Prüfet alles ! - ausgenommen

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Prüfet alles !
- ausgenommen ...
Wirksamer Schutz
vor 28 destruktiven Behauptungen
in evangelikalen Gemeinden
20. März 2014
Prüfet alles – ausgenommen...
Wirksamer Schutz
vor 28 destruktiven Behauptungen
in evangelikalen Gemeinden
Ein stark gekürzter Abdruck
der Internetseite
www.stoppt-religioesen-missbrauch.de
bzw.
www.Matth2323.de
Stand: 20. März 2014
Bitte beachten: möglicherweise wurden später
wichtige Verbesserungen oder Ergänzungen
in der Internetseite eingefügt.
Die Untersuchung erfolgt auf der Grundlage
herkömmlicher bibeltreuer Theologie
Über die Kontaktadresse der Internetseite
ist es möglich, Kritik zu üben, Fragen zu stellen,
Verbesserungen vorzuschlagen oder Material zu bestellen.
Die in diesem Text verwendeten Bibelzitate stützen sich auf die
Übersetzung Martin Luthers, rev. Ausgabe, 1912, sowie auf die
Übersetzung „Hoffnung für alle“ in der NT-Ausgabe: „Das leben­
dige Buch“, 1983 (c) Int.Bible Society oder auf die Neue Evange­
listische Übersetzung von Karl-Heinz Vanheiden, e-Ausgabe 2012.
Inhaltsverzeichnis
1. Prüfet alles ... (1.Thes 5,32) – doch warum ?
1
2. Eine reale Gefahr ...
3
3. Liebe Schwester, lieber Bruder ...
4
4. Schlüssel weg ?...
6
5. Notwendiger und schädlicher Zweifel
7
6. Wichtige Resultate !
11
(Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen bibeltreuem Schriftverständnis
und religiös bedingter Depression, sowie zur unzureichenden Wirksamkeit
üblicher Hilfsangebote. Erläuterung der Vorteile des vorgeschlagenen Verfah­
rens, Rangunterschiede biblischer Aussagen mit Hilfe der Qualitätsmaßstäbe
Jesu zu begründen.)
7. Welche tragfähigen Alternativen gibt es dazu ?
18
1. Eine optimistische Einstellung ist Pflicht
18
2. Den Spieß umdrehen: Der Aufruf zur Heiligung wird als Werkgerechtigkeit betrachtet
21
3. Quantitative Lösung: die Bibel grundsätzlich nur in Auswahl lesen
22
4. Heilssicherung mittels Ritual
24
5. Glauben an den Glauben anderer
27
6. Allversöhnung
28
7. Entkernung des Christentums
31
8. GIFTIGE THEOLOGIE
35
I. Behauptungen, die das Vertrauen in Gott
als fairen „Bundespartner“ untergraben
1. Behauptung: „Gott erwartet vom Gläubigen, dass er jede erkannte
Sünde nachträglich in Ordnung bringt, wenn er Vergebung haben
will“
41
2. Behauptung: „Kleine Sünden werden von Gott so negativ gesehen
und bestraft wie schwerste Verbrechen, denn Jesus musste auch für
kleine Sünden sterben.“
45
3. Behauptung: „Da der Gläubige die Kraft des Heiligen Geistes empfangen hat, ist er frei vom Zwang zu sündigen. Wenn er nur will,
kann er die Sünde lassen. Umso strenger wird der Gläubige bestraft,
wenn er sich dann noch kleine Sünden leistet. Er kann und darf
sich nicht mehr auf menschliche Schwachheit berufen.“
50
4. Behauptung: „Sexuelle Sünden verunreinigen am stärksten.“
54
5. Behauptung: „Je mehr du für Gott an Geld und Zeit opferst, desto
mehr wirst du in diesem Leben an materiellem Wohlstand zurückbekommen.“
77
6. Behauptung: „Wer seiner Gemeinde nicht den Zehnten seines
Einkommens spendet, ist verflucht und wird mit finanziellen
Einbußen rechnen müssen.
81
7. Behauptung: „Wer nicht fast alles opfert, um die Not der Menschen
zu lindern, lebt in Sünde und unter dem Fluch Gottes.“
83
8. Behauptung: „Wer seine Mitmenschen nicht missioniert – wo sich
die Gelegenheit ergibt – trägt Mitschuld daran, wenn sie in die
Hölle kommen und wird dafür angemessen von Gott bestraft.“
86
9. Behauptung: „Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in
die Hölle kommen.“
88
10. Behauptung: „Ein Versprechen, das der Gläubige Gott gegeben hat,
muss auf jeden Fall eingehalten werden, auch wenn es dumm und
destruktiv war. Wenn der Gläubige es nicht einhält, dann muss er
damit rechnen, dass Gott sein ganzes Leben ruiniert.
96
11. Behauptung „Wenn du noch nicht in Zungen redest oder noch kein
wunderbares Erleuchtungserlebnis empfangen hast, steht noch
irgendeine Sünde zwischen dir und Gott. Dann hast du evt. den
Heiligen Geist noch nicht empfangen und bist noch gar kein
Christ und noch nicht gerettet.“
100
12. Behauptung: „Wenn dein Gebet nicht erhört wird, dann gibt es nur
einen Grund dafür: eine Sünde steht zwischen dir und Gott.“
101
13. Behauptung: „Krankheit ist ein starkes Indiz für mangelnden
Glauben oder heimliche Sünde.“
103
14. Behauptung: „Bei Krankheit den Arzt zu holen, ist ein Beweis
mangelnden Gottvertrauens und daher Sünde.“
105
15. Behauptung: „Durch das Anhören weltlicher Musik kann Besessenheit (Dämonen) übertragen werden, die man nur sehr schwer wieder
los wird.“
106
16. Behauptung: „Zwanghafte Lästergedanken sind ein Beweis, dass
der Gläubige vom Satan besessen ist. Er kann nur durch Exorzismus befreit werden.“
108
17. Behauptung: „Das Textverständnis, das sich am engsten an den
Wortlaut der Bibel hält, ist das beste.“
111
18. Behauptung: „Die ethischen Aussagen des Neuen Testamentes
haben alle die gleiche Autorität. Der Gläubige muss sie alle
einhalten, wenn er nicht ungehorsam sein will.“
116
19. Behauptung: „Die strengere und härtere Interpretation eines Gebotes ist in jedem Fall die bessere.“
118
20. Behauptung: „Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes.“
119
21. Behauptung: „Die Körperstrafe (Prügeln) ist ein unentbehrliches
Erziehungsmittel des Christen.“
123
II . Lehrsätze, die den Gläubigen des Rechtes berauben,
sich vor Machtmissbrauch zu schützen
22. Behauptung: “Ein Gläubiger, der den Anweisungen des Gemeindeleiters nicht gehorcht, lebt immer in Rebellion gegen Gott.”
126
23. Behauptung: “Es ist Hochmut, die theologische Tradition der Gemeinde mit der Bibel zu prüfen.”
129
24. Behauptung: „Der Gläubige darf Unrecht in der Gemeinde nur
dann beim Namen nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler zu
sehen sind.“
130
25. Behauptung: “Mit der Forderung, Schäden und Beschwerden
in der Gemeinde zu dokumentieren, schadet man dem “Zeugnis”
der Gemeinde.”
131
26. Behauptung “Ein Christ darf sich nicht wehren, darf auch nicht
Ersatz des Schadens fordern. Er muss Unrecht, das ihm zugefügt
wird, hinnehmen, muss vergeben und vergessen. Andernfalls ist
er ein “Schalksknecht” (Mt 18,32 ff) und wird von Gott mit der
Hölle bestraft!”
132
27. Behauptung: “Ein Christ darf nicht vor Gericht gehen, wenn
ihm ein anderer Gläubiger geschadet hat. Andernfalls sündigt
er und wird dafür von Gott bestraft.”
136
28. Behauptung: “Ein Christ darf in Notwehr niemand töten.
Er ist verpflichtet, sich töten zu lassen, damit der Täter
nicht in die Hölle kommt.”
140
9. Persönlichkeit ?
142
10.Die negative Verformung der Persönlichkeit
durch giftige Theologie
143
11. Der Semmelweis-Reflex
147
12.Prüfe Dein Urteilsvermögen
150
12.1. Unfair und parteilich entscheiden ?
150
12.2. Naheliegende Fragen …
153
12.3. Eine einfache Lösung, die immer möglich ist …
154
12.4. Skizze eines bibelgemäßen Schichtungsverfahrens
156
12.5. Das Dilemma der wortwörtlichen Interpretation
159
13.Zu Gott gehören
160
13.1. “Ein geheiligtes Leben führen” heißt die Freundschaft mit Gott
im Lebensstil zu zeigen
160
13.2. Heiligung ist keine nur private Angelegenheit !
166
13.3. Die Echtheit der Heiligung ist an der Qualität (!)
der Früchte zu erkennen !
167
13.4. Der Weg aus der Werkgerechtigkeit
169
13.5. Zerrbilder der Heiligung
171
14.Kleine Charakter-Skizze des im Glauben gereiften Christen
173
15.Prüfe Dich selbst …,bevor Du andere prüfst!
178
16.Chancen warten …
182
Anhang
A 1. Häufige Fragen
186
Die Antworten auf die Fragen 1- 7 sind im Internet zu finden.
Frage 1: Ist diese Internetseite nicht eher schädlich für die Gemeinde, vielleicht sogar
selbst gefährlich, weil sie ein negatives Bild des christlichen Glaubens “vom Miss
brauch her” zeichnet ?
Frage 2: Ist es nicht völlig klar, dass mit dem “Weisen” (1.Ko 6,5), der einen Rechts
streit entscheiden soll (σοϕος ος δυνησεται διακριναι), nur ein Pastor gemeint sein kann,
da er die gründlichste bibelkundliche Ausbildung von allen Gläubigen hat ?
Frage 3: Welche Aufgaben im Zusammenhang mit dem schiedsgerichtlichen Dienst
werden am besten vom Pastor wahrgenommen ?
Frage 4: Wer kommt für ein schiedsrichterliches Amt in Frage?
Frage 5: Warum sollte ein Gemeindemitarbeiter im vollzeitlichen Dienst es grundsätzlich vermeiden, schiedsgerichtliche Urteile zu fällen ?
Frage 6: Hat Paulus nicht den Gläubigen geboten, sich mit Kritik gegenüber dem Vor
stand einer Gemeinde zurückzuhalten, da sie “Obrigkeit” sei und Christen “der Obrig
keit untertan” (Rö 13,1) sein sollen? Auch wenn sie eine Obrigkeit ist, die Unrecht tut
wie die Regierung Kaiser Neros zur Zeit des Paulus ?
Frage 7: Ist es nicht besser, die Gemeinde stillschweigend zu verlassen, wenn
der Vorstand immer wieder über die Qualitätsmaßstäbe Jesu hinwegsetzt?
Frage 8: Wie kann man NICHT erkennen, ob die Forderung der Barmherzigkeit (ελεος), die Jesus als erste der wichtigsten Gebote in Mt 23,23
nennt, tatsächlich den höchsten Rang im Denken der Gemeindeleitung
einnimmt ?
sich
186
Frage 9: Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt? Ist “Gerechtigkeit” im Umgang mit dem Nächsten nicht eine typisch
alttestamentliche Forderung, die für die Gemeinde heute nicht mehr relevant ist? Wird sie nicht im Neuen Testament durch die Aufforderung
ersetzt, sich zu Jesus zu bekehren, der unsere “Gerechtigkeit” ist ?
188
Frage 10: Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 nicht wie
bei Luther mit dem Begriff “Treue” sondern mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdigkeit” übersetzt?
A 2. Die Angst vor der unvergebbaren Sünde
und seelsorgerliche Hilfsangebote
1. Oberflächliche seelsorgerliche Antworten
190
191
192
1.1. Aufforderung zur Auswahl und Verdrängung
193
1.2. Luthers Kunstgriff: formale Zustimmung zum
Verdammtwerden
194
1.3. Visualisierungen des Leidens Christi
195
2. Antworten der “nouthetischen” Seelsorge (Jay Adams)
195
3. Definition der unvergebbaren Sünde als “nationale Sünde”
(Arnold Fruchtenbaum)
197
4. Am Buchstaben klebende “Lösung”
als verheerender “Kunstfehler” (Adolf Schlatter)
199
A 3. Wie gehe ich angemessen mit ideologisch denkenden
Gläubigen um?
209
A 4. Anzeichen für die Widerstandskraft einer Gemeinde
gegen Machtmissbrauch und Korruption
211
A 5. Miese Tricks
(nur im Internet)
(Killerphrasen, Pauschalisierungen, Heucheln einer kritischen Sicht, Arrogantes
Ignorieren, Ausgrenzung, Einschüchterung, üble Nachrede, Form über den
Inhalt stellen, Verständnis heucheln, Bevormundung, Abschirmung, Sich-totStellen.)
A 6. Satire: Hiob und seine Freunde
(nur im Internet)
A 7. Warum ist eine Gemeinde-Haftpflicht notwendig ?
(nur im Internet)
A 8. Wichtige Artikel in Stichworten (Auswahl)
(nur im Internet)
Die Stichworte betreffen folgende Themenbereiche:
BA = Biblische Autorität
H = Heiligung, Leben in der Kraft des Heiligen Geistes
HG = Heilsgewissheit
M = Effiziente Maßnahmen gegen Machtmissbrauch
(HG)
(H)
(M)
(M)
(H, M)
(M)
(H)
(H)
(M)
(H)
(HG)
(BA)
Absolut verlässlich: die Zusagen Gottes
Achtung vor dem Alter
Ansehen der Person verboten
Augensalbe verwenden! (nur im Internet)
Authorisierung und Berufung des Gläubigen
Autorität der Gemeindeversammlung
Barmherzigkeit, echte
Barmherzigkeit, scheinbare
Beichtgeheimnis gilt nur für den Ratsuchenden
Beschwerdebrief, Vorsichtsmaßnahmen für den
Beweis der Liebe nachvollziehbar?
Bibeltreu die Bibel verstehen
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(nur im Internet)
(HG)
(M)
(H, BA)
(M)
(H, M)
Blinder Fleck der Werbungsabteilung
(nur im Internet)
Böses tun ist nicht so schlimm wie böse sein
(nur im Internet)
Buchstabentreue
(nur im Internet)
Churchly Correctness
(nur im Internet)
Destruktive Motive
(nur im Internet)
Du – Anrede
(nur im Internet)
Ehre Gottes
(nur im Internet)
(H, M) Fairness-Regeln im Umgang mit ideologisch denkenden
Gläubigen
209
(H, M) Fixierung auf den eigenen Gemeindeverein
(nur im Internet)
(M)
Folgen der Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht
(nur im Internet)
(H)
Freiheit des Christen
(nur im Internet)
(H, BA) Geistliche Disziplin
(nur im Internet)
(M)
Gemeindeordnung im Sinne Jesu gestalten
(nur im Internet)
(H)
Gemeindezucht
(nur im Internet)
(H)
Gerechtigkeit, Fairness
(nur im Internet)
(M)
Gesetz der 50-jährigen
(nur im Internet)
(H, BA) Gesetzliche Illusionen
(nur im Internet)
(H)
Gottesbeweis
(nur im Internet)
(HG)
Heilsgewissheit, eingeschränkt durch Vertragspflichten? (...)
(H, HG) Heilsgewissheit ohne Heiligung ?
(nur im Internet)
(H, HG) Heilstatsachen, unverzichtbare
(nur im Internet)
(HG)
Hölle
(nur im Internet)
(BA)
Inspirationsmodell, schöpfungsgemäßes
(nur im Internet)
(M)
Keine Zeit für Qualitätsprüfung ?
(nur im Internet)
(M)
Laien-Bote
(nur im Internet)
(BA)
Liberale Theologie
(nur im Internet)
(BA)
Pauschalstil
(nur im Internet)
(BA)
Polarität der Bibel
(nur im Internet)
(M)
Predigt-Nachbereitungsdienst
(nur im Internet)
(H, M) Propaganda
(nur im Internet)
(M)
Qualitätsförderung
(nur im Internet)
(H, M, BA) Qualitätsmaßstäbe Christi
(nur im Internet)
(BA)
Rangunterschiede biblischer Aussagen
(nur im Internet)
(H, BA) Religiosität
(nur im Internet)
(M)
Satire “Hiob und seine Freunde ”
(nur im Internet)
(M)
Schiedsgerichtlicher Dienst
(nur im Internet)
(M, BA) Schutzmaßnahmen gegen giftige Theologie
(nur im Internet)
(H)
Selbsterkenntnis
(nur im Internet)
(H, BA) Selbstverstärkung
(nur im Internet)
(H)
Sorgfaltsparadox
(nur im Internet)
(M)
Strafbare Handlungen
(nur im Internet)
(BA)
Unterscheidung der Verantwortungsbereiche
(nur im Internet)
(H, HG) Unterscheidung zwischen echter und vermeintlicher
Jüngerschaft
(nur im Internet)
(H, HG) Unvollkommenheit, gefährdet sie das Heil ?
(nur im Internet)
(H, BA) Urteilsvermögen
(nur im Internet)
(H, HG) Vorbild im Glauben – die Ältesten
(nur im Internet)
(H, HG) Werkgerechtigkeit
(nur im Internet)
(H, HG) Wie finde ich aus der Werkgerechtigkeit wieder heraus? (...)
(H)
Wert des Glaubens
(nur im Internet)
(BA)
Wörtl. Missverstehen in der Kirchengeschichte
(nur im Internet)
Zur Freiheit
hat uns
Christus befreit!
Deshalb bleibt standhaft
und lasst euch nicht wieder
ein Sklavenjoch
aufzwingen !
(Gal 5,1)
1. Prüfet alles ... (1.Thes 5,32) – doch warum ?
Kinder und Jugendliche, die in eine christliche Gemeinde eingeladen wer­
den, bedürfen besonderen Schutzes. Sie haben ein Recht darauf, dass ihre
Seele nicht durch Irrtümer, Fahrlässigkeit oder Machtmissbrauch verletzt
und vergiftet wird. Die Heilige Schrift fordert alle Gläubigen auf (1.Thes
5,21):
Prüfet ALLES !
Auch in einer gesunden Gemeinde wirken immer wieder destruktive
Impulse vielfältig und unkontrollierbar ein. Sie können ausgehen von
einem einzelnen Aufsatz in einem Buch auf dem Büchertisch oder sie wer­
den möglicherweise im Hauskreis, auf christlichen Freizeiten, durch
Freunde oder durch Kontakte mit anderen Gemeinden, mit Evangelisten,
Bibelschülern oder Missionsgruppen, die zu Besuch in der Gemeinde sind,
vermittelt.
Destruktive Impulse sind – ungeachtet ihrer tiefreligiösen Erscheinungsform
– Fremdkörper im christlichen Glauben.
Der christliche Glaube selbst
hat eine befreiende und aufbauende Wirkung.
Jeder Gläubige kann sich und die Menschen, für die er sich verantwortlich
fühlt, schützen. Denn
“Der geistliche Mensch beurteilt alles” (1.Kor 2,15-16)
Zur Prüfung dienen die drei Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi (Mt 23,23):
Barmherzigkeit 1, Fairness 2, Ehrlichkeit 3
Für Jesus Christus waren es die die wichtigsten Maßstäbe!
1 Siehe unter „Stichworte: „Barmherzigkeit, echte“ im Internet.
2 Siehe unter „Häufige Fragen“ die 9.Frage auf Seite 188.
3 Siehe unter „Häufige Fragen“ die 10.Frage auf Seite 190.
1
Es sind sehr leistungsfähige Prüfinstrumente.
Du 4 kannst damit:
- Dich selbst 5 und Deine Einstellung prüfen
- Dein geistliches Urteilsvermögen 6 prüfen
- das pädagogische Leitbild der Gemeinde
und seinen Einfluss auf Deine Persönlichkeit 7 prüfen
- Deine Widerstandskraft gegenüber schädlichen Einflüssen 8 prüfen.
Wer diese Prüfinstrumente anwendet,
kann seine Urteilskraft erheblich verbessern!
Nur wenn die Gemeinde Jesu destruktiven Einflüssen widersteht, bleibt
die gute Nachricht von der Befreiung durch Jesus Christus 9 unver­
fälscht und zuverlässig bestehen.
(Es versteht sich dabei von selbst, dass auch wir korrigierbar bleiben. In der
notwendigen Auseinandersetzung fühlen wir uns an Fairness-Regeln im
Umgang mit Andersdenkenden 10 gebunden. Wir greifen niemanden nament­
lich an, auch wenn wir manche Missbrauchsfälle im Detail darstellen wer­
den. Unsere Untersuchung erfolgt auf der Grundlage herkömmlichbibeltreuer Theologie. Deshalb bitten wir insbesondere unsere bibeltreuen
Leser, uns auf Fehler und Mängel in unseren Texten aufmerksam zu machen
und uns ihre mit der Bibel begründete Kritik über unser Kontaktformular
auf der Internetseite mitzuteilen.)
Der bibelgemäße Stil dieser Internetseite wird bisweilen als “fundamentali­
stisch” kritisiert. Wir bitten zu bedenken, dass gerade diese Argumentati­
onsweise eine pauschale, schnelle Abwehr der Reformvorschläge als
“Ungläubigengeschwätz” verhindert. Sie stellt sicher, dass hilfreiche Argu­
mente auch von Mitgliedern extremer, gut abgeschotteter und gut kontrol­
lierter religiöser Gruppen angehört und diskutiert werden.
4
5
6
7
8
9
10
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Du-Anrede“, (Internet)
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet)
Siehe unter „Prüfe Dein Urteilsvermögen“, Seite 150.
Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173.
Siehe unter „Giftige Theologie“, Seite 35.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet).
Siehe Seite 209.
2
Auch ermöglicht gerade diese Argumentationsweise Gläubigen, Machtmiss­
brauch auf der Grundlage ihres eigenen Normensystems wahrzunehmen. Es
gibt wohl kaum einen effizienteren Weg, gegen Machtmissbrauch vorzuge­
hen, als an eine Motivation anzuknüpfen, die aus dem eigenen Normensy­
stem stammt.
Auch wenn manche unsere Sicht nicht in allen Punkten teilen, so wird man
dennoch den Wert einer offenen Diskussion der hier erwähnten Themen
erkennen und unsere Bemühung um mehr
Transparenz
zu schätzen wissen. Diese Bemühung trägt bereits erheblich zu einer Entgif­
tung einer Theologie bei, die an kurzsichtige allzumenschliche Interessen
gebunden ist.
2. Eine reale Gefahr …
Destruktive Theologie ist eine reale Gefahr
für Deine seelische Gesundheit.
Keine christliche Gemeinde ist immun dagegen.
Das Schädliche kann unter vielem,
was dort an Hilfreichem und Richtigen gelehrt wird,
versteckt sein.
3
Hier erfährst Du, 11 wie Du dich rechtzeitig davor schützen kannst …
Viele Menschen machen überwiegend positive Erfahrungen mit dem christ­
lichen Glauben. Entsprechend hört man in christlichen Gemeinden viele
positive Berichte, denen man vertrauen darf.
Der Grundsatz der Ehrlichkeit 12 gebietet jedoch, dass auch Gläubige zu
Wort kommen dürfen, die dort negative Erfahrungen mit GIFTIGER THEO­
LOGIE 13 oder Machtmissbrauch gemacht haben.
Hier hast Du Zugang zu wichtigen Informationen, die Du in etlichen
Gemeinden vielleicht niemals bekommen wirst…
Jesus Christus will, dass seine Jünger freie Leute sind und bleiben: “Lasst
euch die Freiheit 14 nicht wegnehmen, zu der euch Christus berufen hat!”
(Gal 5,1)
3. Liebe Schwester, lieber Bruder ...
- wenn dein Gewissen deine Unvollkommenheit nicht akzeptiert und dich
ständig mit perfektionistischen Forderungen quält,
- wenn du meist unsicher bist, ob Gott dir freundlich gesonnen ist,
- wenn dir Bibelstellen Angst machen und die Theologie deiner Gemeinde
darauf in unglaubwürdiger Weise reagiert,
- wenn Mitchristen dich ablehnen, weil du ehrliche Antworten suchst,
- wenn dich ein Gemeindemitglied erheblich geschädigt hat, aber deine
Beschwerde nicht angehört wird,
- wenn Zweifel 15 am Charakter Gottes aufsteigen oder gar Verzweiflung,
weil Scheinheiligkeit und Tolerieren von Unrecht in der Gemeinde nie­
manden mehr stört …
11
12
13
14
15
Siehe unter „Giftige Theologie“, Seite 35.
Siehe unter „Häufige Fragen“ die 10.Frage auf Seite 190.
Siehe unter „Giftige Theologie“, Seite 35.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet).
Siehe Seite 7.
4
3.1. Wirf deinen Glauben nicht weg ! (Hebr 10,35) Auch wenn nur noch
wenig davon übrig ist – so wenig „wie ein Senfkorn“ (Lk 17,6) – , so ist
doch dieser Rest in Gottes Sicht unendlich kostbar und kann wieder stark
werden. Wenn Menschen sich Christen nennen und unbarmherzig, unfair
und unehrlich mit anderen umgehen, dann sollte man nicht daraus daraus
schließen, dass Gottes Charakter ähnlich ist. Ein fataler Fehlschluss! Gott
liebt Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit ohne Einschrän­
kung, wie man an Jesus Christus sehen kann.
3.2. Nimm den Schlüssel 16 Jesu, der zum Verstehen der Bibel notwendig
ist, auch wenn andere Gläubige der Ansicht sind, dass sie das Recht hätten,
ihn dir vorzuenthalten oder wegzunehmen. Wenn du diesen Schlüssel
gebrauchst, wirst du den lebensfördernden Sinn (Mt 4,4) der Bibel verste­
hen: das ist “Christi Sinn” (1.Kor 2,16), in Liebe und Freiheit.
3.3. Investiere in den Glauben Zeit, Kraft und Verstand. Wenn er dir
kostbar wird, wird er stärker und du erlebst wieder Glaubensfreude. Triff
dich mit Gläubigen, die ehrliches Fragen und Suchen erlauben, um den
lebensfördernden Sinn (Mt 4,4) der Bibel aufzuschließen. Löse dich vom
Einfluss von Gläubigen, die das nicht wollen, sondern Anpassung an Ideolo­
gie und Propaganda erwarten.
3.4. Wenn du Hilfe erfahren hast, hilf anderen, die diesen Weg noch nicht
kennen. Mache den Schlüssel Jesu bekannt, ohne den die Theologie giftig
17
wird.
16 Siehe Seite 6.
17 Siehe Seite 35.
5
4. Schlüssel weg ?
Die drei Qualitätsstandards Jesu (Mt 23,23)
Barmherzigkeit 18 , Fairness 19 , Ehrlichkeit 20
sind die wichtigsten Ordnungsprinzien des Neuen Testamentes.
Sie sind der Schlüssel
ohne den eine konstruktive, lebensfördernde Auslegung der Bibel
nicht möglich ist.
Wenn dieser Schlüssel nicht benutzt wird, können gefährliche Missverständ­
nisse entstehen: (“Giftige Theologie“ 21 )
Mit Hilfe dieses Schlüssels kann jeder Gläubige den Rang eines Bibelwortes
erkennen, sodass seine Interpretation widerspruchsfrei bleibt.
Etliche bibeltreue Theologen sind der Ansicht, dass die betreffenden Worte
Jesu keine Schlüsselfunktion haben. Es genüge, Bibelworte aufeinander zu
beziehen. So hört man immer wieder Sätze wie: “die Bibel legt sich selbst
aus …”, “die Bibel erklärt die Bibel …”,
Manchmal ja. Doch wenn Bibelworte einander einschränken, wer legt
dann den Rang 22 der einzelnen Bibelworte fest ?
Wenn der Schlüssel nicht angewandt wird, dann übernehmen Theologen
seine Funktion. Sie stufen Bibelworte nach ihrem Ermessen ein oder gemäß
der Tradition. Das macht es den Gläubigen sehr schwer zu lernen, wie die
Bibel mit Hilfe der drei Prinzipien Jesu 23 selbständig erschlossen und ver­
standen werden kann. Stattdessen bleiben sie abhängig von der (interessen­
geleiteten) Sicht von Theologen und übernehmen gutgläubig diese Sicht.
18
19
20
21
22
23
Siehe unter „Stichworte“ (Internet).
Siehe Seite 188.
Siehe Seite 190.
Siehe Seite 35.
Siehe unter „Stichworte“ / „Polarität“ (Internet).
Siehe unter „Stichworte“ / „Qualitätsmaßstäbe“ (Internet).
6
Jesus warnte vor den Schriftgelehrten, die “das Himmelreich zuschließen
vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr
nicht hineingehen !” (Mt 23,13)
Es gibt also Theologen, die der Gemeinde den Schlüssel vorenthalten oder
wieder wegnehmen. Sie haben kein Interesse daran, dass Gläubige mit seiner
Hilfe selbständig urteilen 24 lernen. Auch dass Menschen deswegen ihren
Glauben verloren und die Gemeinde verlassen haben, scheint sie wenig zu
stören (“Churchly Correctness“ 25) , solange nur genug neue Mitglieder
angeworben werden können.
Dieser Schlüssel steht jedem Gläubigen zur Verfügung. Du hast das Recht,
ihn zu verwenden. Wer ihn gebraucht, wird feststellen, dass der Heilige
Geist sein Anwalt ist und ihn befähigen kann, andere vor Rechtsverlet­
zungen zu schützen.
5. Notwendiger und schädlicher Zweifel
Zweifel wird von manchen Gläubigen generell negativ gesehen, als sündiges
Verhalten, das der Gläubige zu vermeiden hat. Sie können sich auf zahl­
reiche Ermahnungen ihn der Bibel, nicht zu zweifeln, sondern zu glauben,
berufen. Haben sie also damit recht ? Sehen wir einmal genauer hin.
Im alten Bund sollte der Hohepriester am Versöhnungstag ein Tieropfer dar­
bringen (3.Mo 16, 17ff), um die Sünden des ganzen Volkes (!) zu “bede­
cken” und es von der Schuld zu “reinigen” (Septuaginta: καθαρισθησεσθε) .
Im Hebräerbrief heißt es später, dass es unmöglich sei, durch das Opfer
von Tieren Sünden “wegzunehmen” und Vergebung zu erlangen. (Hebr
10,4) Nur das Blut Jesu hat die Kraft, “den Gläubigen zu reinigen
(καθαριζει) von aller Sünde.” (1.Joh 1,7) Was stimmt denn nun ? Hatten frü­
her Tieropfer tatsächlich die Kraft, von Sünde zu reinigen oder kann das nur
das Blut Jesu ?
Dieser Kontrast der Aussagen wäre ein Widerspruch, wenn beide Aussagen
gleicher Art wären.
24 Siehe Seite 150.
25 Siehe unter „Stichworte“ (Internet).
7
Indes, ein wirklicher Widerspruch ist nicht vorhanden, weil nur die Aussage
des Neuen Testamentes letztgültige Wirklichkeit ist, die Aussage des Alten
Bundes dagegen eine vorläufige, vorbereitende Aussage, die auf die letztgül­
tige Wirklichkeit hinweist: sie ist nur der “Schatten” (Hebr 8,5) der Wirk­
lichkeit.
An letztgültigen Aussagen sollte der Gläubige nicht zweifeln. Letztgültige
Aussagen fordern das Vertrauen in Gott und eine Verhaltensänderung unmit­
telbar heraus. Wer in dieser Weise vertraut, handelt anders als der NichtGlaubende, denn er rechnet mit den unsichtbaren Tatsachen, die sich aus der
Aussage ergeben. Dieses Vertrauen ehrt Gott. “Obwohl Abraham damals
schon fast hundert Jahre alt war und wusste, dass er keine Kinder mehr zeu­
gen und seine Frau Sara keine Kinder mehr bekommen könnte, wurde er im
Glauben nicht schwach und zweifelte nicht an der Zusage Gottes. Er ehrte
Gott, indem er ihm vertraute , und wurde so im Glauben gestärkt. Er war
sich völlig gewiss, dass Gott auch tun kann, was er verspricht. Eben darum
wurde ihm der Glaube als Gerechtigkeit angerechnet. ”
Doch wie ist es bei vorläufigen Aussagen ?
David kamen nach seiner an Uria verübten Bluttat zum erstenmal Zweifel an
der Wirksamkeit eines Tieropfers: “Tieropfer gefallen dir nicht, sonst würde
ich sie dir geben. Aus Brandopfern machst du dir nichts.” (Ps 51,18)
Das Gesetz sagte in seinem Fall ausdrücklich: “ihr sollt keine Sühneleistung
annehmen bei Mord.” (4.Mo 35,31) “Wer vorsätzlich einen Menschen
ermordet hat, der schändet das Land, und das Land kann von der Blut­
schuld nicht gereinigt werden außer durch das Blut dessen, der es vergossen
hat.” (4.Mo 35,33)
Für Mord war kein Opfer vorgesehen. Es gab keine Sühne dafür. Doch die
Justiz konnte das Todesurteil nicht vollstrecken. Der König war die Justiz.
Er garantierte den Rechtsfrieden. Ohne ihn gäbe es Anarchie, Kämpfe um
die Macht, noch mehr Morde.
So blieb die Sünde ungesühnt. Was konnte David noch zu seinen Gunsten
anführen? Tiefe Zerknirschung und Reue ?
8
“Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängstetes Herz…“. (Ps 51,18) Eine reu­
ige Einstellung ist eine Selbstverständlichkeit. Zu opfern und nichts zu
bereuen wäre eine Verhöhnung Gottes. Schon weil das Opfer Geld kostet,
wird es in der Regel von einem Gefühl des Bedauerns begleitet sein (so wie
das Bezahlen eines Strafzettels). Dieses Bedauern erspart das Opfern nicht,
es ist nur eine Begleiterscheinung.
Wenn die Tat – wie ein Mord z.B. – nicht durch ein Tieropfer gesühnt wer­
den kann, dann kann die Schuld nach alltestamentlichem Recht nur durch
den Verlust des eigenen Lebens beseitigt werden – was Seele und Gewissen
natürlich enorm belastet. Diese seelische Belastung hat jeder zum Tode Ver­
urteilte vor der Hinrichtung zu tragen. Sie hat ebenfalls keine sühnende Wir­
kung, sodass deshalb das Opfer des eigenen Lebens erlassen werden könnte.
In dieser ausweglosen Situation befindet sich David. Doch er erlebt staunend
und dankbar, dass Gott die Opferfrage als bereits erledigt betrachtet. Wie das
möglich ist – weiß David nicht. Oder ahnt er etwas ? Auf sein Sündenbe­
kenntnis hin kann ihm Nathan mitteilen: “so hat der Herr deine Sünde weg­
genommen und du wirst nicht sterben.” (2.Sam 12,13).
Auf seine große Sünde folgt: gar nichts! Die Sünde ist einfach weg, völlig
beseitigt. Die im folgenden auferlegten Strafen sühnen die Sünde nicht, son­
dern haben nur einen Zweck, den Verächtern des Glaubens zu zeigen, dass
Gott gerecht ist, nicht mit zweierlei Maß misst, und keine Günstlinge hat,
denen er alles durchgehen lässt. Hätte niemand die Sünde bemerkt, wären
diese Strafen sehr wahrscheinlich erlassen worden.
Wenn aber nun bei dem schlimmsten Verbrechen die Schuld ohne Bestra­
fung des Sünders hinweggenommen wird, dann muss das fairerweise auch
bei allen kleineren Vergehen so sein. Wie kann ein Gott gerecht erscheinen,
der “die Kleinen hängt, die Großen aber laufen lässt” , der “Mücken aus dem
Getränk filtert, aber zugleich Kamele hinunterschluckt” (Mt 23, 24) ? Auch
hier wäre die Ehre Gottes, das Vertrauen in Sein gerechtes Urteilen in Frage
gestellt. Das darf nicht sein.
Kann David vergeben werden auf sein bloßes Schuldbekenntnis hin, so muss
das auch für alle anderen Sünder gelten, die weniger Schlimmes getan und
weniger Strafe verdient haben.
9
Deswegen ist Davids Erkenntnis: “Tieropfer gefallen dir nicht..” (Ps 51,18)
eine allgemeingültige Aussage, die seltsam verloren dasteht inmitten des
weiter praktizierten Opferkults.
