf Überforderung oder Unfähigkeit zurück, zwischen realer Situation und subjektiver Scheinwelt zu unterscheiden). Folge: sogenannte Katastrophen-Reaktionen. • Ferner bizarre Schusseligkeit, unfassbare Vergesslichkeitsszenen, schließlich völlig verwirrt und desorientiert. 43 • Erhöhtes Selbsttötungsrisiko, vor allem zu Beginn einer dementiellen Entwicklung, wo die seelischgeistigen und später körperlichen Defizite noch (voll) registriert werden. Körperliche Krankheitszeichen • Ausgeprägte nächtliche Unruhe mit ratlosem Umhergeistern (desorientiert), zunehmender Verwirrtheit oder gar lautstarken Erregungszuständen (Schreien, Herumfuchteln, Wegdrängen). • In der Frühphase typischerweise keine neurologischen Symptome, später Auftreten bestimmter Muskelverspannungen, Muskelzittern, unregelmäßige Muskelzuckungen u. a. • Gang-, Bewegungs- und Koordinationsstörungen. • Nachlassen von Riech- und Geschmackssinn. • Gestörtes Erkennen von Form und Beschaffenheit eines Gegenstandes durch Betasten mit geschlossenen Augen oder von Buchstaben oder Zahlen, die auf die Haut geschrieben werden. • Schwierigkeiten, einen bestimmten Gegenstand oder Punkt längere Zeit zu fixieren, beeinträchtigte Augenbewegungen. • Unsicherheiten im neurologischen Zeigeversuch. • Verlust der Kontrolle von Blasenentleerung und Stuhlgang. • Ggf. epileptische Krampfanfälle. Risikofaktoren für die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz (u.a. aus: Gutzmann und Zank, 2005) • • • • • • • • • hohes Alter: der wichtigste Risikofaktor überhaupt Geschlecht: Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Dies scheint daran zu liegen, dass sie älter werden. Die erbliche Belastung mit der Alzheimer-Erkrankung, Parkinson und anderen Krankheiten des Nervensystems. Tatsächlich haben Alzheimer-Patienten überdurchschnittlich oft einen nahen Angehörigen, der unter der Parkinsonschen Krankheit leidet. Warum und was konkret dahintersteht, ist noch unklar. das Vorliegen einer Trisomie 21 erhöht das Risiko sehr Auch das Alter der Eltern scheint nicht unbedeutend zu sein. Ein höheres Lebensalter der Mutter bei Geburt des Kindes geht ja bekanntermaßen mit erhöhter Gefahr eines Down-Syndroms einher. Bei der Alzheimer-Krankheit scheint dies nicht zuzutreffen. Beim Vater diskutiert man sogar das Gegenteil. Ob nun die Kombination: eher junger Vater und sehr "alte" Mutter besondere Risikofaktoren darstellen, ist noch nicht untersucht. Dagegen scheinen vorangegangene Schädel-Hirn-Unfälle schon bedeutsamer, besonders wenn man diese im mittleren bis höheren Lebensalter erlitten hat. Männer sind öfter betroffen. Ein besonderes drastisches Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Sportler-Trauma, vor allem die sogenannte Boxer-Demenz. Stress und andere psychosoziale Belastungen: Sie leuchten als Grund eines "vorzeitigen Abbaus" zwar ein, konnten aber bisher nicht bewiesen werden. Hier wurde gefunden, dass ein spärliches soziales Netzwerk, das Merkmal, nie verheiratet gewesen zu sein und eine unterdurchschnittliche Aktivität im mittleren Lebensalter das Risiko erhöhen. Bildungsgrad: Zwar wiederholt sich in vielen Untersuchungen die Erkenntnis, dass eine AlzheimerKrankheit umso eher zu erwarten steht, je schlechter die Schulbildung ist. Wahrscheinlich versteckt sich hinter dieser Tatsache aber ein anderes Phänomen: Menschen mit höherem Bildungsgrad steigen bei einer Demenz natürlich auch von einer "höheren Ausgangslage" und damit ggf. auch über einen längeren Zeitraum ab, als solche mit niedrigerem Bildungsstand. Mit anderen Worten: Man merkt es erst später (dann aber bei Intellektuellen auch drastischer). physische und geistige Aktivität verringert das Risiko ebenso wie der regelmäßige Verzehr von Fisch 44 • Keine Risikofaktoren für eine Alzheimer-Krankheit stellen aber Wesensart, Lebenswandel (außer natürlich selbstschädigendes Verhalten in unterschiedlichster Form), Ernährungsweise, kulturelle Einflüsse usw. dar. Zwar wird immer wieder darüber diskutiert, doch handelt es sich dabei meist um sogenannte Scheinkorrelationen, das heißt man hat nicht alle Ursachen-Verknüpfungen richtig bedacht. Aus: MÖLLER, 1996 Verlaufstadien • • Erstes Stadium: leichtgradige, meist kaum bemerkte Symptome, die "lediglich" zu einer Beeinträchtigung komplexer Tätigkeiten im täglichen Leben führen können. Beispiele: Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigt (der Betroffene wiederholt Sätze oder Tätigkeiten, die er gerade zuvor gesagt oder getan hat). WortfindungsStörungen und mangelhafte Präzision des Ausdrucks. Nachlassen des Denkvermögens, vor allem schlussfolgern und urteilen. Erste örtliche Orientierungsstörungen, z. B. Zurechtfinden in nichtvertrauter Umgebung. Zunehmende Passivität, wenn nicht gar Untätigkeit. Beginnende Störungen der örtlichen Orientierung (Datum und Uhrzeit). Folge: Beschämung, Angst, Wut oder Niedergeschlagenheit. Zweites Stadium: Beschwerdebild so ausgeprägt, dass eine selbständige Lebensführung nur noch mit erheblichen Einschränkungen möglich ist, in der Regel nur noch mit Unterstützung durch andere. Beispiele: wachsende Gedächtnisstörungen, z. B. Vergessen der Namen selbst vertrauter Personen. Schwierigkeiten beim Ankleiden, im Bad, bei Mahlzeiten, auf der Toilette u. a. Örtliche Orientierung deutlich beeinträchtigt, sogar in der eigenen Wohnung. Außerhalb des Hauses Gefahr des Verirrens und Umherirrens. Erstmals Sinnestäuschungen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken) oder illusionäre Verkennungen realer Objekte. Zunehmende Unruhe, zielloses Umherwandern, Aus-der-Wohnung-Drängen. Neben 45 • der rastlosen Umtriebigkeit aber auch gelegentlich völlige Untätigkeit. Verlorenes Zeitgefühl (Vergangenheit und Gegenwart sind nicht mehr unterscheidbar). Drittes Stadium: selbständige Lebensfähigkeit aufgehoben, vollständig von Angehörigen oder anderen Bezugspersonen abhängig. Die Sprache reduziert sich auf wenige Wörter, das Gedächtnis kann keine neuen Informationen mehr speichern. Selbst nahe Angehörige werden immer öfter nicht mehr erkannt oder verkannt. Beispiele: Probleme beim Essen, selbst mit Hilfe. Unfähigkeit, Familienmitglieder zu erkennen. Vorn übergebeugt, Gang kleinschrittig und schleppend. Sturzgefahr. Kontrollverlust über Blase und Darm. Gefahr von Krampfanfällen, Schluckstörungen u. a. Verfall der körperlichen Kräfte, bettlägerig, Infektionsgefahr (häufige Todesursache: Lungenentzündung oder andere Komplikationen). Der vorzeitige Tod tritt nach sehr unterschiedlich langen Krankheitsphasen ein. Je früher ein Mensch in seinem Leben erkrankt, desto länger ist seine noch zu erwartende Lebenszeit. So kommen Krankheitsverläufe von 20 und mehr Jahren vor. Aus: WÄCHTLER (1997) 9.3.1.2. VASKULÄR BEDINGTE DEMENZEN (DURCH STÖRUNGEN DER BLUTZIRKULATION IM GEHIRN; MULTIINFARKTDEMENZ) Im Prinzip wie die Alzheimer-Demenz. 46 Verlauf eher schubweise, Verwirrtheitszustände (häufig nachts!), wechselhafte Ausprägung der Symptomatik mit „luziden Intervallen“ (geringe Symptomatik) und akuten Verschlechterungen, neurologische Herdsymptome (nicht die Regel). Der Verlauf dieser Demenzen ist in der Regel – im Vergleich zur Alzheimer-Demenz – rascher (ca. 60% versterben innerhalb von fünf Jahren) und schwerwiegender (deutlich höherer Anteil an Hospitalisierungen). - + ca. 40 andere bekannte Ursachen 9.3.2. ANDERE PRIMÄR HIRNDEGENERATIVE ERKRANKUNGEN -Pick’sche Krankheit (Morbus Pick) Beginn im 5. Lebensjahrzehnt mit Antriebsminderung oder -steigerung mit Ent-hemmung und evtl. Sprachstörungen, später dementieller Abbau -Chorea Huntington autosomal-dominanter Vererbungsmodus, Beginn im 3. bis 5. Lebensjahrzehnt, zunächst Wesensveränderung, Reizbarkeit, später Hyperkinesen und schwerer dementieller Abbau, Störungen der Kau- und Sprechmuskulatur; nach 10-15 Jahren Tod durch Kachexie (Auszehrung) und interkurrente (zwischenzeitlich auftretend) Infekte -Morbus Parkinson Drei Leitsymptome: • • • Akinese: Verlangsamung und Verminderung der Spontan- und Willkürmotorik, Mikrographie (Frühsymptom), Hypomimie, verminderte Mitbewegung der Arme beim Gehen, kleinschrittiger schlurfender Gang, Start- und Stopstörungen (Bewegungsabläufe können nicht oder erschwert gestartet oder abgebremst werden) Rigor: wächserne Tonuserhöhung der Muskulatur, gebundene Körperhaltung, vornübergeneigter Oberkörper, „Zahnradphänomen“ Tremor: meist der Hände und/oder des Kopfes in Ruhe und bei affektiver Erregung, „Pillendrehen“ oder „Geldzählen“, Sistiert bei Willkürbewegungen Weitere: Bewegungsstörungen der rumpfnahen Muskulatur: Umdrehen im Bett, Aufstehen aus dem Sitzen, Drehung des Körpers; „freezing“: plötzliche Unbeweglichkeit; Schaukelbewegungen des Kopfes; leises Sprechen bei Verarmung der Sprache; „psychisches Kopfkissen“ Vegetativum: erhöhter Speichelfluß, Überfunktion der Talgdrüsen („Salbengesicht“), vermehrtes Schwitzen Psyche: depressive Verstimmung, Bradyphrenie (Verlangsamung des Denkens), Dysphorie (besonders nachts), Suizidalität durch Gefühl der Aussichtslosigkeit; dementieller Abbau wird meist durch die neurologische Symptomatik vorgetäuscht!, selten echte Demenz im Verlauf -Creutzfeldt-Jakobsche Erkrankung (CJD) durch übertragbares Agens (Protein, slow-virus?), aber auch familiär gehäuft; meist progrediente Demenz mit zusätzlichen neurolgischen Symptomen wie spastische Lähmungen, Ataxie usw.; führt nach 1-2 Jahren zum Tod 10. SUIZIDALITÄT 10.1. BEGRIFFE Suizidale Verhaltensweisen 47 • • • • Suizididee Suizidversuch (SV) Vollendeter Suizid Erweiterter Suizid parasuizidale Pause Wunsch nach Ruhe, Schlafenwollen, Abschalten ohne den klaren Wunsch, sterben zu wollen parasuizidale Geste Appell an Mitmenschen, Arrangement des SV eröffnet Möglichkeit, gefunden zu werden parasuizidale Handlung mit ausgeprägter Autoaggression Intention, zu sterben; Arrangement „sicher“; Methode „hart“ Gibt es ernsthafte und nicht-ernsthafte SV? Jeder SV ist Ausdruck einer ernsthaften (lebensbedrohlichen) Krise, wenn man auch anhand der o.g. Kriterien SVe unterteilen kann, so darf dies nicht dazu führen, scheinbar nicht-ernsthafte SV zu bagatellisieren. 