Sie bringt zwangsläufig die Frage mit sich: was erwartet Gott statt eines
Opfers von mir ? Was ist ihm lieber als dieses Opfer ? Denn auch der gebo­
tene Opferdienst ist kein Irrtum Gottes, ist nicht sinnlos: er muss eine Art
Vorbereitung für die neue Erkenntnis sein. Von Nathan erhält David diese
Erkenntnis nicht.
Gott überlässt es dem Menschen, sich hier allein Gedanken zu machen und
sich selbst um eine tragfähige Antwort zu bemühen. David vermutet ehrliche
Reue, Demut und tiefe Selbsterkenntnis, und ist damit auf dem richtigen
Weg. Seine Erkenntnis vereinigt sich später mit den Erkenntnissen der Pro­
pheten, die sogar den Abscheu Gottes vor dem Opferdienst bekunden, sofern
er nicht mit einer innerlichen Erneuerung verbunden ist. “ihr mögt mir noch
so viele Brand- und Speisopfer darbringen – ich kann sie nicht leiden. Ich
mag eure fetten Dankopfer nicht ansehen… sorgt lieber, dass gerechte
Rechtsprechung im Land zu sehen ist…” (Amos 5,22-24)
Das Bemühen um tiefe Selbsterkenntnis 26 wird den Zweifel am vorhan­
denen Opferkult weiter vertiefen. Wer die ganze Verdorbenheit seines Her­
zens erkennt, wird immer ins Zweifeln kommen, ob das Opfern eines Tieres,
das man ja auch schon für die Zubereitung einer Mahlzeit getötet hätte, nun
zusätzlich auch noch Sünde ungeschehen machen kann.
Das ist ja das Ziel der Vergebung: Die “Reinigung” von der Sünde (Ps 51,12
/ 1.Joh 1,9), die den Gläubigen so stellt, als hätte er sie nie begangen. Wie
soll das möglich sein ? Getötet würde das Tier ohnehin, um es zu essen. Das
was hinzukommt, ist das religiöse Ritual, das das Opfer begleitet. Ein Ritual,
das Menschen vollziehen, soll letztlich die Erlösung bringen: eine magische
Vorstellung, die gründlich denkende Gläubige nicht überzeugt.
Wer ein Tieropfer als ausreichende Sühnung ansieht, der denkt wenig über
das Gewicht der eigenen Sünde nach. Sicherlich kann er sich auf den Wort­
laut alttestamentlicher Opfervorschriften berufen.
26
Siehe unter „Stichworte“ (Internet).
10
So werden es viele konservative Gläubige getan haben, die dann später auch
vom Messias nichts wissen wollten, der “ein für allemal” (Hebr 7,27) das
einzig gültige und ausreichende Opfer – sich selbst – darbrachte (Hebr.5,3 /
9,27) So blieb ihnen nicht weiter übrig als sich weiter – unter Berufung auf
die mosaische Tradition – an der Illusion 27 des Tieropfers festzuhalten.
Gehorsam gegenüber dem Wortlaut ist keinesfalls immer das Richtige. Er
kann das Grundfalsche sein, wenn die Aussage “Schattencharakter” hat,
wenn sie von sich selbst weg auf eine noch nicht erschlossene Wirklichkeit
verweist. Wie destruktiv und irreführend eine blinde und gedankenlose wört­
liche Anwendung biblischer Aussagen sein können, zeigen viele unter der
Überschrift “Giftige Theologie” 28 genannten Beispiele.
Die Frage: “Habe ich das Wirkliche gesehen oder nur einen Eindruck seines
Schattens gewonnen ?”, begleitet den Leser der Bibel ständig.
Eine sorgfältige Argumentation ist für die Stabilität eines freundlichen
Gottesbildes und für den Schutz der Heilsgewissheit unerlässlich
6. Resultate
Was wurde bisher durch unsere Untersuchung konkret an Erkenntnis­
sen gewonnen?
1. Die Mehrzahl der Gläubigen, die ein bibeltreues Glaubensbekenntnis
haben, das die “Heilige Schrift als völlig zuverlässig” 29 bezeichnet, macht
auf dieser Grundlage augenscheinlich überwiegend befreiende und stär­
kende Erfahrungen mit dem christlichen Glauben. Einzelne Gläubigen aber
sind von immer mehr frustrierenden und entmutigenden Wahrnehmungen
und zuletzt von religiöser Depression betroffen, obwohl sie sich beharrlich
um positive Erfahrungen bemühen.
27
28
29
Siehe unter „Stichworte“ (Internet).
Siehe Seite 35.
http://www.ead.de/die-allianz/basis-des-glaubens.html
11
2. Religiöse Depression muss nicht zwingend eine wahnhafte Erkran­
kung sein. Der Gläubige schließt einen Bund (Vertrag) mit Gott. Grundlage
dieses Vertrages (Vertragstext) ist die Bibel, die über Rechte und Pflichten 30
des Gläubigen verbindlich Auskunft gibt.
Wenn der Wortlaut des biblischen Vertragstextes die Möglichkeit einer
erheblichen Bedrohung oder Schädigung nicht sicher ausschließen kann,
dann ist eine ängstliche oder depressive Reaktion der betroffenen Person, die
sich auf diesen Text verlässt, absolut normal. Das medizinische Problem ist
also im Grunde genommen ein rechtliches oder logisches Problem.
3. Menschen, die gründlich nachdenken, können ihre seelische Stabilität
schwerlich dadurch zurückgewinnen, indem sie nachteilige Teile des Ver­
tragstextes willkürlich ignorieren oder verdrängen 31, wie es von etlichen
Seelsorgern empfohlen wird.
4. Menschen mit deprimierender Biographie können ihre seelische Stabilität
schwerlich dadurch zurückgewinnen, indem sie sich der optimistischen
Sicht anschließen 32, dass nur die ermutigenden Stellen der Bibel für sie
Gültigkeit haben.
5. Wenn man der Bibel göttliche Herkunft und Autorität zuerkennt, dann las­
sen sich Befürchtungen am effektivsten entkräften, wenn ein Interpretati­
onsverfahren zur Verfügung steht, das sich wiederum überzeugend an
biblische Autorität anbinden lässt und nicht von subjektiven, optimi­
stischen, rein spekulativen Sichtweisen abhängig ist.
6. Die Qualität des “Schriftbeweises” setzt das Wissen um bestimmte
Eigenschaften der Bibel voraus (z.B. keine Interpretation ohne geistliche
Disziplin 33, Pauschalstil 34, Polarität 35, Prioritäten 36, Selbstverstärkung 37,
30
31
32
33
34
35
36
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Heilsgewissheit“, (Internet)
Siehe unter „Alternativen“ den 3.Abschnitt, Seite 22.
Siehe unter „Alternativen“ den 1.Abschnitt Seite 18.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Geistliche Disziplin“, (Internet)
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Pauschalstil“, (Internet)
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Polarität der Bibel“, (Internet)
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Rangunterschiede biblischer Aussagen“,
(Internet)
37 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Selbstverstärkung“, (Internet)
12
Unterscheidung der Verantwortungsbereiche 38). Eine seriöse Theologie wird
diese Eigenschaften erschließen und selbstkritisch reflektieren, inwieweit
ihre Arbeit zu selbständigem, stabilem Vertrauen hinführt.
Das weithin übliche Verfahren, einfach nur Heilszusagen zu zitieren, ohne
die Vertrauensblockade mit Hilfe einer beweiskräftigen Argumentation auf­
zulösen, und im übrigen zu beteuern, “dass es in religiösen Angelegenheiten
eben keine absolute Sicherheit geben könne” dürfte insoweit effizient sein,
dass der Ratsuchende sich von weiteren Seelsorgeterminen nichts mehr ver­
spricht.
7. Eine hilfreiche und ermutigende Interpretation des biblischen Vertrag­
stextes ist unmöglich, wenn alle Sätze des biblischen Vertragstextes gleiches
Gewicht haben und insoweit Sätze mit gegensätzlichen Aussagen (Heilszu­
sagen, Tröstungen, Warnungen und Drohungen) sich gegenseitig entkräften
oder aufheben. 39 Eine hilfreiche und ermutigende Interpretation ist gleicher­
maßen unmöglich, wenn alle Sätze des neutestamentlichen Vertragstextes
gleiches Gewicht haben.
8. Die Bibel lehrt unmissverständlich, dass die verbindlichsten Sätze, die
Gebote, nicht gleichwertig sind, sondern in einer Rangfolge 40 stehen. Eben­
falls lehrt sie, dass die Autoren biblischer Texte nicht gleichwertig sind, son­
dern in einer Rangfolge stehen.
9. Die Person mit der größten Autorität in der Bibel ist der sündlose Gottes­
sohn Jesus Christus. Er vermittelt das klarste und alleingültige Gottesbild:
“Wer mich sieht, sieht den Vater.” (Jo 14,9) Seine Worte haben den höchsten
Rang: “Ihr habt gehört… Ich aber sage euch“. (Mt 5) Unter dem, was er
gebietet, gibt es drei Gebote, denen er die größte Autorität verliehen hat:
das Gebot, barmherzig zu sein, das Gebot, gerecht zu sein, und das Gebot,
ehrlich zu sein (Mt 23,23). Diese Gebote sind hohe Qualitätsstandards 41, die
zur Interpretation aller übrigen Bibelworte dienen können und müssen.
38 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unterscheidung der Verantwortungsbe­
reiche“, (Internet)
39 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das Heil?,
(Internet)
40 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Rangunterschiede biblischer Aussagen“,
(Internet)
41 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Christi“, (Internet).
13
10. Werden diese Gebote als Maßstab der übrigen Aussagen der Bibel ver­
wendet, so treten die Rangunterschiede dieser Aussagen viel deutlicher her­
vor.
Ebenfalls wird deutlich, dass im biblischen Text verstreut einzelne Aussagen
gibt, die den Rang “Null” haben und deshalb auch von Gläubigen unter­
schiedlicher theologischer Richtungen gemeinsam instinktiv ignoriert 42 wer­
den: z.B. das Gebot, einer Frau, die unbedeckt betet, das Haar abzuschnei­
den (1.Ko 11,6) oder das Gebot, dass Sklaven ihren Herren untertan sein,
ihre Pflichten ohne Murren erfüllen und Misshandlungen demütig ertragen
müssen (1.Pe 3,18-19).
11. Man kann eine unterschiedliche Rangfolge biblischer Aussagen, ja sogar
den Rang “Null” feststellen, ohne damit eine negative Rückwirkung auf
die Würde und Autorität der Heiligen Schrift in Kauf nehmen zu müs­
sen. Die Rangfolge biblischer Aussagen wird mit Hilfe eines höheren Ord­
nungsprinzips – den drei Qualitätsmaßstäben 43 – festgelegt. Auch das vom
Schöpfer konzipierte biologische “Lebensbuch”, die Erbsubstanz, wird mit
Hilfe übergeordneter Mechanismen ausgelesen. Um das Leben zu entwi­
ckeln und zu erhalten, werden Abschnitte des genetischen Codes nach
einem sinnvollen Plan aktiviert, zeitweilig deaktiviert oder ganz stillgelegt.
Eine gleichzeitige und dauerhafte Aktivierung aller Abschnitte findet nie­
mals statt (schöpfungsgemäßes Inspirationsmodell).
12. Der Gläubige, der einen Bibeltext oder eine bestimmte Auslegung dieses
Textes deaktiviert (Beispiele 44), weil er mit den wichtigsten Geboten der
Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit in deutlichem Widerspruch
steht, handelt im Namen Jesu, der es bei Bedarf uns zum Vorbild ähnlich
gemacht hat (Mt 18,8 ff / Joh 8,1 ff), und darf sich auf seine Autorität beru­
fen.
42 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Rangunterschiede biblischer Aussagen“,
(Internet).
43 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Christi“, (Internet).
44 Siehe unter „Giftige Theologie“ die Behauptung: „Die strengere und härtere Inter­
pretation ist auf jeden Fall die bessere“, Seite 118.
14
Bei diesem Urteilen ist nicht nur die Wirkung auf die seelische Stabilität des
einzelnen Gläubigen zu berücksichtigen, sondern auch die Wirkung auf
seine charakterliche 45 Bildung und darüber hinaus die Wirkung auf die
gesamte Gemeinde, auf ihre Glaubwürdigkeit und auf ihr Zeugnis in der
Welt.
13. Die Untersuchung der Rangfolge biblischer Aussagen stellt die Eindeu­
tigkeit des Gottesbildes wieder her, sowie die Eindeutigkeit der Ethik
und der Heilszusagen – eine unerlässliche Voraussetzung für die Überwin­
dung der deprimierenden Verunsicherung im Glauben.
14. Die Untersuchung der Rangfolge biblischer Aussagen schärft das
Urteilsvermögen 46 und erleichtert es, Interpretationen der Bibel hinsichtlich
ihrer unterschiedlichen Beweiskraft zu bewerten. Psychisch schwer
geschädigten Geschwistern wird am ehesten mit einer Interpretation gehol­
fen, die die vergleichsweise stärkste Überzeugungskraft hat.
15. Auf diesem Wege wird die Giftigkeit gewisser mangelhafter Bibelin­
terpretationen aufgedeckt und ihnen wird die Autorität und damit die Wir­
kungsmacht in der Seele entzogen. Wie das konkret aussehen kann, haben
wir hier an 28 Beispielen 47 gezeigt. Wir hoffen dadurch langes unnötiges
Leid zu vermeiden. Besonders gefährlich für die seelische Gesundheit sind
Missverständnisse in Bezug auf die unvergebbare Sünde. 48
16. Die Gemeinde kann zur Vorbeugung und Heilung beitragen, indem sie
Gott als zuverlässigen und fairen “Vertragspartner” (Bundespartner)
bezeugt. Das tut sie, indem sie selbst sich dem Ziel der Heiligen Schrift, zur
Gerechtigkeitsliebe zu erziehen 49, unterordnet und sich eifrig um eine Kul­
tur der Fairness 50 bemüht.
45
46
47
48
49
50
Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet).
Siehe die Auflistung unter „Giftige Theologie“, Seite 35 ff.
Siehe Seite 189 ff.
Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173.
Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211.
15
17. Man muss aber auch mit der Tatsache rechnen, dass manche Gemeinde­
lehrer und Mitglieder weiter Barmherzigkeit, Fairness und Ehrlichkeit für
zweitrangig halten und eisern am perfektionistischem Dogmatismus festhal­
ten werden. Es bleibt dann nicht aus, dass sie versuchen, ihn auch anderen
aufzuzwingen, um ihre eigene moralische Position nicht in Frage stellen zu
müssen.
Diese wird allerdings automatisch durch die Art der unfairen Methoden in
Frage gestellt, die sie mangels Überzeugungskraft verwenden. Wenn der
Gläubige diese Methoden kennt 51 und mit dem Wort Gottes abwehren kann,
ist er sehr gut gegen Einschüchterungsversuche geschützt. Er hat dann den
Freiraum, selbständig und verantwortlich auf biblischer Grundlage zu urtei­
len und zwischen vermeintlicher und tatsächlicher Autorität zu unterschei­
den.
18. Es ist hilfreich, den Blick für typische Defizite und Sünden in der Lei­
tung 52 zu schärfen – nicht um Christen in dieser Position anzufeinden, son­
dern um zu erkennen, dass Perfektionismus selbst bei den Vorbildern im
Glauben, den Ältesten, eine Fiktion ist. Die Erkenntnis, dass Gott eine
Gemeinde weiter segnet trotz Unvollkommenheiten, Schwächen und lang­
fristigem Versagen in der Leitung, trägt viel zur Entkrampfung und Loslö­
sung von perfektionistischer Prägung bei.
Um aus einer durch das Bibelverständnis verursachten Depression wie­
der herauszufinden, wird also auf unserer Internetseite folgendes Vor­
gehen empfohlen:
1. perfektionistische, “giftige” Theologie
dig widerlegen
53
demaskieren und glaubwür­
51 Siehe die Auflistung unter „Tricks“ (Internet).
52 Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211.
53 Siehe die Auflistung unter „Giftige Theologie“, Seite 35 ff.
16
(Ziel: Durch Anwenden des höchstrangigen Ordnungskriteriums der Bibel,
den Qualitätsmaßstäben Jesu 54, kann der depressiv gefährdete Gläubige den
Freiraum zurückgewinnen, den er benötigt, um sich aus destruktiven Prä­
gungen durch Tradition, Erziehung und Gewissen 55 zu lösen.)
2. den positiven und mutmachenden Charakter einer Freundschaft mit
Gott (“Heiligung“ 56) verdeutlichen
(Ziel: auf die Überwindung negativer Missverständnisse muss das frucht­
bare, konstruktive Verstehen folgen, das die liebevolle Beziehung des Gläu­
bigen zu Gott ermöglicht und vertieft. Dabei nimmt der Gläubige das durch
die Bibel verbriefte Recht in Anspruch, die Frage nach der Qualität der
Früchte zu stellen (Mt 7,16 / Joh 8,46). Ohne konstruktives Verstehen ent­
steht ein Vakuum, das bald wieder von Destruktivität – Gottlosigkeit oder
Werkgerechtigkeit – ausgefüllt werden wird.)
3. zur kritischen Wahrnehmung von Autorität und Macht
Gemeinde anleiten
57
in der
(Ziel: der depressiv gefährdete Gläubige braucht zusätzlich den Schutz vor
unfairen Methoden der Manipulation und seelischen Erpressung, die weiter
von außen auf ihn einwirken werden. Zugleich soll er aber auch erkennen,
wieviel Segen Gott schenken kann trotz vielfältiger Unvollkommenheit, die
sich manche Gemeindeleitung leistet.)
54 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Jesu“, (Internet).
55 Siehe unter „Giftige Theologie“ die „Behauptung: Das Gewissen ist die unfehlbare
Stimme Gottes“, Seite 119.
56 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
57 Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211.
17
7. Welche tragfähigen Alternativen gibt es dazu ?
Gegen eine durch perfektionistisches Bibelverständnis verursachte Depres­
sion gibt es eine evangeliumsgemäße Therapie 58,die das höchstrangige Ord­
nungskriterium der Bibel, die Qualitätsmaßstäbe Jesu 59, zur Interpretation
aller biblischen Aussagen verwendet. Wenn dieser Schlüssel 60 nicht ange­
wendet werden kann oder darf, dann stehen üblicherweise die folgenden
(u.U. wenig tauglichen) Alternativen zur Verfügung:
1. Eine optimistische Einstellung ist Pflicht
2. Den Spieß umdrehen: Der Aufruf zur Heiligung wird als Werkgerechtigkeit betrachtet
3. Quantitative Lösung: die Bibel grundsätzlich nur in Auswahl lesen
4. Heilssicherung mittels Ritual
5. Glauben an den Glauben anderer
6. Allversöhnung
7. Entkernung des Christentums
7.1. Eine optimistische Einstellung ist Pflicht.
Argumentation: Die Güte Gottes gegenüber jedem Menschen hat grund­
sätzlich ein viel höheres Gewicht als alle Warnungen und Strafen. “Sein
Zorn währt nur einen Augenblick, aber lebenslang seine Gnade.” (Ps 30,6)
Auch bei strengsten Warnungen gilt: es wird nichts so heiß gegessen, wie es
gekocht wird.
Warnungen sind gutgemeinte Übertreibungen, um gleichgültige Menschen
zum Zuhören zu bewegen. Deswegen darf der Gläubige grundsätzlich opti­
mistisch sein. Damit ehrt er Gott am besten.
Vorsichtige Beurteilung: Zweifellos sind die Ansichten Gottes grundsätz­
lich gut. “Gott will ja, dass alle Menschen gerettet werden und die Wahr­
heit erkennen können.” (1.Tim 2,4).
58 Siehe Seite 11.
59 Siehe unter „Stichworte“ (Internet).
60 Siehe Seite 7.
18
Auch seine Strenge ist Güte: „Mein Sohn, denke nicht schlecht über die
strenge Hand des Herrn, verliere nicht den Mut, wenn er dich straft! Denn
wen der Herr liebt, den erzieht er streng und wen er als Sohn annimmt, dem
gibt er auch Schläge. Was ihr ertragen müsst, dient also eurer Erziehung.
Gott behandelt euch so wie ein Vater seine Söhne. Oder habt ihr je von
einem Sohn gehört, der nie bestraft wurde? Wenn Gott euch nicht mit
strenger Hand erziehen würde, wie er das bei allen macht, dann hätte er
euch nicht als Kinder anerkannt.” (Hebr 12,5-8)
Wenn der Mensch sein Unrecht ehrlich bereut und lässt, vergibt ihm Gott
gerne und verzichtet auf die Bestrafung. (Jona 3,10 + 4,11)
Gott straft nicht gleich, sondern versucht zunächst den Menschen mit Güte
zu überzeugen: “Begreifst du denn nicht, dass er dich mit seiner Güte zur
Umkehr bringen will?” (Rö 2,4)
Strafe und Gnade stehen in einem zeitlichen Verhältnis: “Einen Augenblick
nur dauert Sein Zorn, aber lebenslang seine Gnade.” (Ps 30,6) Wieviele
Sekunden hat das Leben! Dem Zorn wird gerade eine einzige Sekunde zuge­
standen. Das sind die Relationen Gottes.
Dies alles erlaubt eine ermutigende und zuversichtliche Betrachtung der
Bibel.
Optimistisch sein gelingt Gläubigen mit einer positiv verlaufenden Biografie
in der Regel sehr gut. Da sich bei ihnen fast alles “zum Besten” gefügt hat,
fällt es ihnen nicht schwer an die Liebe und Großzügigkeit Gottes zu glau­
ben. Ihre seelische Stärke lässt sie glauben, dass sie vorsichtigen Gläu­
bigen überlegen sind. Wie oben gezeigt, kann das aber eine Selbsttäu­
schung sein. (siehe auch “Sorgfaltsparadox“ 61)
Selbst wenn ihre positive Sicht berechtigt ist, so ist es dennoch naiv, zu
glauben, dass dieser Optimismus von Gläubigen, die durch schwere Schick­
salsschläge geprägt sind, einfach übernommen werden könnte. Eine negativ
verlaufende Biographie liegt die Befürchtung nahe, dass das Unglück die
Antwort Gottes auf eigenes Versagen sein könnte.
61 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet).
19
Zudem gibt es auch einen Optimismus, der leichtsinnig ist. Die Bibel
warnt an manchen Stellen davor. “Es werden nicht alle, die zu mir “mein
Herr”, sagen, in den Himmel kommen, sondern nur die, die den Willen
meines Vaters im Himmel tun.” (Mt 7,27) “Wehe denen von euch, die
sagen: “Möge doch bald der Tag des Herrn kommen”. Für euch wird dieser
Tag die Finsternis bringen und nicht Licht.” (Amos 5,17) Die fünf törichten
Jungfrauen gingen dem Bräutigam entgegen, mussten aber draußen bleiben,
weil sie “kein Öl mehr” hatten. (Mt 25,1ff)
Mit dem “Tun des Willens” kann keine zufriedenstellende Erfüllung des
Gesetzes gemeint sein. (Werkgerechtigkeit 62) Aber die Freundschaft des
Gläubigen mit Gott, seinem Herrn (Jak 2,19) soll an seinem Lebensstil zu
erkennen sein. Die Bibel nennt diese Einstellung “Heiligung”. Sie ist unbe­
dingt notwendig ! “Ohne Heiligung wird niemand den Herrn sehen.” 63
(Hebr 12,14)
Eine Gemeinde, deren Theologie das Thema der “Heiligung” vernachlässigt,
wird sorgfältigen Bibellesern keine Heimat sein können. Sie machen sich
dann auf die Suche nach einer “besonders entschiedenen” Gemeinde, wobei
sie in Kontakt mit der perfektionistischen bzw. werkgerechten Variante gif­
tiger Theologie 64 kommen können. In der früheren Gemeinde haben sie
nicht lernen können, den Missbrauch der Bibel mit der Bibel abzuwehren, da
dort die biblische Autorität in wichtigen Punkten nicht anerkannt wurde.
Sowohl optimistische als auch pessimistische Gläubige benötigen für
eine realistische Selbsteinschätzung die klare Unterscheidung zwischen
Heiligung 65 und Werkgerechtigkeit 66.
Ohne diese Unterscheidung bleibt unklar, ob der verunsicherte Gläubige die
Heilsversprechen Gottes 67 auf sich beziehen kann oder nicht. Mit Hilfe die­
ser Unterscheidung kann sich der Gläubige vor leichtfertigem Optimismus
schützen.
62
63
64
65
66
67
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).
Siehe u. „Stichworte“ den Artikel „Heilsgewissheit ohne Heiligung ?“, (Internet).
Siehe die Auflistung unter „Giftige Theologie“, Seite 35 ff.
Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Absolut verlässlich: die Zusagen Gottes“,
(Internet).
20
7.2. Den Spieß umdrehen: Der Aufruf zur Heiligung wird als
Werkgerechtigkeit betrachtet
Argumentation: Der Aufruf zur Heiligung ist nichts anderes schädliche
Werkgerechtigkeit 68! Es ist nur Unglaube in die allumfassende Gültigkeit
des Sühneopfers Jesu.
Kritische Beurteilung: Tatsächlich ? In der lutherischen Volkskirche ist lei­
der diese irrige Ansicht weitverbreitet. Zweifellos macht man sich beliebt,
wenn man einen Glauben verkündet, der nichts mehr verlangt und nichts
mehr kostet (Wert des Glaubens 69): vergeudete Gnade! (Das Wort von der
“billigen Gnade” (Bonhoeffer) ist sehr missverständlich, denn billig oder
teuer ist etwas, was man bezahlen muss. Der Gläubige muss aber nicht für
seine Errettung bezahlen – auch nicht nachträglich.)
Luther hat in einer Tischrede später durchblicken lassen, dass er mit der
Unterscheidung von”Gesetz und Evangelium”, d.h. von Heiligung 70 und
Werkgerechtigkeit immer noch Probleme hatte und hat dieses Unvermögen
kurzerhand jedem Menschen unterstellt. “Kein Mensch auf Erden ist, der da
kann und weiß das Evangelium und Gesetz recht zu unterscheiden. Wir las­
sen es uns wohl dünken, wenn wir hören predigen, wir verstehen es; aber es
fehlet weit, allein der heilige Geist kann diese Kunst. … Ich hätte wohl auch
gemeint, ich könnte es, weil ich so lange und so viel davon geschrieben
habe; aber wahrlich, wenn es ans Treffen geht, so sehe ich wohl, dass es mir
es weit, weit fehlet! Also soll und muss allein Gott der heiligste Meister und
Lehrer sein!” (Martin Luther, Tischreden, ausgewählt von Karl Gerhard
Steck, München 1959, S.42.)
Das wäre wahrlich ein bitteres Resultat, wenn lebensgefährliche (!)
Werkgerechtigkeit und lebensnotwendige (!) Heiligung 71 so schwer aus­
einander zu halten wären ! Wie kann dann ein vernünftiger Mensch ver­
langen, dass der Gläubige sich mit diesem Thema überhaupt befasst ?
68
69
70
71
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).
Siehe unter „Stichworte“ den betreffenden Artikel, (Internet).
Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
Siehe ebd.
21
Es kann dann doch nur ein skurriles Hobby theologischer Spezialisten sein
und der Gläubige tut gut daran, wenn er sich mit seinem Eifer und Fleiß
ganz auf irdische Dinge konzentriert.
Ist das wirklich so ? Auch der einfache Gläubige ist in der Lage, zwischen
“Gesetz und Evangelium”, zwischen Heiligung und Werkgerechtigkeit klar
zu unterscheiden, indem er sich nämlich hütet, eine einzige Bibelstelle so
auszulegen, dass die Deutung gegen die Qualitätsmaßstäbe Jesu 72 “Barm­
herzigkeit, Fairness, Ehrlichkeit” verstößt. Nur wenn man ihre absolute Prio­
rität respektiert, entsteht eine klare Rangfolge biblischer Aussagen. 73
Doch wie kann man den absoluten Vorrang dieser Qualitätsmaßstäbe erken­
nen, wenn man sich wie Luther der fürstlichen Macht bedient, um seinen
theologischen Einfluss gewaltig zu vermehren und dabei unschuldige Men­
schen in großen Mengen – Juden, christliche Bauern und täuferische Glau­
bensgeschwister – zu Schaden kommen lässt 74?
Dies muss man realistisch sehen, auch wenn Luthers Lebensleistung
Christen bis heute in vielerlei Hinsicht zu Recht großen Respekt abnötigt.
75
7.3. Quantitative Lösung: die Bibel grundsätzlich nur in Auswahl lesen.
Argumentation: Der Gläubige soll es so machen, wie es ihm viele Pastoren
in der Predigt vormachen: er soll sich auf die Verheißungen konzentrieren
und nur über sie nachdenken anstatt über die angstmachenden Stellen der
Bibel. Dann wird das Gute und Heilsame seine Seele allmählich ausfüllen
und das Negative überdecken. Verstehen könne die angstmachenden Stellen
ohnehin niemand. Sie gehen den Gläubigen daher auch nichts an.
Kritische Beurteilung: Das Ausmaß der Zerstörungskraft hängt nicht von
der Menge der Worte ab. “Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen
Teig.” (Gal 5,9)
72 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Jesu“, (Internet).
73 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Polarität der Bibel“, (Internet).
74 Siehe im Aufsatz „Was ist Irrlehre“ den 5.Abschnitt „Ist jemand ein Sektierer, weil
er den Vätern des Glaubens widerspricht?“ (Internet)
75 Siehe ebd.
22
Man kann zweifellos Gläubige daran gewöhnen, die Bibel nur in Auswahl
zu lesen. So wird es in der Regel gemacht. Doch es dürfte wenig Erfolg
haben, jemanden, der die Bibel kennt, aufzufordern, sich nur in Auswahl zu
erinnern.
Haben warnende Stellen der Bibel wirklich keine Bedeutung für den Gläu­
bigen ? Wenn man eine inhaltliche Analyse für überflüssig hält, wie kann
man dann behaupten, dass jedes Aussage der Schrift “völlig zuverlässig”
sein soll (Credo der Evangelischen Allianz 76) ?
Dieses zu behaupten und gleichzeitig besonders eindringliche Texte (War­
nungen) willkürlich außer Kraft zu setzen, kann man nur als schizophrene
Betrachtungsweise bezeichnen ! Braucht der Mensch tatsächlich schizo­
phrenes Denken, um die Bibel verkraften zu können ? Wirklich Schizophre­
nie oder Unehrlichkeit? Wird die Autorität der Heiligen Schrift auf diese
Weise tatsächlich gestärkt oder wird sie nicht vielmehr aufgeweicht ?
Wer bestimmt, was ausgewählt wird und was ignoriert werden muss? Ohne
ein allgemein überzeugendes Ordnungskriterium ist die Quintessenz, dass
sich der sorgfältige Gläubige vor dem seelischen Absturz nur mit Hilfe des
blinden Vertrauens auf Gläubige 77 retten kann, die ihm dank ihres Vorbildes
oder ihres Erfolges im “Menschenfischen” überlegen erscheinen ? Etwas
mehr seelische Stabilität wird auf diese Weise mit dem Verlust der persön­
lichen Würde erkauft. Der Ratsuchende bleibt ein abhängiges, allein nicht
lebensfähiges, kleines religiöses “Würstchen”, während die Bedeutung des
Seelsorgers als Garant der Heilsgewissheit enorm zunimmt.
Auch für die weniger Ängstlichen bleibt es schwierig, ohne glaubwürdige
Begründung selbst zu bestimmen, was ignoriert werden darf. Am besten ist
es, wenn die Tradition die betreffende Aussage schon immer ignoriert hat.
Was die Mehrheit der Gläubigen schon immer machte und dachte, kann ja
nicht falsch sein – und bedarf deshalb keiner Erklärung.
76 Auf ihrer Internetseite (http://www.ead.de/die-allianz/basis-des-glaubens.html)
heißt es: Wir bekennen uns... zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer
völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und
der Lebensführung“
77 Siehe den 5.Abschnitt dieses Aufsatzes, Seite 27.
23
Wenn die Verdrängung nicht durch die Tradition abgesegnet wird, so kann
sie durch einen überlegenen Gläubigen legitimiert werden. Indem die Gläu­
bigen ihn in das Amt wählen, anerkennen sie seine geistliche Überlegenheit
und gestehen ihm nicht nur das Interpretations- sondern auch das Auswahl­
monopol zu. Er organisiert mit anderen zusammen ein reichhaltiges Informa­
tionsprogramm, das die geistige Aktivität der Mitglieder weitgehend absor­
biert und sich von allen Tabuthemen fernhält. Wer dennoch ein uner­
wünschtes Thema anspricht, der erfährt sehr schnell von der Mehrheit der
Zuhörer, dass dafür überhaupt keine Zeit zur Verfügung steht und dass eine
Programmänderung von allen als Friedensstörung gesehen und nicht gedul­
det wird.
7.4. Heilssicherung mittels Ritual
Argumentation: “Wer einmal das Bekehrungsritual vollzogen und ein
Übergabegebet gesprochen hat, kann nicht mehr verlorengehen.” Eine
schwächere Variante dieser Auffassung ist das Vertrauen auf die Rettung­
durch die Taufe oder durch die Gabe des Heiligen Abendmahls. Bekeh­
rungsritual, Taufe oder Abendmahl werden als “Heilsmittel” gesehen, die
von Gott nicht mehr in Frage gestellt werden (können).
Vorsichtige Beurteilung: Eine Geschichte im Alten Testament zeigt uns,
dass man es sich mit dieser Anschauung vielleicht doch zu einfach macht.
Es gab zwei Priester, Hophni und Pinehas, deren Leben von Respektlosig­
keit gegenüber Gott geprägt war. Sie stahlen von den Opfergaben (1.Sam
2,13-14) und schliefen mit den Frauen, die im Tempel dienten. (V.22) Diese
Sünden waren dem ganzen Volk bekannt. (V.14) Nachdem die Israeliten von
den Philistern in einer Schlacht besiegt worden waren, ließen die Ältesten
des Volks die Bundeslade holen, um sie – als Zeichen der Gegenwart Gottes
– in die Schlacht mitzunehmen. Als Hophni und Pinehas die Lade brachten,
jubelte das Volk, das nun den Sieg sicher glaubte. (1.Sam 4,5) Doch diese
Hoffnung wurde grausam enttäuscht. Israel erlitt eine vernichtende Nieder­
lage und die Bundeslade war weg. Nun hatten sie die Philister. (V.10-11)
24
Es scheint eine törichte Hoffnung zu sein, Gottes Segen mit einem Ritual
erzwingen zu können, obwohl man sich einen bösen und unbarmherzigen
Lebensstil erlaubt. Es scheint töricht zu sein, auf den Himmel zu hoffen,
wenn man anderen das Leben zur Hölle macht 78 !Deshalb auch die eindring­
lichen Warnungen in der Bibel: “Wisset ihr nicht, dass ungerechte Men­
schen das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasset euch nicht verführen!
Weder die Hurer, noch die Verehrer der Götzen noch die Ehebrecher, noch
die Pädophilen, noch die Diebe noch die Habgierigen noch die uneinsich­
tigen Trunkenbolde noch die Lästerer noch die Räuber werden das Reich
Gottes ererben.” (1.Kor 7,9)
(Auch diese strenge Mahnung ist allerdings bereits wieder mit Verheißungen
Gottes “durchlöchert” und abgeschwächt, denn all diese Fehlver­
haltensweisen werden ja gerne von ihm vergeben, wenn man sie bereut.)
Leider halten sich immer wieder hartherzige Menschen zur Gemeinde, an
denen diese Warnungen, die eigentlich auch abgebrühte Naturen beeindru­
cken sollten, wirkungslos abprallen. Umgekehrt beziehen sorgfältige und
eifrige Christen, die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes empfinden, ausgerech­
net diese Warnungen, die sie gar nicht betreffen, auf sich. Sie haben Mühe
zu verstehen, dass sich die Warnungen an “die Starken”, an rücksichtslose
Gläubige, richten und nicht an “die Schwachen”, die gewissenhaften Gläu­
bigen. (Sorgfaltsparadox 79)
Infolgedessen wird für manche der Glaube zu einer ständigen “Zitterpartie”,
einem ständigen Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung. Sie finden nie
zum Frieden und zur Glaubensfreude – da Tröstung und Bedrohung
immer in schizophrener Gleichzeitigkeit vorhanden sind. Diese Situation
macht die Erlösungsbotschaft unglaubwürdig. Kann man dann noch Men­
schen zum Glauben einladen? Muss man ihnen nicht rechtgeben, wenn sie
sich auf diese Schizophrenie, auf dieses Pseudo-Heil nicht einlassen
wollen ?
78 Siehe u. „Stichworte“ d. Artikel „Heilsgewissheit ohne Heiligung?“, (Internet).
79 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet).
25
Man kann daraus nur einen Schluss ziehen: die Heilsverheißungen 80 haben
ein unvergleichlich größeres Gewicht als alle Warnungen. “Selbst wenn wir
untreu sind, so bleibt er doch treu – er wird nicht widerrufen, was er zuge­
sagt hat.” (2.Tim 2,13) Es ist undenkbar, dass der Gläubige aus Schwäche
eine Sünde zuviel begeht und deshalb verlorengeht. “Denn der Herr ver­
stößt nicht auf ewig. Selbst wenn er dunkelste Zeiten für einen Menschen
bestimmt hat, so erbarmt er sich doch eines Tages wieder über ihn – denn
seine Güte ist groß und es macht ihm keine Freude, Menschen in Not und
Traurigkeit zu lassen.” (Klgl 3,32-33) Schwache Menschen hat Jesus nie
bedroht, nur selbstgerechte und gewalttätige.
Wäre es anders, gäbe es überhaupt keine Heilsgewissheit. Dann würde sich
der Gläubige wieder abrackern und mit frommen Werken mühen müssen,
um sich etwas weniger bedroht zu fühlen. Die “Freiheit” des Geistes (2.Kor
3,17) wäre übelste Propaganda 81, denn das Neue Testament wünscht sich
vom Gläubigen unendlich viel mehr 82 mehr als das Alte, nämlich Vollkom­
menheit. (Mt 5,48) Ist das wirklich noch Grund zum Jubeln, wenn man “vom
Regen in die Traufe gekommen” ist ? Wohl kaum! Es ist ein fataler Fehler,
wenn man die Gebote des Neuen Testamentes in alttestamentlicher Weise
missversteht!
C.H. Spurgeon lernte in seinem Dienst viele treue Gläubige kennen, die sich
mit der Angst herumplagten, das Heil wieder zu verlieren. In seinen “Klein­
oden” legte er immer wieder dar, wie unsinnig und unwürdig diese Befürch­
tung ist. Er selbst war der Ansicht, dass das einmal geschenkte Heil unver­
lierbar sei. Der Gläubige hat ja eine unzerstörbare, geistliche Natur
geschenkt bekommen, die niemals sterben kann. Jesus sagte: “ich gebe
ihnen das ewige Leben; und sie werden nimmermehr umkommen, und nie­
mand wird sie mir aus meiner Hand reißen.” (Joh 10,27+28)
Die Auffassung, dass das einmal geschenkte Heil unverlierbar ist, mag im
Ergebnis richtig sein. In der unsichtbaren Welt angekommen, werden die
Gläubigen sicherlich staunen, wem Gott noch die Treue gehalten hat.
80 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Absolut zuverlässig: die Heilszusagen
Gottes“,(Internet).
81 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Propaganda“, (Internet).
82 Siehe unter „Stichworte“ den 6.Abschnitt des Artikels „Buchstabentreue“ mit der
Überschrift „Hundertprozentige Buchstabentreue ist eine Illusion“, (Internet).
26
Da werden viele sein, denen Menschen keine Chance mehr gegeben hätten.
Es ist sicherlich auch angemessen, wenn gutwillige Gläubige, die nicht bru­
tal mit Mitmenschen umgehen, von diesem Standpunkt aus alle anderen
Bibelstellen, insbesondere Warnungen interpretieren.
Bei Warnungen ist immer der lebensfördernde Sinn herauszuarbeiten: “der
Mensch lebt von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.” (Mt 4,4)
Bei der Betrachtung der Heilsversprechen ist zu berücksichtigen, dass viele
Verheißungen nur im Rahmen einer “Freundschaft mit Gott” gültig 83 sind,
d.h. nur dem Gläubigen gelten, der sich eines freundschaftlichen Verhaltens
gegenüber Gott befleißigt. (Jak 2,23)
Auch die zitierte Heilszusage Jesu stellt das ganz klar heraus: “Denn meine
Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir, und ich
gebe ihnen das ewige Leben (Joh 10,27) Die “Schafe” sind charakterisiert als
solche, die auf Jesus “hören” wollen.
Das bloße Negieren und Ignorieren von Warnungen ist mit dem Odium will­
kürlicher Verdrängung 84 behaftet und wird bei sorgfältig lesenden Gläu­
bigen schwerlich zu stabiler Heilsgewissheit führen.
Deshalb ist für Heilsgewissheit ein konsistentes Konzept der “Freundschaft
mit Gott” nötig (“Heiligung“ 85), das durch bleibende Unvollkommenheit 86
des Gläubigen nicht in Frage gestellt wird.
5. Glauben an den Glauben anderer
Argumentation: Der geängstete Gläubige darf sich auf die optimistische
Prognose von Gläubigen verlassen, die im Glauben gereift und anderen ein
Vorbild sind. Diese Gläubigen haben viel mit Gott erlebt und können seinen
Charakter und seine Reaktionen besser einschätzen.
83 Siehe unter „Stichworte“ den 2.Abschnitt des Artikels „Absolut zuverlässig: die
Heilszusagen Gottes“, (Internet).
84 Siehe den 3. Abschnitt dieses Kapitels: „Quantitative Lösung: die Bibel grundsätz­
lich nur in Auswahl lesen ?“, Seite 22
85 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
86 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das
Heil?“, (Internet).
27
Kritische Beurteilung: Sicherlich kann ein solcher Zuspruch sehr wertvoll
und auch unbedingt notwendig sein, um den Absturz in dauernde Panik und
schwere Schädigung der Seele abzuwenden.
Doch ist diese Lösung unbefriedigend. Es kann keine Dauerlösung sein, dass
der Glaube des Betroffenen verkümmert und krüppelhaft bleibt und ohne
Stützung von außen kraftlos in sich zusammensinkt. Einem solchen Gläu­
bigen ist ja das frohe Zeugnis des Glaubens weitgehend unmöglich. Sein
ganzes Leben lang wird er sich als fragwürdiger Gläubiger vorkommen, den
Gott vielleicht gerade noch duldet, und neidisch auf die privilegierten Gläu­
bigen blicken, die mit Glaubensfreude und Geborgenheit überschüttet wer­
den.
Eine seelische Abhängigkeit vom Seelsorger ist möglicherweise ein Hinweis
darauf, dass es der Theologie erheblich an Selbstkritik mangelt und dass
inkonsequente und fragwürdige Bestandteile nicht ausgeräumt wurden.
(Verdrängung 87) Es gibt Gemeindeleiter, die seelische Abhängigkeit und
blindes Vertrauen in ihre Person geradezu kultivieren, um ihr übersteigertes
Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Diese Vermutung liegt besonders nahe,
wenn die Gemeindeleitung die Autorität der Gemeindeversammlung 88 nicht
respektiert.
7.6. Allversöhnung
Argumentation: Es gibt wohl kaum einen Christen, der nicht froh wäre,
wenn es keine Hölle 89 gäbe. Vielen Menschen erscheint es unangemessen,
selbst einem notorischen Verbrecher unaufhörliche Qual zuzufügen. Wenn
man ihm das Doppelte, Dreifache, ja das Fünffache allen Leides aufbürden
würde, das er anderen zugefügt hat – all das könnte man noch als fairen,
wohlverdienten Ausgleich ansehen. Aber ewige Qual ?
87 Siehe den 3. Abschnitt dieses Kapitels: „Quantitative Lösung: die Bibel grundsätz­
lich nur in Auswahl lesen ?“, Seite 22.
88 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Autorität der Gemeindeversammlung“,
(Internet).
89 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Hölle“, (Internet).
28
Eine uferlos grausame Bestrafung steht im Widerspruch zu menschlichen
Gerechtigkeitsvorstellungen, sodass deshalb vielen Menschen die Botschaft
eines liebenden Gottes nicht mehr als glaubwürdig erscheint. Aus diesem
Grund wird angenommen, dass es eine Hölle nicht geben kann. Jesus ver­
wendete einfach nur ein besonders starkes Bild, um die Aufmerksamkeit der
Zuhörer zu gewinnen.
Menschen, die allen Worten Jesu glauben wollen, behelfen sich damit, dass
sie über diesen Punkt möglichst nicht tiefer nachdenken. Die Existenz der
Hölle ist aber gewöhnlich auch für sie ein unangenehmes, weil unaufge­
löstes Problem.
Kritische Beurteilung: Es gibt keinen Beweis, dass es sich bei der Hölle
nur um ein starkes Bild handelt. Diese Sichtweise bleibt eine menschliche
Spekulation.
Jesus ist der Gottessohn, der aus der unsichtbaren Welt zu uns gekommen
ist. Wenn wir an seine Göttlichkeit glauben, dann ist er der einzige, der uns
unverfälscht und unfehlbar über die Wirklichkeit dieser Welt berichten kann.
Menschen mag die Warnung vor der Hölle schockieren, sie mögen sie entrü­
stet ablehnen, doch sind sie schon in der unsichtbaren Welt gewesen ?
In der Tat gibt es wohl keinen Menschen, der Hölle und Barmherzigkeit
Gottes überzeugend zusammenbringen kann – doch wir sehen an Jesus, dass
für ihn diese beiden Tatsachen offensichtlich kein Widerspruch waren.
Warum das so ist, verstehen wir nicht.
Das Konzept der Hölle gehört zum göttlichen Verantwortungsbereich. 90 Das
heißt, es ist sinnvoll, über einige wenige Aspekte nachzudenken, soweit sie
durch die Heilige Schrift uns erschlossen werden. Darüber hinaus aber ist
dieses Thema dem Menschen verschlossen und er tut gut daran, diese deut­
liche Grenze zu respektieren.
Die Warnung vor der Hölle 91 ist der lauteste, brutalste Weckruf, der vor­
stellbar ist. Er spiegelt wieder, wie unvorstellbar taub der Mensch norma­
lerweise gegenüber dem Reden Gottes ist.
90 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unterscheidung der Verantwortungsbereiche“, (Internet).
91 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Hölle“, (Internet).
29
Die Lebensgeschichte Jesu zeigt uns dasselbe: manche Menschen bleiben
stocktaub, obwohl sie nur die Hand auszustrecken und den Sohn Gottes zu
berühren brauchten, der tatsächlich zu ihnen gekommen ist. Es gibt Men­
schen, die darauf verzichten, ihn anzurühren, um gesund zu werden und
stattdessen lieber seine Feinde werden. Die Barmherzigkeit zum Greifen nah
– aber dennoch entscheiden sich Menschen gegen sie.
Wir beobachten manchmal eine paradoxe Wirkung des Weckrufs: Etliche
Menschen fern von Gott, die eigentlich aufgerüttelt werden müssten, beach­
ten ihn nicht. Etliche Gläubige, die auf das leise Reden Jesu achten, werden
durch diesen lauten Ruf zutiefst erschreckt und in sinnlose Furcht versetzt.
(Sorgfaltsparadox 92)
Letzteres kann eigentlich nur geschehen, wenn die eigene Unvollkommen­
heit zum Zweifel am Heil führt, 93 d.h. wenn die Theologie durch Werkge­
rechtigkeit 94 verunreinigt und vergiftet worden 95 ist.
Atheistische Theologie kann den Warnruf nicht ernstnehmen. Wenn Jesus
ein Mensch war wie alle anderen auch, und nicht der Sohn Gottes, wie soll
er dann etwas Maßgebliches über die unsichtbare Wirklichkeit wissen kön­
nen? Die Warnung vor der Hölle kann man dann nur als ein zweifelhaftes
Werbemittel ansehen. Sie ist ein starkes Bild, um die Zuhörer zu beeindru­
cken – wobei nur die ganz Naiven und Leichtgläubigen sich beeindrucken
lassen.
Die Allversöhnungstheologie behauptet, dass die Warnung vor der Hölle
ein Schreckschuss war. Jesus hat mächtig mit dem Säbel gerasselt, aber es
kommt nie zum Krieg. Es gibt keine Hölle noch irgendwelche Menschen, die
verloren gehen könnten. Man kann sich deshalb auch Mission und den Auf­
ruf zur Umkehr sparen. Gott führt jeden Menschen heim in sein himmlisches
Reich – auch die, die Ihn zeitlebens abgelehnt und bekämpft haben.
92 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet).
93 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das Heil ?
“, (Internet).
94 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).
95 Siehe die Beispiele im Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 35 ff.
30
Die Frage bleibt: Wenn Jesus in der Tat der Gottessohn und in der unsicht­
baren Welt zu Hause war, woher kann dann ein Theologe, der zweifelsohne
nicht dort war, Vollmacht haben, Jesus zu verbessern ? Wie kann das Wort
eines Menschen mehr Gewicht und mehr Bedeutung haben als die Worte
Jesu, des Gottessohnes? Nicht Jesus spricht dann das mächtigste Wort, son­
dern der Theologe ist es, der der Menschheit das volle Heil aufschließt.
Nicht auf das Wort Jesu, der warnt, sollen sich die Menschen verlassen, son­
dern auf ihn, den Theologen, der die Warnung für bedeutungslos erklärt.
Es bleibt das mulmige Gefühl, dass ein Mensch, der sich auf die beruhi­
gende Spekulation eines Theologen verlässt, am Ende doch der Dumme sein
könnte. Der Theologe jedenfalls wird für eine Fehleinschätzung keinen
Schadenersatz leisten. Und es dürfte auch keinen Zweck haben, sich am Tag
des Gerichts auf ihn zu berufen.
Gott bietet seine Barmherzigkeit hier und heute an: “Heute ist der Tag des
Heils.” (Heb 3,13) Die Warnung vor der Hölle soll das taub gewordene
Gewissen aufwecken – mehr nicht. Die Furcht vor ihr darf nicht das Leben
des Gläubigen vergiften. 96 Nicht die Angst, sondern Gottes Barmherzigkeit
soll das Leben des Gläubigen prägen und verändern (“Heiligung“ 97).
Zugleich ist klar: Die Barmherzigkeit Gottes wird missbraucht, wenn sie
dazu dienen soll, einen Lebensstil fernab der Maßstäbe Christi 98 zu ent­
schuldigen.
7.7. „Entkernung“ des Christentums:
Weltliche Lösungsversuche beinhalten alle den Verlust des christlichen
Glaubens, der nach dem Neuen Testament unauflöslich an gewisse Grund­
wahrheiten (“Heilstatsachen“ 99) gebunden ist. Es bleibt allenfalls eine
christlich scheinende Fassade übrig.
96 Siehe unter „Stichworte“ den 4.Abschnitt des Artikels „Hölle“ mit der Überschrift
„Höllische Fehlschlüsse“, (Internet).
97 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
98 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Christi“, (Internet).
99 Siehe im Kapitel „Was ist Irrlehre“ den 8.Abschnitt „Biblisch unanfechtbare Argu­
mente“ (Internet)
31
Letztlich ist damit aber nicht nur die Hoffnung auf eine leibliche Auferste­
hung und Neuschöpfung der Erde aufgegeben, sondern auch die Hoffnung,
die biblische Botschaft in einer lebensfördernden Weise verstehen zu kön­
nen.
Gott erscheint nicht die Lösung zu sein, sondern vielmehr das Problem.
Es geht nur noch darum, für die restliche Lebenszeit Distanz zu diesem Pro­
blem zu halten, um die Lebensfreude, die materielle Dinge bieten, ungetrübt
ausschöpfen zu können. Zur Lebensfreude gehören auch religiöse Gefühle
(Religiosität 100), die aber nicht im Rahmen einer Vertrauensbeziehung zu
Jesus Christus entstehen, sondern durch Übungen, Rituale usw. hervorgeru­
fen werden.
Das Ursache der Depression wird in der Sünden- und Opfertheologie der
Bibel gesehen. Der grausame Tod Jesu wird nicht als Beweis der Liebe
Gottes 101 erkannt, sondern als wirksame Methode eingeschätzt, um den
Menschen einzuschüchtern und für kirchliche Machtausübung empfänglich
zu machen.
Wenn der Mensch so schlecht sei, dass er ohne das sadistische Blutopfer des
Gottessohnes am Kreuz nicht von Gott angenommen werden könne, so sei
die Fixierung auf das eigene Versagen, Entmutigung durch perfektionis­
tische Normen, Selbsthass und Selbstverachtung vorprogrammiert. Deswe­
gen wird angeboten, die Sünden- und Opfertheologie als menschliche Verir­
rung, als theologischen “Sündenfall” zu betrachten.
Mängel: Es ist Tatsache, dass die Botschaft vom stellvertretenden Kreuzes­
tod von vielen Gläubigen überhaupt nicht als Belastung, sondern als große
Befreiung wahrgenommen wird und deshalb auch die Basis ihrer Glaubens­
freude und -hoffnung ist. Eben weil der höchste Preis von Gott bezahlt wor­
den ist, besteht kein Zweifel mehr daran, dass Gott dieses Opfer als völlig
ausreichend anerkennen und die Schuld jedes Gläubigen als völlig bedeckt
ansehen wird.
100Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Religiosität“, (Internet).
101 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Beweis der Liebe nachvollziehbar?“,
(Internet).
32
Würde bei der Frage der Errettung die Güte des eigenen Lebens die ent­
scheidende Rolle spielen, so wäre bei denen, die ehrlich und ungeschönt
über sich nachdenken, ein quälender Zweifel kaum zu vermeiden. Besonders
in der Todesstunde soll sich der Gläubige auf das stellvertretende Opfer voll
und ganz verlassen können.
Destruktiv wird dieser Gedanke erst, wenn der Gläubige sich die Errettung
durch zufriedenstellende Beachtung perfektionistischer Normen aneignen
muss. (Werkgerechtigkeit 102).
Ständig schlechtes Gewissen kann nur vermieden werden, wenn Unvoll­
kommenheit unter der Geduld Jesu 103 steht (Mt 19,29) und keine Bedro­
hung zur Folge hat. Der Gläubige soll das Gute tun, weil es Freude macht,
Gutes zu tun (Jo 4,34). Es ist schön, wenn Menschen lieb und brüderlich
miteinander umgehen (Ps 133,1). Dies ist nur ehrlich, wenn es in völliger
Freiheit und ohne den berechnenden Blick auf das eigene Verdienstkonto
geschieht.
Auch hier hilft die Erkenntnis, dass sich niemand über den anderen stellen
muss, sondern genauso wie der andere ganz von der Gnade Jesu lebt. Nicht
nur Gott soll der Gläubige lieben, sondern auch “seinen Nächsten und sich
selbst“. (Mt 22,26-40).
Auch die “Liebe zu sich selbst” wird das “wichtigste Gebot” genannt
(V.36). Ist sie das tatsächlich, so müssen alle anderen Gebote so interpretiert
werden, dass “die Liebe zu sich selbst”, die Selbstannahme nicht Schaden
nimmt.
Wenn in der “Beziehung zu Gott” gar Selbsthass (s.a. Tilman Moser, Gottes­
vergiftung, Frankf.am Main, 1980, S.10) oder Selbstverachtung entsteht, so
wurde das wichtigste Gebot missverstanden oder nicht angemessen ernstge­
nommen.
102 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).
103 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das
Heil?“, (Internet).
33
“Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft” klagt Paulus (Rö 7,14). Er
stellte fest, dass seine Gerechtigkeit nicht ausreicht, um sich dem gerechten
Urteil Gottes zu entziehen. Als Pharisäer hatte er lange Zeit in dem Wahn
gelebt, dass sie ausreiche. (Phil 3,9)
Wenn der Gläubige wirklich ganz und gar auf das Opfer Jesu vertrauen
kann, dann hat er auch die Freiheit zu tiefster Selbsterkenntnis, ohne
davon erdrückt zu werden. Weil er sich und sein Versagen ungeschönt
betrachten kann, wird er barmherzig mit anderen dort, wo sie versagt
haben. Der Pharisäer dagegen, der über den unglücklichen, in Schuld ver­
strickten Mitmenschen erhaben die Nase rümpft, hat überhaupt keine ange­
messene Selbsterkenntnis und daher auch keine Gotteserkenntnis.
Sich selbst realistisch einschätzen können heißt aber nicht, dass der Mensch
zum Guten unfähig sei und sich daher selber als Ausgeburt der Hölle hassen
und verabscheuen müsse. Es gibt zweifellos dumme und destruktive Theolo­
gie, die solches lehrt.
Doch der Wunsch, fair, barmherzig und aufrichtig zu sein, gehört zur
Gottesebenbildlichkeit des Menschen und ist ihm von Anfang an einge­
schaffen. (1.Mo 1,27) Deshalb kann auch ein Mensch, der sich noch nicht
zum Glauben an Jesus Christus entschlossen hast, Gutes tun und einen guten
Charakter haben, was Jesus ausdrücklich lobend anerkennt (Mt 11,42 / 25,40
/ Lk 10,33 / vgl auch Rö 2,27-29!) Dann sollten es seine Gläubigen auch
lobend anerkennen können.
Alles andere wäre sehr unfair. In der Nazi-Zeit gab es viele an Jesus Christus
Gläubige, die sich bei den Nazis anbiederten, dem Führer zujubelten und für
das Leid der Juden kein Mitgefühl hatten. Beispiel: In Artikel 7 der Satzung
des evangelikalen Mülheimer Verbandes wurde Adolf Hitler gar als Glau­
bensvorbild gepriesen und mit Moses verglichen: so wie Mose einst die Isra­
eliten aus Ägypten herausgeführt hätte, so würde Hitler die Juden aus
Deutschland “herausführen”. 104
104 Quelle: Junghardt, Adelheid, et.al., Ruhrfeuer. Erweckung in Mülheim an der Ruhr
1905. 1905 – 2005 Christus-Gemeinde Mülheim, Eine Chronik über die 100-jäh­
rige Geschichte der ersten Gemeinde des Mülheimer Verbandes, 2004, hrsg. von
der Christus-Gemeinde Mülheim, Uhlandstr.25, 45468 Mülheim an der Ruhr, Seite
146.
34
Umgekehrt gab es neben gläubigen Menschen auch Nicht-Christen, die
Unrecht und Unbarmherzigkeit nicht ertragen konnten und sich für die Ver­
folgten unter Lebensgefahr einsetzten. Man kann sich der Auffassung Diet­
rich Bonhoeffers nur anschließen, dass diese Nicht-Christen – ohne es zu
wissen – Jesus viel näher standen als die erste Gruppe mit ihrem christlichen
Lippenbekenntnis. “Glücklich sind die Barmherzigen, denn sie werden
Barmherzigkeit erlangen.” (Mt 5,7)
8. GIFTIGE THEOLOGIE
Ein bisschen Moral kann ja nichts schaden ?
Die richtige Interpretation biblischer Texte führt immer zur Freiheit:
“Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht fest in dieser Freiheit und lasst
euch nicht wieder unter das Joch der Knechtschaft zwingen.” (Gal 5,1+2).
Die Freiheit 105, die Christus seinen Jüngern schenkt, ist bedroht! Sie muss
wachsam verteidigt werden! (Schutzmaßnahmen 106)
Werden Schutzmaßnahmen vernachlässigt, so kann der Bibelunterricht
äußerst destruktiv (!) auf die Seele insbesondere von Kindern und Jugend­
lichen wirken können. Im Einzelfall können Menschen psychisch dauerhaft
geschädigt werden, was haftungsrechtliche 107 Fragen aufwirft. Über die
Gefahren, die immer wieder einmal in Gemeinden in Verbindung mit dem
herkömmlich bibeltreuen Bibelverständnis 108 anzutreffen sind, informiert
unser
28-Punkte-Check
Wie ist es in Deiner Gemeinde ? Ist dort bekannt, dass die im folgenden
aufgelisteten Behauptungen destruktiv sind ?
105 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet).
106 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Schutzmaßnahmen gegen giftige The­
ologie“, (Internet).
107 Siehe das Kapitel „Gemeinde-Haftpflicht“, (Internet).
108 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Bibeltreu die Bibel verstehen“, (Inter­
net).
35
Dabei ist es unerheblich, ob viele oder nur ganz wenige dieser theologischen
Aussagen in der Gemeinde vertreten werden. Auch eine einzelne Aussage
kann unter ungünstigen Umständen sehr destruktive Folgen haben.
Dabei wird es nur in Einzelfällen zu einer sichtbaren Schädigung der Seele
und zu klinischen Symptomen kommen. Die Dunkelziffer derer, die dank
der Fahrlässigkeit ihrer Gemeindelehrer ein Leben lang bedrückt und
deprimiert durchs Leben gehen und sich dieses Ergebnis selbst oft gar nicht
eingestehen wollen, ist sehr viel höher.
Zu Unrecht verlassen sich viele Ärzte darauf, dass Theologen und
Pastoren als “Fachleute” das Problem im Griff haben (Blinder Fleck 109).
Wie etliche Menschen aus leidvoller Erfahrung wissen, kann davon keine
Rede sein. Erfahrungsgemäß sind Gemeindeleiter auf die emotionalen
Bedürfnisse der Mitgliedermehrheit fixiert. Ein offener Austausch über diese
Gefahren wird als nachteilig für die Mitgliederwerbung und für religiöses
Erleben angesehen und ist deshalb in der Regel unerwünscht. Dabei ist die
destruktive Wirkung der zitierten Behauptungen absolut plausibel – auch
ohne ärztliches Spezialwissen. Wer sie – dank einer kurzsichtigen und
bevormundenden Theologie – für bewiesen ansieht und ihnen damit gött­
liche Autorität zuerkennt, sieht sich bald massiver seelischer Erpressung
ausgesetzt.
Die Widerlegung dieser Behauptungen verwendet den Schlüssel 110der Heili­
gen Schrift, das höchstrangige biblische Ordnungskriterium, nämlich die
Qualitätsmaßstäbe Christi.
Es wird der Beweis geführt, dass die Behauptungen diesen Qualitätsmaßstä­
ben widersprechen und deshalb eben nicht göttliche Autorität beanspruchen
und das Gewissen belasten dürfen.
109 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Blinder Fleck“, (Internet).
110 Siehe Seite 6.
36
Es wird bewiesen, dass diese Behauptungen nur unweise Fehlschlüsse sind,
die gedankenlos weitergegeben werden, aber den Gläubigen nicht verpflich­
ten oder gar erpressen dürfen.
Destruktive Behauptungen
Wir unterscheiden 2 Arten:
I. Lehrsätze, die das Vertrauen in Gott als fairen “Bundespartner” untergraben …
II. Lehrsätze 111, die den Gläubigen des Rechtes berauben,
sich vor Machtmissbrauch zu schützen…
111Siehe den zweiten Teil der Auflistung auf Seite 30.
37
I.
1. Behauptung: 112 Gott erwartet vom Gläubigen, dass er jede erkannte Sünde
nachträglich in Ordnung bringt, wenn er Vergebung haben will, d.h. jede
Lüge richtigstellt, sich für jede Verleumdung entschuldigt, alles Gestohlene
zurückbringt, und für jeden Schaden Ausgleich leistet. Andernfalls kann ihm
Gott nicht vergeben.
2. Behauptung: 113 Kleine Sünden werden von Gott so negativ gesehen und
bestraft wie schwerste Verbrechen, denn Jesus musste auch für kleine Sün­
den sterben.
3. Behauptung: 114 Da der Gläubige die Kraft des Heiligen Geistes empfan­
gen hat, ist er frei vom Zwang zu sündigen. Wenn er nur will, kann er die
Sünde lassen. Umso strenger wird der Gläubige bestraft, wenn er sich dann
noch kleine Sünden leistet. Er kann und darf sich nicht mehr auf mensch­
liche Schwachheit berufen.
4. Behauptung: 115 Sexuelle Sünden verunreinigen am stärksten.
5. Behauptung: 116 Je mehr du für Gott an Geld und Zeit opferst, desto mehr
wirst du in diesem Leben an materiellem Wohlstand zurückbekommen.
6. Behauptung: 117 Wer seiner Gemeinde nicht den Zehnten seines Einkom­
mens spendet, ist verflucht und wird mit finanziellen Einbußen rechnen müs­
sen.
7. Behauptung: 118 Wer nicht fast alles opfert, um die Not der Menschen zu
lindern, lebt in Sünde und unter dem Fluch Gottes.
8. Behauptung: 119 Wer seine Mitmenschen nicht missioniert – wo sich die
Gelegenheit ergibt – trägt Mitschuld daran, wenn sie in die Hölle kommen
und wird dafür angemessen von Gott bestraft.
112 Siehe die Widerlegung auf Seite 41
113 Siehe die Widerlegung auf Seite 45.
114 Siehe die Widerlegung auf Seite 50.
115 Siehe die Widerlegung auf Seite 54.
116 Siehe die Widerlegung auf Seite 77.
117 Siehe die Widerlegung auf Seite 81.
118 Siehe die Widerlegung auf Seite 83.
119 Siehe die Widerlegung auf Seite 86.
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9.Behauptung: 120 Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in die
Hölle kommen.
10. Behauptung: 121 Ein Versprechen, das der Gläubige Gott gegeben hat,
muss auf jeden Fall eingehalten werden, auch wenn es dumm und destruktiv
war. Wenn der Gläubige es nicht einhält, dann muss er damit rechnen, dass
Gott sein ganzes Leben ruiniert.
11.Behauptung: 122 Wenn du noch nicht in Zungen redest oder noch kein
wunderbares Erleuchtungserlebnis empfangen hast, steht noch irgendeine
Sünde zwischen dir und Gott. Dann hast du evt. den Heiligen Geist noch
nicht empfangen und bist noch gar kein Christ und noch nicht gerettet.
12.Behauptung: 123 Wenn dein Gebet nicht erhört wird, dann gibt es nur
einen Grund dafür: eine Sünde steht zwischen dir und Gott.
13.Behauptung: 124 Krankheit ist ein starkes Indiz für mangelnden Glauben
oder heimliche Sünde.
14.Behauptung: 125 Bei Krankheit den Arzt zu holen, ist ein Beweis man­
gelnden Gottvertrauens und daher Sünde.
15.Behauptung: 126 Durch das Anhören weltlicher Musik kann Besessenheit
(Dämonen) übertragen werden, die man nur sehr schwer wieder los wird.
16. Behauptung: 127 Zwanghafte Lästergedanken sind ein Beweis, dass der
Gläubige vom Satan besessen ist. Er kann nur durch Exorzismus befreit wer­
den.
17.Behauptung: 128 Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wort­
laut hält, ist das beste.
120 Siehe die Widerlegung auf Seite 88.
121 Siehe die Widerlegung auf Seite 96.
122 Siehe die Widerlegung auf Seite 100.
123 Siehe die Widerlegung auf Seite 101.
124 Siehe die Widerlegung auf Seite 103.
125 Siehe die Widerlegung auf Seite 105.
126 Siehe die Widerlegung auf Seite 106.
127 Siehe die Widerlegung auf Seite 108.
128 Siehe die Widerlegung auf Seite 111.
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18.Behauptung: 129 Die ethischen Aussagen des Neuen Testamentes haben
alle die gleiche Autorität. Der Gläubige muss sie alle einhalten, wenn er
nicht ungehorsam sein will.
19.Behauptung: 130 Die strengere und härtere Interpretation eines Gebotes ist
in jedem Fall die bessere.
20.Behauptung: 131 Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes.
21.Behauptung: 132 Die Körperstrafe (Prügeln) ist ein unentbehrliches Erzie­
hungsmittel des Christen.
II.
(Lehrsätze, die den Gläubigen des Rechtes berauben,
sich vor Machtmissbrauch zu schützen…)
22. Behauptung: 133 Ein Gläubiger, der den Anweisungen des Gemeindelei­
ters nicht gehorcht, lebt in Rebellion gegen Gott.
23. Behauptung: 134 Es ist Hochmut, die theologische Tradition der
Gemeinde mit der Bibel zu prüfen.
24. Behauptung: 135 Der Gläubige darf Unrecht in der Gemeinde nur dann
beim Namen nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler oder Schwächen zu
sehen sind.
25. Behauptung: 136 Mit der Forderung, Schäden und Beschwerden in der
Gemeinde zu dokumentieren, schadet man dem “Zeugnis” der Gemeinde.
129
130
131
132
133
134
135
136
Siehe die Widerlegung auf Seite 116.
Siehe die Widerlegung auf Seite 118.
Siehe die Widerlegung auf Seite 119.
Siehe die Widerlegung auf Seite 123.
Siehe die Widerlegung auf Seite 126.
Siehe die Widerlegung auf Seite 129.
Siehe die Widerlegung auf Seite 130.
Siehe die Widerlegung auf Seite 131.
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26. Behauptung: 137 Ein Christ darf sich nicht wehren, darf auch nicht Ersatz
des Schadens fordern. Er muss Unrecht, das ihm zugefügt wird, hinnehmen,
muss vergeben und vergessen. Andernfalls ist er ein “Schalksknecht” und
wird von Gott mit der Hölle bestraft!
27. Behauptung: 138 Ein Christ darf nicht vor Gericht gehen, wenn ihm ein
anderer Gläubiger geschadet hat. Andernfalls begeht er eine schändliche
Sünde und wird dafür von Gott bestraft.
28. Behauptung: 139 Ein Christ darf in Notwehr niemand töten. Er ist ver­
pflichtet, sich töten zu lassen, damit der Täter nicht in die Hölle kommt.
Bibelgemäße Kritik der Behauptungen
1. Behauptung: “Gott erwartet vom Gläubigen nicht nur, dass er jede
erkannte Sünde gegenüber einem Mitmenschen bekennt und lässt, son­
dern dass er sie nachträglich ‘in Ordnung bringt’, wenn er Vergebung
haben will (!). Er muss jede Lüge richtigstellen, sich für jede Verleum­
dung entschuldigen, alles Gestohlene zurückbringen und für jeden
Schaden Ausgleich leisten.Andernfalls kann ihm Gott nicht vergeben.”
Das alles klingt sehr fromm ! Was kann man gegen das Maximum an mög­
licher Hingabe und Reue sagen, wenn jemand nicht nur nach den Geboten
Gottes lebt, sondern sich außerdem darum bemüht, seine Vergangenheit zu
reparieren, um Gott ein nahezu vollkommenes Leben präsentieren zu können
? Kann man dem heiligen Gott mehr Respekt erweisen ? Sagt Jesus nicht
selbst, dass seine Jünger „vollkommen sein sollen“ ? (Mt 5,48)
“… wenn er Vergebung haben will?” Wer kann denn diese Bedingung erfül­
len? Wer kann alles, was er jemals im Leben falsch gemacht hat, nachträg­
lich “in Ordnung bringen”?
Bei Zungensünden ist es besonders schwierig! Auch Übertreibung ist streng­
genommen die Unwahrheit.
137 Siehe die Widerlegung auf Seite 132.
138 Siehe die Widerlegung auf Seite 136.
139 Siehe die Widerlegung auf Seite 140.
41
Und wie leicht hat man jemanden durch Taktlosigkeit verletzt! Hier werden
dem Gläubigen sicherlich immer wieder neue Verfehlungen einfallen.
Muss er all diese Dinge “in Ordnung bringen”, sich dafür entschuldigen,
auch wenn es dem Empfänger der Entschuldigung eher peinlich ist, der die
dahinter stehende Unfreiheit bemerkt und sich dann als Objekt einer neuro­
tischen Zwangshandlung sieht?
Die Drohung ist massiv: wenn der Gläubige es nicht tut, muss er in dem
Bewusstsein weiterleben, dass er von Gott durch seine Sünde getrennt ist
und dass der Zorn Gottes über ihn, der die Sünde “nicht lässt” (Spr 28,13),
ständig weiter wächst. Eine ausweglose Situation. Nicht nur das Vertrauen
zu Gott, sondern auch die Heilsgewissheit kann auf diesem Weg gefährdet
sein.
Nebeneffekt: Zu guter Letzt hat der Gläubige Angst, an die Vergangenheit
zu denken, weil einem immer neue Bagatellen einfallen könnten, die “in
Ordnung zu bringen” sind. An die Vergangenheit denken ist aber notwendig,
um sich über sich selbst klar zu werden.