10.2. EPIDEMIOLOGISCHE DATEN • • • • • • • • • • • Unsicherheit der Daten durch methodische Probleme (Dunkelziffer...) große Häufigkeitsunterschiede zwischen verschiedenen Ländern und Regionen Rate (Fälle/100.000 Einwohner) zwischen 45 (Ungarn) und 0,3 (Malta) 1986 in Deutschland ca. 10.000 Suizide/Jahr in vielen Ländern (so in Deutschland) sinkt die Suizidrate seit 25 Jahren fast stetig (in D: von ca. 18.500 im Jahr 1980 auf ca. 10.000 in 2006 Männer : Frauen = 2-3 : 1 SV-Rate ca. 10-30x höher als die der vollendeten Suizide, Frauen überwiegen Alter: SV häufiger bei 15-34jährigen, Suizide häufiger ab 50.Lj. Personenstand: Geschiedene>Verwitwete>Ledige>Verheiratete soziale Situation: keine Schichtzugehörigkeit als Prädiktor, aber: Arbeitslosigkeit Wohnort: Stadt>Land 10.3. ENTSTEHUNGSTHEORIEN • • • genetisch-biologische Theorien: familiäre Häufung von Suiziden, Zwillingsforschung soziale Theorien: Unterschiede der Suizidraten durch sozialen, religiösen, gesellschaftlichen Einfluss psychologische Theorien: Psychoanalyse (Narzissmustheorie, Aggressionstheorie), Lerntheorie (Imitation) 10.4. KLINIK • • • präsuizidales Syndrom: Einengung, Depression, (gehemmte) Aggression, Flucht in Irrealität, Impulsdurchbruch, Ambivalenz, „Ruhe vor dem Sturm“ Depression: retrospektiv litten ca. 50% an depressiven Störungen Aggression: hoher Skalenwert für Aggression nach innen und außen 48 • andere psychiatrische Störungen: bei 80-100% der Suizidenten kann retrospektiv eine psychiatrische Störung diagnostiziert werden, Reihenfolge: affektive Strg. > Suchterkrankungen > Schizophrenien > Persönlichkeitsstörung > Neurosen Verläufe • • • 10-35% erneuter SV in den ersten 2 Jahren 20-50% der durch Suizid Verstorbenen unternahmen vorher SV 80% der nach SV stationär Aufgenommenen sind nach 2-7 Tagen nicht mehr suizidal Risikofaktoren • • • • • • • • • • psychische Störungen/Suchterkrankungen (s.o.) Verfolgte/Minderheiten Flüchtlinge Straftäter Menschen mit chronischen (unheilbaren) Erkrankungen alte Menschen Menschen in sozialer Not Menschen während Partnerschaftskrisen Menschen, in deren Umgebung ein Suizid stattfand nach dem Tod eines nahen Angehörigen Prävention primär: strukturelle Maßnahmen: • Verbesserung der psychosozialen Bedingungen... • closing the exits: Hausgasentgiftung, Waffengesetze • Verbesserung der psychosozialen Versorgung • Aufklärung der Bevölkerung • Schulung therapeutischen Personals/der Ausbilder sekundär: • Aufbau flächendeckender Präventionseinrichtungen (Krisendienste, „-telefone“) • Bessere Früherkennung und Behandlung entsprechender Disposition (medizinisch, psychosozial, gesellschaftlich) Therapie siehe unter „Psychiatrische Hilfsangebote“ und „Therapie psychischer Störungen“, auf die spezifischen therapeutischen Hilfen wie Kriseninterventionsmodelle und psychotherapeutische Verfahren kann hier nicht eingegangen werden. Immer wieder reagieren Menschen in suizidalen Krisen erleichtert, wenn überhaupt jemand auf die Idee kommt bzw. den Mut und die Offenheit zeigt, das Gespräch auf dieses „heikle“ Thema zu bringen. Dann können häufig erst das Ausmaß der Krise erkannt und geeignete Hilfsangebote gesucht werden... → Siehe auch einschlägige Literatur im Literatur-Verzeichnis. 11. ABHÄNGIGKEITSERKRANKUNGEN 11.1. ALLGEMEINES, BEGRIFFE Abhängigkeit ist häufig das Ergebnis eines (mehr oder weniger scheiternden) Versuchs der Anpassung, Angstabwehr und Selbsthilfe. 49 (psychotrope) Droge im engeren Sinne: alle Substanzen, die das Gehirn bzw. das Handeln beeinflussen (enzephalo- und psychotrope Substanzen) Missbrauch „schädlicher Gebrauch“ einer Substanz, der zu Folgeschäden auf körperlichem oder psychosozialem Gebiet führt (u.a. auch delinquente Handlungen) Abhängigkeit (früher: Sucht) • • • • • • • • • Auftreten von körperlichen Entzugserscheinungen Toleranzveränderungen (es wird mehr oder – im späteren Verlauf – weniger Substanz „vertragen“) Substanz wird eingesetzt, um Entzugssymptome zu mildern Wunsch bis Zwang, die Substanz zu konsumieren Kontrollverlust Konsum bei „unüblichen“ Gelegenheiten (Arbeit, Straßenverkehr) Interesseneinengung (auf Substanzkonsum) Anhaltender Konsum wider besseres Wissen Frage: was/wer ist „unabhängig“? Seelische Abhängigkeit Verlangen, eine Droge erneut zu konsumieren, ist schwer bezwingbar; Verlust der Konsumkontrolle; Versuche, sich das Mittel um jeden Preis zu beschaffen körperliche Abhängigkeit Anpassungszustand mit Toleranzentwicklung (zur gleichen Wirkung muss eine höhere Dosis zugeführt werden) und Entzugserscheinungen nach Reduktion oder Absetzen der Substanz. Diese entsteht durch eine Erhöhung der Enzymaktivitäten in der Leber und Veränderungen an den Synapsen im Gehirn. Politoxikomanie Die (zunehmende) Praxis, mehrere Substanzen gleichzeitig oder nacheinander zu konsumieren Craving Starkes bis unwiderstehliches Verlangen nach der entsprechenden Substanz Gesellschaftliche Bedingungen • • • • Umgang mit psychotropen Substanzen bzw. davon Abhängigen ist kulturell verschieden (Bsp. Alkoholverbot in islamischen Regionen; soziale Ausgrenzung von Menschen im Vollrausch in Italien; Permission von Cannabis in NL...) Staaten beziehen über den Verkauf von psychotropen Substanzen Steuereinnahmen ganze Industriezweige „leben“ von der Abhängigkeit (Alkohol-, Tabak-, Pharmaindustrie) Gesetzgebung: Abhängigkeit als Krankheit oder „Willensschwäche“; Bestrafung oder Behandlung, seit den 1960er Jahren ist Abhängigkeit eine sozialrechtlich anerkannte Erkrankung 50 11.2. ALKOHOLKRANKHEIT Einige epidemiologische Daten • • • • • • • • • • • • • Deutschland liegt mit einem jährlichen pro-Kopf-Verbrauch an reinem Alkohol in der „Spitzengruppe“ der Länder (>10 l) Der pro-Kopf-Verbrauch ist in D in den letzten 40 annähernd stabil geblieben, in den letzten Jahren sogar leicht rückläufig (von 10,5 l in 2000 auf 10,1l in 2004) Ca. 50% der Deutschen trinken fast 100% der Gesamtmenge, ca. 8-10% der Erwachsenen trinken nie Alkohol 27% der 12-17jährigen geben an, bereits einen Rausch gehabt zu haben Es gibt erhebliche regionale Unterschiede in den Trinkgewohnheiten 30-50% der Patienten stationärer psychiatrischer Krankenhäuser haben Alkohol- oder Drogenprobleme Männer sind doppelt (bis dreimal) so häufig alkoholkrank wie Frauen alkoholkranke Frauen sind doppelt so häufig zusätzlich medikamentenabhängig Kinder und Jugendliche haben zunehmend häufig Alkoholprobleme Alkoholkranke haben eine achtmal höhere Sterblichkeit (Todesursachen: Leberzirrhose, gewaltsamer Tod) Ca. 50% aller Verkehrsunfälle mit Personenschaden ereignen sich unter Alkoholeinwirkung der Fahrer Ca. 40% aller Häftlinge sitzen wegen Straftaten im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen Schätzzahlender Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen: Riskanter Konsum: 10,4 Mio. Personen Missbrauch: 1,7 Mio. Personen Abhängigkeit: 1,7 Mio. Personen Aktuelle Analysen zu alkoholbezogenen Gesundheitsstörungen und Todesfällen gehen von jährlich 73.714 Todesfällen durch Alkoholkonsum allein oder durch den Konsum von Tabak und Alkohol bedingt (74 %) aus. Der Anteil an alkoholbedingten Todesfällen an allen Todesfällen im Alter zwischen 35 und 65 Jahren beträgt bei Männern 25% und bei Frauen 13%. 51 Aus Kruse, 2001 Ätiologie • genetische Disposition (chromosomal) • soziale Vererbung (Lernen am Modell der Eltern) • Störung der (frühen) Entwicklung (Psychoanalyse) • soziale Bedingungen im Erwachsenenalter • soziale Wertung (soziokulturell) ⇒⇒ multikonditionell, -faktoriell Wirkungen des Alkohols (Ethanol C2-H5-OH) beim Menschen • • • • • • Wachheit (zunächst Aktivitätssteigerung, dann Sedierung, Einschlafen) Sinnesorgane (Farbwahrnehmung, räumliches Sehen, Hörvermögen, Schmerzempfindlichkeit, Geruchssinn werden reduziert) Stimmung (anxiolytisch (angstlösend), euphorisierend, extraversiv; Dysphorie, Depression, Aggressivität, Enthemmung) Intellekt (grundsätzlich: Leistungsabnahme bei falscher Selbsteinschätzung) Gedächtnis (neg. Beeinträchtigung vor allem des Kurzzeitgedächtnis -“black out“) zahlreiche Wirkungen auf andere Organsysteme (Herz, Atmung, Drüsen, Harnausscheidung, Stoffwechsel, Verdauungssystem, Embryo) 52 11.2.1. DIAGNOSEKRITERIEN ICD-10 FÜR DAS VORLIEGEN EINER ALKOHOLABHÄNGIGKEIT NACH WENN IRGENDWANN INNERHALB DER 12 MONATE DREI ODER MEHR DER GENANNTEN KRITERIEN VORGELEGEN HABEN 1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren. 2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums. 3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch die substanzspezifischen Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden. 4. Nachweise einer Toleranz; um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichten Wirkungen der psychotropen Substanz hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich (eindeutige Beweise hierfür sind die Tagesdosen von Alkoholikern, die bei Konsumenten ohne Toleranzentwicklung zu einer schweren Beeinträchtigung oder gar zum Tode führen würden). 5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen. 6. Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen, wie z. B. Leberschädigung durch exzessives Trinken, depressive Verstimmungen infolge starken Substanzkonsums (oder drogenbedingte Verschlechterung kognitiver Funktionen); es sollte dabei festgestellt werden, dass der Konsument sich tatsächlich über Art und Ausmaß der schädlichen Folgen im klaren war oder dass zumindest davon auszugehen ist. SCHÄDLICHER GEBRAUCH Konsum psychotroper Substanzen, der zu Gesundheitsschädigung führt. Diese kann als körperliche Störung auftreten, etwa in Form einer Hepatitis nach Selbstinjektion der Substanz oder als psychische Störung z.B. als depressive Episode durch massiven Alkoholkonsum. 11.2.2. ABHÄNGIGKEITSTYPEN UND -VERLAUF NACH JELLINEK Alpha-Typ „Konflikttrinker“; kein Kontrollverlust, aber undiszipliniertes Trinken; psychische Abhängigkeit (Anfälligkeit) Beta-Typ „Gelegenheitstrinker“; kein Kontrollverlust; soziokulturelle Abhängigkeit Gamma-Typ „Süchtiger Trinker, Rauschtrinker“; Kontrollverlust mit (meist) Fähigkeit zur Abstinenz; psychische (und später) physische Abhängigkeit 53 Delta-Typ „Spiegeltrinker“; kein Kontrollverlust, aber Unfähigkeit zur Abstinenz; physische Abhängigkeit Epsilon-Typ „Quartalssäufer“; phasenweise massiver Konsum (Kontrollverlust), dann wieder Abstinenz Voralkoholische Phase (Monate bis 2 Jahre) Alkohol hat erleichternde Wirkung, er wird immer häufiger zur Angst- und Frustrationsabwehr eingesetzt Prodromale Phase (6 Monate bis 5 Jahre) Black-outs („Filmrisse“); heimliches Trinken; steigende „logistische Fähigkeit“, Alkohol zu besorgen; noch kein Kontrollverlust; keine soziale Ausgrenzung Kritische Phase Kontrollverlust schon nach geringen getrunkenen Mengen; Trinkexzesse mit sozialen Problemen; körperliche Entzugssymptome Chronische Phase morgendliches Trinken; tagelange Räusche; Entzugssyndrome (evtl. mit Delir); körperlicher Verfall mit Alkoholintoleranz; 11.2.3. ALKOHOLBEDINGTE FOLGESCHÄDEN Relevanz Studien gehen – je nach methodischem Vorgehen – von einer Rate der Komorbidität von 20-98% aus. Unterschieden werden können primäre von sekundären psychischen sowie organisch bedingte von reaktiven (psychogenen) Erkrankungen. Bei den reaktiven und neurotischen Störungen stellt sich im Prinzip die Frage, ob sie Ursache oder Folge der Alkoholabhängigkeit sind. 11.2.3.1. IM ENGEREN SINNE PSYCHIATRISCHE STÖRUNGEN Depressionen Die Komorbiditätsraten schwanken zwischen 10 und 100%. Man kann davon ausgehen, daß 40% der in Kliniken aufgenommenen alkoholabhängigen Patienten ein depressives Syndrom haben. Bei etwa 40% folgt die Depression zeitlich der Abhängigkeit, bei 40% ist es umgekehrt. Angststörungen werden bei einem hohen Anteil der Patienten als vor der manifesten Abhängigkeit bestehende Störung diagnostiziert. Andere psychische Störungen Odds Ratio 21 7 6 4 2 2 2 Persönlichkeitsstörungen Drogenmissbrauch Manie Schizophrenie Panikstörung Dysthymie Major Depression Suizidalität 54 Bei 25% aller Suizide spielt Alkohol eine ursächliche Rolle. Man nimmt an, dass ein durch Alkohol verminderter Serotoninspiegel im Gehirn zu Impulskontrollschwäche führt und damit zu erhöhter Suizidrate und erhöhter Ernsthaftigkeit der Suizidversuche führt. Die Suizidgefahr ist bei allen Patienten mit Substanzmittelabhängigkeit erhöht. Kommt eine zusätzliche depressive Störung hinzu, steigt das Risiko zusätzlich. FEUERLEIN differenziert drei Wege zum Suizid bei Alkoholkranken: • Suizidhandlung bei unvorhersehbaren autoaggressiven Durchbrüchen • Suizidhandlung im Zusammenhang von Entzugssymptomen („Katzenkammer“) • „Bilanzsuizid“ angesichts der seelischen, körperlichen und sozialen Folgen der Abhängigkeit Intoxikation Unterscheidung des Rausches in leicht, mittel und schwer in Abhängigkeit der Symptome. Die Schwere des Rausches hängt von der zugeführten Alkoholmenge und der individuellen Stoffwechsellage (Körpergewicht, Toleranz) ab. Symptome • Gehobene Stimmung, Enthemmung • Steigerung von Antrieb und Motorik • Dysphorie, Gereiztheit, Dysarthrie; • St. der Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Urteilskraft und Koordination • Störungen der Wachheit und der Orientierung Amnesie (Blackout) Gehören zu den häufigsten psychischen Störungen bei Alkoholabhängigen, wahrscheinlich durch rasch ansteigende Blutalkoholkonzentration. Auch bei Gesunden im Rausch möglich. Anterograde Störungen der Mnestik bzw. amnestische Lücken (Blackout), i.d.R. irreversibel Alkoholhalluzinose Seltene Störung, kann dem Delirium tremens ähneln, häufiger bei früh beginnender Abhängigkeit mit hoher Trinkmenge Symptome • Angst, Unruhe, Antriebssteigerung • vorwiegend akustische Halluzinationen • keine vegetativen Symptome, keine Orientierungsstörungen Alkoholischer Eifersuchtswahn Seltene Störung, fast ausschließlich Männer betroffen, nicht selten resultieren Straftaten Symptome • Unkorrigierbare (wahnhafte) Vorstellung der Untreue der Partnerin • Beginn meist schleichend-fortschreitend • Teilweise bizarre Vorstellungen (und Nachstellungen) Verlauf • Chronisch-progredient Therapie und Verlauf • Ohne Abstinenz kaum Heilungsaussicht (Psychopharmakologie und Psychotherapie ohne Abstinenz kaum erfolgreich) • Bei Abstinenz Remission nach Monaten bis Jahren möglich Alkoholentzugssyndrom 55 Individuell höchst verschieden häufig und ausgestaltet Stunden bis wenige Tage nach Ende des letzten Alkoholkonsums. Symptome • Übelkeit, Brechreiz, Durchfall • Tachykardie (beschleunigter Puls), arterielle Hypertonie • Hyperhidrosis (vermehrtes Schwitzen), Schlafstörungen; feuchte, kühle Hände und Füße • Grand Mal (großer epileptischer Anfall), Tremor, Dysarthrie, Ataxie, innere Unruhe, Antriebssteigerung, Angst, Dysphorie, Depression, Halluzination (meist optisch), Schreckhaftigkeit, Dauer • 3-7 Tage medikamentöse Behandlung bei ca. 1/3 der Patienten nötig (Clomethiazol =Distraneurin®, Carbamazepin, Benzodiazepine, Clonidin, evtl. Neuroleptika) Delirium tremens Entwickelt sich 12-24 Stunden nach dem letzten Alkoholkonsum, ausgelöst häufig durch eine somatische Erkrankung, OP etc. Seltener kommt es zum Kontinuitätsdelir (das heißt: ohne Alkoholentzug). Ca. 15% der Alkoholabhängigen bekommen im Verlauf ein Delirium tremens. Zu den Symptomen des Entzugssyndroms kommen hinzu: • 50% Beginn mit einem Grand Mal • Orientierungsstörung (meist zeitlich, örtlich und situativ, seltener auch autopsychisch) • Bewusstseinsminderung (nicht obligat) • Optische Halluzinationen (Insekten, kleine Tiere) • Illusionäre Verkennungen • Ausgeprägte Suggestibilität • Ausgeprägter Tremor der Hände • Mimisches Beben • Schwere Kreislaufdysregulation Therapie Intensivmedizinisch (Clomethiazol..., internistisch) Verlauf und Prognose Dauer: 3-10 Tage Bei spezifischer Behandlung meist vollständige Ausheilung (behandelt: 1% letale Ausgänge, unbehandelt: bis 30%) 11.2.3.2. STRUKTURELLE UND FUNKTIONELLE VERÄNDERUNGEN DES NERVENSYS- TEMS Vorbemerkung Auf verschiedenen Ebenen lassen sich im Verlauf von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit strukturelle Veränderungen feststellen. Auf der Ebene des Gehirns kommt es bei bis zu 50% der Patienten zu einer Atrophie der Marklager und des Großhirns. Diese Volumen- und Neuronenreduktion korreliert mit dem Ausmaß der kognitiven Leistungsminderung. Partielle sind diese Veränderungen unter Abstinenz reversibel. Es lassen sich keine spezifischen Muster der kognitiven Einbußen feststellen („mild generalized dysfunction hypothesis“), das heißt, dass die Einbußen nicht sicher auf die Ursache rückschließen lassen. Demenzen 56 Insgesamt eindeutig erhöhtes Risiko, eine Demenz zu entwickeln. Diese kann primär alkoholtoxisch, infolge einer WERNICKE-KORSAKOW-Enzephalopathie oder durch eine Multiinfarktdemenz bedingt sein. Alkoholtoxische Hirnatrophie Volumen- und Substanzverlust des Gehirns infolge chronischen Alkoholabusus‘. Ursachen: Toxische Wirkung des Alkohols auf Nervengewebe, Mangelernährung Symptome: Von leichten kognitiven Defiziten (ggf. zunächst nur unter Anforderung) bis zur ausgeprägten Demenz. Hepatische Enzephalopathie Durch vermehrten Anfall von NH3 (Ammoniak) im Gehirn entstehende Hirnfunktionsstörung. Bei Leberzirrhose (gleich welcher Ursache) mit deutlicher Funktionsminderung. Symptome • Depressive Verstimmung, Affektlabilität • Schlafumkehr mit nächtlicher Verwirrung • Aus der motorischen Unruhe entwickelt sich eine zunehmende Apathie • Delirantes Syndrom mit visuellen Halluzinationen • Schwere Ataxie mit flapping Tremor (feinschlägiges Zittern der Hände) • Vigilanzminderung bis Koma Therapie und Verlauf • Intensivmedizinische Behandlung • Proteinrestriktion • Mortalität bei Leberzerfallskoma: 80% • Lebertransplantation KORSAKOW-Syndrom (Amnestisches Syndrom) Durch Vitaminmangel meist infolge Alkoholabusus‘ entstehende akute oder chronische hirnorganische Veränderung mit charakteristischen Symptomen. Ursachen • Durch die neurotoxische Potenz des Alkohols und seiner Abbauprodukte kommt es zur Zerstörung neuronaler Strukturen. Offenbar handelt es sich um einen Summationseffekt (durch Thiamin-Mangel und Alkohol bedingte Läsionen im Kortex und Zwischenhirn). • Seltener kommt es durch andere (primäre oder sekundäre) Hirnerkrankungen zu einem ähnlichen chronischen Syndrom. Häufigkeit • Das KORSAKOW-Syndrom soll etwa 3% aller alkoholbezogenen psychischen Störungen ausmachen. Frauen sind häufiger betroffen. Symptome • Akut beginnend mit Delir (s.o.) oder chronisch-progredient • Häufig in der Folge einer Wernicke-Enzephalopathie • Anterograde Amnesie (massive Merkfähigkeitsstörung) • Retrograde Amnesie • Mit Konfabulationen (Leitsymptom) • Perseverationen • Kritikschwäche • Evtl. Störungen der Orientierung (zeitlich, örtlich, situativ, autopsychisch) • Evtl. Antriebsstörungen (Apathie) • Häufig weitere Symptome organischer Störungen durch Alkohol (Kleinhirnatrophie mit Ataxie, Polyneuropathie) 