Die obige Behauptung hat also eine sehr heilig scheinende Schale und einen
bösartigen Kern. An den „Früchten“, den Folgen kann man es erkennen. (Mt
7,16)
Sie macht vor allem die Vorstellung von Gott zum Zerrbild: er sitzt da mit
der Lupe und ist ständig mit der Vergangenheit beschäftigt. Er muss ständig
kontrollieren, wo ein dunkler Punkt ist und ob ihn der Gläubige auch sofort
in Ordnung bringt. Der Gläubige hat den Eindruck, dass Gott eher in nega­
tiver Weise über ihn denkt.
Ist dies das Gottesbild, das Jesus vermittelt ? Wird Gott tatsächlich geehrt,
wenn der Gläubige so über ihn denkt ? Eine weitere wichtige Frage: wird
das Vertrauen und die Liebe des Gläubigen zu Gott unter diesem Eindruck
wachsen oder schrumpfen ?
Es ist nicht schwer zu sehen: der Sinn der zitierten Bibelstellen ist verfälscht.
Bei richtiger Anwendung ist immer ein lebensfördernder Sinn (Mt 4,4) zu
erkennen.
42
Gut, wenn sich der Gläubige nicht vom Satan hereinlegen lässt! Denn auch
der Satan kennt die Bibel genau und weiß sehr geschickt mit ihr umzugehen.
(Mt 4)
Die oben genannte Behauptung erscheint fromm, ist aber destruktiv. Denn
durch sie kommt durch die Hintertür der eigene Beitrag zur Erlösung, die
Selbstgerechtigkeit, die Werkgerechtigkeit wieder herein! Und Werkgerech­
tigkeit 140 ist eine absolut tödliche Gefahr für den Glauben. “Ihr habt Chri­
stus verloren, weil ihr euch selbst durch die Erfüllung der göttlichen Nor­
men retten wollt. Ihr lebt wieder ohne Gnade! ” (Gal 5,4) Ihr Ergebnis ist
absolut wertlos.
Denn nur das, was aus Dankbarkeit und Liebe freiwillig getan wird, hat vor
Gott tatsächlich einen Wert.
Deshalb wird die Vergebung allein aufgrund ehrlicher Reue gegeben: “wenn
wir unsere Sünde bekennen, so ist hält er seine Zusage zuverlässig: er wird
uns die Sünde vergeben und uns von aller Ungerechtigkeit reinigen.” (1.Joh
1,9) Wer ehrlich bereut, d.h. wer die Sünde verabscheut und sie nicht weiter
tun will, dem wird vergeben! Andere Bedingungen werden nicht gestellt!
Auf dieser Basis kann (und sollte) sich der Gläubige liebevoll und freiwillig
(!) Gedanken machen über Menschen, denen er mit seinem Tun geschadet
hat und mit denen er – unter der Leitung des Heiligen Geistes – Mitgefühl
hat: Liebevolle Gedanken befinden sich immer im Einklang mit den Quali­
tätsmaßstäben Jesu – sie sind barmherzig, fair und ehrlich.
Wenn man jemanden beleidigt, beschimpft oder mit Unterstellungen
gekränkt hat, dann ist es sinnvoll, möglichst sofort hinzugehen, um sich
angemessen zu entschuldigen. Böse Worte, die man stehen lässt, können wie
ein Feuer 141 (Jak 3,1 ff) immer weiter um sich greifen und die Seele quälen
und schädigen. Sie können Beziehungen so gründlich und unwiderruflich
ruinieren, dass am Ende überhaupt keine Brücke mehr zum anderen möglich
ist.
140 Siehe unter Stichworte den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).
141 Siehe „Feuer rechtzeitig bekämpfen“ im Menü rechts (nur im Internet).
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Muss man dem Partner einen Seitensprung beichten? Auch wenn die see­
lische Gesundheit des Partners dabei Schaden nimmt? Wenn die Ehe ausein­
anderbrechen würde ? Das zukünftige Wohl des Partners steht im Mittel­
punkt der Überlegungen, nicht ein steriles Entlastungsritual.
Noch anders liegt der Fall wohl bei übler Nachrede und Verleumdung. Es
macht wenig Sinn, diese dem Betroffenen zu bekennen. Sofern man nicht
davon ausgehen kann, dass die üble Nachrede nicht inzwischen längst ver­
gessen und bedeutungslos geworden ist, sollte allerdings der Gläubige, dem
die Liebe zum Nächsten wichtig ist, die Menschen, die durch seine Worte
irregeführt wurden, aufsuchen und die Ehre des Geschädigten wiederherstel­
len. Möglicherweise ist aber das, was leichtfertig ausgestreut wurde, gar
nicht mehr einzufangen.
Bei Diebstahl kann eine Selbstanzeige und Rückgabe vor dem Ablauf der
Verjährungsfrist riskant sein und eine gerichtliche Verurteilung nach sich
ziehen – mit eventuell verheerenden Folgen für die Familie. In schwer-wie­
genden Fällen ist anzuraten, einen gläubigen Anwalt zu konsultieren, der
ebenso wie der Seelsorger an die Schweigepflicht gebunden ist. Wenn ein
Mensch konkret leidet unter den Folgen eines Diebstahls, dann sollte der
Gläubige diesem gegenüber nicht gleichgültig bleiben, sondern ihm das Ver­
geben erleichtern. Die Rückerstattung kann auch anonym, etwa durch die
Vermittlung eines Pastors, der an das Beichtgeheimnis gebunden ist, erfol­
gen. Unter lang zurückliegenden Diebstählen, etwa in der Jugendzeit, leidet
heute sehr wahrscheinlich niemand mehr.
In diesem Fall würde bei einer Rückerstattung das Motiv einer sterilen
Gewissensentlastung wieder in den Vordergrund treten, das sich nachteilig
auf die seelische Stabilität auswirkt.
Das Gesagte betrifft nur die Selbstanzeige. Wird der Gläubige in der
Gemeinde konkret beschuldigt, jemandem geschadet zu haben, so muss die
Sache im Mediationsgespräch untersucht und – falls dieses scheitert – vor
die Gemeinde gebracht 142 werden, da Böses in der “Gemeinschaft der Heili­
gen” nicht geduldet werden darf.
142 Siehe das Verfahren im Kapitel „Urteilsvermögen“, (Internet).
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2. Behauptung: Kleine Sünden werden von Gott so negativ gesehen und
bestraft wie schwerste Verbrechen, denn Jesus musste auch für kleine
Sünden sterben.”
O wie fromm wirkt doch auch dieser Satz ! Kann die Reue perfekter sein,
wenn schon kleinste Fehler zu größter Zerknirschung führen ? Wird es Jesus
nicht erfreuen, wenn der Gläubige sich deswegen die schwersten Selbstvor­
würfe macht ? Wird dadurch nicht die Bedeutung seines Opfers noch viel
mehr betont ? Oh wie entschieden und wie fromm ! Diese Lehre kann doch
nur von Gott kommen.
Tatsächlich ? Sehen wir einmal genau hin!
Wenn kleine Sünden und Unvollkommenheiten so schwer wiegen würden
wie große, dann müssten sie genauso streng bestraft werden. Wer “sich an
Sünde gewöhnt hat, gehört zum Satan” (1.Jo 3,8) Wer “mutwillig (εκουσίως)
sündigt“, kann die Vergebung endgültig verlieren. (Hebr 10,26-27) Somit
müsste jeder Gläubige, der seine Unvollkommenheit nicht überwindet,
Angst haben, dass er eines Tages die Vergebung endgültig verliert.
Logischerweise müsste das Gewissen bei der kleinsten Unvollkommenheit
so heftig reagieren, als hätte man einen Mord begangen. In der Tat gibt es
Gläubige, deren Gewissen von unfähigen oder gewissenlosen Gemeindeleh­
rern derart verschärft wurde, dass sie jahrelang von einem aus Rand und
Band geratenen Gewissen terrorisiert werden.
Das ist unzulässig, denn es widerspricht dem ersten Qualitätsmaßstab Jesu,
der “Barmherzigkeit”.
Nicht nur die eigene Persönlichkeit, Würde und Gesundheit wird zerstört.
Auch die Vorstellung von der Persönlichkeit Gottes wird auf diesem Weg
zum Zerrbild. Seltsamerweise gibt es Gemeindelehrer, die sich an diesem
Zerrbild gar nicht stören. Im Gegenteil: Terror und Schrecken vertragen sich
nach ihrer Sicht recht gut mit der “Ehre” 143eines allmächtigen Gottes, dem
der Gläubige größte Ehrfurcht schuldet.
143 Siehe unter „Stichworte“ (Internet).
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Der “Respekt” wird allerdings sehr stark darunter leiden, dass Gott verspro­
chen hat, dass seine Gläubigen ohne Furcht und Schrecken leben sollen (Lk
1,74), und dann – wie es scheint – sein Versprechen nicht einhält.
Das ist unzulässig, denn es widerspricht dem dritten Qualitätsmaßstab Jesu,
der “Ehrlichkeit” und “Zuverlässigkeit”.
Die ständige Furcht bewahrt mitnichten vor der Sünde – wie manche glau­
ben. Das ist eine Illusion. Sehr wahrscheinlich kommt es irgendwann zu
einer Abstumpfung des Gewissens. 144
Da das Gewissen ständig quält, lohnen sich auch keine Bemühungen mehr,
auf einzelne Warnungen zu hören.
Auf einen Wachhund, der ständig kläfft, gleichgültig ob nun eine tatsäch­
liche Gefahr vorhanden ist oder nicht, hört man zu guter Letzt gar nicht
mehr. Das ständige Kläffen ist nur noch ein störendes Hintergrundgeräusch.
Wie leicht macht man es damit einem Einbrecher!
Die perfektionistische Sicht ist nicht nur unehrlich und unbarmherzig. Sie ist
auch unfair. Wer sich über Sünde wenig Gedanken macht, hat die Chance,
ein positives, freundliches und ermutigendes Gottesbild zu entwickln. Die
sorgfältigen und gewissenhaften Gläubigen müssen sich mit einer sehr
düsteren Gottesvorstellung herumschlagen.
Diese Quälerei kann sich über Jahre hinziehen, wenn Gläubige die Freiheit
eines Christen nie kennengelernt haben und folglich auch keinen Vergleichs­
maßstab haben, um die fehlende Qualität des werkgerechten Lebensstils zu
erkennen.
Natürlich macht auch die kleinste Sünde den Menschen unwürdig, mit Gott
Gemeinschaft zu haben. Das muss man allen sagen, die selbstsicher meinen,
keine Erlösung zu brauchen, weil sie doch gute Menschen seien. Hier gilt:
auch der anständigste und beste Mensch braucht die Bedeckung seiner
Schuld durch das Sühnopfer Jesu. Jeder Mensch hat sich an Menschen
und an Gott versündigt. Verdrängen der Schuld und Heuchelei belastet Cha­
rakter und Seele – die Löschung der Schuld befreit.
144 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 20.Behauptung, Seite 119.
46
Bei Menschen, die sich ohnehin sehr viel Gedanken über ihr Versagen
machen, muss man das nicht extra betonen (Sorgfaltsparadox) 145).
Das haben sie längst verstanden und akzeptiert.
Damit ist die Notwendigkeit der Charakterbildung 146 nicht abgewertet. Man­
che meinen ja, es komme nicht mehr darauf an, da ja ohnehin alle Sünder
seien. Ein Fehlschluss! Gläubige, die so denken, können bösartiger handeln
als Menschen, die Gott gar nicht kennen.
Charakter- und Persönlichkeitsbildung ist Jesus wichtig. Menschen mit Cha­
rakter entscheiden sich freiwillig für das Gute, weil sie von der langfristig
positiven Wirkung überzeugt sind. Um Charakter zu bilden, braucht der
Mensch Vorbilder und Freiraum. Zwang und Erpressung überzeugen
schlecht oder gar nicht.
Deshalb ist die Aufforderung Jesu an seine Jünger, „vollkommen zu sein“
(Mt 5,48) kein Befehl, sondern ein Wunsch. Er weiß, dass sie es nur wün­
schen können – im Eifer, dem Vorbild ihres geliebten Meisters zu folgen.
Das wesentliche Element der Vollkommenheit ist die Freiwilligkeit. Nach
Vollkommenheit soll der Jünger streben, und an sich arbeiten, wo es in Frei­
heit möglich ist. Die unabdingbare Grundlage aber ist immer das Vertrauen
in die unwandelbare Liebe und Treue Jesu, die nicht durch unsere Schwä­
chen und Gebundenheiten in Frage gestellt wird. “Er bleibt immer treu,
selbst dann, wenn wir nicht treu sind.” (2.Ti 2,13)
Jesus war vollkommen. Er fragte seine Jünger: “wer von euch kann mir eine
Sünde nachweisen?” (Jo 8,46) Achten wir einmal darauf, dass er sogar den
Kontakt mit Geld sorgfältig vermied. Er hatte keins. Als er Steuern zahlen
sollte, schickte er Petrus, der ein Geldstück in einem gefangenen Fisch fand.
(Mt 17,27)
An Geld klebt viel Unrecht und Gewalt ! Banken spekulieren mit dem Spar­
groschen der Armen, machen jede Menge unfaire Geschäfte und ruinieren
dabei Existenzen, treiben Menschen in Verzweiflung und Selbstmord, kor­
rupte Politiker schauen weg.
145 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet).
146 Siehe Seite 173.
47
Geld ist unrein! Es ist dreckig! Wenn man vollkommen sein müsste, dürfte
man es gar nicht anfassen.
Wir dagegen haben Geld. Wir schaffen es nicht, ohne es zu leben. Wir spie­
len das große Spiel mit. Wir konsumieren und verleiten andere dazu, zu kon­
sumieren, weil sie dasselbe haben wollen. Und Jesus verdammt uns deshalb
nicht. Die Apostel haben auch später niemanden deshalb verurteilt und aus
der Gemeinde ausgeschlossen.
Auch wenn Gewissenhaftigkeit im Denken und Handeln nicht zum ständig
schlechten Gewissen führen darf, so ist doch Sorgfalt sehr wertvoll und dient
in etlichen Bereichen der Vorbeugung vor Schlimmerem. Der Gedanke der
Vorbeugung spielt in der Bergpredigt (Mt 5,31-37) eine wichtige Rolle.
Es ist besser, sich vor Zorn auf den Bruder und vor dem Schimpfwort zu
hüten, als eine Entwicklung in Gang zu setzen, an deren Ende vielleicht tät­
liche Gewalt und Mord stehen. Es ist besser, sich begehrlicher Gedanken
und Blicke zu enthalten, anstatt sie zu dulden und dann im Ehebruch zu lan­
den. Es ist besser, gar nicht zu schwören, als durch ständigen Gebrauch von
Eidesformeln bald als unglaubwürdig dazustehen. Diese Liste kann man
fortsetzen: es ist besser sich vor dem Neid zu hüten, als zu guter Letzt den
anderen zu bestehlen, es ist besser, Großzügigkeit zu üben, als zu raffen und
dabei immer habgieriger zu werden.
Eben das Bemühen um wirksame Vorbeugung beweist: kleine Sünden
und große Sünden wiegen nie und nimmer gleich schwer. Völliger
Unsinn! Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob der Gläubige einen ehebre­
cherischen Wunsch hat oder ob er tatsächlich mit einer verheirateten Frau
Ehebruch begeht. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob der Gläubige
Gedanken des Hasses hat gegen einen Menschen, der ihn verletzt hat, oder
ob er ihn deswegen halb tot schlägt. Soll man nun denken: “nun ist das Kind
ja in den Brunnen gefallen, ich habe die kleine Sünde begangen und mir
dadurch schlimmsten Zorn Gottes zugezogen. Nun kommt es nicht mehr
darauf an, ob ich auch noch die große Sünde tue? Wenn ich sexuell begehr­
lich war, dann kann ich auch gleich den Ehebruch wirklich begehen? Wenn
ich gehasst habe, dann kann ich den Feind auch gleich windelweich
prügeln…!?”
48
Das Gegenteil ist wahr: Jesus hat viel Geduld und Mitgefühl mit dem Gläu­
bigen, der sich mit begehrlichen oder wütenden Gedanken herum-schlägt
und wird ihn bewahren, dass er nicht in den Abgrund des Ehebruchs oder
der Feindschaft hinabstürzt. Dazu braucht der Gläubige Ermutigung und
Stärkung durch Liebe und nicht ein Gewissen, das ihn sofort terrorisiert und
bedroht.
Ein wichtiges Kennzeichen der Liebe ist die Geduld. (1.Kor 13,4-5)
Wenn Jesus wünscht, dass seine Jünger Geduld mit den Schwächen anderer
haben sollen, dann wird er selbst nicht ungeduldig sein. Im Gegenteil: die
Bibel redet sogar von einer jahrhundertelangen Geduld Gottes mit mensch­
licher Schwachheit. (Rö 3,25) Ein Gläubiger, der kein Vertrauen in Gottes
Geduld hat, der denkt sehr klein von der Liebe Gottes. Entsprechend gering
ist sein Vertrauen, das doch die Grundlage des Lebens mit Gott sein soll:
alles geschieht “aus Glauben” (Rö 1,17).
Was “nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde” (Rö 14,23), selbst dann, wenn
es mit der größten Willensanstrengung verbunden ist.
Die Gläubige “wächst im Glauben” (Eph 4,15), was ja nichts anderes heißt,
als dass es ihm immer besser gelingt, gewisse Unvollkommenheiten abzule­
gen. Was wachsen muss, kann nicht sofort vollständig vorhanden sein.
Erpressung durch das Gewissen 147 ändert an dieser Situation nichts. Deshalb
muss man ihr widerstehen.
Die Tatsache, dass Jesu Opfer am Kreuz auch unsere Unvollkommenheiten
sühnt, sollte den Gläubigen erfreuen, beruhigen und ermutigen und nicht ihn
mit einer Last beladen, die ihn gänzlich erdrückt.
147 Siehe die 20 Behauptung zum „Gewissen“, Seite 90.
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3. Behauptung: “Da der Gläubige die Kraft des Heiligen Geistes emp­
fangen hat, ist er frei vom Zwang zu sündigen. Wenn er nur will, kann
er die Sünde lassen. Umso strenger wird der Gläubige bestraft, wenn er
sich dann noch kleine Sünden leistet. Er kann und darf sich nicht mehr
auf menschliche Schwachheit berufen.”
Da steht es zweifellos geschrieben: “seine Gebote sind nicht schwer, denn
alles, was von Gott geboren worden ist, überwindet die Welt” (1.Joh 5,3-4)
Ist es nicht der Ausdruck tiefsten Gottvertrauens, wenn Gemeindelehrer aus
dieser Verheißung ein strenges Verbot ableiten und dem Gläubigen auch
über der kleinsten Unvollkommenheit ein schlechtes Gewissen machen ? Es
ist doch “ganz logisch”: wenn der Heilige Geist dem Gläubigen ermöglicht,
alle Gebote zu halten, weil “die Gebote nicht schwer sind“, dann kann der
Gläubige nicht nur alle Gebote einhalten, sondern muss es auch.
Und schon wieder taucht der eben kommentierte, so oft in fataler Weise als
verbindliches Gebot missverstandene Satz auf:“Ihr sollt vollkommen sein,
wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.” (Mt 5,48), das den Gläubigen
angeblich verpflichtet, alles zu tun, was irgend gut ist: “Wer etwas Gutes zu
tun weiß, und tut es nicht, für den ist es Sünde…” (Jak 4,17), auch wenn es
ihn die materielle Existenz oder gar das Leben kosten sollte.
Natürlich weiß der Gläubige, dass ihm “gelegentlich” eine Sünde passieren
kann. “Wenn wir behaupten, wir wären ohne Sünde, dann lügen wir.” (1.Jo
1,8) Doch Sünde ist nach dieser Anschauung eine sehr seltene Ausnahme,
die kaum vorkommt. Sie muss sofort bereut und repariert werden, damit sie
eine seltene Ausnahme bleibt. Und wenn man etwas Gutes weiß, das zu tun
wäre, dann darf das Gute nicht ungetan bleiben, denn auch damit wäre die
Sünde keine seltene Ausnahme mehr.
Der Umkehrschluss ist fatal: wer nicht “alle Sünde lässt”, wer nicht alles
“was er Gutes tun könnte”, tut, wer nicht (fast) vollkommen lebt, wer nicht
all sein Hab und Gut für Notleidende opfert 148 , wer nicht allzeit bereit zu
lebensgefährlicher Mission ist 149 , der nimmt Gottes Erlösungsgeschenk
nicht an und ist deshalb Gottes Feind.
148 Siehe 7.Behauptung, Seite 83.
149 Siehe unter „Stichworte“ / „Buchstabentreue“ / Nr 6 (Internet).
50
Was mit den Feinden Gottes geschieht, ist klar: auf sie wartet die ewige Qual
der Hölle.150
Und schon kippt die herrliche Verheißung, dass für den Heiligen Geist keine
Aufgabe zu schwer ist, dass er den Gläubigen zu allem, was gut ist, ausrü­
sten und bevollmächtigen möchte, in das grauenhafte Gegenteil um: in stän­
dige Bedrohung, in seelische Erpressung und Verzweiflung.
Warum erkennen manche Gläubigen nicht, dass diese Interpretation der
Bibel nicht lebensfördernd (Mt 4,4), nicht konstruktiv, sondern scheinheilig
und destruktiv ist ? Warum erkennen sie nicht, dass diese Interpretation im
Widerspruch zur den Qualitätsmaßstäben Jesu steht ?
In diesen Zusammenhang gehört auch die wahnwitzige Behauptung, mit
jeder neuen Sünde “schlüge der Gläubige Christus erneut ans Kreuz“.
Welch gefährlicher Unsinn! “Christus wiederum kreuzigen” (Hebr 6,6), das
ist etwas, was nach dem Neuen Testament gar nicht möglich ist, und betrifft
den seltenen Fall, dass ein Mensch noch einmal zum Glauben kommen will,
der den Glauben bereits als befreiend erkannt und erlebt und ihn dennoch
endgültig weggeworfen hat. Welcher Wahnsinn, diese Formulierung für
kleine Fehler und Schwächen zu gebrauchen, doch bei gewissen perfektio­
nistischen Bibellehrern ist auch solcher Blödsinn möglich.
Wenn eine dilettantische Theologie diese Worte auf den Gläubigen bezieht,
so wird der Sinn des Opfers Jesu ins Gegenteil verdreht. Es wird eine stän­
dige Quelle des Schreckens und der Bedrohung – von Freude und Befreiung
keine Spur.
So balanciert der Gläubige mit ständig schlechtem Gewissen auf einem sch­
malen Grat: wieviel darf an der Vollkommenheit fehlen 151,damit er noch sei­
nes Heils gewiss sein darf ? Schon die Frage zeigt, dass hier etwas Wesent­
liches ganz falsch verstanden wurde.
150 Siehe unter „Stichworte“ , (Internet).
151 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das
Heil ?“, (Internet).
51
Fragen wir besser: Was soll denn Gott davon haben, wenn ihm seine
Gläubigen vor Angst schlotternd wie einem Diktator dienen ? Eine ähn­
liche Frage stellt Gott übrigens auch den Gläubigen im Alten Bund: “was
habe ich denn davon, wenn ihr mir ständig Tiere opfert ? Doch ich nehme
deine Opfer nicht an. Ich brauche keinen Stier aus deinem Stall und keinen
Bock aus deinem Pferch! Denn mein ist alles Wild im Wald, die Tiere auf
den tausend Bergen. .. Hätte ich Hunger, müsste ich es dir nicht sagen, denn
mein ist die Welt und was sie erfüllt.” (Ps 50, 9-12) Das mosaische Gesetz
gebot zweifellos viele Opfer.
Wenn Gott ein Gebot verfasst, so hat der Gläubige die Aufgabe, den Zweck
zu verstehen. Das Gebot soll eine Hilfe sein, die Beziehung zwischen Gott
und den Gläubigen herzustellen oder zu vertiefen. Wenn es mit Hilfe der
Qualitätsmaßstäbe Jesu “Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit” inter­
pretiert wird, so versteht der Gläubige diese Charaktereigenschaften Gottes
besser und erwirbt auch selbst mehr von diesen Eigenschaften. Er wird
innerlich verändert. Das ist die “Beschneidung des Herzens” (Rö 2,28-29),
auf die Gott großen Wert legt.
Menschen dagegen neigen dazu, die äußerliche Beschneidung für das ent­
scheidende Merkmal zu halten. Man kann Gottes Gebote äußerlich einhal­
ten, aber ohne innerliche Überzeugung. Dieser “Gehorsam” hat bei Gott
überhaupt keinen Wert. “Sie ehren mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist
fern von mir.” (Jes 29,13)
“Gutes tun”, weil das schlechte Gewissen erpresst, ist selbst Sünde. Es ist
scheinbare Heiligung, Werkgerechtigkeit und Selbsterlösung.
Es ist sozusagen Falschgeld, das aus dem Verkehr gezogen werden muss.
Die stärkste Willensanstrengung ändert an dieser Tatsache nichts. Der werk­
gerechte Gläubige ist leider davon überzeugt, dass die verbissene Willensan­
strengung, die “Entschiedenheit” etwas sei, dass die fromme Leistung “hei­
lig” mache. Man durchschaut diesen Wahn erst, wenn man die Qualität der
Früchte prüft.
Was kommt dabei heraus? Die Liebe wird dadurch nicht größer. Der Glaube
wird eine Quelle ständiger Frustration. Er kann so unerträglich werden, dass
man ihn am Ende aufgibt.
52
Eben das steht in der Bibel: Werkgerechtigkeit hat keine Verheißung, son­
dern steht unter einem Fluch: “Ihr habt Christus verloren, weil ihr euch
selbst durch die Erfüllung der göttlichen Normen retten wollt. Ihr lebt wie­
der ohne Gnade! ” (Gal 5,4)
Zweifellos ist Werkgerechtigkeit ein sehr naheliegender, allzu-mensch­
licher Gedanke: “hilf dir selbst, dann hilft dir Gott…” Echter Glaube ist
immer wieder in Gefahr, durch werkgerechte Gedanken wie mit Sauerteig
durchdrungen und vergiftet zu werden (Mt 16,6 / Gal 5,9).
Paulus, der erst ähnlich dachte, erkannte durch die Begegnung mit Jesus,
welch schlimme Selbsttäuschung die Werkgerechtigkeit ist. Er erkannte,
dass selbst seine frömmsten Taten vom Eigennutz vergiftet waren. Auch der
frömmste Mensch hat nichts anderes verdient als den Tod und die Hölle.
Eine Zeitlang verzweifelte an dieser Erkenntnis, bis er dann erkannte, wie
das neue Leben aussieht, dass Gott all seinen Kindern schenkt.
Es beginnt mit dem Vertrauen, dass Gerechtigkeit nicht durch eigene Bemü­
hungen erworben wird, sondern dass sie “zugerechnet” wird. Jesus allein
war ohne Sünde, und die Sündlosigkeit rechnet Gott jedem Menschen, der
auf Jesus Christus vertraut, zu (Rö 4,3 ff /Phil 3,9).
Wer Jesus vertraut, nimmt aber nicht nur diese Zurechnung in Anspruch,
sondern er hat auch den Wunsch, Jesus immer ähnlicher und vom Eigenutz
immer freier zu werden. Mehr als diesen Wunsch zu stärken durch engen
Kontakt mit seinem Herrn, mit seinem heiligen Wort und mit der christlichen
Gemeinde und immer im Gebet zu sein, dass ihm doch Gott die Weisheit
geben und ihm zeigen möge, wie auf glaubwürdige Weise mehr von diesem
Wunsch verwirklicht werden könne, kann und darf er nicht bringen.
Aber weniger auch nicht! Andernfalls wäre es gar kein echtes Vertrauen,
sondern wieder dreistes Anspruchsdenken, wieder Aberglaube.
Es ist und bleibt wahr und für viele Gläubige schwer zu fassen: der Christ,
der in der rechten Weise Jesus Christus vertraut, ist vom Gesetz und seinem
Zwang befreit.
53
Allerdings kann er sein Recht innerhalb der Gemeinde nur innerhalb der
Grenzen in Anspruch nehmen, die ihm das gültige Recht der Gemeinschaft
152
setzt. Dieses Recht der Gemeinde sollte sich strikt an den Qualitätsstan­
dards Jesu Christi orientieren und andernfalls baldmöglichst korrigiert wer­
den.
Es ist wichtig für sein geistliches Wachstum, immer sensibler zu werden
für die Qualität, die das Wirken des Heiligen Geistes kennzeichnet und sich
immer mehr Urteilsvermögen anzueignen. Was der Gläubige “aus Glauben”
tut, entspringt seiner Überzeugung. Er tut es freiwillig, weil ihn die Liebe
dazu motiviert. Je öfter er es tut, desto stärker wird die Liebe. “Wer hat, dem
wird gegeben” (Mt 13,12) Nur mit echter Heiligung 153 kann der Gläubige
Gott würdig repräsentieren.
Viele Gläubige versuchen Werkgerechtigkeit zu vermeiden, indem sie den
Glauben zur unverbindlichen “Religiosität“ 154 verkürzen und verwässern
und damit die Botschaft Jesu missbrauchen. Dies mag dazu führen, dass sie
eines Tages entgegen ihren Illusionen vor verschlossenen Türen stehen. (Mt
7,21-23 / 25,1 ff) Es gibt einen bibelgemäßen Weg aus der Werkgerechtig­
keit 155, der den Glauben stärkt, anstatt ihm zu schaden.
4. Behauptung: “Sexuelle Sünden verunreinigen am stärksten”
Es gibt etliche Gläubige, die meinen, dass sexueller Verzicht der Schwer­
punkt der christlichen Ethik sei. Daraus zieht mancher den Schluss, dass
Gläubige, die sich besonders sexualfeindlich gebärden, besonders heilige
Leute seien. Umgekehrt würde Fehlverhalten, das im Zusammenhang mit
der Sexualität steht, von Gott viel negativer beurteilt und bestraft als andere
Sünden.
In der Bibel gibt es zu dieser Behauptung ein Gegenbeispiel: Der Priester
Amazja verbot dem landesfremden Hirten Amos, im Tempel die an ihn
ergangene Warnung Gottes auszusprechen.
152 Siehe unter „Stichworte“ die Abschnitte 3 und 4 des Artikel „Buchstabentreue“,
(Internet).
153 Siehe Seite 160.
154 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Religiosität“, (Internet).
155 Siehe den 4. Abschnitt des Kapitels „Zu Gott gehören“, Seite 169.
54
Zur Strafe wurde Amazjas Frau später eine stadtbekannte Hure. (Amos 7,1217) Woraus wir ersehen: Der Versuch einer Gemeindeleitung, die Gläubigen
gegen notwendige biblische Zurechtweisung abzuschirmen, wird von Gott
als eine Sünde angesehen, die so schwer wiegt wie gewerbliche Prostitution.
Es gibt noch viele andere Sünden, die schädlicher sind als viele sexuelle
Verfehlungen: den guten Ruf eines Menschen zerstören, auf seiner Würde
herumtrampeln, ihn mobben, ihn wegen seiner Andersartigkeit hassen und
verfolgen oder ihn wirtschaftlich oder gesundheitlich ruinieren.
Im Verlauf der Kirchengeschichte wurde diese Sünden oft gar nicht als sol­
che angesehen, insbesondere wenn man Menschen so behandelte, deren
Gedanken und Fragen man als Bedrohung der eigenen Glaubensauffassung
empfand. So bekam das Thema der sexuellen Sünde gegenüber diesen Sün­
den ein großes Gewicht.
Es besteht kein Zweifel, dass sexuelle Rigorosität stark zur Stabilisierung
bestehender Glaubensgemeinschaften beiträgt. Das Thema sexueller Unzu­
länglichkeiten ist gut dazu geeignet, Gläubige einzuschüchtern 156, sodass sie
das, was in der Gemeinde geschieht, nicht mehr in Frage zu stellen wagen.
Gläubige in der Gemeinde, die ihr Macht missbrauchen, bedienen sich des­
halb gerne dieses Themas.
Die Einschüchterung ist so wirksam, weil sie an das Schamgefühl anknüpfen
kann, dessen Reaktion von vielen Gläubigen ebenso wie die Reaktion des
Gewissens 157 irrtümlicherweise für absolut unfehlbar gehalten wird.
Die katholische Kirche hat sich deshalb nach Kräften bemüht, Schuld- und
Schamgefühle weiter zu steigern. So wurde im Mittelalter z.B. gelehrt, dass
der ansonsten legale Geschlechtsverkehr eines verheirateten Paares am
Sonntag, dem Tag des Herrn, oder an einem der vielen anderen kirchlichen
Feiertage hochgefährlich sei, da er diesen Feiertag entweihe. Diese Sünde
sei so schwer, dass sie von Gott üblicherweise mit der Geburt eines behin­
derten Kindes bestraft werden würde.
156 Siehe die 24.Behauptung „Der Gläubige darf Unrecht ... nur dann beim Namen
nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler zu sehen sind.”, Seite 130.
157 Siehe die 20. Behauptung, Seite 119.
55
So warnten z.B. Gregor von Tours, gest.594, und Erzbischof Thietmar von
Magdeburg. 158
Wenn wir uns also mit dem Thema “Sexualität” befassen, so müssen wir ein
waches Auge haben auf Beiträge von Gläubigen, deren Motive ähnlich
unsauber sind.
Diese Tendenz setzte sich fort in der Onanie-Literatur des 19. und 20 Jahr­
hunderts, in der Quacksalber und Ärzte eindringlich vor angeblichen medizi­
nische Folgeschäden der Masturbation warnten: sie sollte angeblich Pocken
und Tuberkulose hervorrufen 159 oder zu Rückenmarksschwund, Auszehrung
des Körpers, Hysterie, Geisteskrankheit, Unfruchtbarkeit und Geschwüren
im Gesicht führen 160 Den Ärzten wird man schwerlich klerikale Motive
unterstellen. können, doch förderte die kirchliche Sexualitätsfeindlichkeit
offensichtlich eine allgemeine Bereitschaft, erfundene Schreckensmel­
dungen ungeprüft und blindgläubig weiter zu verbreiten.
Nun gibt es zweifellos sehr strenge Sätze zur Sexualität in der Bibel. “Ich
habe einen Bund mit meinen Augen geschlossen, dass ich nicht begehrlich
blicke auf eine Jungfrau. Was gäbe mir Gott sonst als Teil von oben und
was für ein Erbe der Allmächtige in der Höhe? Wird nicht der Ungerechte
Unglück haben und ein Übeltäter verstoßen werden? Sieht er nicht meine
Wege und zählt alle meine Gänge?” (Hiob 31,2-4).
Eine schöne Frau anzublicken und das Zusammensein mit ihr zu wünschen,
das ist ein Wunsch, den der von Gott dem Menschen eingepflanzte Sexual­
trieb ganz selbstverständlich mit großer Kraft hervorruft. Dieses Verlangen
bleibt bei etlichen Männern bis ins hohe Alter hinein erhalten. Während der
Mensch, der Hunger hat und Nahrung vor sich sieht, auch essen darf, um
diesen Hunger zu stillen, ist der Gläubige verpflichtet – so sieht es Hiob –
den bloßen Wunsch nach sexueller Erfüllung schon bei seiner Entstehung
niederzukämpfen.
158 Peter Browe, Beiträge zur Sexualität des Mittelalters, Breslau, 1932, S. 47-48.
159 Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Masturbation: dort wird zitiert John Marten,
Onania: or the Heinous Sin of Self-Pollution, 1712; von Denis Diderot unter dem
Artikeltitel Mansturpration ou Manustupration übernommen in seine Encyclopé­
die, 1751-1780.
160 Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Masturbation, dort wird u.a. Denis Diderot
angeführt: Dissertation sur les maladies produits par la masturbation, 1760.
56
Im mosaischen Gesetz, das NACH (!) der Zeit Hiobs gegeben wurde, spielt
diese moralische Strenge seltsamerweise überhaupt keine Rolle. Es wird
immer wieder behauptet, dass ein solches Gebot bei einem großen Volk
undurchführbar gewesen sei. Zweifellos stimmt das, doch das ist irrelevant.