57 Verlauf • Mehr oder weniger akut bis chronisch, häufig im Anschluß oder mit einer Wernicke-Enzephalopathie. • Vollständige Remission ist möglich, alle Übergänge zum chronischen Verlauf oder Ausmündung in eine Demenz. Therapie • Spezifisch: bei Verursachung durch Alkohol: Thiamingabe • Allgemein: Gedächtnistraining, Orientierungshilfen, Neuropsychologie, Ergotherapie WERNICKE-Enzephalopathie Schwere und bedrohliche Erkrankung. Häufiger als früher angenommen (3-12% aller Alkoholabhängigen), Frauen sind häufiger betroffen. Ursachen • Thiaminmangel (Vitamin B1) durch Mangelernährung und Resorptionsstörung. • Thiaminmangel bedingt neuronale und vaskuläre Schäden (Blutungen im Gehirn, Atrophien) Symptome • Bewusstseinstrübung (Somnolenz bis Koma) • Ataxie • Augenmuskellähmungen • Nystagmus • Verwirrtheit • (arterielle Hypotonie und Hypothermie) Therapie • Bei Verdacht: sofortige Krankenhauseinweisung • Thiamingabe (i.v. und i.m.) Verlauf und Prognose • Entwicklung der Störung innerhalb weniger Tage, häufig gehen Magen-Darm-Störungen und Fieber voraus. Seltener nach einem Delirium tremens. • Unter der spezifischen Therapie bilden sich die neurologischen Symptome schnell zurück. • Die Verwirrtheit kann Wochen bis Monate anhalten. Übergang zum KORSAKOW-Syndrom häufig. Der Übergang in eine Demenz ist möglich. • Man geht heute davon aus, dass das KORSAKOW-Syndrom die chronische Form der WERNICKEEnzephalopathie ist. → Beachte: Bei bekannten Alkoholkranken, die plötzlich eine Ataxie, Verwirrtheit, Vigilanzminderung und Augenmuskellähmungen beobachtet werden, wegen der Möglichkeit des Vorliegens einer solchen lebensbedrohlichen Erkrankung einen versierten Arzt hinzuziehen oder direkt eine Krankenhauseinweisung veranlassen. Sensible und motorische Polyneuropathie (PNP) Durch Mangelernährung und die toxische Wirkung des Alkohols kommt es zu einer Schädigung der peripheren Nerven. Häufigkeit • 20-40% der Patienten betroffen Symptome • Zunächst symmetrische sensible PNP (Schmerzen ⇒ burning feet, Parästhesien, Hypalgesie) • Durchblutungsstörungen • Später auch motorische: Gangunsicherheit, Unterschenkelparesen • Potenzstörungen Verlauf 58 • • • Zunahme der Symptomatik bei weiterem Missbrauch Medikamentöse und krankengymnastische Behandlung Folgeschäden: Infektionen, schlecht heilende Ulzera (Geschwüre), fortschreitende Lähmungen Kleinhirnatrophie Häufigkeit Bei 30-50% der Patienten kommt es zu Atrophien im Kleinhirn mit der Folge von Störungen der Koordination. Symptome • Tremor • Dysarthrie • Ataxie Therapie und Verlauf • Nur unter Abstinenz (teilweise) Rückbildung möglich, sonst schwerwiegende neurologische Dauerschäden Hirninfarkt und Hirnblutung Das Risiko für Alkoholabhängige ist um den Faktor 3 erhöht. Weitere körperliche Folgewirkungen • • • • • • • • • • • • • • • • Gastritis Malnutrition (Mangelernährung) Leberschaden (Hepatitis, Leberzirrhose) Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung, chronisch oder akut) Polyneuropathie Ösophagusvarizen („Krampfadern“ der Speiseröhre mit Blutungsgefahr) Herzerkrankung (Kardiomyopathie mit Verminderung der Leistung) arterieller Bluthochdruck Myopathie (Muskelerkrankung mit Schwäche und Krämpfen) Osteoporose („Knochenschwund“) Karzinome des oberen Verdauungstraktes Blutbildungsstörungen Sehverschlechterungen (Nachtblindheit durch Vitamin-A-Mangel) Hormonstörungen (Verminderung von Libido/Potenz) Kleinhirnatrophie (Koordinationsstörungen, z.B. Ataxie) ...und psychosozial - soziale Isolierung/Ausgrenzung - Interessenverlust - Arbeits-/Erwerbslosigkeit - Wohnungslosigkeit - Suizidalität - Kriminalität 11.2.4. THERAPEUTISCHE ANGEBOTE schematisch Kontaktphase→Entgiftungsphase→Entwöhnungsphase→Nachsorgephase 59 Kontaktphase • • • • Niedergelassener Arzt u/o Beratungsstelle u/o Poliklinik u/o Selbsthilfegruppe u/o Gesundheitsamt Diagnosestellung/ Klärung der psychosozialen Situation Erarbeitung der Krankheitseinsicht und Therapiemotivation Behandlungsversuche (vorläufige Abstinenz) Entgiftungsphase • • • • Niedergelassener Arzt, Poliklinik, Allgemeinkrankenhaus, psychiatrische Klinik, Suchtfachklinik, JVA nur bei schweren Entzugserscheinungen stationär 2-4 Wochen meist ohne medikamentöse Unterstützung möglich Entwöhnungsphase • • • • • ambulant oder stationär oder teilstationär 6 Wochen bis 6 Monate Vorteil/Nachteil ambulant: kein Abbruch der psychosozialen Bezüge Vorteil/Nachteil stationär: „totale therapeutische Atmosphäre“ vielfältiges therapeutisches Angebot, insbesondere Gruppenpsychotherapie und körperbezogene Therapie Nachsorgephase • • • • • ambulant, bei schweren Verläufen Übergangsheim o.ä. Jahre bis Jahrzehnte Selbsthilfegruppen spielen für die langfristige Abstinenz eine wesentliche Rolle evtl. Psychotherapie psychosoziale Stabilisierung Behandlungsergebnisse 30-40% der in Suchtfachkliniken behandelten Patienten bleiben über 4 Jahre abstinent (abgesehen von kurzen Rückfällen). Eine kleine Gruppe von Patienten (3-6%) beherrscht das „kontrollierte Trinken“, in aller Regel ist absolute Abstinenz aber das therapeutische Ziel. 11.3. MEDIKAMENTENABHÄNGIGKEIT „die rezeptierte, stille, weiße, vornehme Sucht“ Allgemeine Bemerkungen • • • • • • hohe Dunkelziffer mindestens 2% der Bevölkerung betroffen, Trend: Zunahme Frauen doppelt bis dreimal so häufig betroffen zunehmende Abhängigkeit mit dem Alter meist von Ärzten rezeptierte Medikamente (!) „stabile Abhängigkeit“ fällt lange auf (diagnostische Probleme) Abhängigkeitsformen 60 • • • • • Schmerzmittelabhängigkeit (mit/ohne Opiatanteil) Benzodiazepin- (Tranquilizer) LaxantienAppetithemmer-, PsychostimulantienOpiat-, Opioid- 11.4. „ILLEGALE“ DROGEN (Stichworte) • • • • • ob eine Droge illegal ist, wird nach kulturellen und gesellschaftspolitischen Kriterien entschieden und festgelegt Regelung in Deutschland über das Betäubungsmittelgesetz (BtmG) die Haltung gegenüber den Abhängigen wird nicht allein durch (sozial-) medizinische Erkenntnisse bestimmt („Therapie vor Strafe“), sondern von Klischees und Stigmatisierungen mitbestimmt das Thema illegale Drogen (-abhängige) ist häufig ein Politikum die Drogenhilfe muss sich in erheblichem Maße mit der Kriminalisierung ihrer Klienten beschäftigen Substanzklassen und Wirkungen • • • • • Cannabinoide (Haschisch u. Marihuana aus der Hanfpflanze) o psychische Abhängigkeit Halluzinogene (LSD, Meskalin, Psilocybin, Designerdrogen: DMT, DOM) o psychische Abhängigkeit, diverse psychische und physische Komplikationen Koka/Kokain o (starke bis stärkste) psychische Abhängigkeit, Suizidneigung, Psychoseauslösung, gefährliche Intoxikationen Opiate (Heroin, Crack...) o physische und psychische Abhängigkeit, psychosoziale Isolierung Extacy und andere synthetische Stoffe o psychische Abhängigkeit, akute und chronische körperliche Folgen 12. PSYCHIATRISCHE HILFSANGEBOTE 12.1. KURZER EXKURS IN DIE GEMEINDEPSYCHIATRIE Im Zusammenhang mit und in Folge der Psychiatriereform sind die Hilfsangebote in weiten Teilen Deutschlands mehr oder weniger gemeindenah und mehr oder weniger sozialpsychiatrisch ausgerichtet und angeordnet. Entlang der vier Kernforderungen der Psychiatrieenquête von 1975: • gemeindenahe Versorgung, • bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten, 61 • • Koordination aller Versorgungsdienste, Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken. Oder mit HÄFNER: „In Gestalt von Prioritäten dargestellt, lauten sie: • Auf- und Ausbau eines bedarfsgerechten, gemeindenahen Versorgungssystems mit ambulanten und komplementären Diensten, • Koordination und Zusammenarbeit innerhalb der Versorgungssysteme und Standardversorgungsgebiete, • Aus- und Aufbau ambulanter Dienste und psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, • Förderung der Aus-, Weiter- und Fortbildung, • vorrangige Verbesserung der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher und Alkoholund Suchtkranker, • Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker in rechtlicher, finanzieller und sozialer Hinsicht." (HÄFNER in: Aktion Psychisch Kranke, Band 27, S. 96) Knapp und prägnant ist die Ortsbestimmung der heutigen Gemeindepsychiatrie von Reinhard PEUKERT (Vergleiche: http://www.ibrp-online.de/gemeinde.htm ): • • • • • • • • GEMEINDEPSYCHIATRIE IST: DIE PSYCHIATRIE, DIE IN DIE GEMEINDE GEHT. DIE PSYCHIATRIE, DIE IHREN BLICK UND IHRE HILFEN FÜR DIE CHRONISCH UND "SCHWERER" ERKRANKTEN SCHÄRFT. DIE PSYCHIATRIE, DIE IHRE HILFEN ZU DEN MENSCHEN BRINGT, UND NICHT DIE MENSCHEN ZU ZENTRALEN HILFEINSTITUTIONEN. DIE PSYCHIATRIE, DIE DIE MENSCHEN DAZU BEFÄHIGEN WILL, TROTZ UND GGF. MIT IHRER KRANKHEIT IN IHREM ANGESTAMMTEN LEBENSUMFELD LEBEN ZU KÖNNEN. DIE PSYCHIATRIE, DIE MIT DEM SOZIALEN UMFELD (FAMILIEN, NACHBARSCHAFT) DAS UMFELD SO GESTALTEN WILL, DASS AUCH SCHWERER UND CHRONISCH PSYCHISCH KRANKE MENSCHEN DORT LEBEN KÖNNEN. DIE PSYCHIATRIE, WELCHE DIE ANDERSARTIGKEIT, DIE LEIDEN, KRANKHEIT UND BEHANDLUNG, MANCHMAL AUCH ANGST MACHENDES VERHALTEN IN DIE GEMEINDE (ZURÜCK) BRINGT. DIE PSYCHIATRIE, DIE AUCH WEHTUN KANN. IN DER GEMEINDE KANN "DAS GEFÜHL DES ALLEINSEINS UNTER TAUSEND MENSCHEN, DAS GEFÜHL UND DIE ERFAHRUNG DES AUSGESCHLOSSENWERDENS, DES ANGEFEINDETWERDENS." ENTSTEHEN. (SCHÄDLE 1986, S. 222) DIE PSYCHIATRIE, DIE UNTER DEN AUGEN DER ÖFFENTLICHKEIT STATTFINDET. "DIE PSYCHIATRIE MUSS ALSO IN DIE GEMEINDE GEHEN, IN DIE STRAßEN UND HÄUSER, WENN SIE DEN MENSCHEN DA HELFEN WILL, WO ES NOT TUT. ... (UND) NUR WENN DIE PSYCHIATRIE DIE SIE BERGENDEN UND SCHÜTZENDEN MAUERN VERLÄSST, WIRD SIE AUCH DAS ODIUM DES GEHEIMNISUMWITTERTEN VERLIEREN. (SCHÄDLE 1986, S. 221) 62 Durch Landesbestimmungen, kommunale und regionale Besonderheiten unterscheiden sich die Angebote im Einzelnen aber erheblich hinsichtlich ihrer Anordnung, Organisation und Ausstattung. So sind eine Vielzahl unterschiedlicher Einrichtungen und Versorgungsstrukturen entstanden, die eine breite Palette darstellen. Die Finanzierungen der Hilfen sind stark zersplittert zwischen verschiedenen Kostenträgern und kommunalen Besonderheiten. Deshalb werden im Folgenden Beispiele genannt, die nicht überall in Deutschland dieser Form vorhanden sein müssen. Neuerdings werden in vielen Regionen die über die Sozialämter finanzierten Hilfen der Wiedereingliederung (SGB XII § 53ff.) durch ein formalisiertes Verfahren möglichst individuelle und bedarfsgerecht zusammengestellt und finanziert (IBRP, individuelle Behandlungs- und Rehabilitationsplanung). Demnach werden die Hilfen dann pauschal, etwa über Bedarfgruppen o.