Es wäre Mose ganz leicht möglich gewesen, eine Gruppe von besonderen
Gläubigen zu berufen, die sich diesen harten Normen unterwarfen. Es wäre
leicht gewesen, diese Leute mit besonderen Privilegien auszustatten, um
allem Volk ein gutes Beispiel zu geben.
Und die Segensverheißungen am Ende der Mosebücher hätte Mose in
gestaffelter Form anbieten können. 100% Segen für die, die sich an das
schwere Gebot sexueller Reinheit halten wollen, 50% für die, die doch hin­
gucken und sich etwas wünschen, wenn eine schöne Frau vorbeigeht und
5% für die Leute, die ihre Frau entlassen haben, weil sie ihnen zu abgenutzt
und hässlich erschien. Ein nachhaltiger pädagogischer Effekt würde sicher
nicht ausbleiben.
Doch diese Möglichkeiten werden nicht genutzt, sodass bei einem Thema,
das ganz entscheidend sein soll für die Beziehung mit Gott, ein leicht zu
erzielender pädagogischer Erfolg verschenkt wird – für immerhin zwei
Jahrtausende. Diesen Eindruck wird der sorgfältige Leser nicht los, auch
wenn das mosaische Gesetz noch viele weitere Vorschriften enthält über
Reinheit und Unreinheit bei Samenerguss Menstruation, Geburt usw. (Wich­
tige Anmerkung: durch das Verschenken des pädagogischen Erfolgs im
sexuellen Bereich wird ein pädagogischer Erfolg auf einem wichtigeren
Gebiet erzielt: nämlich die Erkenntnis, dass das Gesetz ganz bestimmte Illu­
sionen 161 hervorruft.)
Im Neuen Testament erhebt Jesus eine ähnlich strenge Forderung: “Ihr habt
gehört, dass zu den Alten gesagt ist: “Du sollst nicht ehebrechen.” Ich aber
sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr
die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Führt dich aber dein rechtes Auge in
Versuchung, so steche es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, dass eins
deiner Körperteile verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen
werde. Führt dich deine rechte Hand in Versuchung, so haue sie ab und wirf
sie von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe, und nicht
der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.” (Mt 5, 27-28)
161 Siehe unter Stichworte den Artikel „Gesetzliche Illusionen“, (Internet).
57
Hier wird – wie es scheint – die Sicht des Hiob bestätigt. Warnte Hiob vor
dem “Verstoßenwerden des Übeltaters“, so warnt Jesus vor der Hölle, die
auf den begehrlichen Blick folgen kann. Verständlich, wenn Gläubige zu
dem Schluss kommen, dass schon kleine Abweichung von sexuellen Nor­
men ein besonders schweres Vergehen ist. Entsprechend stark ist das
schlechte Gewissen 162 und das Schamgefühl, das sich anlässlich des Versa­
gens bildet.
Zusätzlich tauchen in bibeltreuen Gemeinden immer wieder Lehren auf, die
dem Denken eine vollends verhängnisvolle Richtung geben können, z.B. die
Behauptung, dass kleine Sünden bei Gott so schwer wiegen wie große. 163 Ist
das wahr, dann wiegen die Wünsche und Phantasien so schwer wie fortge­
setzter Ehebruch, wie ein Leben in Hurerei. Es ist verständlich, dass manche
Gläubige daraus den Schluss ziehen, “mutwillig gesündigt” (Hebr 10,27)
und die Geduld Gottes überstrapaziert zu haben. Chronische und schwere
Depressionen und Ängste vor der Hölle sind die Folge.
Wie unmenschlich diese Zwangslage ist, ist an dem Schicksal des Kirchen­
lehrers Origines zu sehen. Um nicht in die Hölle zu kommen, sah er für sich
keinen anderen Ausweg mehr, als sich selbst zu kastrieren.
Wir wollen hoffen, dass er anschließend wieder zur ersehnten Glaubens­
freude durchgedrungen ist. Doch können wir seine Methode, das Problem zu
lösen, nicht empfehlen.
Stattdessen stellen wir die Frage: wo ist hier noch eine überzeugende
Abgrenzung zur Bemühung, sich selbst zu erlösen und zu retten, sich selbst
das Heil zu sichern ? Werkgerechtigkeit ist für den Glauben hochgefährlich:
“Ihr habt Christus verloren, die ihr durch die Erfüllung der göttlichen
Norm gerecht werden wollt.” (Gal 5,4). Deshalb muss die Abgrenzung von
der Sünde der Werkgerechtigkeit sehr sorgfältig sein: “Auch ein winziges
Stückchen Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig.” (Gal 5,9)
162 Siehe Seite 116.
163 Siehe in diesem Kapitel die 3. Behauptung: „Kleine Sünden sind genauso schlimm
wie schwerste Verbrechen“, Seite 37.
58
Manchen Christen bereitet das Gebot rigider sexueller Disziplin kein nen­
nenswertes Problem. Am einfachsten haben es die Glücklichen, die eine
Frau haben, mit der sie zusammen Sexualität genießen können. Andere
Gläubige haben das Glück, dass der Sexualtrieb nicht allzustark ausgebildet
ist und dass sie Glücksgefühle, ja sogar den Gefühlsrausch aus anderen
Quellen schöpfen können: aus dem Erfolg im Beruf sowie aus hoher Kreati­
vität. Es wurde auch schon darauf hingewiesen, dass der Genuss von Macht
und Einfluss das sexuelle Defizit ausgleichen kann – was z.B. in klerikalen
Hierarchien vorkommt.
Welche Lösungen bieten sich an für Gläubige, die einen starken sexuellen
Drang, aber wenig Möglichkeiten haben, sich starke positive Glücksgefühle
zu beschaffen ?
Muss man den Gläubigen recht geben, die sehr schnell antworten, dass der
Glaube ausreichend Glücksgefühle liefert (“Die Freude am Herrn ist eure
Stärke“) und der Gläubige die Schuld für das Fehlen ausreichender Kompen­
sationsgefühle bei sich selbst zu suchen hat ?
Hier ist einmal festzustellen, dass Paulus selbst darauf hingewiesen hat, das
Eheleute sich einander nicht entziehen sollen, da andernfalls die Versuch­
lichkeit zur Hurerei zu stark werden würde. (1.Kor 7,5) Wäre der Glaube
eine jederzeit bereitstehende Kompensationsquelle, die ausreichend Freude
vermittelt, wäre diese Aufforderung überflüssig. Paulus weist auch darauf
hin, dass er sehr gut verzichten kann und andere nicht (1.Kor 7,7).
Verzicht auf sexuelle Phantasien ist für Gläubige, die schlecht mit Kompen­
sationsmöglichkeiten ausgestattet sind, eine anstrengende Verzichtsleistung
– ähnlich schwer, wie der Entschluss, nur soviel zu essen, dass man ständig
unter Hungergefühlen leidet und gerade am Leben bleibt. Übermäßiges
Fasten hat bekanntlich wenig Erfolg: der Frust wird so groß, dass man
unversehens hemmungslos frisst, um alles nachzuholen. (Jojo-Effekt) Eine
ähnliche Gefahr ist bei Überforderung durch sexuellen Totalverzicht nicht
auszuschließen. Wenn das Gewissen ohnehin ständig anklagt, dann lohnt es
sich nicht mehr, die große Sünde, den unverbindlichen Sex, zu vermeiden.
59
Was geschieht mit den Menschen, die sich Tag für Tag die größte Mühe
geben, immer wieder unter Tränen den Vorsatz fassen, ihre Phantasie zu
zügeln und dennoch so oft scheitern, dass sie eines Tages selbst nicht mehr
an die Ernsthaftigkeit ihrer Vorsätze glauben können ? Stattdessen fühlen sie
sich durch eigenes Verschulden ständig verschmutzt und Glaubensfreude
kommt gar nicht mehr auf. Damit sind noch weniger Kompensationsmög­
lichkeiten vorhanden. Ein Teufelskreis entsteht.
Die seelsorgerlichen Tatsachen lassen ebenso wie das Faktum, dass keine
überzeugende Abgrenzung zur Werkgerechtigkeit vorhanden ist, erhebliche
Zweifel an der üblichen Auslegung der Worte Jesu in Mt 5,27-28 entstehen.
Betrachten wir doch das Wort “begehren” (grie: επιθυμησαι) in Mt 5,28 ein­
mal genauer ! In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der
Septuaginta wird dasselbe Wort im Zehngebot verwendet.
Dort bezeichnet das “Begehren” den Willen, etwas in seinen Besitz zu
bringen, der sich sowohl auf die Frau des Nachbarn (Septuaginta:
επιθυµησεισ την γυναικα), als auch auf sein Haus oder seinen Esel richten
kann (2.Mo 20,7).
Nicht das “Begehren” an sich ist böse, denn es ist sehr wohl erlaubt, eine
Frau für sich, ein Haus für sich und einen Esel für sich zu begehren und zu
erwerben. Das Böse besteht darin, dass sich das Begehren auf etwas richtet,
was einer anderen Person gehört, die ihr Eigentumsrecht geltend macht.
Jesus spricht hier also über die fahrlässige Anbahnung eines konkreten
Rechtsbruchs, nicht über sexuelle Phantasien, die um ihrer selbst willen
genossen werden. Somit wäre Mt 5,27 besser übersetzt: “wer eine verheira­
tete Frau habgierig anblickt und sie besitzen will…”
Doch leidet die bibeltreue Theologie schon seit jeher an einer starken
Geringschätzung des Rechts, was darin zum Ausdruck kommt, dass es in
den meisten bibeltreuen Gemeinden gar keinen schiedsgerichtlichen Dienst
164
bzw. kein seriöses Schlichtungsverfahren 165 gibt.
164 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Schiedsgerichtlicher Dienst“, (Internet).
165 Siehe die Skizze eines Schlichtungsverfahrens, Seite 156.
60
Dann ist es wenig verwunderlich, dass man die tatsächliche Bedeutung des
Wortes “begehren” (grie: επιθυμησαι) übersehen hat.
Das Verbot zu “begehren” ist mit anderen Geboten in einem Block zusam­
mengefasst, mit dem Verbot, den Nächsten zu beleidigen, sowie mit dem
Verbot zu schwören. Das gemeinsame Konzept ist die Vorbeugung, die
Verhinderung der Eskalation.
Wenn man von vornherein darauf verzichtet, den Nächsten zu beleidigen,
dann wird es zu Tätlichkeiten oder gar zum Mord erst gar nicht kommen.
Wenn man von vornherein darauf verzichtet, alles und jedes mit einem
Schwur zu bekräftigen, dann muss man nicht befürchten, dass am Ende gar
nichts mehr geglaubt wird. Und wenn man den Wunsch nach der Frau des
Nächsten sofort niederkämpft, dann kann es gar nicht zum Ehebruch kom­
men.
Dieses Gebot wird von Jesus mit äußerster Strenge formuliert. Wenn eine
Frau, gläubig und Mitglied einer Gemeinde wird und ihr Ehemann weiter
ungläubig bleibt, dann wird sehr bald ihr ungläubiger Partner in Konkurrenz
zu Männern in der Gemeinde treten, mit denen sie die wichtigsten und
tiefsten Glaubenserfahrungen teilt. Dann ist die Versuchung groß, sich vom
ungläubigen Partner zu trennen, von dem man sich nicht mehr verstanden
fühlt. Jesus hat aber solche ungleichen Ehen unter seinen besonderen
Schutz gestellt: Scheidung ist nicht erlaubt, und wer die Geschiedene heira­
tet, begeht Ehebruch. (Mt 5,32)
Hätte Jesus hier nicht so streng formuliert, so würden Männer, die ihre
Frauen in die Gemeinde gehen lassen, diese sehr bald verlieren und dann in
Zukunft ihre neuen Frauen am Kontakt mit der Gemeinde hindern. Der
Schutz vor diesem Unglück muss also zuverlässig funktionieren.
Die Androhung der Hölle bezieht sich also gar nicht auf sexuelle Phantasiereisen, die frei vom Wunsch nach tatsächlicher Besitzergreifung sind.
Über Hiob, der den begehrlichen Blick auf eine unverheirate (!) Jungfrau als
schwere Sünde betrachtete, werden die Ausleger geteilter Meinung sein.
Immer wieder haben einzelne Gläubige eine private Einschätzung gehabt,
die über das biblisch Gebotene weit hinausgeht.
61
Die genauen Umstände, die Hiob zu seinem Entschluß bewogen haben, sind
uns unbekannt. Vielleicht hat er einmal miterlebt, wie kriegsgefangene Mäd­
chen auf dem Sklavenmarkt angeboten wurden. Die Gier der Käufer und das
Elend der entwürdigten Frauen mag sich tief in seine Seele eingeprägt haben
– sodass er sich fortan um eine Einstellung besonders strenger sexueller Dis­
ziplin bemühte, was so gar nicht in die Zeit der Erzväter passte.
In den Erzväterzeiten war Polygamie verbreitet. Warum sollte der verheira­
tete Hiob nicht den Blick auf ein weiteres Mädchen werfen, um sie zu heira­
ten ? Geld genug dafür hatte er. Die anderen Glaubensväter des Alten Testa­
ments, die das getan haben, hatten keine Furcht, deshalb Gottes Gunst zu
verlieren. Der Erzvater Jakob hatte 4 Frauen (1.Mo 30,3-10), König David
hatte während seiner Fluchtzeit 2 Frauen (1.Sam 25, 43), in Hebron hatte er
4 andere Frauen, wobei unklar ist, ob sie alle gleichzeitig lebten (2.Sam 3,25). König Salomo schrieb das Hohelied zu einer Zeit, als er bereits 140 (in
Worten: hundertundvierzig !) Frauen besaß (Hohel.6,8) !
Dennoch sehen etliche aktuelle evangelikale Veröffentlichungen in sexuel­
len Phantasien eine Entwürdigung der Frau und eine Degradierung zum
Sexual-Objekt, gar „eine Zerstörung ihrer „Gottesebenbildlichkeit“.
Wie immer man das sieht: es entwürdigt die Frau unendlich viel mehr,
wenn sie zum Zweck der Triebentsorgung geheiratet wird. Wie oft wer­
den Ehen übereilt - allein aufgrund des sexuellen Motivs - geschlossen zwi­
schen Menschen, die schlecht zueinander passen und sich deshalb ständig
auf die Nerven gehen ?
Nun sucht man verständlicherweise den wirklich geeigneten Partner, den
man aber nach biblischem Recht gar nicht mehr heiraten dürfte. Wird auf
diese Weise nicht ein großer Schaden in der Gemeinde und in der Familie
angerichtet? Für die Ehre der Frau ist mit einem rigorosen Verbot sexueller
Phantasien gar nichts gewonnen.
Wenn man alleinstehende Frauen vor die Wahl stellt, ob sie mit ihrer Schön­
heit auf Männer attraktiv wirken wollen oder lieber keinen optischen Ein­
druck hinterlassen wollen, so wird es wohl – abgesehen von Frauen, die üble
Erfahrungen mit Sexualität gemacht haben – wohl kaum Frauen geben, die
sich auf die Zeit freuen, wenn ihre Schönheit verblüht ist und man nur noch
an ihrem inneren Wert interessiert ist.
62
Das Gegenteil ist wahr. Sehr viele Frauen investieren horrende Summen in
Kosmetik und Schönheitschirurgie, um den Alterungsprozess zu verlangsa­
men. Das zeigt doch in aller Deutlichkeit, dass eine Frau in der Regel
“begehrenswert” erscheinen will – wenn sie sich auch tätliche Belästigung
verbittet. Je begehrenswerter sie erscheint, desto mehr Respekt, Aufmerk­
samkeit und Beachtung erhält sie von Seiten der Männerwelt.
Wie wird der Wunsch, „begehrenswert“ zu erscheinen, in der Bibel bewertet
? Ein ganzes Buch, das Hohelied, lobt die in erster Linie die körperlichen
Merkmale der begehrten Frau in allen Details und diese Frau ist - wie gesagt
– nicht die einzige, sondern eine neue Favoritin nach den 140 anderen, die
schon dem König gehören. (Hohelied 8,6) Wenn jemand behauptet, dass im
alten Testament andere Regeln galten, so ist es inkonsequent, wenn zugleich
die Warnung des Hiob, „begehrlich eine Jungfrau anzusehen“ (Hiob 31,2-4)
als verbindliches Gebot betrachtet wird. Hätte ein Hiob das Hohelied schrei­
ben können ?
Auch die Braut freut sich über ihre Schönheit. Offensichtlich darf sie es.
„Meine Haut ist zwar dunkel, braun wie die Zelte der Wüstenbewohner.
Dennoch bin ich schön, so wie die wertvollen Zeltdecken Salomos.“ (Hohel.
1,5). Wohl jede Frau, die in den Spiegel schaut, wird froh über ein attrak­
tives Äußeres sein und weniger froh, wenn erhebliche Mängel sichtbar sind.
Sollen wir annehmen, dass der Apostel Johannes diese natürliche Sicht, von
der auch das Hohelied geprägt ist, kritisieren und als sündig brandmarken
wollte, wenn er sagte: „Denn alles, was in der Welt ist: Augen Lust, Flei­
scheslust und hoffärtiges Leben, das stammt nicht vom Vater, sondern von
der Welt“ ? (1.Joh 2,16)
Hier werden drei Dinge nacheinander genannt, eine bedenklicher als die
andere. Die Betonung liegt in diesem Satz auf dem dritten Begriff, dem
“hoffärtigen Leben”, dem Hochmut.
Leider können die guten Gaben Gottes missbraucht werden. Statt dankbar zu
sein und sich über Schönheit als über ein unverdientes Geschenk zu freuen,
ist sie für manche Frauen der Anlass zum Hochmut und zur Schadenfreude.
Sie genießen es, Männer begehrlich zu machen, um sich dann an ihrer Fru­
stration zu erfreuen bzw. sie gar als zudringlich zu beschimpfen.
63
Es gibt Frauen, die mit Schönheit Macht ausüben und verletzen oder erpres­
sen wollen. Sie entwürdigen damit den Mann und machen ihn zum „Objekt“,
zur Zielscheibe eines destruktiven Interesses. Männer können dasselbe tun.
Doch ihr maßgebliches Attraktivitätsmerkmal ist die Finanzkraft, mit der sie
Macht ausüben und Mitmenschen demütigen können.
Beides ist Missbrauch der guten Gaben Gottes, die nicht dem Hochmut die­
nen, sondern in Dankbarkeit und zum Segen der Mitmenschen gebraucht
werden sollen. Die Macht, die Schönheit oder Finanzkraft ausüben, setzt
voraus, dass sie im Denken des beherrschten Menschen einen hohen Stellen­
wert haben. Wer mit wenig Einkommen zufrieden ist, wer den charakter­
lichen Vorzügen einer Frau sowie der Führung Gottes mehr Bedeutung zuer­
kennt als den Merkmalen idealer Schönheit, der kann sich dem, was in der
Welt wichtig ist, entziehen. Er kann nicht beherrscht, erpresst oder verletzt
werden.
Die folgende Übersetzung bezieht diese Überlegungen mit ein: „Hängt euer
Herz nicht an das, was in der Welt ist. Die Gier nach allem, was ins Auge
fällt, das Prahlen mit Schönheit und Besitz, all das kommt nicht vom Vater,
sondern gehört zur Welt. Die Welt mit ihren verlockenden Angeboten wird
vergehen. Wer aber tun will, was Gott gefällt, der wird mit ihm in Ewigkeit
leben.“ (1.Joh 2,16-17)
Nun ist die Frage, wie erotische Phantasien zu bewerten sind, die nicht mit
der Benachteiligung einer konkreten Person verbunden sind. Solche Phanta­
sien treten gewöhnlich im Zusammenhang mit Masturbation auf, über die die
Bibel selbst nichts sagt.
Evangelikale Autoren wie Tim Stafford sind der Meinung, dass sie als
schwere Sünde einzuordnen sind. Er schreibt in seinem Aufsatz “Liebe, Sex
und Du”, 166: “Wenn du wohlüberlegt und vorsätzlich eine Frau (oder einen
Mann) ansiehst und sie als sexuelles Objekt betrachtest (und evt. gedanklich
gebrauchst), ihn oder sie damit menschlich entwürdigst, dann bist du
genauso sexueller Untreue schuldig wie jemand, der solche Vorstel­
lungen in die Tat umsetzt.”
166 3.Auflage Wetzlar Schulte und Gerth, 1982, S.118.
64
Genauso schuldig? Wie wer? Mit tatsächlich praktizierter Untreue scheint
wohl der vollzogene Ehebruch oder ein Bordellbesuch gemeint zu sein. Hier
taucht eine fundamentale Behauptung perfektionistischer Theologie wieder
auf: “kleine Sünden wiegen so schwer wie große” 167, die wir bereits mit
Hilfe der Heilgen Schrift beurteilt haben.
Es ist ein alarmierendes Zeichen, wenn Gemeindelehrer immer noch nicht in
der Lage sind, die Destruktivität dieser Behauptung zu erkennen. Ist einem
Jugendlichen, der wiederholt masturbiert, wirklich geholfen, wenn ihm bei­
bringt, sich als Verbrecher zu fühlen, der schon mit einem Bein in der Hölle
steht ? Bedarf es nur ständiger Drohung und des ständig schlechten Gewis­
sens, um aus ihm eine geheiligte und gereifte Persönlichkeit zu machen ? Ist
es wirklich das, was Jesus sagen wollte? Oder beweist diese Interpretation
nur einen sicheren Instinkt für die Sexualität als ständig sprudelnde Quelle
von Schuldgefühlen, die sich traditionsgemäß vortrefflich nutzen lassen ?
Wer spricht eigentlich von seiner Würde und seinen Rechten, wenn er
zeitlebens von seinem Gewissen niedergedrückt wird ? Wenn er vielleicht
deshalb sogar seine Heilgewissheit und Glaubensfreude verliert ?
Varianten dieser absurden Drohung haben sich in der katholischen Kirche
bis heute erhalten. So wurde Jugendlichen weisgemacht, dass sie eine “Tod­
sünde” begehen würden, wenn sie masturbiert hatten und anschließend das
Abendmahl in Empfang nahmen. Im Fall eines tödlichen Unfalls würden sie
sofort in die ewige Verdammnis kommen, wenn sie nicht rechtzeitig ein
geweihter Priester in der Beichte von dieser Sünde losgesprochen hätte.
Die Verteufelung sexueller Phantasien scheint ein bestens bewährtes Mittel
zu sein, um Jugendliche einzuschüchtern und von der unerreichbaren Heilig­
keit der Gemeindeleiter zu überzeugen, die “diese Sünde” natürlich souverän
im Griff haben. Dann braucht man über die Unreinheit, die mit miesen
Tricks 168, mit Duldung von Unrecht 169 und mit Machtmissbrauch in der
Gemeinde verbunden ist, nicht mehr zu sprechen.
167 Siehe unter Stichworte den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet).
168 siehe „Miese Tricks“ im Internet.
169 Siehe unter Stichworte den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet).
65
Das ist übrigens die Unreinheit, vor der die Bibel ganz besonders warnt. Als
der Prophet Jesaja den heiligen Gott in einer Vision sah, rief er erschrocken:
„Weh mir, ich bin verloren! denn ich habe unreine Lippen und wohne unter
einem Volk mit unreinen Lippen; und als unreiner Mensch habe ich habe
den König, den allgewaltigen Gott mit meinen Augen gesehen.“ (Jes 6,5).
Seine Zunge war das Organ, das ihm seine Unreinheit und Unwürdigkeit
besonders bewusst machte. Auch Jesus bezog den Begriff „Unreinheit“ in
erster Linie auf die Zunge. „Er rief das Volk zu sich und sagte: Hört zu und
begreift es! Was zum Munde eingeht, das verunreinigt den Menschen nicht;
sondern was zum Munde ausgeht, das verunreinigt den Menschen...Was
aber zum Munde herausgeht, das kommt aus dem Herzen, und das verun­
reinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken:
Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung. Das alles
verunreinigt den Menschen.“ (Mt 15,10+18-20)
Wer Macht missbraucht, braucht dazu miese Tricks 170 – und das sind in
erster Linie Zungensünden. Wie selbstverständlich werden sie in vielen
Gemeinden verwendet, um Einfluss und Macht zu sichern ! Wo ist denn da
das sensible Gewissen geblieben ? Miese Tricks stehen im Widerspruch zu
echter Freundschaft und aufrichtiger Liebe. Niemand will selbst so behan­
delt werden. Sie schaden daher der Gemeinde unmittelbar.
Stehen manipulative Tricks mit der Würde und Berufung des Gläubigen
zum König- und Priestertum in Widerspruch oder nicht ?
171
Kann man jemandem, der manipulative Tricks 172 gegenüber Mitchristen
anwendet, wirklich glauben, wenn er beteuert, dass ihm „Reinheit“ oder
“Ehrfurcht vor Gott” 173 ein besonderes Anliegen sei ?
Vielerorts verbindet die Bibel den Begriff Unreinheit mit unfairem, unge­
rechtem Handeln. "Weil wir nun solche Verheißungen haben, meine Lie­
ben, so wollen wir uns von der Verunreinigung des Leibes und Geistes rei­
nigen und in der Heiligung und Ehrfurcht vor Gott Fortschritte machen.
Seht, wie wir es machen: wir haben niemand Leid getan, wir haben nie­
mand verletzt, wir haben niemand übervorteilt.“ (2.Kor 7,1-2).
170
171
172
173
siehe „Miese Tricks“ im Internet.
siehe unter „Stichworte“ / „Authorisierung“, (Internet).
siehe „Miese Tricks“ im Internet.
siehe unter „Stichworte“ / „Ehre“ im Internet.
66
„Wascht und reinigt euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, lasst ab
vom Bösen; lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft dem Unterdrückten,
schafft dem Waisen Recht, führt der Witwe Sache.“ (Jes 1,16-17) „Jeder von
euch wisse, wie er sein Gefäß erwerbe in Heiligung und Ehren, nicht in
sexueller Gier wie die Heiden, die von Gott nichts wissen; und dass nie­
mand zu weit greife und übervorteile seinen Bruder im Handel; denn …
Gott hat uns nicht berufen zur Unreinigkeit, sondern zur Heiligung.“
(1.Thes 4,4-7)
Die Gemeinde wird durch Duldung von Unrecht zwischen Geschwistern auf
Dauer stark verunreinigt: ein Gottesdienst ist nach biblischer Ordnung
eigentlich nicht mehr zulässig. “Was zertrampelt ihr meine Vorhöfe… ihr
kommt zu den Festen zusammen, aber ich verabscheue sie… betet soviel ihr
wollt: ich werde nicht zuhören… lernt wieder Gutes zu tun ! Setzt euch ein
für eine gerechte Rechtsprechung, helft den Rechtlosen, den Witwen und
Waisen gegen ihre Bedränger!” (Jes 1,12 ff)
Angesichts der Tatsache, dass die nahezu “völlige Aushöhlung des christ­
lichen Rechtsbewusstseins” (Prof Th. Schirrmacher) in evangelikalen
Gemeinden weithin üblich geblieben ist, ist ein “ernsthaftes Bemühen um
Reinheit” nicht glaubhaft.
Der Eindruck drängt sich immer wieder auf, dass man nicht um der Reinheit
oder Ehrfurcht vor Gott willen an einer rigorosen Verdammung des sexuel­
len Verlangens festhält, sondern weil sie ein erprobtes Instrument ist, um ein
reformfreudiges Kirchenvolk, insbesondere Jugendliche in die Defensive zu
drängen. Was die frommen Moralprediger im Privaten tun, wie ernsthaft sie
tatsächlich sexuelle Askese praktizieren, bleibt unbekannt.
Allen sichtbar und auch leicht zu ändern wäre die Gleichgültigkeit gegenü­
ber Unrecht und die Änderung unfairer Strukturen – nämlich per Abstim­
mung in der Gemeindeversammlung. Doch es geschieht – wie bereits gesagt
– fast nichts.
67
Natürlich ist auch der Missbrauch der Sexualität Unreinheit. Wenn Paulus
als Werke des Fleisches aufzählt „Hurerei (πορνεια), Unreinigkeit
(ακαθαρσια), Ausschweifung (ασελγεια)“ (Gal 5,19), so sollten wir uns
darum bemühen, den Missbrauch deutlich zu erkennen, auch wenn er in
ganz unterschiedlichen Formen auftritt, auch wenn er vielleicht inzwischen
in Gesellschaft oder sogar in der Gemeinde akzeptiert ist.
Offenkundiger Missbrauch wird immer zum Nachteil einer Person sein, d.h.
die Rechtssphäre berühren. Missbrauch ist schon eine triebhafte Grundein­
stellung, die den Menschen antreibt, quasi „auf die Jagd“ zu gehen, um eine
ergiebige „Jagdbeute“einzufangen, Missbrauch ist, einen Partner zu suchen,
um seinen Triebstau „legal“ entsorgen zu können, Missbrauch ist das Über­
trumpfen eines Konkurrenten durch Herzeigen materieller Vorteile, Miss­
brauch ist das Ausnutzen der Unerfahrenheit oder Unwissenheit einer Part­
ners, der den Entschluss zu Ehe vermutlich bald bereuen wird, Missbrauch
ist das Ausnutzen des Leichtsinns oder der Abenteuerlust eines Menschen
(1.Tim 3,6), Missbrauch ist die Verleitung zu sexuellen Beziehungen, die
nach dem Neuen Testament unzulässig sind (Rö 1,27 / 1.Kor 5,1), Miss­
brauch ist das Anlocken und Begehrlich-machen eines Menschen , um ihn
abzuweisen und sich an dessen Enttäuschung zu erfreuen, Missbrauch ist das
Versagen ehelicher Hingabe, um materielle Leistungen vom Partner zu
erpressen, Missbrauch ist Sexsucht in der Ehe, die den Partner überfordert,
Missbrauch ist die Inanspruchnahme erotischer Dienstleistungen sowie
natürlich auch Seitensprünge („Fremdgehen“) und unverbindlicher Sex („für
eine Nacht“).
Auch der Bruch des Treueversprechens und der Wechsel zu einem neuen
Partner, der mehr materielle Vorteile bietet, gehört zum Missbrauch der
Sexualität.
Ob eine erotische Phantasie nun bloße Unvollkommenheit oder schlimme
Sünde ist, wird immer umstritten bleiben. Tatsache ist: wenn man beginnt,
auf miese Tricks in der Gemeinde zu achten, so wird man bald erstaunt fest­
stellen, wie groß die Toleranz für Unreinheit dieser Art in vielen
„bibeltreuen“ Gemeinden ist.
68
Das Wort Jesu vom „Mücken aussieben, aber Kamele verschlucken.“ (Mt
23,24) passt hier sehr gut. Schon aus diesem Grunde wirkt der Versuch,
sexuelle Perfektion durch Androhung der Höllenstrafe zu erzwingen, sehr
fragwürdig – zumal über die unbedingt notwendige Abgrenzung zur
Werkgerechtigkeit kaum oder gar nicht nachgedacht wird.
Muss man blind gegenüber der Tatsache sein, dass vorehelicher
Geschlechtsverkehr unter Jugendlichen längst zur „Norm“, zum „Selbster­
fahrungsangebot“ geworden ist und auch für die Jugendlichen in der
Gemeinde eine große Verführung darstellt? Entsprechend groß ist die
Bedeutung, die der Masturbation einschließlich erotischer Phantasien als
Entlastungsmöglichkeit zukommt. Masturbation hat eine deutlich vorbeu­
gende Wirkung. Und Vorbeugung ist die Absicht Jesu hinter den durch die
Formel „Ich aber sage euch“ eingeleiteten Verboten des Hassens, des
Schwörens und des Ehebrechens (Mt 5, 21 ff)
Das Denken perfektionistisch orientierter Bibelausleger ist von Angst
bestimmt. Angst macht blind, blind auch für die kontraproduktive Wirkung
der verschrobenen Bibelauslegung. Nur das sterile, perfektionistische Ideal
interessiert, das aus dem Buchstaben der Bibel heraus konstruiert wurde und
am lebensfördernden Sinn der Bibel (Mt 4,4) vorbeigeht.
Für den, der sich nicht in diese Panik hineinziehen lässt, ist es nicht schwer,
die Unsinnigkeit der Argumentation zu erkennen: Etliche Gläubige begrün­
den das Masturbationsverbot mit der Pflicht des Christen, „selbstlos“ zu
sein.
Masturbation sei schon deshalb „Sünde“, weil sie „auf die eigene Person
und nicht auf den Partner gerichtet“ ist. Mit anderen Worten, der Gläubige
sündigt nur deshalb nicht beim sexuellen Erlebnis, weil sein Motiv allein die
Förderung der Lust des Ehepartners sei !
Wie blind, wie realitätsfremd und scheinheilig ist diese Argumentation, die
auf den ersten Blick so „heilig“ aussieht und immer wieder gedankenlos
nachgeplappert wird!
69
Auch der nach biblischen Maßstäben untadelige Geschlechtsverkehr nicht
ohne ein deutliches sexuelles Eigeninteresse vollzogen., das sich u.a. in den
lebenslangen finanziellen Verpflichtungen widerspiegelt, die mit einer Ehe
verbunden sind und gewöhnlich nur für diesen Zweck investiert werden.
Gibt es tatsächlich verheiratete Gläubige, die das Bedürfnis nach sexueller
Vereinigung mit ihrem Partner entrüstet als sündige Versuchung von sich
weisen, weil sie bei sich ein bisschen „sexuelles Eigeninteresse“ feststellen ?
Gibt es tatsächlich Prediger, die vor dieser furchtbaren „Verunreinigung“ in
der Ehe warnen ? Warum ist man denn hier so merkwürdig stumm, wenn
sexuelles Eigeninteresse „sündig“ ist ? Dieses Eigeninteresse ist folglich
nicht nur bei der Masturbation, sondern genauso innerhalb der Ehe erlaubt
und neben diesem Eigeninteresse hat auch das Interesse am Partner und die
Rücksichtnahme auf ihn Bedeutung.
Lassen wir die Bibel zu Wort kommen. Was sagt Paulus dazu? Dein Begeh­
ren, lieber Christ, ist höchst einseitig, und deshalb gefährliche, verdammens­
werte Sünde? Im Gegenteil, er empfiehlt dem anderen Partner - wo immer es
ihm emotional möglich ist - großzügig zu sein und sich nicht zu versagen.
Er empfiehlt, dass sich „nicht ein [Partner] dem anderen entziehen“ soll. (in
1Kor 7,5) Das kann ja nur bedeuten, dass eben nicht beide wollen, dass nur
einer will. Und das soll nun der „Selbstlose“ sein, der nur die Befriedigung
seines Partners im Sinn hat? Das ist doch das genaue Gegenbeispiel! Ob es
dem „Schriftgelehrten“ weiterhilft?
Indem „strenggläubige“ Christen immer wieder das Märchen von der Sexua­
lität als selbstloser Glanzleistung erzählen, machen sie dem Gläubigen auch
noch die Freude am erlaubten Geschlechtsverkehr kaputt. Sie kann ja nichts
anderes als verwerflicher Egoismus sein.
Auch die bereits zitierte Behauptung, der Gläubige würde mit sexuellen
Phantasien einen Menschen „entwürdigen“ und „zum Objekt degradieren“
oder gar ihre „Gottesebenbildlichkeit“ zerstören, hat ein ähnliches Niveau.
Mit ein wenig gesundem Menschenverstand kann man eigentlich erkennen,
dass Phantasie und Realität zwei voneinander weitgehend unabhängige
Bereiche sind und die Gesetze, die in der Realität gelten, nur sehr begrenzt
für die Phantasie gültig sind.
70
Der Gläubige kann durchaus in seiner Phantasie eine Torte, die im Schau­
fenster eines Konditoreigeschäftes zu sehen ist, genussvoll verspeisen, ohne
sich hinterher auf dem Polizeirevier wegen Diebstahls anzeigen zu müssen.
Und wenn der Gläubige in seiner Phantasie nach Israel reist und sich ohne
Pass ins Land begibt, hat er damit gegen gültige Passbestimmungen versto­
ßen? Muss er dann anschließend zum Passamt, um seinen Pass nachstempeln
zu lassen? Oder wenn er sich vorstellt, als Kapitän vor der Küste von
Kanada zu fischen, obwohl dort zur Zeit ein Fangverbot gilt, hat er damit
gegen geltendes Seerecht verstoßen? Auch wenn er sich diese Fische, die er
in seiner Phantasie dort gefangen hat, nach Farbe, Form und Geruch sehr
realistisch vorstellt, kann er sie leider nicht zurückgeben und muss es auch
nicht.