ä. genehmigt. Darüber hinaus wird das trägerübergreifende persönliche Budget (§57 SGB XII) erprobt bzw. eingeführt. 12.2. AMBULANTE UND KOMPLEMENTÄRE GEMEINDEPSYCHIATRISCHE HILFEN Anmerkung: Das Attribut komplementär wurde in diesem Zusammenhang für jene Angebote benutzt, die eine stationär-psychiatrische Behandlung ersetzen können, geprägt. Im engen Sinne sind dies die betreuten Wohnformen, gelegentlich werden aber auch die tagesstrukturierenden Maßnahmen so bezeichnet. Sozialpsychiatrische Dienste • Angeordnet am Gesundheitsamt (in Berlin) oder durch freie Träger organisiert (in anderen Bundesländern) • Anlaufstelle für Betroffene, Angehörige, Nachbarn, andere Institutionen • Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen, Verwaltungsangestellte, Pflegekräfte arbeiten im Team • Beratung, Vermittlung, Behandlung, Koordination, Konzeption, Begutachtung, Hoheitsfunktion (Einweisung/Unterbringung) ... „Case Management“ • Sprechstunde, Hausbesuche, Gruppenangebote, Behandlung; Beratung von Mitarbeitern in psychiatrischen Einrichtungen; Konzeption neuer Angebote in der Region; Qualitätskontrolle; Begutachtungen für Gerichte und Kostenträger Wohnen • Übergangswohnheim als Einrichtung zwischen vollstationärer Behandlung und ambulanter Weiterbegleitung • Wohnheime/Pflegeheime: psychiatrisch ausgerichtet und den Bedürfnissen schwer erkrankter Menschen angepasst oder nicht spezialisiert (Seniorenwohnheime, Pflegeheime, Stichwort „Fehlplazierung“) • Betreutes Einzelwohnen oder therapeutische WG: Betreuung/Begleitung durch Sozialarbeiterinnen, Krankenpflegekräfte, Psychologen, Pädagogen, „Naturtalente“ mit dem Ziel der Wiedereingliederung und Stärkung der Selbständigkeit oder der dauerhaften Unterstützung; Betreuungsdichte mit Personalschlüsseln von 1:1 bis >1:20 • Obdachloseneinrichtungen (meist ohne spezielles Angebot für psychisch Kranke) → Die Finanzierung ist unterschiedlich, das betreute Wohnen hauptsächlich über SGB XII (Wiedereingliederung, § 53ff.), die Heimversorgung über SGB XII (Wiedereingliederung und/oder Hilfen zur Pflege, §61ff.) und/oder SGB XI Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen • anonym und unverbindlich (niederschwellig) • verbindliche (therapeutische) Beziehungen werden angeboten • Aktivitäten (einzeln, in Gruppen) 63 • individuelle Hilfsangebote in allen Lebens- und Krankheitsfragen, Hilfen bei Behördenangelegenheiten usw. • Vermittlung weiterer Angebote/Hilfen • Freizeitgestaltung • „Herzstück der komplementären Versorgung“ → zuwendungsfinanziert (jährlich pauschale Summe über den Sozialhilfeträger) Tagesstätten • Hilfen zur Tagesstrukturierung und zur Krankheitsbewältigung: Beschäftigung, (Wieder-) Erlernen von Alltagskompetenz (Kochen usw.), Ausflüge, Gruppenarbeit (Kontakt/Kommunikaton), Einzelgespräche • Verbindlichkeit des Besuchs (für den einzelnen Besucher wird die Finanzierung für eine bestimmte Zeit beantragt und genehmigt) → tagessatzfinanziert über SGB XII, § 53ff. • Vielerorts wurden inzwischen Tageszentren aufgebaut, die die Funktionen der Tagesstätten, der Kontakt- und Beratungsstellen und des Zuverdienstes miteinander verknüpfen. • Speziell für Demenzerkrankte: gerontopsychiatrische Tagesstätten, die auch Pflegeleistungen und einen Hol- und Bringdienst anbieten... Arbeit und Zuverdienst • Gerade in den vergangenen Jahren wurden verstärkt Angebote für Beschäftigung, Arbeit und berufliche Reintegration für psychisch kranke Menschen entwickelt. • Werkstatt für behinderte Menschen (diese sind regional sehr unterschiedlich auf die Belange psychisch kranker Menschen eingestellt) • Zuverdienstprojekte (handwerklich, Gastronomie, Dienstleistung, industrielle Fertigung...) • Selbsthilfefirmen • Ausbildungsangebote • beschützte Arbeitsplätze • Rehabilitation psychisch Kranker und Behinderter (RPK) umfasst medizinische und berufliche Reha und wird von den Rentenversicherungsträgern und den gesetzlichen Krankenkassen finanziert (alternativ von den überörtlichen Sozialhilfeträgern) Krisendienste/Psychiatrische Notdienste • Das Angebot und die Organisation spezieller Not- und Krisendienste sind regional ausgesprochen unterschiedlich. In Berlin gibt es ein herausragendes • multiprofessionell • vernetzt mit anderen gemeindepsychiatrischen Einrichtungen • Beratung (auch anonym) • Vermittlung spezifischer Hilfen • Psycho- und soziotherapeutische Intervention, ggf. einige Folgegespräche • ärztlich-psychiatrischer Hintergrunddienst • evtl. Kurzzeittherapie Ambulante (ärztliche) Therapie • niedergelassene NervenärztInnen, PsychiaterInnen, PsychotherapeutInnen 64 • sozialpsychiatrische Schwerpunktpraxis (multiprofessionell) • Institutsambulanz der psychiatrischen Klinik/Abteilung Sozialstationen/ambulante Krankenpflege • spezielle psychiatrische Krankenpflege • somatische Krankenpflege Selbst- und Laienhilfe • Selbsthilfegruppen • Angehörigengruppen • Laienhilfe/Bürgerhilfe • Psychoseseminare 12.3. STATIONÄRE HILFEN (PSYCHIATRISCHE KRANKENHÄUSER/ABTEILUNGEN) Die stationäre psychiatrische Versorgung für Erwachsene ist regional sehr unterschiedlich aufgebaut. Entsprechend der Ideen der Psychiatriereform sollten die Einheiten kleine, am besten Teile (Abteilungen) von regionalen Krankenhäusern und (damit) gemeindenah sein. Innere Spezialisierungen sind aufgrund fachlicher Vorstellungen einer differenten Behandlung unterschiedlicher Krankheitsbilder teilweise erhalten oder neu eingeführt worden, ihre Möglichkeiten und Grenzen hängen aber schließlich auch von der Gesamtgröße der Abteilung bzw. des Krankenhauses ab. Allgemeinpsychiatrie Organisationsstruktur • entweder gemeindenah in einer kleinen Abteilung an einem Allgemeinkrankenhaus oder in einer Fachklinik (z.B. Landeskrankenhaus) „gemeindefern“ (hier evtl. mit innerer Sektorisierung nach Wohnbezirken) • entweder mit interner Spezialisierung (Aufnahme-, Psychotherapie-, Rehabilitations-, Gerontopsychiatrie-, Sucht- usw. -station) oder als „Stationsgemeinschaft“ Akutpsychiatrie • Aufnahme von akut psychisch erkrankten Patienten (akute Psychose, akute Suizidalität, akute Intoxikation, Erregungszustand ...) • Modus: freiwillig oder nach PsychKG/Betreuungsrecht Eine Patientin: „Wenn man`s nicht schon ist, muss man hier ja verrückt werden!“ Ein Pfleger: „Wenn man hier länger arbeitet, wird man selbst verrückt oder stumpft total ab!“ Ein Angehöriger: „Hier kann niemand gesund werden!“ Die Forderungen von Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen und Profis für optimale Aufnahmebedingungen sind einfach und nachvollziehbar • überschaubare Größe • Ein- u. Zweibettzimmer • angenehme, warme Ausstattung • Raum zum Zurückziehen • ausreichende Sanitäranlagen 65 • • • • • • Beschäftigungsangebote auf der Station Möglichkeit, private Telefonate zu führen Ausgang (wenn nötig in Begleitung) Behandlung so kurz wie möglich Gefahrenabwehr am Patienten orientiert ... Modelle • Spezialisierung nach den Erkrankungen/Symptomen (Depressionen, Schizophrenien, Suchterkrankungen, Suizidalität, geistige Behinderung...) in verschiedenen Einheiten • Soteria („to be with“, weiches Zimmer...) • kleine Stationsgemeinschaft ohne Spezialisierung und ohne geschlossene Tür („Herner Modell“) Stationäre Psychotherapie • nach der Diagnose • nach der angewendeten Psychotherapierichtung Stationäre Rehabilitation • mittel- und langfristige Behandlung (kann man jahrelang stationär rehabilitieren ?!) • • • • Ergotherapie Arbeitstherapie berufliche Rehabilitation „Enthospitalisierung“, „Deinstitutionalisierung“ langfristig stationär behandelter Patienten Stationäre Suchtbehandlung • • • • Entgiftung Entwöhnung „warme Mahlzeit und ein Bett“ Rehabilitation chronisch-mehrfachgeschädigter Suchtpatienten Gerontopsychiatrie • • • • • • Spezialisierung oder Integration in Allgemeinpsychiatrie (s.o.) Fehlplazierung (Seniorenheime, Allgemeinkrankenhäuser) Problem der Multimorbidität (gleichzeitiges bestehen mehrerer Erkrankungen bei einer Person Behandlungsfall vs. Pflegefall Rehabilitation Ökonomie (!), volkswirtschaftlich „unökonomisch“ Modell: Gerontopsychiatrisches Verbundsystem verbindet stationäre, teilstationäre und ambulantkomplementäre Hilfen (Altenberatung, ambulanter [auch aufsuchender] Dienst, häusliche Krankenpflege, Tagesstätte, Tagesklinik, Station, Angehörigenhilfe) Forensische Psychiatrie • psychisch kranke Straftäter, die für ihre Straftat vom Gericht als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig angesehen werden (§§ 20 u. 21 StGB) • „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ (§§ 62-65 StGB) - Maßregelvollzug, d.h. Unterbringung in einer geschlossenen allgemeinpsychiatrischen oder forensischen Klinik (es erfolgt eine jährliche gerichtliche Überprüfung) • gesellschaftlicher Kontext • Konflikte in der Umgebung forensischer Kliniken („Freigänger“) • Zeitgeist (Strafe