Eine sexuelle Phantasie, die um ihrer selbst willen genossen wird, bezieht
sich sowenig auf eine konkrete “Person”, wie sich die anderen Phantasien
auf einen konkreten Pass oder einen konkreten Fisch beziehen. Die Phanta­
sie erschafft für die begehrte Frau eine fiktive Zwillingsschwester, die ihr bis
aufs Haar genau gleicht und stellt sich schöne Szenen vor, die mit dieser
nicht existierenden Zwillingsschwester zusammen erlebt werden. Wie kann
man dadurch ein “Recht” einer konkreten Person verletzen ? Nicht einmal
ein “Copyright” auf die äußere Erscheinung gibt es.
Die Panik, man hätte irgendeine konkrete Person “erniedrigt und misshan­
delt”. wenn man sich mit einer gedanklichen Kopie romantische Szenen
einer Ehe einschließlich des sexuellen Erlebnisses in der Phantasie vorstellt,
ist überflüssig und absurd. Auch die Diskussion, ob nur ledige Gläubige sol­
che Phantasien haben dürfen, ist überflüssig. Einer fiktiven „Zwillings­
schwester“ kann keine Zeit bzw. jede fiktive Zeit zugeordnet werden, also
auch eine Zeit vor der Eheschließung.
Wichtige Ausnahme: wenn die Phantasie von Überlegungen begleitet ist,
wie man eine tatsächliche (!) unerlaubte sexuelle Beziehung herstellt, dann
ist die Rechtssphäre berührt. In diesem Fall darf der Gläubige nicht fahrläs­
sig sein. Um das Hineinrutschen in den Ehebruch zu verhüten, sollte er seine
Phantasie sofort stoppen, denn die Folgen können verheerend sein..
71
Für alle drei Beispiele, das Beleidigen, das Schwören und der Flirt mit der
Frau, die zu jemand anderem gehört, gilt die abschließende Warnung Jesu:
Fahrlässigkeit ist so gefährlich, dass mancher im Blick auf die Folgen sagen
wird: hätte ich mir doch besser rechtzeitig mein Auge, die Hand herausgeris­
sen !
Sehen wir einmal genau hin ! Im ersten Beispiel warnt Jesus vor dem belei­
digenden Wort. Man nennt den anderen „Idiot“ (Mt 5,22), weil er sich nicht
den eigenen Vorstellungen gemäß verhalten hat. Man ist enttäuscht und kri­
tisiert nicht das Verhalten, sodass der andere als Mensch, als Bruder im
Blick bleibt. Stattdessen wird er als minderwertig „eingestuft“. Man sieht in
ihm letztlich nur ein störendes „Objekt“, das zur Seite treten soll. Der
Beschimpfte ist verletzt und wehrt sich. Das wiederum verletzt den Beleidi­
ger, der sich im Recht fühlt und seine Überlegenheit mit schärferen, noch
beleidigenderen Worten behaupten muss. So eskaliert die Situation. Am
Ende sieht man im Bruder den Gottlosen, man wünscht ihm die Hölle.
Manchmal ist auf diese Weise tatsächlich eine lebenslange, unheilbare
Feindschaft entstanden, in der jeder versucht, dem anderen nach Kräften zu
schaden: die Hölle auf Erden. Wie heilsam ist da der Rat Jesu: schimpfe
nicht fahrlässig! Ja, sei noch wachsamer und hüte dich schon vor dem Zorn
über den Bruder, der sich in dir regt und die Herrschaft ergreifen will. Er
hätte auch sagen können: beiße dir auf die Zunge! Oder schärfer noch: hät­
test du dir doch rechtzeitig die Zunge herausgerissen! Jakobus nennt die
Zunge 174 das Organ, das „vom Feuer der Hölle entzündet ist“. (Jak 3,6)
Dennoch ist Zorn nicht immer etwas Böses. Jesus wurde zornig (Mk 3,5 /
Joh 3,14 ff). Auch der Apostel Paulus konnte zornig werden (Apg 17,16). In
der Offenbarung bitten die Märtyrer Gott, das Unrecht, das ihnen angetan
wurde zu rächen, und Gott kritisiert diesen Wunsch nicht als lieblos oder
gehässig, sondern erfüllt ihn. (Offb 6,10)
Jesus griff die Pharisäer an und identifizierte sie als „Heuchler“ (Mt 23,14),
„Narren“ (V.19), „getünchte Gräber“ (V.27) und „blinde Blindenführer“.
(Mt 15,14), um vor ihnen zu warnen. Der Apostel Paulus redete den Zaube­
rer Elymas, der die Bekehrung des Statthalters zu verhindern versuchte, als
“Kind des Teufels“ an (Apg 13,10) Paulus identifizierte die Prediger der
Werkgerechtigkeit als „Hunde“ und „bösartige Mitarbeiter“ (Phil 3,2), vor
denen sich die Gemeinde zu hüten habe.
174 Siehe unter „Was ist Irrlehre ?“, Nr.2 (Internet).
72
Wir sehen daran, dass das perfektionistische Ideal der totalen Reinheit von
Zorn und negativen Gefühlsaufwallungen bei Jesus gar keine Rolle spielt.
Die Schärfe der Formulierung macht nur deutlich, wie überaus wichtig Jesus
die Vorbeugung ist. Wer das nicht einsehen kann, dem müssen wir das Wort
Jesu entgegenhalten: „Andererseits steht auch geschrieben…“ (Mt 4,4)
Im zweiten Beispiel, in dem Jesus vor dem leichtfertigen Schwören warnt,
geht es immer noch um den Missbrauch der Zunge. Auch hier stellen wir
durch Vergleich mit anderen Bibelstellen fest, dass ein perfektionistisches
Ideal, nämlich der gänzliche Verzicht auf das Schwören, gar keine Rolle
spielt. Andernorts hat Paulus sich mit einer Eidesformel auf Gott berufen,
wenn ihm die Sache wichtig genug erschien: „Gott ist mein Zeuge!“ (Rö 1,9
/ 2.Kor 1,23 / Phil 1,8 / 1.Thes 2,5)
Nun wird von gläubigen Christen kaum oder gar nicht mehr geschworen,
sodass man auf die Idee kommen könnte, dass sich diese Warnung nur auf
eine uralte Unart der Pharisäer bezieht, die heute keine Bedeutung mehr hat.
Ein folgenschweres Missverständnis ! Schwören ist ja nichts anderes als der
leichtfertige Gebrauch des Namens Gottes, für den schon das Zehngebot
besondere Bestrafung androhte (2.Mo 20,7). Wie sehr hatten die Apostel
doch gegen schlechte Hirten zu kämpfen, die die Gemeinde ausnutzten
(2.Kor 11,20), sich als über den anderen stehend ansahen (10,12) oder gar
ein anderes Evangelium verkündigten, das besser mit der damals gültigen
mosaischen Tradition harmonierte. (11,4) ! „Die Gemeinde Jesu geht nicht
an der Anfeindung von außen, sondern an der Fülle der unberufenen Predi­
ger zugrunde“. Ein wahres Wort! Was ist das für eine Verantwortung, wenn
jemand mit seiner Predigt Gläubige zu einem kraftlosen und fruchtlosen
Glauben verleitet (Tit 1,16 / Offb 3,16)., wenn er den schmalen Weg breit
macht, um möglichst viele „Bekehrte“ vorzeigen zu können.
Jesus warnt im Zusammenhang mit dem Missbrauch des göttlichen Namens
nicht vor der Hölle, denn Prediger sind ohnehin einem “strengerem Urteil”
unterworfen. (Jak 3,1). Wenn vor der Hölle schon anlässlich der Beschimp­
fung gewarnt wird, dann wird sie auch bei missbräuchlicher Predigt eine
Rolle spielen. Von den Pharisäern und Schriftgelehrten sagt Jesus, dass sie
die Menschen, die sie bekehren, „zu Anwärtern auf die Hölle machen“ (Mt
23,15)
73
Andererseits wird der Gläubige ermutigt, Gott zu bezeugen, und Menschen
auf den Glauben hinzuweisen. „Die vielen Menschen den Weg zur Gerech­
tigkeit gezeigt haben, werden leuchten wie die Sterne für immer und ewig“
(Dan 12,3) Es ist wunderbar, im Himmel Menschen zu treffen, die mit Hilfe
des eigenen Dienstes dorthin gekommen sind. (Hebr 2,13) Wie freute sich
die Apostel über jeden, dem sie den Weg zu Jesus zu zeigen konnte. Über all
diese Menschen freuten sie sich, wie sich ein Vater über seine Kinder freut
(1.Kor 4,14 / 2.Joh 1,1 / 3.Joh 1,4).
Da es zu den beiden vorangegangenen Maßnahmen trotz der schroffen und
absolut klingenden Formulierung Ausnahmen gibt, so ist nicht einzusehen,
dass nun bei dem dritten Verbot, nach der Frau des Nächsten zu streben, ein
perfektionistisches Ideal hineingelesen werden muss bzw. keine Ausnahmen
geben kann. Jesus selbst nennt im Zusammenhang mit dem Scheidungsver­
bot eine Ausnahme, die für eine vorbeugend wirkende “Gemeindezucht” 175
große Bedeutung hat. Auch bei dem Thema “Ehebruch” geht es wieder um
Vorbeugung.
Natürlich ist es denkbar, dass eine Phantasie ohne weitere Vorbereitung
direkt in die Tat der Vergewaltigung umschlägt. Auch das gibt es. Doch die­
ser Spezialfall bleibt in diesem Text ganz außer Betracht. Hier geht es um
das „Erwerben“, das vielleicht sogar den Schein der Ehrbarkeit haben kann.
Dazu ist sind viele kleine Schritte zu gehen. Immer wieder ist eine neue Ent­
scheidung zu fällen, damit der Wunsch Realität werden kann. Man überlegt
sich und versucht es herauszubekommen: was sind die Interessen der Frau?
Findet sie ihren Mann noch attraktiv? Hat er irgendeine Verhaltensweise, die
sie erheblich stört ? Wie kann man sich als attraktive Konkurrenz präsentie­
ren ?
Wie kann man mit ihr in Kontakt kommen, ihre Aufmerksamkeit erwecken?
Welche Möglichkeiten gibt es, häufig in ihrer Nähe zu erscheinen ? Wie
kann man sich am besten mit dem Mann anfreunden, um in die Position
eines „Hausfreundes“ zu gelangen ? So geht es weiter und weiter. Die Phan­
tasie ist längst zur Obsession geworden.
Was kann am Ende stehen? Vielleicht die Zerstörung der Ehe, vielleicht sitt­
liche Verwilderung der Kinder, vielleicht unheilbare Depression, vielleicht
Selbstmord, vielleicht die lebenslange Schande, mit seiner Geilheit einen
Menschen ruiniert zu haben, vielleicht ein für immer verkrüppeltes Glau­
bensleben und Liebesunfähigkeit.
175 Siehe „Stichworte“, (Internet).
74
So mancher wird Jesus im nachhinein zustimmen: der Verlust eines Auges
wäre besser für mich gewesen als diese Hölle.
Es obliegt nun der Verantwortung des einzelnen, ehrlich gegenüber sich
selbst zu sein. Bringt mich die Phantasie zu diesen kleinen praktischen Über­
legungen oder ist sie eher eine Entlastung des sexuellen Triebstaus ? Im
ersten Fall ist sie gefährlich und sofort abzustellen. Im zweiten Fall macht es
keinen Sinn, sich perfektionistischer Selbstzerfleischung hinzugeben. Diese
Selbstquälerei bringt überhaupt keine geistlichen Früchte zustande.
Genau so schlimm wie die ständige Erpressung durch das schlechte Gewis­
sen ist die positive Version der Werkgerechtigkeit. Man hätte dank seiner
Selbstbeherrschung Grund, “sich zu rühmen” (Eph 2,9) und würde sich über
andere stellen, die weniger erfolgreich sind. “Lieber Gott, ich danke dir,
dass ich nicht so bin wie…” (Lk 18,11). Gerade damit würde man sich
besonders schwer versündigen und den Wahn vom eigenen Beitrag zu Erlö­
sung fördern. Alles, was nicht aus der Liebe kommt, ist Sünde. (1.Kor 13,1
ff)
Damit nicht der Teufelskreis der Werkgerechtigkeit in Gang gesetzt wird,
müssen wir zwischen wirklicher Sünde und dem, was unvollkommen und
unter Gottes Geduld ist, unterscheiden.
Fasten um des Reiches Gottes willen ist gut und mit besonderen Erfolgen
gesegnet (Mt 17,21). Dennoch kann man Fasten nicht erzwingen. Auch dass
der Gläubige alles verschenkt, was er hat, lässt sich nicht erzwingen, obwohl
es natürlich gut wäre, möglichst vielen Menschen zu helfen.
Er darf in der Freiheit 176 Gottes sich frei entscheiden und ohne Furcht unter
Gottes Geduld leben. Dasselbe gilt für sexuelle Phantasien. Würde man eine
sexuelle Phantasie, die um ihrer selbst willen genossen wird und nicht die
Rechtssphäre berührt, als Sünde werten, so wäre damit bei vielen Gläubigen
an Reinheit nichts gewonnen. Stattdessen würde wieder und wieder Werkge­
rechtigkeit die Seele verschmutzen und vergiften. Wenn wir zur Werkge­
rechtigkeit nur dann eine klare Abgrenzung ziehen können, wenn wir solche
Phantasien als bloße Unvollkommenheiten unter Gottes Geduld bewerten, so
müssen wir dies tun.
176 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen, (Internet).
75
Denn wir müssen “in der Freiheit, zu der Christus seine Jünger befreit hat,
bestehen“. Wir dürfen uns „nicht wieder unter das knechtische Joch bege­
ben” (Gal 5,1). Ob das Joch “knechtisch” genannt werden muss, das können
wir an den Früchten erkennen - an der Wirkung auf die Seele, auf den Cha­
rakter und das geistliche Leben.
Werkgerechtigkeit 177 ist heilsgefährliche Unreinheit. Das ist unumstößliche
Tatsache, obwohl sie stets unter der Maske bewunderswerter “Heiligkeit”
auftritt. Alles, was aus diesem Motiv getan wird, ist destruktiv. Es sind „tote
Werke“, über die Gottes Wort sagt: „Wie viel mehr wird das Blut Christi,
der sich selbst ohne allen Fehl durch den ewigen Geist Gott geopfert hat,
unser Gewissen reinigen von den toten Werken, zu dienen dem lebendigen
Gott!“ (Hebr 9,14)
Aus all diesem kann man auch einen Umkehrschluss ziehen und damit auch
dem Gebot in seiner strengsten Form, so wie es Hiob verstand, einen überge­
ordneten und lebensfördernden Sinn (Mt 4,4) verleihen: gerade weil das
Verbot “nicht begehrlich auf eine junge Frau zu blicken“(Hiob 31,2-4) so
sinnlos und der menschlichen Natur so zuwider ist, gerade weil es eine sol­
che unverständliche Zumutung ist, ist es trotzdem eine Gelegenheit, Gott
Vertrauen zu beweisen. Paulus redet davon, dass er “seinen Leib betäubt
und zähmt, um nicht den anderen zu predigen, und selbst zu versagen.”
(1.Kor 9,27). Zweifellos ist freiwillige (!) sexuelle Enthaltsamkeit ein
äußerst hilfreiches Mittel, um sich aus der Verstrickung durch das Materielle
zu lösen.
“Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist.”
(Kol 3,2) Sie wird auch besonders belohnt, denn sie ist ja ein Vertrauensbe­
weis. Im Alten Testament gibt es dazu eine Parallele. Gott lobt das Verhalten
der Rechabiter, die allein deshalb auf Weingenuss verzichten, weil es ihr
Stammvater geboten hat und Er belohnt ihre Treue. (Jer 35)
Freiwillige sexuelle Enthaltsamkeit ist zudem ein Schutz vor der Gefahr der
Sexsucht, die der charakterlichen Entwicklung schadet. “Alles steht mir frei,
aber nicht alles ist förderlich. Alles ist mir erlaubt, aber ich darf mich von
nichts beherrschen lassen.” (1.Kor 6,12 NeÜ)
177 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen, (Internet).
76
Jesus will, dass seine Jünger freie 178 Persönlichkeiten werden. Ihre Seele
soll stark und gesund und fähig zur Selbstdiziplin sein.
Das freiwillige Zurückdrängen sexueller Bedürfnisse wirkt sich zweifellos
sehr positiv auf das geistliche Wachstum aus – ebenso wie jede andere Ein­
schränkung, die man aus Liebe zu Jesus, seinem Meister, auf sich nimmt.
Das ist eine unumstößliche Tatsache: Je mehr man in den Glauben investiert,
desto kostbarer wird er.
Das Kennzeichen starker Liebe ist freudige Hingabe. Dieses Ziel sollte kein
Christ verpassen! Denn die Alternative ist ein verkümmernder und kranker
Glaube. Gesunder Glaube lässt sich von der Frage leiten: “Womit kann ich
meinem Herrn und Retter am meisten Freude machen ?” Wie freut es Jesus,
wenn seine Kinder erkennen, dass das unsichtbare Reich Gottes viel mehr
Aufmerksamkeit und Interesse verdient als alle materiellen Güter ! Ihm
Freude machen wollen, kann aber nur der, dem der Glaube selbst Freude
macht. Ein gequältes und überfordertes Gewissen kann diese Frage nicht
stellen.
Dieses Ziel wird auch durch eine Gemeindeleitung untergraben, die ihre
Macht missbraucht, sich an der Unmündigkeit und Abhängigkeit der Gläu­
bigen nicht stört und ihnen die Rechte 179 selbstherrlich verkürzt, die sie
gemäß der Bibel haben sollen.
5. Behauptung: “Je mehr du für Gott an Geld und Zeit opferst, desto
mehr wirst du in diesem Leben an materiellem Wohlstand zurückbe­
kommen.”
Das ist doch der wortwörtliche Sinn des folgenden Bibelwortes ! “Bringt
mir den Zehnten ganz in mein Kornhaus, auf dass in meinem Hause Speise
sei, und prüft mich hierin, spricht der Herr Zebaoth, ob ich euch nicht des
Himmels Fenster auftun werde und Segen herabschütten die Fülle.” (Mal
3,10)
Mit Segen darf der Gläubige rechnen. Daran ist nicht zu zweifeln ! Doch wie
sieht dieser Segen aus ? Wird er in klingender Münze ausgezahlt ?
178 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen, (Internet).
179 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Authorisierung des Christen“, (Internet).
77
Soll man wirklich glauben, dass Gott hier an Habgier und Geldliebe appel­
liert und dem auf materiellen Wohlstand fixierten Gläubigen, der sein Geld
inzwischen in Immobilien, Wertpapieren, Edelmetallen, Versicherungen
usw. angelegt hat, eine weitere lukrative Anlagemöglichkeit schmackhaft
machen will: die Einzahlung auf die Himmelsbank als “todsicherer Tip”, um
noch mehr Geld in die Kasse zu bekommen ?
Kennt man Jesus wirklich so schlecht ? Lässt er sich wirklich vor den Karren
eigensüchtiger und primitiver Wünsche spannen ? Er, der seine Jünger ein­
dringlich ermahnte, sich “nicht Schätze auf Erden zu sammeln, die von Die­
ben gestohlen werden können” (Mt 6,19), und sie warnte “Hütet euch vor
Habsucht, denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat” (Lk 12,15) und
darauf das Gleichnis vom reichen Kornbauern erzählte ?
Es ist schlecht, wenn der Gläubige Menschen Freundlichkeit erweist und das
Motiv nicht Liebe sondern frommer Eigennutz ist. Soll Gott das wirklich
noch belohnen? Mit dem Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner (Lk
18,10) zeigt Jesus: der Pharisäer, der mit seinem Zehntenopfer prahlt und mit
Belohnung rechnet, verliert am Ende alles, selbst die Gerechtigkeit vor Gott!
Welch schrecklicher Irrweg!
Wie seltsam, dass so viele Gläubige es nicht erkennen können: Auch diese
(optimistische) Form der Werkgerechtigkeit ist völlig wertlos, ja sogar
schädlich.
Diese Einstellung ist von der echten Liebe, die uneigennützig und ohne
Berechnung ist (1.Ko 13,5), weit entfernt. (Lk 18,10 ff) Sie verdirbt den
Charakter, macht berechnend und sicherlich niemanden froh.
Werkgerechtigkeit ist Aberglaube. Der “Gläubige” ist der Überzeugung,
den allmächtigen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, durch sein Ver­
halten zum eigenen Vorteil beeinflussen und lenken zu können. Genauso gut
kann man sagen, der Gläubige versucht, sich den Schöpfer des Universums
mit Wohlverhalten zu kaufen. Werkgerechtigkeit ist immer ein frommer
Handel. Wenn man sich – wie gewünscht wird – verhält, dann – so glaubt
man, erwirbt man einen Anspruch auf die Gegenleistung Gottes, die in die­
sem Leben in materiellem Glück und nach dem Tode im Erwerb der ewigen
Glückseligkeit besteht.
78
Selbstgeschaffene “eigene Gerechtigkeit” wird leider von etlichen Gläu­
bigen gar nicht als Sünde erkannt – besonders wenn die Gemeindelehre an
diesem Punkt blind ist.
Naiv glaubt man, dass der Wille nicht vom Sündenfall vergiftet worden
sei, sondern eine “neutrale Zone” geblieben sei. Manche Gläubige halten
sogar die “emotionale Zone” für neutral. Nur die Verstandeskraft soll tief
gefallen und verdorben worden sein, weshalb man sich auch wünscht, dass
Gläubige den Verstand sparsam benutzen 180 und Theologen und der Tradi­
tion “in blindem Vertrauen folgen“ (Mt 15,14) . Eine wahrer Aberglaube des
guten Willens, dessen Verstrickung in sündige Motive nicht durchschaut
wird.
Optimistische Werkgerechtigkeit ist auch deshalb gefährlich, weil sie – bei
plötzlicher Selbsterkenntnis – in Pessimismus 181, Verzweiflung und Angst
um das Heil übergehen kann.
Die Kirche hat ständig hohen Geldbedarf, und da interessiert das Faktum ,
dass genug Geld kommt, mehr als die Frage, auf welche Weise es zusam­
mengekommen ist.
Verständlicherweise wird nur sehr zurückhaltend oder gar nicht vor einer
werkgerechten Motivation beim Geben gewarnt. Etwaige Bedenken lassen
sich sehr leicht mit der Berufung auf die wortwörtliche Interpretation von
Mal 3,10 zum Schweigen bringen.
Unlängst verkündete es wieder ein Fernsehprediger: “Ich hab noch nie gese­
hen, dass jemand Gott gerne geopfert hat und nicht von Gott materiell
belohnt worden ist. Geben zahlt sich immer aus, vorausgesetzt dass der
Gläubige ein Leben im Gehorsam gegen Gott lebt.” Nun, das klingt sehr
glaubensstark und entspricht sicher auch dem wortwörtlichen Verständnis
von Mal 3,10.
Doch wenn er noch nie gesehen hat, dass gebefreudige und treue Christen
finanziell ärmer werden können, dann hat er wirklich noch nicht viel gese­
hen in seinem Leben. Oder er hat weggesehen, bei allem, was nicht zur eige­
nen Ansicht passte.
180 Siehe Seite 142.
181 Siehe Seite 171.
79
Treue Christen werden genauso von Erdbeben betroffen und ruiniert wie
ihre nicht-christlichen Nachbarn. Viele Christen in Nigeria z.B. sind genauso
von Dürrekatastrophen und Missernten betroffen wie ihre nicht-christlichen
Nachbarn. Ob sie viel oder wenig geben – sie werden durch ihre Gaben nicht
in den Wohlstand katapultiert. (Worin der Segen besteht, wird im Kommen­
tar zur nächsten Behauptung ausgeführt.)
Natürlich steht auch hierfür eine theologische “Erklärung” bereit: wenn die
Verheißung des Segens nicht erfüllt worden ist, wenn Christen leiden, hun­
gern oder verhungern – dann haben sie eben heimliche Sünde in ihrem
Leben geduldet und sind zu wenig gehorsam gewesen…” Tatsächlich ? Eine
“Erklärung”, die umstritten bleiben wird. Manchem erscheint sie sehr plausi­
bel, andere – die sich besser informieren – werden sie als unbarmherzig und
unfair empfinden.
Der Gläubige hört gerne Botschaften, die hohe Erwartungen wecken. Wenn
es doch so einfach wäre, dass Gott das Opfer von Zeit und Geld schon in
diesem Leben mit reichem materiellem Segen, beruflichem Erfolg und Erfül­
lung der eigenen Wünsche belohnt !
Mit diesen Erwartungen kann so manche Kirche Kasse machen, da negative
Berichte über enttäuschte Hoffnungen als Beweis für die Sündhaftigkeit des
Betroffenen gesehen werden und deshalb nur selten zur Sprache kommen.
Und selbst wenn es viele ehrlich bekennen würden, man würde sie nicht
anhören.
Besonders unverfroren trieb es ein Prediger, der auf seinem Werbeprospekt
einen speziellen Segen versprach, falls die genannte Spende bis zu einem
bestimmten Zeitpunkt auf seinem Konto eingegangen sei.
Was sagt die Heilige Schrift? “Etliche Gläubige haben die Erfüllung des
göttlichen Versprechens zu Lebzeiten nicht erlebt.” (Hebr.11,39)
Gott lässt sich nicht manipulieren. Jesus lässt sich nicht kaufen ! Seine Ehre
und Würde wäre dadurch beschmutzt.
Doch mit dem Segen, darf der Gläubige, der mit dem Motiv der Liebe und
Barmherzigkeit gibt, fest rechnen.
80
Jesus versicherte, dass Gott Treue belohnt. (Luk 19,12 ff). Berechenbar ist
die Belohnung nicht. Sie ist wie das geistliche Leben “in Gott verborgen.”
(Kol 3,3) Am Ende wird man es sehen: Gott macht einen “Unterschied zwi­
schen dem Gläubigen, der ihm treu gedient hat, und dem, der es nicht tat.”
(Mal 3,18)
So kann der Gläubige uneigennützig lieben um der Liebe willen, ohne dabei
auf den Lohn und den eigenen Vorteil zu schielen. Ihm genügt die pauschale
Verheißung, dass Gott eines Tages dafür sorgen wird, dass er am Ende nicht
der Dumme ist.
6. Behauptung: Wer seiner Gemeinde nicht den Zehnten seines Einkom­
mens spendet, ist verflucht und wird mit finanziellen Einbußen rechnen
müssen.
Steht das nicht wörtlich in der Bibel? “Ist’s recht, daß ein Mensch Gott
täuscht, wie ihr mich täuscht? Ihr entgegnet: “Womit täuschen wir dich?”
Ich sage euch: Am Zehnten und Hebopfer. Darum seid ihr auch verflucht,
dass euch alles unter den Händen zerrinnt; denn ihr täuscht mich allesamt.
Bringt mir den Zehnten ganz in mein Kornhaus, auf dass in meinem Hause
Speise sei, und prüft mich hierin, spricht der Herr Zebaoth, ob ich euch
nicht des Himmels Fenster auftun werde und Segen herabschütten die
Fülle.” (Mal 3,10)
Und doch ist das wörtliche Verständnis kurzschlüssig und falsch. Geben, um
materieller Vorteile oder Nachteile willen, das ist Werkgerechtigkeit. Es ist
der Versuch, Gott zu manipulieren und für die eigenen Ziele einzuspan­
nen.
Dieses Verhalten ist Sünde. Es entehrt Gott und entwürdigt den Nächsten.
Das kann man gar nicht genug betonen.
Nicht aus Liebe und Erbarmen hilft man dem Nächsten aus der Not: er ist
nur Mittel zum Zweck. Die Wirkung der Werkgerechtigkeit auf den Glauben
ist immer destruktiv, egal ob sie nun eine optimistische Form 182 oder – wie
hier – eine pessimistische Form annimmt.
182 Siehe die 5.Behauptung “Je mehr du für Gott ... opferst, desto mehr wirst du in
diesem Leben an materiellem Wohlstand zurückbekommen.“, Seite 77.
81
In beiden Fällen wird der Sinn des Textes verdreht.
Diese falsche Auslegung richtet den Blick wiederum auf das Materielle, das
zeitlich verzögert als Belohnung für das Opfer eintreffen soll. Der eigent­
liche wohltuende Sinn des Gebotes wird dadurch zerstört. Der Gläubige
erhält die 10 % in der Tat am Ende zurück – aber in veredelter Form.
Indem er notleidenden Menschen hilft und ihnen Erleichterung, Befreiung,
Dankbarkeit und Freude verschafft, erreicht diese Freude auch ihn. Er lebt
“viele Leben.” Das ist der Sinn des Gebotes im Alten Testament.
Umgekehrt wird das Herz eines Menschen, der alles für sich selbst ver­
braucht, hart und gefühllos. Er hat keinen Anteil an der Freude, die der Not­
leidende empfindet, wenn ihm geholfen wird. Er lebt nur ein einziges Leben:
sein eigenes. Den Mangel an Freude versucht er auszugleichen, indem er
sich massenhaft Genuss verschafft. Irgendwann stellt er fest, dass dieser
Ausgleich nicht funktioniert. Die Bibel nennt das “Unsegen” oder “Fluch”.
Hat das Gebot des Zehnten noch eine Bedeutung für die neutestamentliche
Gemeinde ? Durch den Apostelkonvent werden alle jüdischen Gebote aufge­
hoben bis auf vier Ausnahmen (Apg 15,28-29), an denen man festhielt, um
den Judenchristen in der Gemeinde nicht unnötig Anstoß zu bieten.
Das heißt: als Gebot spielt der Zehnte für die neutestamentliche Gemeinde
keine Rolle mehr. Doch nicht wenige Christen nehmen ihn gerne als Anre­
gung, wenn sie regelmäßig Werke und Missionare unterstützen.
Die Behauptung einer Gemeindeleitung, Gott würde es bestrafen, wenn nicht
10% des Einkommens an sie abgeliefert werde, entbehrt jeder biblischen
Grundlage. Gläubige sollen ihre Prediger unterstützen und nicht materielle
Not leiden lassen. “Der aber unterrichtet wird mit dem Wort, der teile mit
allerlei Gutes dem, der ihn unterrichtet.” (Gal 6,6) Das ist nur fair.
Doch von einem bestimmten Betrag oder Prozentsatz, der gezahlt werden
muss, steht dort nichts. Eine alleinerziehende Mutter, die kaum Geld für ihre
Kinder hat, handelt angemessen, wenn sie alles verfügbare Geld ihren Kin­
dern zukommen lässt. Geld, das die Kinder brauchen, der Gemeinde zu
geben, wäre eine Korban-Sünde (Mk 7,11).
82
7. Behauptung: “Wer nicht fast alles opfert, um die Not der Menschen
zu lindern, lebt in Sünde und unter dem Fluch Gottes.”
“Wer etwas Gutes zu tun weiß und tut es nicht, für den ist es Sünde.” (Jak
4,17) Der Apostel ermahnt mit diesen Worten Gläubige, die sich aufs hohe
Roß gesetzt haben, angemessen von sich zu denken. Doch ist dieser Satz
nicht auch auf das Zurückhalten von Geld anwendbar? Zumal es soviel Not
in der Welt gibt? Muss der Gläubige nicht notgedrungen fast alles abgeben,
was er hat.
Jesus verlangte von seinen Aposteln, alles – sowohl Besitz als auch Leben
mit der Familie (Lk 9,61-62) – aufzugeben und mit ihm durchs Land zu
gehen. Ein Leben in völliger Selbstlosigkeit lebte auch der Apostel Paulus.
Auch der Gläubige ist einerseits zur Bemühen um Vollkommenheit aufgeru­
fen (Mt 5,58) und soll jedem helfen, der in Not ist und Hilfe braucht (Jak
4,17), andererseits wird ihm bei fortgesetztem Ungehorsam der Ausschluss
aus dem Himmelreich angedroht (Mt 27).
Hierdurch könnte man zu dem Fehlschluss kommen, dass die völlige Selbst­
aufgabe Bedingung des Heils ist: “Wer sein Leben zu erhalten sucht, der
wird es verlieren; und wer es verlieren wird, der wird es gewinnen.” (Lk
17,33)
Doch diese Auslegung ist kurzschlüssig und falsch. Es wäre absurd, wenn
Jesus den Gläubigen davon befreien würde, das mosaische Gesetz zu halten,
und ihm dafür das viel schwerere Gebot (!!!) des totalen Verzichts auferle­
gen würde. Niemand würde dann im Ernst davon sprechen können, dass
Jesus den Gläubigen “frei vom Gesetz” (Rö 7,3-6 / vgl. Heb 3,15) gemacht
habe.
Dass dies ein Missverständnis ist, zeigen Bibelstellen, die vor Selbsterlö­
sungsbemühungen warnen, sehr deutlich: “Ihr habt Christus verloren, die
ihr durch die Erfüllung der göttlichen Normen gerecht werden wollt, und
habt damit auf die Gnade verzichtet.” (Gal 5,4).
Gläubige, die sich wegen der Androhung der Verdammnis zu solcher Selbstaufgabe entschließen, gewinnen damit nichts:
83
Zum einen gibt es keinen Lohn für eine Tat, die nicht aus Liebe geschieht.
“Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe mich auf dem
Scheiterhaufen verbrennen, und würde es nicht aus Liebe tun, so würde es
mir nichts nützen.” (1.Kor 13,3) Zum anderen gewinnen sie nichts für das
Leben hier: sie werden es sehr wahrscheinlich in einem Zustand seelischer
Überforderung und Depression verbringen, voll Neid auf die Günstlinge
Gottes, die ihren Wohlstand in Fülle genießen und sich dennoch am Glauben
erfreuen dürfen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass von den Jüngern so viel verlangt wurde,
weil sie Anteil an einer einzigartigen geschichtlichen Wende hatten. Sie hat­
ten nie den Eindruck, dass sie mit dieser Entscheidung viel verlieren würden.
Das zeigte Jesus auch mit dem Gleichnis vom “Schatz im Acker”. “Das
Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch
fand und wieder eingrub; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte
alles, was er hatte, und kaufte den Acker.” (Mt 13,44)
Die Jünger lebten im Schauen (!), wenn auch das Reich des Messias noch
nicht aufgerichtet worden war. Alle bekamen von Jesus Vollmacht, Kranke,
ja selbst Tote zu erwecken (Mt 10,8). Dass dieses Reich kommen würde, war
klar. Die Jünger hatten in Jesus den zukünftigen König Israels erkannt und
stritten sich – etwas verfrüht – schon um die Ministerposten (Mt 20,20).
Eben weil sie soviel von der Herrlichkeit Gottes gesehen hatten (Jo 1,14),
schimpfte sie Jesus wiederholt wegen ihres Unglaubens aus (Mt 17,17 / Mk
16,14).
Auch Paulus bekam die Vollmacht geschenkt, Tote zu erwecken und Kranke
zu heilen (Apg 20, 9 ff). Er durfte sich eine zeitlang im “dritten Himmel”
aufhalten (2.Ko 12,2) – eine außerordentliche Glaubensstärkung. Auch Pau­
lus lebte in der Naherwartung, unter dem Eindruck, dass das Reich Gottes
unmittelbar bevorstand (1.Thes 4,15). Dass Gott ihn in seinem Dienst soviel
leiden ließ, betrachtete er als fairen Ausgleich für die Verfolgung, die die
Gemeinde durch ihn einst erleiden musste (Kol 1,24).
Aus Gründen, die wir nicht verstehen, hat Jesus die Naherwartung seiner
Gemeinde nicht erfüllt.
84
Es folgten die Jahrhunderte der Kirchengeschichte, eine lange Zeit, in der sie
im Glauben und “nicht im Schauen” (2.Ko 5,7) leben musste. Für ein Total­
opfer würden sie keinen angemessenen “Vorschuss” auf den Himmel erhal­
ten, der dieses Opfer erträglich machen würde.