geht vor Behandlung?) • Problem suchtkranker Straftäter (Gewaltdelikte, Beschaffungskriminalität) • Problem der Nachsorge Kinder- und Jugendpsychiatrie 66 • Stationäre und teilstationäre Behandlung psychischer Erkrankungen des Kindes und des Jugendlichen • Verhaltensauffälligkeiten (dissoziales, delinquentes...) • vielfach führt das Scheitern im sozialen Umfeld (Familie, Schule, Jugendhilfe) zu der „Notwendigkeit“ einer Einweisung • zunehmend: Gewaltdelikte, Drogenmissbrauch • KiJuPsy steht besonders im Spannungsfeld gesellschaftlicher Bedingungen (...) Teilstationäre Behandlung (in allen genannten Bereichen) • Tagesklinik (Behandlung, Rehabilitation): tags in der Klinik, nachts zu hause • Nachtklinik: tags zu hause (Arbeit?), nachts in der Klinik 13. THERAPIE PSYCHISCHER STÖRUNGEN Vorbemerkung Im Folgenden werden die verschiedenen Therapieansätze getrennt dargestellt, eine erfolgreiche Therapie muss aber immer mehrdimensional sein. Sozialpsychiatrische Behandlung sollte also immer vor dem Hintergrund des multifaktoriellen Entstehungsgefüges psychischer Störungen mehrdimensional und multiprofessionell sein. Zu einer (multi-) professionellen sozialpsychiatrischen Behandlung gehört immer ein Therapieplan, der individuell der Erkrankung, den Fähigkeiten und Einbußen des jeweiligen Patienten angepasst ist und der mutig und selbstkritisch mit dem Betroffenen überprüft und ggf. verändert werden muss. Jede Behandlung darf nur mit Einwilligung des Patienten nach vorheriger Aufklärung erfolgen, Ausnahmen sind über die einschlägigen Gesetze möglich! 13.1. SOMATOTHERAPEUTISCHE VERFAHREN medikamentöse Behandlung Psychopharmakologische Behandlung erfolgt nach dem/den „Ziel“symptome/n, also nach jenen Symptomen, die man glaubt, mit dem Medikament positiv beeinflussen zu können und in der Regel nicht nach der Diagnose. Neuroleptika • • • • blockieren Neurotransmitter (Botenstoffe der Nervenzellen) u.a. Dopamin im Gehirn haben kein Suchtpotential erwünschte Wirkungen - „antipsychotisch“ (bei z.B. Wahn, Halluzinationen, Denkstörungen...) - sedierend, Schlaf anstoßend (bei z.B. Erregungszustand, Schlafstörungen...) - emotional stabilisierend unerwünschte Wirkungen (Auswahl) - Bewegungsstörungen: Parkinsonoid, Früh- (Zungen-Schlund-Krampf, Blickkrampf) und Spätdyskinesien (unwillkürliche Bewegungen z.B. der mimischen Muskulatur), Akathatisie (Sitz- und Bewegungsunruhe) - Blutdrucksenkung, Herzrhythmusstörungen - Blutbildstörungen - Blasen- und Darmstörungen (Harnverhalt, Obstipation) - Gewichtszunahme - epileptische Anfälle 67 - Sedierung, „Leere im Kopf“, „Gefühlsleere“ Depression Abnahme von Libido und Potenz Photosensibilisierung der Haut Einteilung möglich in • • • • hochpotent (stark antipsychotisch, schwach sedierend z.B. Haldol®) mittelpotent (beides mittelstark, z.B. Taxilan®) niedrigpotent (kaum antipsychotisch, hauptsächlich sedierend, z.B. Neurocil®) „atypische“ Risperdal®, Leponex®, Zyprexa®, Serdolect® usw.) haben ein deutlich geringeres Risiko schwerer neuromuskulärer Nebenwirkungen Indikationen entsprechend der möglichen Zielsymptome • • • • • Schizophrenien Manien, Verwirrtheitszustände, Erregungszustände, (eingeschränkt: Schlafstörungen), Rezidivprophylaxe (Rückfallprophyaxe) • Darreichungsformen • Tablette, Saft/Tropfen, Ampullen; Depotform (intramuskuläre Injektion wirkt, je nach Präparat bis zu 4 Wochen) Antidepressiva • • • • blockieren Transmittersubstanzen (u.a. Noradrenalin, Histamin, Serotonin) haben (wahrscheinlich) kein Suchtpotential (!) erwünschte Wirkungen - stimmungsaufhellend, depressionslösend - antriebssteigernd oder sedierend (s.u.) - schmerzlindernd (analgetisch) unerwünschte Wirkungen (Auswahl) - Sedierung oder Antriebssteigerung (s.u.) - Blutdrucksenkung, Herzrhythmusstörungen - Blutbildstörungen - Blasen- und Darmträgheit - Gewichtszunahme - epileptische Anfälle - Überdosierung mit tödlichem Ausgang - Umschlagen in manische oder schizophrene Symptomatik - Suizidalität (!!), wenn vor der stimungsaufhellenden Wirkung die antriebssteigernde einsetzt Einteilung möglich in - sedierend (z.B. Saroten®) - stabilisierend (z.B. Anafranil®) - aktivierend (z.B. Nortrilen®) Indikationen • • • • • depressive Syndrome Panikstörung Angststörung Zwangserkrankung Phobien, 68 • Schmerzsyndrome, neurologische Erkrankungen Neuere Substanzen, wie die selektiven Serotinin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), haben ein besseres Verhältnis von erwünschten und unerwünschten Wirkungen (Paroxetin®, Cipramil®, Seroxat®, Tagonis®, Zoloft®, Cpramil®). Allerdings kommt es häufig nach mehrmonatiger Einnahme zu Absetzphänomenen, die als Entzugssyndrom bezeichnet werden müssen. Missbräuchliche Anwendung findet vor allem mit dem Ziel der Gewichtsreduktion statt – mit häufig nicht beachteten hohen Risiken durch die unerwünschten Wirkungen. Phasenprophylaktika • • • • • Wirkungsweise komplex und unterschiedlich je nach Wirkstoff haben kein Suchtpotential diese Medikamente sollten über einen längeren Zeitraum genommen werden, auch wenn keine Symptome mehr spürbar sind erwünschte Wirkungen • Verhinderung erneuter manischer/depressiver Phasen unerwünschte Wirkungen • vielgestaltig, je nach Wirkstoff • Lithium: Tremor, Gewichtszunahme, gefährliche Überdosierung Substanzen Lithiumsalze, Carbamazepin (Tegretal®), Valproinsäure (Convulex®, Ergenyl®) Indikationen Phasenprophylaxe der Zyklothymien Tranquilizer (Tranquillanzen, Anxioloytika) • • • • • Stoffgruppe: vor allem Benzodiazepine Wirkungsansatz im limbischen System hohes Suchtpotential (Gewöhnung, Abhängigkeit) erwünschte Wirkungen • Spannungslösung • Angstreduzierung • Schlafförderung • psychovegetative Beruhigung • „Reizabschirmung“ • Muskelentspannung unerwünschte Wirkungen • Abhängigkeit • Vernachlässigung der Krankheitsursache • Müdigkeit, Mattigkeit, Gleichgültigkeit • Muskelschwäche • Einschränkung der Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit • Schlafstörungen (!) –Störungen der Schlafarchitektur (Unterdrückung der REM-Phasen) Indikationen • • • • • zur kurz- und mittelfristigen Behandlung von Spannungs- und Angststörungen (Schlafstörungen) Mitbehandlung bei Psychosen Entzugssyndrome Akutbehandlung (Erregungszustand, Aggression) als Antiepileptika und Muskelrelaxantien in der Neurologie 69 Handelsnamen (u.a.) Valium®, Faustan®, Adumbran®, Rohypnol®, Lexotanil® Probleme • • Hohe Rate des Missbrauchs u.U. schwere Entzugssyndrome Elektrokrampftherapie (EKT) Mittels künstlicher Auslösung eines generalisierten epileptischen Anfalls unter kontrollierten Bedingungen mittels elektrischer Durchflutung des Gehirns unter Narkose und medikamentöser Muskelrelaxation (-lähmung) Die Wirkungsweise ist unbekannt (Hypothesen). Erwünschte Wirkungen • Abklingen der psychopathologischen Symptomatik nach bis dahin frustraner Therapie unerwünschte Wirkungen • hirnorganisches Psychosyndrom (Durchgangssyndrom) mit Amnesie, Desorientierung, Bewusstseinstrübung. In der Regel reversibel, mitunter bleiben Gedächtnisstörungen. Indikationen • • Schwere, therapieresistente Depression akute (febrile) katatone Schizophrenie Bemerkungen Die EKT wird in den letzten Jahren wieder zunehmend angewandt, wobei die Indikationen ausgeweitet werden. In Deutschland wird sie nach wie vor (eher) zurückhaltend angewandt, zumal die als verblüffend geschilderten „Erfolge“ häufig nicht anhalten. Es ist immer noch eine Haltungsfrage, ob Patienten mit dieser Art der „therapeutischen Gewalt“ die schützenden Symptome genommen werden sollen oder ob es nicht ähnliche Gewalt (nämlich Vernachlässigung) sei, ihnen diese Methode vorzuenthalten. Insofern kann die Debatte um die EKT (in Deutschland) als stark ideologisch aufgeladen bezeichnet werden. Es besteht die besondere Problematik der Patientenaufklärung, gerade wenn diese in einer schweren psychischen Krise befindlich sind und deshalb – womöglich – zu einer informierten (bzw. qualifizierten) Zustimmung (informed consent) nicht in der Lage sind. 13.2. PSYCHOTHERAPEUTISCHE VERFAHREN Im engeren Sinne • • • • • • Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie Verhaltenstherapie (lerntheoretisch-kognitiv) Gestalttherapie klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie systemische Psychotherapie (Familien-, Paartherapie) Mischformen ... Therapien der Körpererfahrung und -entspannung • • • • • Tanztherapie autogenes Training (Autosuggestion) Konzentrative Bewegungstherapie Sport/Bewegungstherapie progressive Muskelrelaxation 70 • funktionelle Entspannung... „non-verbale“ Therapieformen • • • • Kunst- / Gestaltungstherapie Musiktherapie Erlebnistherapie ... weitere Verfahren • Ergotherapie • Arbeitstherapie • ... 