Die großen Forderungen Jesu werden aber nicht aufgelöst. Es sind keine the­
oretischen Ideale, die man genauso gut vergessen könnte, sondern geist-liche
Chancen. Es sind große Schuhe, in die der Gläubige ein gutes Stück weit
hineinwachsen kann, wenn er sich vom heiligen Geist leiten und erfüllen
lässt.
Manche Gläubige passen sogar eines Tages ganz in diese Schuhe, wenn sie
Gott an einer geschichtlichen Wende teilhaben lässt oder wenn sie in Verfol­
gungszeiten treu bei Jesus bleiben.
Es ist auffällig, dass schon in der Urgemeinde, in der die Gläubigen alles
gemeinsam hatten (Apg 2,44-45), in der Frage des Totalopfers kein
Zwang mehr bestand. Petrus weist Ananias darauf hin, dass er seinen
Acker nicht spenden müsste, sondern hätte behalten können. (Apg 5,4)
Das ist etwas Neues, wenn man daran denkt, dass die Jünger für die Nach­
folge alles verlassen mussten. (Mt 19,27)
Auch sagt Paulus, dass Freude am Wohlstand durchaus in Gottes Sinn ist:
“Den Reichen in dieser Welt gebiete, dass sie nicht stolz seien, auch nicht
sich auf den unsicheren Reichtum verlassen, sondern auf Gott, der uns alles
reichlich anbietet, um es zu genießen” (1.Tim 6,17).
Gleichwohl gebietet das NT, sich vor Habgier zu hüten und vor Unehrlich­
keit. Einen Bruder mit tröstlichen Worten abspeisen, dessen materielle Not
man sehr gut erleichtern könnte, ist üble Heuchelei. “Wenn nun ein Bruder
oder eine Schwester keine Kleidung oder nichts zu essen hätte und jemand
unter euch spräche zu ihnen: Gott tröste euch, wärme und sättige euch! ihr
gäbet ihnen aber nicht, was sie nötig haben: was hülfe ihnen das?” (Jak
2,16).
85
Eine noch engere Verpflichtung, einander beizustehen, besteht zwischen den
Mitgliedern einer Familie: “Wenn aber jemand die Seinen, insbesondere
seine Hausgenossen, nicht versorgt, der hat den Glauben verleugnet und ist
böser als ein Gottloser.” (1.Tim 5,8)
8. Behauptung: “Wer seine Mitmenschen nicht missioniert – wo sich die
Gelegenheit ergibt – trägt Mitschuld daran, wenn sie in die Hölle kom­
men und wird dafür angemessen von Gott bestraft.”
Diese Sichtweise beruft sich auf Hes 33,8-9: “Wenn ich nun zu dem gottlos
lebenden Menschen sage: Du wirst dafür mit dem Tod bestraft werden! und
du sagst ihm solches nicht, sodass der Gottlose nicht gewarnt wird, so wird
zwar der Gottlose für seine Gottlosigkeit mit dem Tode bestraft; aber ich
werde dich dafür zur Rechenschaft ziehen. Warnst du aber den Gottlosen,
damit er sich ändern kann, und er hört nicht auf dich, so wird er mit dem
Tode bestraft. Du aber hast dein Leben gerettet.”
Kinder und Jugendliche mit seelischer Erpressung zum Missionieren moti­
vieren: ein verheerender Irrweg! Da sitzt man zusammen in einem Eisen­
bahnabteil. Muss man jetzt bis zur Ankunft des Zuges ein Glaubensgespräch
geführt haben? Muss man starke Schuldgefühle haben, wenn es zu keinem
Gespräch gekommen ist? Wie schrecklich kann doch der Alltag mit diesem
quälenden seelischen Dilemma belastet werden! Mancher junge Mensch ist
bald gar nicht mehr in der Lage, eine harmlose Freundschaft mit jemandem,
der nicht zur Gemeinde gehört, anzuknüpfen – immer steht diese Drohung
im Hintergrund.
Und selbst wenn ein Gespräch zustandekommt: wie nahe liegt hier doch die
Gefahr, dass eine Theologie der Selbstgerechtigkeit ahnungslos weiter-gege­
ben wird, dass man “Zeugnis ablegt”, um sich selbst zu retten oder um
Punkte auf der Himmelsbank zu sammeln! Das ist unaufrichtig und unfair!
Der, dem Zeugnis gegeben wird, weiß nichts von dem psychischen Druck,
unter dem der Zeuge zeit seines Lebens steht und soll es auch möglichst
nicht erfahren.
86
Und was wird erreicht ? Vielleicht bewegt eine Illusion von Glück den mis­
sionierten Menschen, sich für Religiöses zu interessieren. Es dauert eine
Weile, bis bei ihm unversehens ebenfalls die Gewissensfalle zuschnappt und
er für immer in der religiösen Zwangsjacke steckt. Soll er jetzt tiefe Dank­
barkeit empfinden ? Oder wird er sich eher als “Objekt” religiöser Erfolgs­
sucht sehen ? Entsteht so echte, tiefe Freundschaft ?
An den “Früchten“, an der Qualität der Ergebnisse “kann man viel erken­
nen” (Mt 7,16), sofern man bereit ist, über diese Qualität nachzudenken. Die
“Pharisäer und Schriftgelehrten” waren zweifellos sehr eifrig im Missionie­
ren. Waren sie damit auch der an Hesekiel ergangenen Warnung gehorsam ?
Jesus sagte von ihnen, dass sie “weit über Land und Wasser fahren, um
Menschen zu Glaubensgenossen zu machen. Tatsächlich machen sie aber
aus Menschen Anwärtern auf die Hölle, die es doppelt so schlimm treiben
wie sie selbst.” (Mt 23,15).
Offensichtlich hatten sie Erfolge vorzuweisen: rein quantitativ! Das zeigt
uns: Ein ehrliches Zeugnis kann nicht erzwungen werden!
Hes 33,8-9 und Apg. 20,26-28 scheinen dem zu widersprechen. Der Wider­
spruch entsteht aber nur dadurch, dass die besondere Berufung von Hesekiel
und Paulus nicht angemessen wahrgenommen wird. Beide “standen mit
einem Bein im Himmel”, sahen in großartigen Visionen die unsichtbare Welt
(Hes 1,4 ff / 2.Kor 12,1). Damit verloren auch die irdischen Zwänge viel von
ihrer Bedeutung. Paulus konnte es gar nicht erwarten, endlich zu sterben und
bei seinem Herrn zu leben (Phil 1,23). Vom Auftrag des Paulus hing das
Schicksal der gesamten christlichen Gemeinde ab! In seiner Hand lag es, ob
die Botschaft von Jesus nach Ablehnung durch die Juden nunmehr die
Nichtjuden erreichte. An diese große Verantwortung hat ihn Gott erinnert.
(Apg 9,15-16) Er konnte es tun, ohne dass die Qualität der Botschaft darun­
ter litt. Zwischen beiden Verkündern gibt es eine Parallele: Paulus arbeitete
in erster Linie außerhalb Palästinas. Hesekiel war der erste Prophet, der
außerhalb des heiligen Landes berufen wurde und dort verkündete.
Wer dieses einzigartige Programm wahllos jedem Gläubigen aufzwingt, der
muss die Tatsache leugnen, dass als eindrücklichstes Erlebnis gar nichts Ein­
zigartiges, weder der Blick in Gottes Herrlichkeit, noch eine besondere
Berufung und Begabung, sondern nur Primitivität und Frustration, nur stän­
dig schlechtes Gewissen und seltsame seelische Verformung zurückbleibt.
87
Um über seinen Glauben froh berichten zu können, darf der Gläubige kei­
nem Zwang ausgesetzt sein. Ein glaubwürdiges Zeugnis wird immer im Ein­
klang mit den Qualitätsstandards Jesu, d.h. im Einklang mit Barmherzigkeit,
Fairness und Ehrlichkeit sein.
Gott kann sogar Kinder und Jugendliche zum Zeugnis gebrauchen! Gläubige
dazu zu zwingen, indem man ihnen ein schlechtes Gewissen macht, ist reli­
giöser Missbrauch!
9. Behauptung: “Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in die
Hölle kommen.”
Diese schreckliche Behauptung findet sich leider auch in der beliebten
McArthur Studienbibel 183, die ansonsten mit Gewinn zu lesen ist. In der
Anmerkung zu Mt 12,36 heißt es ausdrücklich, , dass bereits ein “Ausrut­
scher” der Zunge genügt, um mit der ewigen Höllenqual bestraft zu werden.
Diese Fehleinschätzung fußt auf der fehlerhaften Lehraussage: “Je enger
sich eine Auslegung an den Wortlaut der Schrift hält, desto zuverlässiger 184
ist sie.”
Im biblischen Text selbst, d.h. in drei der vier Evangelien, wird vor einer
schrecklichen Sünde gewarnt, die niemals vergeben werden kann: die Läste­
rung des Heiligen Geistes: “Darum sage ich euch: Alle Sünde und Läste­
rung wird den Menschen vergeben; aber wer den Geist lästert, dem wird
nicht vergeben. Und wer etwas sagt gegen Jesus, den Menschensohn, dem
wird es vergeben; aber wer etwas sagt gegen den Heiligen Geist, dem
wird’s nicht vergeben, weder auf Erden noch im kommenden himmlischen
Reich.” (Mt 12,31-32)
Nach Ansicht mancher Theologen kann bereits ein negatives Wort über Brü­
der, über ein Bibelwort, über etwas, was der heilige Geist will, die unvergeb­
bare Sünde sein.
183 e-Book 2013 oder 6.Auflage 2009.
184 Siehe die 17.Behauptung: “Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wort­
laut hält, ist das beste.”, Seite 111.
88
Diese Auffassung zieht große Risiken nach sich! Denn immer wieder sieht
sich der Christ vor die Frage gestellt, ob etwas “geistlich” oder “fleischlich”,
ob es göttlichen oder nur menschlichen Ursprungs ist. Er unterliegt einem
Entscheidungs- und Urteilszwang! Wie leicht ist es da möglich, dass er
falsch urteilt, dass er etwas schlecht oder falsch nennt, was der Heilige Geist
will, und dass ein sündiges Motiv bei diesem Urteil eine Rolle spielt.
Es ist nicht schwer zu verstehen, dass sensible und sorgfältige Gläubige, die
durch ein buchstabentreues Verständnis 185 der Bibel geprägt sind, hier in
einen schrecklichen Zweifel und panische Angst hineingeraten können.
Diese Angst kann u.U. jahrelang andauern, da die im Rahmen der traditio­
nellen bibeltreuen Theologie angebotenen Lösungen erhebliche Mängel
haben 186, die selten offen diskutiert werden. Üblicherweise meiden die
Betroffenen die Gemeinden, da sie dort den Verlust der Glaubensgewissheit
besonders schmerzlich empfinden. Auch die Gemeindemitglieder halten sich
von ihnen fern, da sie das Elend nicht mitansehen können und zudem viel­
leicht befürchten, ebenfalls mit Zweifeln infiziert zu werden. Da die angebo­
tenen Lösungen nicht bezweifelt werden, liegt der Schluss nahe, dass die
Betroffenen selbst an ihrem Leid schuld sind – auch wenn man nicht weiß,
warum.
Tatsache ist nun, dass sich niemand an alle negativen Worte erinnern kann,
die er jemals gesagt hat. So wenig wie an alle Einschätzungen und Entschei­
dungen.
Somit bleibt die Frage, ob der Gläubige nun erlöst oder verdammt ist,
ungeklärt und unbeantwortbar. Dieses Ergebnis erscheint logisch, ist
aber absurd.
(Auch der ansonsten mit Gewinn zu lesende Bibelausleger Adolf Schlatter
vertritt in seinem haarsträubenden Aufsatz zur “Sünde gegen den heiligen
Geist” 187 diese absurde These, dass der Gläubige in dieser Frage keine
Gewissheit haben kann.)
185 Siehe 17.Behauptung, Seite 111.
186 Siehe Seite 192 ff.
187 Siehe zu Schlatters Aufsatz über die unvergebbare Sünde, Seite 199.
89
Es ist auffällig, dass das Problem bei ihm nicht zu der Frage hinführt, wel­
chen Charakter Gott hat. Wenn man den Charakter einer Person kennt, dann
kann man ihre Reaktion einschätzen. Diese Frage des Charakters bleibt bei
Schlatter und vielen anderen evangelikalen Theologen ausgespart. Ein
grundsätzliches Defizit der traditionellen auf den Wortlaut fixierten Theolo­
gie wird hier sichtbar: ihre Schwierigkeit, eine konsistente, widerspruchs­
freie Vorstellung vom göttlichen Charakter zu vermitteln.
Ist die Kenntnis des göttlichen Charakters nicht wichtig für die Frage, ob der
Gläubige Gott lieben kann ?
Die auf den Wortlaut fixierte Interpretation lässt Gott als unehrlichen Kauf­
mann erscheinen, der dem Kunden einen Vertrag aufschwatzt, obwohl er
ganz genau weiß, dass das Kleingedruckte alles, was im Hauptvertrag
steht, zunichte macht.
Unendlich viel wird versprochen: vollständige Vergebung und Reinigung
von aller Schuld, ewige Geborgenheit bei Gott, göttlicher Schutz in jeder
Situation des Lebens, königliche Würde, Annahme an Sohnes Statt durch
Gott selbst – und dann ist plötzlich alles weg. Ein versehentlicher “Ausrut­
scher” der Zunge war die Ursache – wo doch die Bibel selbst sagt, dass kein
Mensch die Zunge beherrschen kann. (Jak 3,8)
Wenn das so wäre, hätte man dann wirklich noch Grund zum Jubeln?
Warum müsste man dann missionieren und die “frohe Botschaft” allerorten
mitteilen? Das wäre doch unbeschreiblich grausam und heimtückisch. Es
wäre dann wirklich besser, wenn Menschen nie etwas von dieser Religion
erfahren.
C.H.Spurgeon hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Gottes Ehre mit der
Errettung seines Jüngers verknüpft ist. “Der Herr mag für einige Zeit versto­
ßen, aber nicht für immer. Eine Frau wird ihren Schmuck für ein paar Tage
ablegen, aber sie wird ihn nicht gänzlich vergessen oder auf den Misthaufen
werfen. So geht unser Herr nicht mit denen um, die er liebt, denn ‘er liebt
die Seinen in der Welt und er wird sie weiter lieben bis ans Ende.’ (Jo 13,1)
Manche sprechen über das Bleiben in der Gnade, als wären wir Karnickel,
die in ihre Höhle hinein- und wieder herauslaufen. So ist es nun gar nicht!
90
Die Liebe unseres Herrn ist eine viel ernstere und zuverlässigere Sache. Er
liebte uns schon von Ewigkeit her und er wird uns bis in alle Ewigkeit lie­
ben. Er liebte uns so, dass er für uns starb. Deshalb dürfen wir sicher sein,
dass seine Liebe zu uns niemals sterben wird. Seine Ehre ist so sehr mit der
Errettung des Gläubigen verbunden, dass er sie so wenig wegwerfen kann
wie ein König sein Amtsgewand wegwerfen würde. Nein, nein! Der Herr
Jesus, das Haupt, wird die Glieder seines Leibes nicht von sich werfen. Er,
der Bräutigam, wird niemals seine Braut davonjagen. Dachtest du, du seist
verstoßen ? Warum denkst du so schlimm über deinen Herrn, der sich dir
verlobt hat ? Verjage diese Gedanken und gib ihnen nie wieder Raum in
deiner Seele. ‘Der Herr hat sein Volk nicht verstoßen, das er sich auserse­
hen hat.’ (Rö 11,2). ‘Er hasst das Verstoßen.’” (Mal 2,16). 188
Leider wird von perfektionistischen Theologen die Ehre 189 Gottes eher mit
seiner Macht zu strafen, zu zerstören und zu verdammen, in Verbindung
gebracht. Hier sind wichtige Prioritäten falsch gesetzt. Natürlich sollen wir
Gott viel mehr fürchten als de Menschen: “Fürchtet euch nicht vor denen,
die nur den Leib töten können…” (Mt 10,28) Doch Gott hat sich nicht den
Ehrentitel “Zerstörer” (Απολλυων) gegeben. Das ist der “Ehren”-Titel des
Teufels. (Offb 9,11) Gott bevorzugt andere Ehrentitel, z.B. “wunderbarer
Gott, weiser Ratgeber und Kämpfer, Vater der Ewigkeit, Friedensfürst.” (Jes
9,5) Der höchste Ehrentitel Gottes ist der Name Jesu, der bedeutet “Gott ret­
tet.”
Barmherzigkeit ist für Gott eine Frage der Ehre. Er ist “barmherzig und gnä­
dig, geduldig und von großer Güte und Treue.” (Ps 86, 15 / 103,8 / 145, 8)
Er ist der “barmherzige und gnädige Herr.” (Ps 111, 4) Wer behauptet Gott
zu kennen, soll bekennen, “dass ich der HERR bin, der für Barmherzigkeit,
Recht und Gerechtigkeit auf der Erde sorgt! Denn das gefällt mir” (Jer 9,24)
Jesus nennt die “Barmherzigkeit” als das erste der Gebote, die Gott am
wichtigsten sind. (Mt 23,23) Gott liebt Barmherzigkeit so sehr, dass manche
Gläubige daran sogar Anstoß nehmen. (Jona 4)
188 übersetzt aus C.H.Spurgeon, “Gems”, for the 12th of Januar).
189 Siehe „Stichworte“, (Internet).
91
Es ist der Wille Gottes, gerade denen Menschen Liebe und Hoffnung zu
geben, die aufgrund eigener Schuld schon längst von ihren Mitmenschen
abgeschrieben und ausgestoßen worden sind (Luk 7,36 ff / 19,2 ff). Jesus
wurde beschimpft als “Freund der Zolleintreiber und Sünder.” (Luk 7,34)
Gott ist immer viel barmherziger als Menschen.
Er wirbt ständig um das Vertrauen des Menschen: “Vertraut Gott!” sagte
Jesus (Mk 11,22), selbst wenn es um das scheinbar Unmögliche geht, selbst
wenn man Gott bitten wollte, einen Berg zu versetzen. Der Glaube eines
Menschen ist Gott unendlich kostbar und genügt zur Rettung. (Jo 3,16)
Deswegen kann eine unwiderrufliche Trennung nicht versehentlich oder in
Übereilung geschehen. Dadurch würde die frohe Botschaft unglaubwürdig
werden. Das Vertrauen würde aufs Schwerste erschüttert oder ganz unmög­
lich.
Das unwiderrufliche Gericht ist die Endstation einer notorischen, unverbes­
serlichen Feindschaft gegenüber Christus, die mit der Verachtung seiner
Barmherzigkeit in ihrer deutlichsten Form verbunden ist.
Die Pharisäer damals hatten ja die Gelegenheit, den Sohn Gottes persönlich
kennenzulernen und sich von seiner Freundlichkeit und Güte zu überzeugen.
Sie waren nicht auf das Hörensagen oder auf Vermittler angewiesen. Sie
wurden auch nicht abgestoßen durch die Schwächen oder Sünden dieser
Vermittler. Sie standen dem Sohn Gottes und seiner Liebe persönlich gegen­
über. Sie hätten ihm alle Zweifel und Nöte sagen können. Sie hätten nur die
Hand auszustrecken brauchen, um geheilt zu werden. Dennoch haben sie
Christus als “Teufel” beschimpft im Bemühen, dass ihn auch die hilfesu­
chenden Menschen für einen “Teufel” halten sollten: “Das alles ist böse und
bleibe mir ewig fern!”
Jesus warnt eindringlich davor, trotz klarer Einsicht in seine göttliche Auto­
rität und Barmherzigkeit eine grundsätzliche Haltung der Feindschaft zu ihm
einzunehmen. Es könnte sein, dass eines Tages die Möglichkeit der Umkehr
nicht mehr vorhanden ist. Der Sohn Gottes hat auch mit undankbaren und
boshaften Menschen sehr viel Geduld. Aber er lässt sich nicht alles gefallen.
Der freche Satz von Voltaire, Jesus müsse ja vergeben, denn es sei ja “sein
Job”, ist ein schrecklicher Irrtum !
92
Allerdings ist auch die Warnung vor der unvergebbaren Sünde eine Aussage
im biblischen Pauschalstil: 190 auf wichtige Ausnahmen geht die Bibel an
dieser Stelle nicht ein.
Das sind z.B. Glaubensgeschwister, die unter einer neurotischen, quälenden
Verformung des Glaubens leiden (Werkgerechtigkeit 191) Sie schimpfen nur
deswegen, weil sie die Freiheit und Herrlichkeit des Glaubens eben nicht
klar erkennen und sind hier schon deshalb nicht betroffen.
Lang ertragenes Leid wird sehr oft zur Not der Gottverlassenheit. Dann kann
Gott als der erscheinen, dem es niemand recht machen kann, der gleichgültig
und wenig mitfühlend ist, eben als Rabenvater, der seine Hausgenossen
nicht versorgt, und der “sich schlimmer aufführt als ein Heide” (1.Tim 5,8).
Gott erscheint “gottlos”. Hier kann es durchaus dazu kommen, dass man
beginnt, auf Gott, auf Jesus, auf die Bibel, auf das angebliche Evangelium zu
schimpfen. Je härter das Leid, desto exzessiver die Beschimpfung.
Zweck hat das keinen: Gott wird sich nicht entschuldigen. Das weiß der
Gläubige auch. Nachträglich ärgert er sich darüber. Denn eigentlich will er
ja doch zu Gott gehören und schon gar nicht möchte er ihn zum Feind haben.
Das Schimpfen ist ein Überdruck-Ventil. Ihm platzt der Kragen: er muss
sich Luft machen.
Beschimpfungen gegen einen Gott, der lieblos und ohne Mitgefühl
erscheint, richten sich gegen ein Zerrbild 192 seiner Person. Wie kann die
Beschimpfung eines abstoßenden Zerrbildes den wahren Gott treffen und
beleidigen? Wie kann sie das Heil gefährden?
Ob sie sich in der Wortwahl gegen den heiligen Geist richtet, ändert an die­
ser Tatsache nichts, weil nach der Bibel der Inhalt grundsätzlich Vorrang
hat vor der Form. (Rö 2, 28.29) Der Mensch sieht nur das Äußerliche, aber
Gott sieht ins Herz (1.Sam 16,7). Dies ist ein biblisches Prinzip mit höchster
Priorität 193 ! Solche Gläubigen dürfen mit der Hilfe und Zustimmung Jesu
rechnen, der Zerrbilder 194 ebenfalls verabscheut.
190
191
192
193
194
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Pauschalstil“, (Internet).
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).
Siehe Seite 171.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Polarität der Bibel“,(Internet).
Siehe den Abschnitt „Zerrbilder“ im Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
93
Dennoch können diese Gläubigen – dank einer dilettantischen Theologie –
sehr intensive Verdammungsängste haben, deren Intensität sie als Beweis für
tatsächliche Verdammnis betrachten werden. Sie sollten Mitchristen, die sich
durch gutes Urteilsvermögen auszeichnen, um eine Beurteilung ihrer Läste­
rungssituation bitten.
Auf der Grundlage der Maßstäbe Jesu (Mt 23,23) dürfen sie sich darauf ver­
lassen, dass es im menschlichen Verantwortungsbereich 195 keine gravie­
renden Unterschiede zwischen Gottes Gerechtigkeitssinn und dem, was
im Glauben gereifte Christen nach bestem Wissen und Gewissen als gerecht
und angemessen empfinden. Zwar wird Erkenntnis oft „Stückwerk“ (1.Kor
13,9) bleiben, werden Entscheidungen nicht selten mit Unsicherheit behaftet
sein – niemals aber wird Gott – so wie ihn uns Jesus Christus in aller Deut­
lichkeit gezeigt hat (Jo 14,9) - etwas wollen, was treue und gewissenhafte
Gläubige als pervers und als Verachtung der Menschenwürde empfinden.
Wenn wir uns darauf verlassen dürfen, dann ist keine diffizile theologische
Kasuistik mehr nötig, um die quälende Frage zu beantworten, ob die ausgesprochene Beschimpfung nun vergeben werden kann oder nicht. Es ist
nicht danach zu fragen, ob sie laut oder leise, ob sie privat oder vor anderen
ausgesprochen oder nur gedacht worden ist. Man kann sich auch die Erörte­
rung sparen, ob eine andere Wortwahl die Vergebung wahrscheinlicher
machen würde.
Denn was hatte Jesus nach der Anklage frommer Leute gesagt, die von ihm
das Todesurteil über eine ertappte Ehebrecherin hören wollten? “Jesus aber
fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete:
Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh
hin und sündige hinfort nicht mehr.” (Joh 8,10-11)
Schon im Alten Testament wird dieser Grundsatz erwähnt. Johannes der
Täufer bezieht sich auf diesen Text von Jesaja in seiner Warnung vor dem
Feuer des Gerichts (Mt 3,10-12) so wie auch Jesus (Joh 15,6). Jesaja
erzählt das Gleichnis vom Weinstock im Acker, der mühsam gehegt und
gepflegt wird, um doch noch etwas Frucht aus ihm herauszuholen.
195 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unterscheidung der Verantwortungsbe­
reiche“, (Internet).
94
Bevor ihn aber der göttliche Weingärtner aus dem Boden herausreißt und
verbrennt, wendet er sich an Menschen (!) als Schiedsrichter: “Nun ent­
scheidet selbst, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Juda’s, in dem
Streit zwischen mir und meinem Weinberge. Hätte irgendjemand noch mehr
für meinen Weinberg tun können, das ich nicht für ihn getan hätte? Warum
hat er trotzdem bloß bittere Früchte gebracht? Durfte ich nicht mit guten
Trauben rechnen?” (Jes 5,3-4)
Die Frage nach dem persönlichen Heil wird also von Gott selbst zurückgege­
ben an den menschlichen Verantwortungsbereich. 196 Denn der Gläubige soll
ja anderen froh von seiner Errettung berichten und sie zum Glauben einla­
den. Das kann er nur, wenn seine Errettung nicht zweifelhaft bleibt.
Zur Wiedergewinnung der Glaubensfreude reicht indes das geschwisterliche
Urteil nicht aus. Es ermutigt aber, die Bibel mit neuem Vertrauen zu lesen.
Diese reagiert in lebendiger Weise auf die innere Einstellung des Lesers. So
wird sich der Gläubige auch seines eigenen geistlichen Lebens bewusst und
allmählich kehrt die Glaubensfreude zurück.
Wichtiger Hinweis: diese Lösung setzt voraus, dass die Rangfolge von
Bibelworten in der Gemeindelehre überzeugend begründet wird. Wird
gelehrt, dass alle Bibelworte gleichen Rang haben, 197 so muss der Gläubige
in seinem Denken Lehrsätze nebeneinander dulden, die sich widersprechen.
Diese Glaubensschizophrenie macht eine klare Vorstellung von Fairness
und Gerechtigkeit weitgehend unmöglich. Gott erscheint weiter willkür­
lich, unberechenbar und bedrohlich.
Dasselbe gilt, wenn in der Gemeinde Korruption und offene Missachtung
der Qualitätsmaßstäbe Jesu geduldet werden. Wenn die Gemeinde dann noch
gedeiht und wächst, dann entsteht der Eindruck, dass Gott willkürliche
Günstlingswirtschaft betreibt und seinen “Lieblingen” alles durchgehen
lässt, den anderen aber, die er schon vor Grundlegung der Welt zu “Gefäßen
des Zorns” (Rö 9,22) bestimmt hat, keine großen Chancen gibt.
196 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unterscheidung der Verantwortungsbereiche“, (Internet).
197 Siehe die 18.Behauptung “Die ethischen Aussagen des Neuen Testamentes haben
alle die gleiche Autorität., Seite 116.
95
Wenn Gott selbst kein Interesse an Gerechtigkeit zu haben scheint,
dann ist es auch sinnlos, die Geschwister um eine Einschätzung zu bit­
ten, welche Reaktion Gottes auf beschimpfende Worte ihnen angemessen
erscheint. Die deprimierende Vorstellung eines Gottes, der gerne unfair ist,
lässt sich mit einer Bibel, in der jeder Satz gleichen Rang haben soll, nicht
mehr widerlegen.
10. Behauptung: “Ein Versprechen, das der Gläubige Gott gegeben hat,
muss auf jeden Fall eingehalten werden, auch wenn es dumm und
destruktiv war. Wenn der Gläubige es nicht einhält, muss er damit rech­
nen, dass Gott sein ganzes Leben ruiniert.”
Hier beruft man sich auf 5.Mo 23,21: “Wenn du dem Herrn etwas gelobst,
so sollst du nicht zögern, dein Versprechen zu halten ; denn der Herr, dein
Gott, wird’s von dir fordern, und es wird dir Sünde sein.” sowie auf Pred
5,3-5. “Wenn du Gott etwas versprichst, so zögere nicht, es zu halten; denn
er hat kein Gefallen an den Narren. Was du gelobst, das halte. Es ist besser,
du gelobst nichts, als dass du nicht hältst, was du gelobst. Erlaube deinem
Mund nicht, dich zu verführen; und sprich vor dem Engel nicht: Es war ein
Versehen. Gott könnte zornig über dich werden und alle Werke deiner
Hände verderben.”
Ein schauderhaftes Beispiel für die Pflicht, auch unbarmherzige Versprechen
einhalten zu müssen, liefert die Jephta-Geschichte. Jephta verspricht zum
Dank für den Sieg in der Schlacht das, was ihm bei seiner Rückkehr zuerst
entgegenkommt, als Brandopfer darzubringen. (Ri 11,30-31). Leider lief ihm
seine Tochter entgegen, sodass er sein leichtsinniges Ver-sprechen tief
bereute. Aber er “tat an ihr, wie er dem Herrn versprochen hatte.” (Ri
11,39)
Einen Menschen einem Gott zu opfern, war nach dem Gesetz verboten
(5.Mo 12,31) Ersatzweise forderte Jephta von seiner Tochter den Verzicht
auf Ehe und Mutterglück, was um so mehr ins Gewicht fiel, als sie sein ein­
ziges Kind war.
96
Unklar ist, warum er die Möglichkeit nicht nutzte, die das Gesetz bot, näm­
lich das Gelobte freizukaufen. Nach 3.Mo 27,4 war für eine Frau 30 Sekel
zu entrichten. Diese wären aus der Kriegsbeute leicht zu bezahlen gewesen.
Angesichts des überwältigenden Sieges erschien ihm dieser Ausweg wohl
als Respektlosigkeit und sein Gewissen konnte sich von dem unsinnigen und
zweifellos destruktiven Gelübde nicht mehr lösen.
Da das Gelübde auch im Neuen Testament (Apg 18,18 / 21,24 / 1.Tim 5,1112) vorkommt, haben manche Gläubige heute noch große seelische Nöte
wegen übereilter und unsinniger Gelübde auszustehen.
Wenn man in Geldnot ist, dann neigt man dazu, sich mit Krediten zu helfen,
die kurzfristig Erleichterung schaffen, das Problem aber langfristig verschär­
fen. Wenn man ohnehin unter einem strengen Gewissen leidet, dann ist die
Versuchung sehr groß, die Gewissenslast durch Versprechungen zu erleich­
tern.
In bibeltreuen Gemeinden wird ständig zur Hingabe aufgefordert und die
Bereitschaft zur Hingabe nimmt nicht selten die Form eines Versprechens
an. So kann es geschehen, dass junge Menschen in einer starken, aber vorü­
bergehenden religiösen Begeisterung versprechen, “alles dem Herrn zu wei­
hen”, “als Missionar hinauszugehen”, oder “ehelos zu bleiben” wie es einst
Paulus war.
Ist der religiöse Rausch verflogen, so erkennen sie, dass sie sich eine Last
aufgelegt haben, die sie gar nicht tragen können. Sie stehen vor der Alterna­
tive, ein unsinniges Gelübde einzuhalten und damit lebenslang unglücklich
zu sein, oder es zu missachten und immer in Angst vor einem Gott zu leben,
der den “Kredit” erbarmungslos eintreibt und in der Wahl der Mittel ähnlich
wie ein brutales Inkasso-Unternehmen kein Erbarmen kennt.
Geben wir dem Wortlaut des alttestamentlichen Gesetzes die höchste Priori­
tät, so ist keine Hilfe möglich. Beachten wir aber, dass die Maßstäbe Jesu
Christi die höchste Priorität haben, so ist die Lösung recht einfach. Der
Gläubige darf nicht nur, sondern er MUSS barmherzig, fair und ehrlich sein.
97
Ist es barmherzig, einen Menschen, den man liebt, erbarmungslos auf ein
unüberlegtes Versprechen (z.B. ehelos zu bleiben) festzunageln, das ihn sein
Leben lang nur belastet und quält?
Ist es fair, mit ständigen Ermahnungen so viel von einem Menschen zu for­
dern, dass er sich mit Versprechungen helfen muss? Ist es ehrlich, “als Mis­
sionar hinauszugehen” und vom göttlichen Erbarmen zu predigen, wenn man
nur Missionar geworden ist, weil man Angst vor göttlicher Erbarmungslosig­
keit hatte?
Durch Gelübde geht die klare Abgrenzung zur Werkgerechtigkeit verlo­
ren. Wieder ist das eigene Tun im Mittelpunkt, mit dem sich der Gläubige
selber rettet. Und das ist verboten! “Ihr habt Christus verloren, die ihr euch
durch die Erfüllung der göttlichen Normen selber retten wollt.” (Gal 5,4)
Die Abgrenzung von der Werkgerechtigkeit muss 100% sauber und kompro­
misslos sein: “ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig” (Gal 5,9)
Daraus folgt: Gelübde haben für den Christen keine Bedeutung. Er stellt sich
seinem Herrn jeden Tag neu zur Verfügung und lebt ganz aus der Gnade.
Wie sind dann die im Neuen Testament erwähnten Gelübde einzuordnen ?
Paulus benutzte das Gelübde, das im Alten Testament und in der jüdischen
Kultur eine gewisse Bedeutung hat, um das Vertrauen seiner jüdischen
Landsleute zu gewinnen (Apg 18,18 / 21,24). Aus demselben Motiv
beschnitt er auch Timotheus (Apg 16,3), der mit ihm zusammen die Juden
missionierte. Eine inhaltliche Bedeutung hatte die Beschneidung für ihn
nicht. Er warnte die Gläubigen, mit der Beschneidung irgendeine geistliche
Bedeutung zu verbinden: “Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch
beschneiden lasst, dann wird euch Christus nichts mehr nützen.” (Gal 5,2)
1.Tim 5,11-12 erwähnt Witwen, “die Wünsche haben, die Christus wider­
sprechen und wieder heiraten wollen und haben sich damit das Urteil zuge­
zogen, dass sie die erste Treue gebrochen haben” (wörtlich übersetzt). Es
gab damals eine Gruppe von verwitweten Frauen, die sich ganz dem diako­
nischen Dienst weihte und dafür offensichtlich besondere Privilegien
genoss. Wer sich in diese Gruppe aufnehmen ließ und dann doch heiratete,
schadete dem Ansehen dieses Amtes (das später in der Kirchengeschichte
seine Bedeutung verlor). Darin bestand die Sünde.
98
Die Wortwahl des Paulus ist hier, wie an anderen Stellen auch, sehr missver­
ständlich. Die wortwörtliche Übersetzung macht ähnlich wie in Tit 1,12-1
überhaupt keinen Sinn, sondern lässt den Wahn der Werkgerechtigkeit wie­
der aufleben, von dem doch Paulus selbst sagte, man müsste sich davon
kompromisslos fernhalten.
Wie können wir das angemessen übersetzen?
Ein Versuch: “Welche Frau kann in das Verzeichnis der Witwen aufgenom­
men werden? Sie sollte wenigstens sechzig Jahre alt sein… Jüngere Frauen,
die sich bewerben, weise zurück. Eines Tages haben sie wieder den Wunsch
zu heiraten und müssen sich dann den Vorwurf gefallen lassen, dass sie ihr
Wort nicht halten können. Jesus aber will nicht, dass seine Jünger als unzu­
verlässige Leute gelten.”
Wie C.S.Lewis einmal sagte, hat Gott offenbar dem Paulus die Gabe der
anschaulichen Darstellung (Didaktik) aus gutem Grunde versagt. Er nimmt
also nicht nur die Stärken, sondern auch die Schwächen des Paulus in Seinen
Dienst.