13.3. SOZIOTHERAPIE Es gibt noch keine allgemeingültige Definition für diese wichtige Arbeit. Sie geht weit über das im SGB V und den dazugehörenden Richtlinien der Spitzenverbände für Soziotherapie hinaus (vergleiche SGB V, §37a). Einige Aspekte seien genannt: • • • • • • • • • • • Die Betrachtung des einzelnen Menschen in seiner sozialen Situation muss einerseits Gesichtspunkt aller in der Psychiatrie Tätigen sein, dennoch: hier liegt gerade hier ein besonderer Fokus und eine besondere Kompetenz der Sozialarbeiter/innen (und der Heilpädagogen/innen) Erarbeitung der aktuellen und vergangenen sozialen Situation (Sozialanamnese) Erkennung der erhaltenen und verlorengegangenen sozialen Kompetenzen (Ressourcen) Stärkung des individuellen Könnens und Wollens und der Krankheitsbewältigung (Empowerment) Wiedererlernen verlorener Kompetenzen besondere Kenntnis der rechtlichen Hintergründe (Betreuungsrecht, Schulden, Arbeitsrecht, BSHG, SGB...) und entsprechende Beratung Hilfe über den persönlichen Kontakt zu den Betroffenen Hilfe durch Koordination von Hilfsleistungen (Case Management) (Re-) Organisation des sozialen Netzwerks Netzwerkarbeit Mitarbeit in Gremien Das zu fordernde Können umfasst eine Reihe zu benennender Methoden und Kompetenzen, die hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgelistet werden: • • • • • • • • • • angemessene Anamnese erheben und (psycho)soziale Diagnostik (bzw. Assessment) durchführen können professionelle Beziehungen auch unter erschwerten Bedingungen aufbauen und den Adressaten angemessen kommunizieren können diverse klientenbezogene Methoden hinsichtlich ihrer Indikation einschätzen und anwenden können (Beratung, Krisenintervention, Intensivbegleitung, Milieutherapie, Empowerment, Sozialtherapie) mit Angehörigen arbeiten können sozialraumorientierte Projekte entwickeln und steuern können komplexe „Fälle“ analysieren und die Hilfen organisieren können (Case Management) Angebote unterschiedlicher Art und Finanzierung vernetzen können auf hohem fachlichen Niveau interdisziplinärer und transdisziplinär arbeiten können Ehrenamtliche ausbilden und unterstützen können die Arbeit dokumentieren und evaluieren können 71 • sozialpolitisch Einfluss nehmen können. 14. UNTERBRINGUNGSGESETZTE In Deutschland sind zwei gesetzliche Grundlagen für die Unterbringung psychisch kranker Menschen (ohne oder gegen deren Willen) in psychiatrischen Kliniken relevant. Daneben sind die gesetzlichen Hintergründe zur Unterbringung psychisch kranker Straftäter bedeutungsvoll – diese Zusammenhänge werden ja auch politisch und öffentlich besonders lebhaft diskutieret. 14.1. BETREUUNGSGESETZ (BTG) - Das BtG ist Teil des BGB und damit ein Bundesgesetz. - Es regelt alle wesentlichen Voraussetzungen und Bedingungen zur Einrichtung einer vormundschaftsgerichtlichen Betreuung (früher: Pflegschaft). - nach der letzten Fassung (1.1.92) entfällt die Entmündigung als automatische Konsequenz der Einrichtung einer Betreuung, da die Geschäftsfähigkeit eigens beurteilt werden muss und die Einrichtung einer Betreuung auch ohne eine Geschäftsunfähigkeit eingerichtet werden kann. - statt einer Vormundschaft für alle (Lebens-) Bereiche wird nun ein Betreuer für genau festzulegende Aufgabenkreise bestellt (z.B. Wohnungsangelegenheiten, Zustimmung zur Heilbehand- 72 lung, Finanzangelegenheiten, Erbschaftsangelegenheiten, Unterbringung zwecks Heilbehandlung ...). - die Einrichtung eines „Einwilligungsvorbehaltes“ (des Betreuers!) muss eigens erfolgen, wenn dadurch „erhebliche Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten abgewendet“ werden kann. Dieser soll insbesondere verhindern, dass der Betreute keine unsinnigen Geschäfte tätigt (§1903). - es sollen vor Einrichtung einer Betreuung alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die eine Betreuung unnötig machen können (Vollmacht usw.). - der/die Betreuer/in soll dem Wunsch des Betroffenen entsprechen, vorzugsweise werden Familienangehörige bestellt. Verfahren - zuständig sind die Amtsgerichte (Vormundschaftsgerichte) - auf Antrag des Betroffenen oder einer andern Person oder von Amtswegen leitet das AG ein Betreuungsverfahren ein - ein ärztliches Gutachten wird eingeholt - der/die Betroffene wird angehört - wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, wird vom Gericht eine Betreuung für die entsprechenden Bereiche angeordnet, wobei die Dauer angegeben werden muss - spätestens nach 5 Jahren müssen die Voraussetzungen der Betreuung überprüft werden - in besonderen Fällen („Gefahr im Verzug“) kann eine Betreuung im Wege einer einstweiligen Anordnung eingerichtet werden, es genügt ein „ärztliches Zeugnis“ und der Betroffene muss zunächst vom Gericht nicht angehört werden (max. Dauer: 6 Monate) Voraussetzungen § 1896 BGB: „Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Vormundschaftsgericht auf seinen Antrag oder von Amtswegen für ihn einen Betreuer.“ Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik nach BtR Besteht für einen psychisch kranken (oder behinderten) Menschen eine vormundschaftsgerichtliche Betreuung mit dem Aufgabenkreis „Aufenthaltsbestimmung“, kann auf Antrag des Betreuers vom zuständigen Amtsgericht unter Hinzuziehung eines ärztlichen Gutachtens eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik angeordnet werden, wenn „1. aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt oder 2. eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.“ (§ 1906 BGB) Die Genehmigung des zuständigen Amtsgerichtes kann unverzüglich nachgeholt werden, wenn „mit dem Aufschub [der Unterbringung] Gefahr verbunden ist“. 73 O.g. Vorschriften gelten auch, wenn einem Betreuten in einer Einrichtung „über einen längeren Zeitraum“ durch mechanische Vorrichtungen (Bettgitter), Medikamente oder auf andere Weise die Freiheit entzogen wird! 14.2. GESETZ FÜR PSYCHISCH KRANKE MENSCHEN (PSYCHKG) Gesetze der Bundesländer, so dass es regional – zum Teil erheblich – unterschiedliche Regelungen gibt, in Berlin gilt das PsychKG vom 8.3.85, zuletzt geändert 17.3.94, dieses Gesetz wird hier vorgestellt. Das Gesetz regelt Hilfen, „soweit sie geeignet sind, eine Unterbringung zu verhindern sowie die Unterbringung von psychisch kranken Erwachsenen und Jugendlichen - § 2: „Bei allen Maßnahmen auf Grund dieses Gesetzes ist auf das Befinden des psychisch Kranken besonders Rücksicht zu nehmen und seine Persönlichkeit zu wahren.“ - im Gegensatz zum BtR schützt das PsychKG auch bedeutende Rechtsgüter „anderer“, die durch krankheitsbedingte Fehlhandlungen bedroht sind (s.u.) Verfahren Nach § 8 PsychKG können Menschen gegen oder ohne ihren Willen in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden, „wenn und solange sie durch ihr krankheitsbedingtes Verhalten ihr Leben, ernsthaft ihre Gesundheit oder besonders bedeutende Rechtsgüter anderer in erheblichem Maße gefährden und diese Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. Die fehlende Bereitschaft, sich behandeln zu lassen, rechtfertigt für sich allein keine Unterbringung.“ Nach § 26 darf eine Unterbringung anordnen: - die zuständigen Bezirksämter (Gesundheitsämter / Sozialpsychiatrischen Dienste) - bei deren Verhinderung der Polizeipräsident von Berlin (Polizeiabschnitte) oder die von der Gesundheitssenatorin mit dieser hoheitlichen Gewalt beliehenen psychiatrischen Einrichtungen (Kliniken). Diese vorläufige behördliche Unterbringung endet mit dem folgenden Tag, wenn nicht das zuständige Amtsgericht innerhalb dieses Zeitraums auf Antrag des Bezirksamts (Amtsarzt) eine weitere richterliche Unterbringung verfügt. Hierbei muss der Betroffene vom Gericht angehört werden und es muss ihm im Bedarfsfall ein Rechtsbeistand gewährt werden. Situationsbedingt finden diese Unterbringungsverhandlungen meist in den Räumen psychiatrischer Kliniken statt. 14.3. GESETZE ZUR EINGESCHRÄNKTEN SCHULDFÄHIGKEIT UND ZUR MAßREGEL § 20 (StGB): „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehen der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung (1), wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung (2) oder wegen Schwachsinns (3) oder einer anderen seelischen Abartigkeit (4) unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ nach KONRAD (1997): (1) organische und endogene Psychosen (inkl. Drogen-/alkoholbedingte); akute Intoxikation; psychische Störungen nach Hirnerkrankungen; (2) akute Belastungsreaktionen (3) Intelligenzminderungen 74 (4) Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, sexuelle Deviationen (Störungen der Sexualpräferenz), Abhängigkeit, Anpassungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen § 21 (StGB): „Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in §20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49, 1 abgemildert werden.“ Ì Einsichtsfähigkeit Ì Steuerungsfähigkeit (kann Einsicht erlangt werden über das unrecht der Tat?) (kann nach der Einsicht gehandelt werden?) § 63 (StGB) „Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldunfähigkeit begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.“ § 64 StGB „(1) Hat jemand den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird er wegen einer rechtswidrigen Tat, die er im Rausch begangen hat oder die auf seinen Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, wenn die Gefahr besteht, dass er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begeht. (2) Die Anordnung unterbleibt, wenn eine Entziehungskur von vornherein aussichtslos ist.“ § 66 Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (1) Wird jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn 1. der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, 2. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und 3. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist. (2) Hat jemand drei vorsätzliche Straftaten begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen. (3) 1Wird jemand wegen eines Verbrechens oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs. 1 bis 4, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat ein Verbrechen oder eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Nr. 2 und 3 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. 2Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungs- 75 verwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen. 3Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt. (4) Im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. 2Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Nr. 2. 3Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. 4In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. 5Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine vorsätzliche Tat, in den Fällen des Absatzes 3 eine der Straftaten der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre. 15. DIE EPILEPSIEN 15.1. ALLGEMEINES Der Name der Erkrankung stammt aus dem Griechischen Epilambanein (plötzliches Ergriffensein), es handelt sich um eine Gruppe von Erkrankungen, denen gemeinsam ist, dass die Betroffenen wiederholt epileptische Anfälle erleiden. Häufigkeit Prävalenz (Stichtag): ca. 1% Inzidenz: ca. 50/100.000 Einwohner Risiko, jemals einen epileptischen Anfall zu haben: ca.: 1:20, ... an Epilepsie zu erkranken: ca. 1:200. Damit sind die Epilepsien die häufigsten schweren neurologischen Erkrankungen. Definition Ein epileptischer Anfall entsteht durch eine ungebremste, mehr oder weniger plötzliche („exzessive“) Entladung von Hirnzellengruppen, die je nach Funktion der betreffenden Hirnregion(en) zu entsprechender klinischer (Anfalls-) Symptomatik führt. Die protektiven Faktoren, die eine ungebremste Erregungsausbreitung verhindern, sind dann durch verschiedene Faktoren gestört oder ausgeschaltet (Krampfbereitschaft steigt, Krampfschwelle sinkt). Von einer Epilepsie spricht man erst, wenn ein Mensch mehrere (z.B. sechs) epileptische Anfälle in den letzten 24 Monaten hatte, sind es weniger, wird gelegentlich von Oligoepilepsie (von Oligo=wenig) gesprochen. 76 Beginn Häufigkeitsgipfel in der (frühen) Kindheit und im späten Erwachsenenalter. Ätiologie • • • konstitutionelle (genetische) Disposition Hirnschädigung unterschiedlichster Genese akute Erkrankungen des Gehirns oder anderer Organe (Tumoren, Infektionen, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Drogen...) • Intoxikationen (endogen oder exogen) • Chromosomenschäden (z.B. Klinefelter-Syndrom XXY, XXXY) • unbekannte Ursachen (idiopathisch) ⇒ meist multifaktorielles Geschehen Auslösesituationen Unter Auslösesituationen werden Situationen und Faktoren verstanden, die bei bestehender Epilepsie weitere Anfälle wahrscheinlicher machen können, es sind also nicht die Ursachen für die Epilepsie selbst. • Schlafmangel • Alkoholgenuss (Drogen-) • affektiv belegte Situationen (heftige Erregungen) oder das Gegenteil („Lange-weile“, Überdruss) • Mahlzeiten (psychomotorische Anfälle) • Sinnesreize (z.B. Geruchs-, Geschmacksreize) • Übergangsphasen zwischen Schlaf und Wachsein • sehr spezifische Reize (Bsp.: Farbe „rot“, Stecknadel...) • Medikamente (Neuroleptika!, Antidepressiva, ...) • Fieber • Wetter (?!) Symptomatik Vom „Gelegenheitsanfall“ (einzelner Anfall, meist Folge akuter Erkrankung) über die „Oligoepilepsie“ (weniger als 3 Anfälle in 6 Monaten) bis zur chronischen Epilepsie mit bis zu täglichen Anfällen. Vom fokalen Anfall des kleinen Fingers bis zum tonisch-klonischen Anfall (Grand Mal) mit Bewusstseinsverlust. Von Bruchteilen einer Sekunde bis zum Status epilepticus, der bis zu Wochen dauern kann. Es gibt keine „epileptische Wesensveränderung“, vielmehr können verschiedenste psychische Symptome auftreten, die eher mittelbar als unmittelbar Folge der Epilepsie sind. Einteilung der epileptischen Anfälle und Epilepsien • • • • nach der Anfallsklinik (kleiner/großer Anfall; mit/ohne Bewusstseinsverlust) nach dem Erkrankungsbeginn (altersgebundene Epilepsiesyndrome) nach der Ursache (symptomatisch/idiopathisch/kryptogen, Fieberkrampf) nach dem auslösenden Moment (Entzugskrampf/Lese-/Ess-/Schreckepilepsie, Photosensibilität) Diagnose • klinischer Befund (genaue Anfallsanamnese) 77 • • • • • biographische Anamnese (Familien-) eingehende neurologische und internistische (und psychiatrische) Untersuchung EEG (Elektroenzephalogramm) bildgebende Verfahren: Röntgen, Cerebrale Computertomographie (CCT), Kernspintomographie (MRT) Labor usw. 15.2. DIE WICHTIGSTEN EPILEPSIEN UND EPILEPTISCHEN SYNDROME Wichtige altersgebundene Epilepsien -West-Syndrom (Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe): Beginn im Neugeborenenalter -Lennox-Gastaut-Syndrom: Beginn im 2.-6. Lebensjahr -Juvenile myoklonische Epilepsie (Janz-Syndrom): Beginn im 12.-16. Lebensjahr -Absencen: Erkrankungsbeginn meist in der Kindheit oder Jugend (2 verschiedene Verläufe: 6.-7. sowie 7.12. Lj.). Für wenige Sekunden bis Minuten tritt plötzlich eine Bewusstseinsveränderung mit Unterbrechung der Ansprechbarkeit und Amnesie auf. Zusätzlich treten häufig tonische Symptome an Kopf, Hals und Rumpf auf, dabei neigt sich der Kopf nach hinten und die Bulbi (Augäpfel) bewegen sich nach oben, evtl. auch klonische Komponenten z.B. der Augenlider. In 2/3 der Absencen treten Automatismen auf (orale u.a.), auch werden Handlungen (meist fehlerhaft) fortgeführt. Frequenz der Anfälle: häufig mehrfach täglich (5-30/Tag) Ätiologie: meist idiopathisch Prognose: gut, 50-80% werden anfallsfrei; mäßig, wenn große Anfälle hinzutreten. Andere, nicht-altersgebundene Epilepsien: - einfache fokale Anfälle (Bewusstsein erhalten) • motorisch: „Jackson-Anfälle“: einseitig, von einer Körperstelle ausgehend und sich ausbreitend („march of convulsions“), tonisch oder tonisch-klonisch • Adversivkrämpfe: tonische Streckung des Kopfes, der Augen, des Körpers • somatosensibel: einseitig (Kribbeln, Lichtblitze, Klingeln) • autonom: Schwitzen, Blässe, Erröten • Ätiologie: bei>50% ursächliche Hirnerkrankungen auffindbar - komplexe fokale Anfälle (psychomotorische A.) Amnesie und allmähliches Ende des Anfalls; Symptomatik vielgestaltig: Bewusstseinstrübung/veränderung bis -verlust und Automatismen mit oralen Bewegungen, komplizierte Stereotypien (Nesteln, Wischen, Kramen), szenische Handlungen, aphasische Störungen („speech arrest“, Dysarthrien, Sprachautomatismen), in ca. 50% zu Beginn des Anfalls Aura (vages aufsteigendes Gefühl [Geruch, Geschmack, Übelkeit...], „dreamy state“, dêjà-vu, jamais vu..., „alles erscheint 78 anders als sonst“); Dämmerzustand mit scheinbar mehr oder weniger geordnetem Verhalten; zum Ende des Anfalls meist Ratlosigkeit mit langsamer Reorientierung. Ätiologie: Schädigung temporaler Hirnareale (ca. 1/3 der Fälle) oder multifaktoriell bedingt. Prognose: relativ ungünstig im Sinne persistierender Anfälle - Epilepsie mit tonisch-klonischen Anfällen (Grand Mal-Epilepsien) 40% aller neu diagnostizierten Epilepsien beginnen mit Grand Mal; bei 10-20% aller Epilepsien kommen Grand Mal im Verlauf hinzu. Entweder (50%) plötzlicher Beginn ohne Vorboten (Prodromi, Aura) mit Bewusstseinsverlust, Initialschrei, Sturz (Verletzung!), tonische Kopfdrehung und Körperhaltung, Atemstillstand, Blässe, Zittern, klonisch-rhythmische Zuckungen, evtl. Inkontinenz, Zungenbiss, gegen Ende erneut tonische Versteifung; nach dem Anfall tiefe Röchelatmung, Desorientierung-Reorientierung, Erschöpfung, Muskelkater, Erleichterung. Prodromi (50%): stunden- oder tagelange Vorläufer (Stimmungslabilität, Spannungssteigerung, Angst, Konzentrationsstörungen...) Ätiologie: symptomatisch (...) oder idiopathisch Prognose: entsprechend der Ätiologie sehr verschieden 15.3. BEHANDLUNG DER EPILEPSIEN Beseitigung von Auslösern • regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus • wenig Alkohol (kein Schnaps) und keine Drogen • keine Über- und Unterforderung in geistiger, seelischer und körperlicher Hinsicht • körperliche Betätigung (Sportarten, während derer ein Anfall gefährliche Folgen haben kann, sind zu vermeiden) • bei zusätzlichen Erkrankungen Arztkonsultation (Fieber) • bekannte Auslösesituationen meiden (!) • Anfall verhindernde Reize auffinden und benutzen lernen medikamentöse Behandlung mit Antiepileptika Nach sorgfältiger Untersuchung durch epileptologisch versierten Arzt zunächst meist Monotherapie (evtl. bis zur Nebenwirkungs“grenze“), bei Anfallspersistenz Kombinationstherapie. Ziel ist es, durch regelmäßige Einnahme einen individuell ausreichenden Medikamentenspiegel zu erreichen und beizubehalten. (Die meisten Status epilepticus beruhen auf einer Auslassung der Medikamente). Substanzen: Valproinsäure, Carbamazepin, Phenytoin, Ethosuximid, Pheno-barbital, Benzodiazepine, Primidon... Nebenwirkungen (Auswahl): vielfältig, je nach Substanz, interindividuell verschieden ausgeprägt; z.B.: neurologische Symptome (Doppelbilder, Schwindel...), Exanthem, Blutdruckabfall, Kopfschmerz, Zahnfleischwucherungen, Müdigkeit, Übelkeit, Störungen der kardialen Reizleitung, Verdauungsstörungen, Potenzstörungen, Haarausfall, Gewichtszunahme, allgemeine Schwäche, Psychosen, Blutbildveränderungen... Aus der Fülle der möglichen Nebenwirkungen ergibt sich zwangsläufig eine verständliche Skepsis der Patienten, diese über einen längeren Zeitraum einzunehmen. 79 operative Therapie nach sorgfältiger Diagnostik und Abwägung der möglichen Risiken bei schweren Epilepsieverläufen indiziert. Weitere Behandlungsinhalte • Soziotherapie • Familie • Empowerment • Ausbildung • Beruf (Gefahren, Führerschein...) • Rechtsprobleme • Rehabilitation (ca. 3% aller Rehabilitanten sind an Epilepsie erkrankt) • Selbsthilfegruppen • Psychotherapie • stützend • kognitiv • biofeedback Verlauf und Prognose Im Gegensatz zur Situation der Betroffenen noch vor 60 Jahren und entgegen der landläufigen Meinung ist die Prognose für viele Patienten gut: 70-80% aller Patienten werden anfallsfrei, davon mehr als die Hälfte im Verlauf ohne Medikation. • • • 70% anfallsfrei • Insgesamt 50% im Verlauf ohne Medikamente • Insgesamt 20% unter weiterer Dauermedikation 30% werden nicht anfallsfrei • davon die Hälfte mit häufigen Anfälle eine schlechte Prognose besteht bei • frühem Beginn • kombinierten Anfälle • Hirnerkrankungen • spätem Behandlungsbeginn 80 16. LITERATURLISTE Geschichte der Psychiatrie ÄRZTEKAMMER BERLIN (Hrg., 1989): Der Wert des Menschen. 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