Eben weil vieles schwer zu verstehen ist, ist die Gemeinde gezwungen, mit
dem Text zu arbeiten und immer wieder neu darüber nachzudenken. Fatal
ist dann allerdings, wenn Nachdenken, Prüfen und Ergründen zur
Sünde erklärt wird und man sklavisch am Buchstaben klebt. “Der Buch­
stabe tötet, der Geist aber macht lebendig” (2.Kor 3,17).
Wie schon zur unvergebbaren Sünde 198 gesagt wurde: Gott macht sich und
sein Wort unglaubwürdig, wenn im Kleingedruckten aufgehoben wird, was
klar und deutlich im Hauptvertrag steht. Wenn der Gläubige “zur Freiheit
befreit” (Gal 5,13) und “los vom bösen Gewissen” (Hebr 10,22) und “frei
vom Gesetz” (Gal 7,3+4 / 1.Tim 1,9 ! ) ist, dann sind das gültige Verspre­
chen Gottes, die zuverlässig eingehalten werden und durch ein eigenes
unüberlegtes Gelübde nicht nachträglich eingeschränkt werden können.
198 Siehe 9. Behauptung: “Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in die
Hölle kommen.”, Seite 88.
99
Das Eheversprechen übrigens, dass vor der Gemeinde gegeben wird, ist
kein echtes Gelübde. Es hat keine rechtsbegründende Wirkung, sondern ist
deklaratorischer Natur. Es verkündet nur die göttliche Ordnung, dass Mann
und Frau einander lebenslang treu sein sollen:
“Habt ihr nicht gelesen, dass, der im Anfang den Menschen gemacht hat, sie
als Mann und Frau geschaffen hat und sagte: “Darum wird ein Mensch
Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hängen, und die beiden
werden eine Person sein” ? Deshalb sind sie nicht zwei Person, sondern
eine. Und was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht schei­
den.” (Mt 19, 4-5)
Gültig ist diese Rechtsordnung auch, wenn kein Versprechen in der Kirche
gegeben wird. Vor einer Strafe für die willkürliche Verletzung dieser Ord­
nung schützen solche Umgehungsversuche nicht.
Im Ergebnis ist bibeltreuen Theologen recht zu geben, wenn sie feststellen,
dass der gläubige Christ ganz und gar Eigentum seines Herrn geworden ist
und deshalb nicht etwas, was seinem Herrn ohnehin gehört, noch einmal
geloben kann.
11. Behauptung: “Wenn du noch nicht in Zungen redest oder noch kein
wunderbares Erleuchtungserlebnis empfangen hast, steht noch
irgendeine Sünde zwischen dir und Gott. Dann hast du evt. den Heiligen
Geist noch nicht empfangen und bist noch gar kein Christ und noch
nicht gerettet.”
In der Bibel gibt es für diese Behauptung keinen Beleg. Der Behauptung,
dass der Gläubige bei einer echten Bekehrung die Fähigkeit erhalten haben
muss, in unverständlicher Sprache zu reden (“Zungenrede”) ist die Frage des
Paulus entgegenzuhalten: “Reden sie alle in Zungen?” (1.Kor 12,30)
Offensichtlich gab es auch Gläubige ohne Zungenrede. In manchen Zeiten –
wie zur Zeit Jesu und der Apostel – geschahen Wunder häufig, zu anderen
Zeiten eher selten (Lk 4,25-26).
100
Es ist überheblich und unbarmherzig, Gläubige als zweitklassig abzuqualifi­
zieren und zu deprimieren, bloß weil sie kein spektakuläres Wundererlebnis
aufzuweisen haben. Jesus betrachtet Wunder jedenfalls nicht als entschei­
dend für das Heil: “Es werden nicht alle, die zu mir sagen: HERR, HERR!
ins Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im
Himmel. “Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: HERR, HERR!
Haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, haben wir nicht in deinem
Namen Teufel ausgetrieben, und haben wir nicht in deinem Namen viele
Taten getan? Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie
erkannt; weichet alle von mir, ihr Übeltäter!” (Mt 7,21-23)
Auch wenn der Gläubige nichts Spektakuläres erlebt, kann er dennoch fest
auf die Liebe seines Herrn vertrauen. Das Reich Gottes ist nicht “etwas
genießen, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist.”
(Rö 14,17). Diese Gelassenheit, dieses Vertrauen sollte der Gläubige sich
nicht zerstören lassen, indem er es von spektakulären Ereignissen abhängig
macht. In dieser Haltung des Vertrauens wird man auch viel Bewahrung,
Hilfe und Güte Gottes im täglichen Leben erkennen, Geschenke, die der
Nichtgläubige unter “noch mal Glück gehabt” einsortiert.
12. Behauptung: “Wenn dein Gebet nicht erhört wird, dann gibt es nur
einen Grund dafür: eine Sünde steht zwischen dir und Gott.”
“Wahrhaftig: die Hand des Herrn ist nicht kürzer geworden, dass er nicht
helfen könnte, auch ist sein Ohr nicht taub geworden, dass er nicht hören
könnte, sondern eure Gemeinheiten haben einen Graben zwischen euch und
Gott aufgerissen. Eure Sünde ist es, die euch hindert auf Gott zu blicken.
Eure Sünde ist daran schuld,dass ihr nicht mehr angehört werdet.” (Jes
59,1+2)
Wer Gott und seine Weisungen verachtet, der kann nicht erwarten, dass Gott
auf seine Bitten achtet. Jeder vernünftige Erzieher wird genauso handeln.
Fatal wird die Bibelauslegung, wenn sie Gebetserhörung mit dem Anspruch
verknüpft, dass der Gläubige seine Unvollkommenheit überwindet. 199
199 Siehe die 3. Behauptung: “Wenn wir nur wollen, können wir die Sünde lassen. ,
Seite 50.
101
Wenn das stimmt, dann gibt es überhaupt keine Gebetserhörung – denn das
ist unmöglich: “wenn wir behaupten, wir hätten keine Sünde, dann lügen
wir.” (1.Jo 1,8)
Es bleibt dann nur die Verzweiflung oder religiöser Hochmut. Man kann es
nur Hochmut bzw. Blindheit nennen, wenn Gläubige meinen, so untadelig
zu sein, dass Gott sie “erhören müsse”. Mit Wohlverhalten lässt sich Gott
nicht manipulieren.
Die Bibel lädt aber die Gläubigen ein, den Vater im Himmel zu bitten: “Ihr
habt nicht, weil ihr nicht bittet“. (Jak 4,2) Dazu gehört aber auch der Hin­
weis, dass die Bitte nicht egoistisch sein darf: “Manche von euch bekommen
nichts, weil sie in übler, egoistischer Weise bitten. Ihr Treulosen, wisst ihr
nicht dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott bedeutet?” (Jak
4,3-4). Auch Jesus betonte, dass Gott gerne Bitten erhört, die seinem Willen
entsprechen: “was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, um
den Vater im Himmel zu ehren.” (Joh 14,13) Um zu wissen, was man beten
soll, braucht der Gläubige eine enge Beziehung zu Jesus und eine innerliche
Ausrichtung auf die unsichtbare Welt: “Bemüht euch eifrig um das, was in
der unsichtbaren Welt wichtig ist, und nicht um das, was die Welt irrtümlich
für wichtig hält.” (Kol 3,2)
Festzuhalten ist: Gott sieht es gerne, wenn seine Gläubigen ihn bitten und
gibt grundsätzlich gerne und großzügig. (Luk 11,11 / Jak 1,5)
Dessen ungeachtet wird Menschen manchmal schwerstes Leid zugemutet,
ohne das Gott die Bitte um Hilfe erhört. Paulus flehte dreimal, dass Gott ihm
eine schwer erträgliche Krankheit wegnehmen möge. “Gott antwortete: Lass
dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen
mächtig.” (2.Kor 12,9)
Diese Tatsache widerspricht einer voreiligen Pauschalisierung von Jes 53,4
(Jesus trägt die Krankheiten des Gläubigen) bzw. von Jak 5,15, wo es heißt,
dass das Ältestengebet bei Krankheit helfen soll. Unerträglich war auch die
lange Leidenszeit des Hiob, von dem das älteste Buch der Bibel berichtet.
Gott schenkte ihm Erlösung noch in diesem Leben.
102
Hebr.11,35 ff berichtet von Gläubigen, die erst im nächsten Leben aus ihrer
Not erlöst werden werden. Der Gläubige soll auch in aussichtsloser Situation
am Glauben festhalten und Gott mit diesem Vertrauen ehren.
Gottvertrauen ist eine grundsätzliche Entscheidung und nicht von Gebetser­
hörung abhängig. Es wird niemals soviel Gebetserhörung geben, dass sie als
“Gottesbeweis” dienen könnte und das Vertrauen überflüssig macht. Der
Gläubige lebt hier auf Erden “im Glauben und nicht im Schauen” (2 Kor 5,7)
Die Quelle seine Vertrauens sind nicht spektakuläre Wunder (die allesamt
bezweifelbar wären !), sondern die Erfahrung, dass Gott die Persönlichkeit
und den Charakter 200 prägt. Diese Erfahrung ermutigt dazu, sich Gottes Füh­
rung immer mehr anzuvertrauen und Prioritäten im Leben entsprechend zu
setzen.
Was tut der Mensch mit wunderbaren Gebetserhörungen ? Wieviel Men­
schen haben jahrelang gebetet, dass doch die Teilung Deutschlands ein Ende
haben möge. Gott hat es geschenkt, dass viele Menschen schon zu ihren
Lebzeiten die Erfüllung dieser Bitte erlebten – ohne dass ein Mensch dabei
zu Schaden kam. Man kann es nun von zwei Seiten sehen: “Die Gläubigen
haben die DDR kaputtgebetet”. Oder: “Da die DDR finanziell am Ende war,
hätte es über kurz oder lang so kommen müssen…” Tatsächlich?
Wieviele Menschen bitten Gott in höchster Not und wenn sie dann das Erbe­
tene erhalten haben, ist alles vergessen. Kein Gedanke mehr an Dankbarkeit.
Hinterher heißt es nur: “Glück muss der Mensch haben.”
13. Behauptung: “Krankheit ist ein starkes Indiz für mangelnden Glau­
ben oder heimliche Sünde.”
Krankheit kann die Folge von Fehlverhalten sein: ein sexuell zügellos leben­
der Mensch kann sich AIDS einhandeln, ein rücksichtsloser Fahrer im Ver­
kehr kann verunglücken, ein Drogenkonsument kann abhängig und gesund­
heitlich ruiniert werden, ein “Workoholic” kann an seinem Herzinfarkt
selbst schuld sein.
200 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173.
103
Doch viel häufiger ist die unverschuldete, schicksalhafte Krankheit. Sie wird
auch heute noch immer wieder von gewissen frommen Leuten als Strafe
Gottes gedeutet. Wie blind muss man da sein! Was lässt nur Gläubige an sol­
chen erbarmungslosen Ansichten festhalten?
Der Pharisäismus hat viele Varianten. Manche führen eben nicht nur ihren
Berufserfolg, sondern auch ihre Gesundheit ausschließlich und einzig auf
ihre moralische Überlegenheit zurück. Gott hat sie damit gesegnet, er konnte
gar nicht anders, als sie zu belohnen (vgl 5.Mo 28), sodass sie nun weniger
frommen Menschen, die leiden müssen, als leuchtendes Beispiel dienen.
Jesus hat in aller Deutlichkeit das Gegenteil gesagt. Leid ist nicht ein zwin­
gender Beweis für Sünde, sondern eine Gelegenheit für Gott, seine Kraft zu
zeigen. (Jo 9, 1-3) Diese Kraft kann heilen, aber auch zum geduldigen Ertra­
gen der Krankheit befähigen.
Wieviele Beispiele von Gläubigen gibt es, deren starker Glaube gerade
durch ihre Krankheit anderen vor Augen geführt worden ist. Der Apostel
Paulus selber hatte Gott gebeten, ihn von einer gesundheitlichen Belastung,
“dem Pfahl im Fleisch” zu befreien. Er erhielt die Antwort: “Lass dir an
meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.”
(1.Kor 12,7-9)
Seelische Krankheit, chronische Depressionen, eine ins Merkwürdige hinein
verformte Persönlichkeit können ein Hinweis auf sektiererische 201 Elemente
in der Gemeindelehre sein.
Sie können auch ein Hinweis auf notorische Unehrlichkeit der Gemeindelei­
tung sein, falls diese den Zusammenhang erkannt hat, sich aber weigert, die
Gläubigen darüber aufzuklären.
201 Siehe ausführlich das Kapitel „Was ist Irrlehre“ im Internet.
104
14. Behauptung: “Bei Krankheit den Arzt zu holen, ist ein Beweis man­
gelnden Gottvertrauens und daher Sünde.”
Und Asa wurde krank an seinen Füßen … und seine Krankheit nahm sehr
zu; und er suchte auch in seiner Krankheit nicht den HERRN, sondern die
Ärzte.” (2.Chr 16,12). Muss sich der Gläubige entscheiden: Entweder den
Herrn bitten oder die Ärzte? “Verflucht sei, der sich auf Menschen verlässt”?
(Jer 17,5) In einer kleinen Gemeinde in Indiana liegen schon über 50 Opfer
dieser Bibelauslegung auf dem Friedhof. 202. Hat sich nicht Gott verpflichtet
zu helfen ? Hatte Jesus nicht versprochen: “alle Dinge sind möglich, dem
der da glaubt?” (Mk 9,23).
Gegenfrage: hat Jesus nicht gesagt: “hört auf meine Worte: selbst wenn euer
Glaube nur so klein ist wie ein Senfkorn, dann könnt ihr zu diesem Berge
sagen: bewege dich von hier an jenen Platz, dann wird er sich bewegen.
Selbst dann wird euch nichts unmöglich sein.” (Mt 17,20)
Wenn man testen möchte, ob der eigene Glaube ausreicht, Gott zur Hilfe zu
zwingen, dann sollte man ihn doch erst einmal an einem Berg ausprobieren,
bevor man auf den Arzt verzichtet.
Gefährliches wörtliches Missverstehen! Es geht Jesus nicht um die Fähig­
keiten des Gläubigen, auch nicht darum, dass er ein Höchstmaß an mora­
lischer Vollkommenheit nachweist! Er fordert den kleinen Menschen nicht
auf, seine ganze “Glaubenskraft” zusammenzuraffen, um einen unendlich
großen, gleichgültigen Gott zu bewegen.
Jesus sagt genau das Gegenteil: euer Glaube kann so klein sein, dass man
ihn kaum sieht – wie ein Senfkorn. Gott ist aber selbst der kleinste und
erbärmlichste Glauben kostbar. Er freut sich darüber, dass überhaupt
Glauben vorhanden ist. Dieser ganz kleine Glaube lohnt sich und kann zu
größten Erfolgen führen.
Es gibt keine einzige Bitte, die Gott nicht erhören könnte – bloß weil der
Glaube so klein war.
202 vgl. Philipp Yancey, Von Gott enttäuscht, Metzingen/Württ., S.16-17.
105
Deswegen sagte Jesus: “Alles ist möglich“. Die Wirksamkeit des Gebetes ist
eben nicht von der Willenskraft oder Glaubenskraft der Menschen abhängig
– sondern nur von der Frage, ob Glauben da ist oder nicht.
Schlimm ist es nur wenn der Gläubige den Glauben ganz fahren lässt, bloß
weil dieser Glaube nur klein ist. “Ein Mensch, der gar nicht glaubt, sondern
zweifelt, soll nicht denken, dass er irgendetwas von Gott bekommen wird.”
(Jak 1,7) Mit dem Zweifel, ob Gott ihn überhaupt beachtet und hört, darf der
Gläubige nicht liebäugeln.
Einst bat ein Vater Jesus, seinem Sohn zu helfen mit den Worten: “Kannst
du aber was, so erbarme dich unser und hilf uns!” Hier kommt Zweifel zum
Ausdruck, den Jesus zurückweist: “Wenn du doch glauben wolltest! Alle
Dinge sind möglich dem, der da glaubt.” (Mk 9,23) Jesus konnte den Jungen
heilen, weil der Vater den Zweifel losließ: “Ich glaube, lieber HERR, hilf
mir in meinem Unglauben!” (V.24)
15. Behauptung: “Durch das Anhören weltlicher Musik kann Besessen­
heit (Dämonen) übertragen werden, die man nur sehr schwer wieder los
wird.”
Fromme Gruppen, die solche Sonderlehren pflegen, begründen ihre rigoro­
sen Verbote gerne mit der Angst vor dämonischen Einflüssen. Sie warnten,
dass der Gläubige keine Musik hören dürfe, deren Rhythmus aus afrika­
nischen Kulten stammt, da andernfalls “Besessenheit” automatisch übertra­
gen werden könne. Verständlicherweise wird das Gewissen in der Folge
jedesmal heftig Alarm schlagen, wenn „afrikanische“ Musik gespielt wird.
Ja, es kann noch schlimmer kommen: die Gewissensnöte entstehen mögli­
cherweise auch bei nicht-afrikanischer Musik, da sich die Musikstile vielfäl­
tig beeinflussen und ihre Herkunft oft nicht einfach festzustellen ist. Weil
von der Vollkommenheitslogik her nur der völlig bedenkenlose Gebrauch
zulässig (Röm 14,23) ist, zugleich aber eine ‘Reinheitsprüfung’ niemals mit
absoluter Genauigkeit durchgeführt werden kann, hat jede „Infektionstheo­
logie“ die zwangsläufige Tendenz zum Totalverbot.
106
In gewissen schmalspurig denkenden Gruppen wird die Auswahl von vorn­
herein sehr eng gefasst. Von einem Gemeindeleiter wird berichtet, dass er
vor Entsetzen außer sich geriet, wenn jemand andere fromme Lieder
anstimmte, als sie in dem von ihm genehmigten Kirchengesangbuch vorge­
geben waren. Keine Frage, dass auch hier die Gewissen leicht beeinfluss­
barer Mitmenschen geprägt wurden.
Eine ähnliche Infektionshysterie hat das Buch von Vance Packard, “Die
geheimen Verführer” ausgelöst. Er zitiert dort einen Zeitungsbericht, in dem
behauptet wurde, dass eine Eiscreme-Firma Werbedias in Kinofilme ein­
fügen ließ, die vom Zuschauer nicht bewusst wahrgenommen wurden. Auf
diese Weise habe sie ihren Umsatz deutlich steigern können. 203
Obwohl Packard durchblicken ließ, dass man an diesem Bericht auch seine
Zweifel haben könne, waren etliche „Strenggläubige“ ihrer Sache desto
sicherer und befürchteten, dass in Filmstreifen einzelne Bilder mit gottlosem
Inhalt eingefügt seien, die der Betrachter nicht sehen könne, die sich aber in
seinem Unterbewusstsein festsetzen würden.
In der Folge wurden auch die harmlosesten Filme von den entsprechend
indoktrinierten Gläubigen als gefährlich betrachtet. Jedoch war die Sensa­
tion nur ein Hirngespinst. Die Wirkungslosigkeit solcher Bildeinfügungen
war schon früher auf verschiedene Weise nachgewiesen worden. 204
Diese zwei Beispiele sollten genügen, um aufzuzeigen, dass das Gewissen
durchaus auch mit haltlosen Behauptungen geprägt werden kann.
Was nimmt man den Menschen alles weg, wenn man alle Musik als giftig
verbietet, die nicht von “Strenggläubigen“ produziert wurde! Wie wohltuend
kann Musik auf die Seele wirken, die von begabten “weltlichen” Kom­
ponisten komponiert wurde!
203 Packard, Vance, “Die geheimen Verführer”, Düsseldorf 1967, S.33-34.
204 R.A.Bauer, “The Limits of Persuasion”, Harvard Business Review, Sep-Okt 1958,
Seiten 105-110 / J.T.Klapper,”The Effects of Mass Communication”, New York,
Free Press, 1960 / Bauer, “The Initiative of the Audience”, Journal of Advertising
Research, Juni 1963, Seiten 2-7.
107
Zugegeben: es gibt manches, was nicht jedem guttut. Der Seele tut es aber
erst recht nicht gut, wenn man jedes Hören von Musik zu einer Angelegen­
heit von Himmel und Hölle macht! Man treibt die Menschen dadurch nur in
eine ständige Ängstlichkeit hinein. Verantwortungslos! Für die seelische
Gesundheit ist das schädlich!
Dem Zusammenhalt einer Sekte nützt es natürlich. Sekten sind typischer­
weise bemüht, bei ihren Mitgliedern eine phobische Weltsicht zu erzeu­
gen, in der alles, was von außen kommt, als böse und bedrohlich emp­
funden wird. Um so ängstlicher drängt sich dann die Herde um den unberu­
fenen “Hirten” und frisst ihm quasi aus der Hand.
Der “Hirte” mag sich selber weiden und rücksichtslos gegen seine Schäf­
chen sein – man bleibt trotzdem bei ihm, denn anderswo soll es ja angeblich
noch schlimmer sein. In der Tat, der fromme Bruder, der mit der Musik
angeblich so genau Bescheid wusste, herrschte in der von ihm gegründeten
kleinen Glaubensgemeinschaft wie ein Diktator.
16. Behauptung: “Zwanghafte Lästergedanken sind ein Beweis, dass der
Gläubige vom Satan besessen ist. Er kann nur durch Exorzismus befreit
werden.”
Es ist doch sonnenklar. Lästerung ist eine Entwürdigung Gottes und wer
anderes als der Satan könnte dahinter stecken? Und wenn der Gläubige diese
Gedanken nicht will, aber dennoch aussprechen muss, so kann doch nur eine
viel stärkere Macht als er selbst in ihm wirksam sein und diese Macht ist
nicht gut, sondern böse!
Tatsächlich? Ein gläubiger Mensch möchte Gott loben und gut von ihm
reden und findet Gedanken, die Gott beschimpfen, natürlich sehr störend.
Doch woher kommen diese Gedanken? Dass man etwas denken muss, was
man nicht denken will, ist ein bekanntes Phänomen. Sagen Sie jemand, dass
er auf keinen Fall an eine große Frauenbrust denken soll, die durch die
Landschaft rollt und er wird sofort und wiederholt daran denken.
108
Und je mehr Energie er darauf verschwendet, eben das nicht zu denken,
desto mehr wird ihn diese Vorstellung beschäftigen. Es ist wie ein Sog. Die­
ser Mechanismus funktioniert mit lustigen, aber auch mit beschämenden und
erschreckenden Gedanken. Die Person Gottes muss dabei gar nicht vorkom­
men.
Die Neigung zu solchen Gedanken kann verstärkt werden durch dazu
passende Erlebnisse. Nehmen wir an, jemand war mit einer sehr attraktiven
Frau liiert, aber leider hat sie sich von ihm getrennt. Je schöner die gemein­
same Zeit war, desto mehr wird dem Betreffenden das sexuelle Defizit
schmerzhaft bewusst. Man darf annehmen, dass ihn deshalb sexuelle Phanta­
sien viel mehr beschäftigen. Wenn jetzt ein Gläubige stark unter religiösen
Zwängen leidet, sich durch vermeintlich biblische, aber unbarmherzige The­
ologie ständig überfordert sieht, und – so sehr er es auch wünscht – Gott gar
nicht mehr als liebevollen Vater, sondern eher als Tyrann empfindet, dann
wird er gegenüber negativen Gedanken über Gott immer weniger Wider­
standskraft haben. Er erkennt diesen Zusammenhang und fühlt sich schuldig,
da er die Forderungen der vermeintlich biblischen Theologie nicht erfüllt.
Würde er sie alle erfüllen, dann könnte er ja auch positiv über Gott denken.
Er erkennt nicht, dass das Gebot, “vollkommen zu sein” (Mt 5,48) gar nicht
erfüllt werden kann, und hat nie erfahren, wie Sätze dieser Art tatsächlich
gemeint sind.
Vollends verzweifelt wird seine Situation, wenn sich die beschimpfenden
Gedanken gegen den Heiligen Geist richten, da er weiß, dass die Lästerung
des Heiligen Geistes 205 eine Sünde ist, die “niemals mehr vergeben werden
kann“. (Mt 12,36) Da er meint, wegen mangelnder Vollkommenheit 206 für
diese Gedanken trotz allen Widerstandes teilweise verantwortlich zu sein,
kreist sein Denken bald ständig um dieses Thema.
Die einzige Möglichkeit, jeden Verdacht einer Mitschuld – der die Seele
unheilbar belasten würde – auszuschließen, ist die sofortige Korrektur des
Gedankens.
205 Siehe in diesem Kapitel die 9.Behauptung „ “Man kann durch ein einziges unüber­
legtes Wort in die Hölle kommen.”, Seite 88.
206 Siehe in diesem Kapitel die 3 Behauptung „“Wenn wir nur wollen, können wir die
Sünde lassen.“, Seite 50.
109
Wenn er immer sofort das Gegenteil gedacht hat, dann hat er sich und Gott
den Beweis erbracht, dass er die Lästerung nicht wollte. Nur so kann er sei­
nen Seelenfrieden retten. Seine große Angst ist, dass Gott eine einzige aus­
bleibende Korrektur als Zustimmung werten konnte.
Man kann sich leicht vorstellen, wie extrem stark der Sog solcher Gedanken­
gänge und wie grausam diese ständig überfordernde Zwangslage ist. Fak­
tisch ist es aber derselbe Mechanismus, den es auch in harmloser Form bei
jedem Menschen gibt.
Solche Ängste sind nur möglich, wenn der Gläubige kein verlässliches, posi­
tives Gottesbild bilden konnte. Das Gottesbild wird geprägt durch die
Theologie, aber auch durch die Biographie.
Einem Menschen, der ein weitgehend störungsfreies Leben führen durfte,
fällt es nicht schwer, an einen freundlichen und liebevollen Vater im Him­
mel zu glauben. Ein Mensch dagegen, der immer wieder von Schicksals­
schlägen verfolgt wurde, empfindet sich sehr schnell als “verflucht” und
Gott als entsprechend fern und ablehnend. Umso wichtiger ist es,
Abstand zu schädlicher und verzerrender Theologie zu halten.
Menschen, die in dieser Situation stehen, wird ein Exorzismus nicht helfen.
Besonders muss man davor warnen, einen Exorzismus gegen den Willen des
Betroffenen durchzuführen, da man ihn damit aufs Äußerste entwürdigt und
ihn als willenloses Stück Fleisch sieht, eine Marionette, die von bösen Gei­
stern bewegt wird.
Das Neue Testament berichtet, dass Jesus den bösen Geistern gebot und sie
daraufhin ausfuhren. Auch von Paulus wird Ähnliches berichtet (Apg
16,18). Doch es ist sicherlich angebracht, darauf hinzuweisen, dass Jesus als
der Sohn Gottes und die von ihm bestimmten Apostel eine besondere Auto­
rität hatten. Mit dem Kopieren der Austreibungsformel ist es sicherlich nicht
getan. Um den Satan auszutreiben, muss er überhaupt erst einmal in den
Betreffenden hineingefahren sein. Wenn das nicht der Fall ist, sondern wenn
es sich nur um eine Verklemmung der Seele handelt, dann sind solche Ver­
suche überflüssig und möglicherweise sogar schädlich.
110
17. Behauptung: “Das Textverständnis, das sich am engsten an den
Wortlaut hält, ist das beste.”
Selbstredend ist die Grundlage des seriösen Bibelstudiums das sorgfältige
Lesen des Urtextes oder von Übersetzungen, die sich eng am Urtext orientie­
ren.
Doch das reicht für eine Interpretation nicht immer aus. Denn biblische Aus­
sagen sind nicht gleichwertig. Sie stehen in einer Rangfolge. Aussagen mit
geringerem Rang sind im Lichte höherwertiger Aussagen zu deuten.
Höchste Autorität haben die Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi: Barmherzigkeit,
207
Gerechtigkeit, 208 Ehrlichkeit 209 (Mt 23,23). Man kann keinen biblischen
Satz richtig einordnen, wenn man dabei diese Maßstäbe nicht berücksichtigt.
Ergänzend sollte man beachten, dass es nicht genügt, über diese Maßstäbe
theoretisch nachzudenken. Wenn der Übersetzer ihren tieferen Sinn erfassen
will, dann sollte er sie in seinem täglichen Verhalten, insbesondere im
Umgang mit Andersdenkenden 210 respektieren.
Die Funktion des Buchstabens illustriert ein schöpfungsgemäßes Inspirati­
onsmodell. Der Buchstabe enthält das Leben nicht selbst. Er selbst gibt kein
Leben, sondern “tötet“. (2.Kor 3,6). Aber wenn der Gläubige sich um die
Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi bemüht, die geistliches Leben aufschließen,
kann der Buchstabe selbst wieder zu Leben und Wachstum beitragen.
Es gibt hier eine Ähnlichkeit mit dem biologischem Leben. Die DNS selbst
lebt nicht. Sie ist ein Eiweißmolekül, das für das Leben wesentliche Infor­
mationen enthält. Aber wenn die DNS eingebettet wird in eine lebendige
Zelle, wenn sie mit Leben verbunden wird, dann beginnt sie zu arbeiten und
ihre Informationen kommen dem Leben und dem Wachstum zugute. Kommt
die DNS nicht in eine lebende Zelle, wird sie ein lebloses Eiweißmolekül
bleiben. Nichts wird geschehen.
207 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet).
208 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit”
(δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188.
209 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis”
(πιστις) in Mt 23,23 ... mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdig­
keit” übersetzt?“, Seite 190.
210 Siehe S.209.
111
Offensichtlich lehrt uns das inspirierte Wort Gottes, die Rangordnung seiner
Aussagen als unveränderliche Eigenschaft zu erkennen und zu respektieren.
Um die tatsächliche Bedeutung einer Aussage zu erschließen, müssen wir als
erstes eine Verbindung zu den Qualitätsmaßstäben Christi herstellen.
Auf diese Weise schützt das inspirierte Wort Gottes seine Autorität gegenü­
ber Auslegern, die Auslegung als pure Denksportaufgabe betrachten, die mit
linguistischen und theologischen Instrumenten zu lösen ist. Viele Gläubige
meinen ja, dass deshalb ein Professor oder Doktor der Theologie die Heilige
Schrift am besten auslegen könne.
Wenn wir der Schrift glauben, dann müssen wir entgegnen: auch wenn wir
gewiss von mancherlei Detailkenntnissen der Theologie profitieren, versteht
ein Professor oder Doktor der Theologie die Bibel so schlecht oder so gut
wie andere Gläubige auch. Erkenntnis Gottes hängt nicht vom Wissen ab,
sondern vom Geist Gottes. Deswegen sagt Jesus auch: “ihr sollt euch nicht
“Lehrer” nennen lassen. Ihr seid alle Brüder” (Mt 23,8) und Paulus sagt
durch den Heiligen Geist: “der geistlich gesinnte Gläubige beurteilt alles.”
(1.Kor 2,15). Der Heilige Geist kann einen Laien mit besonderem Bibelver­
ständnis begaben. Wer eine intellektuelle Schulung oder Ausbildung über
die Erläuterungen solcher Laienboten 211stellt, versteht von biblischer Inspi­
ration wenig bis gar nichts.
Das Gegenteil ist wahr. Die Bibel hat ihre spezielle Weise, intellektuellem
Hochmut zu widerstehen. Sie zeigt uns in vielen Beispielen, dass geistloser
Intellektualismus immer wieder haarsträubenden Unsinn oder gefährliche
Halbwahrheiten erzeugt. “Gott widersteht den Hochmütigen. Aber den
Demütigen schenkt er seine Gnade.” (Jak 4,6)
Eine wortwörtliche Auslegung, die allen Textteilen gleichen Rang zuer­
kennt, führt zu keinem sinnvollen und praktikablen Verständnis von 1.Kor
6,1-6. Die Ermahnung des Paulus, Rechtskonflikte durch Gläubige entschei­
den zu lassen, wird deshalb traditionsgemäß in bibeltreuen Gemeinden igno­
riert. (“Dilemma“ 212)
Mit einem wortwörtlichen Verständnis von Phil 2,12 läßt sich sogar die
Sünde der Werkgerechtigkeit als heilige Pflicht rechtfertigen.
211 Siehe unter Stichworte“ den Artikel „Laienbote“ (Internet)
212 Siehe den Abschnitt „Dilemma“, Seite 159.
112
Eine sklavisch am Buchstaben klebende Interpretation der Worte Jesu über
die Ehescheidung kann notwendige Maßnahmen der Gemeindezucht 213
unglaubwürdig und unwirksam machen.
Mit Hilfe der Qualitätsmaßstäbe Jesu erkennen wir, dass heute die Anwei­
sungen des Paulus und des Petrus zur Sklaverei (1.Tim 6,1-2 / 1.Pe 2,18)
nicht mehr verbindlich sind und wir fragen nach den Gründen, warum sie
damals mit diesen Maßstäben verträglich waren.
Wäre das nicht so, dann müssten wir heute die Sklavenhaltung in mosle­
mischen Ländern sowie die Sklaverei der Kinder in Indien nicht nur als gott­
gegeben tolerieren, sondern sogar unterstützen.
Anderes Beispiel. Paulus schrieb: “Es hat einer ihrer eigenen Propheten
gesagt: “Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche.”
Dieses Zeugnis ist wahr.” (Tit 1,12-13) Das ist ziemlich genau Wort für
Wort übersetzt.
Fahre nie nach Kreta! Dort wirst du nur betrogen und belogen!
Tatsächlich ? Wie könnte man die Sätze treffender wiedergegeben?
Ein Versuch: “Mancher von euch wird das Paradoxon des griechischen
Denkers (Epimenides) kennen, der sagte: “ein Kreter sagte: ein Kreter lügt
immer.” Seht ihr den Widerspruch? So gibt es Leute, bei denen weiß man
nie, woran man ist. Sie sind nicht nur ans Lügen gewöhnt, sondern sie sind
zudem gefährlich wie Raubtiere und immer zu faul, wenn es darum geht, das
Richtige zu tun.”
Wie man sieht, haben die Empfänger des Paulusbriefes Kenntnisse, die man
für den Leser heute ergänzen muss, wenn er die Sätze richtig verstehen will.
Wörtliche Auslegung hat zu dem gefährlichen Missverständnis geführt, dass
der Gläubige keinen Arzt konsultieren dürfe 214und Heilung nur von Gott
erwarten dürfe.
213 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Gemeindezucht“, (Internet).
214 Siehe die 14. Behauptung “Bei Krankheit den Arzt zu holen, ist ein Beweis man­
gelnden Gottvertrauens“, Seite 105.
113
Noch grotesker ist das Missverständnis, zu dem wörtliche Interpretation von
Mk 16,18 geführt hat. Dort heißt es: “Die Zeichen, die denen folgen, die
glauben, sind folgende: in meinem Namen werden sie Dämonen austreiben,
in neuen Sprachen reden, Schlangen vertreiben und falls sie ein tödliches
Gift trinken, wird es ihnen nicht schaden…” Rund 100 Kirchen pfingstle­
rischer Ausrichtung in Tennessee und benachbarten Bundesstaaten im Süd­
osten der USA hantieren unter Berufung auf das Markus-Evangelium im
Gottesdienst mit Giftschlangen, um ihre Glaubensstärke zu demonstrieren.215
Ein neues Opfer dieser wahrlichen “giftigen Theologie” war der Prediger
Jamie Coots, der in den USA durch die TV-Serie “Snake Salvation” bekannt
wurde. Auch er hantierte er im Gottesdienst mit Schlangen herum und starb,
nachdem er ärztliche Behandlung nach einem Biss zurückgewiesen hatte.216
Immer wieder hört man von solchen Beispielen destruktiver Schriftausle­
gung. Es gibt eine Internetseite, die für diese Philosophie werben darf. 217
Weiter ist zu beachten, dass der Wortlaut den irreführenden Eindruck ver­
mitteln kann, dass es keine einzige Ausnahme gibt (biblischer Pauschalstil
218
1). Die Gesamtaussage der Bibel muss bei der Interpretation einer Bibel­
stelle berücksichtigt werden, wobei die Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi
höchste Priorität haben.
Daraus folgt auch, dass die sinnvolle Verwendung eines Wortes oder
Satzes von der Bedeutung abweichen kann und darf, die sich aus dem
Zusammenhang ergibt.
Beispiel: In 1.Tim5,17 werden die Gläubigen ermahnt, die Ältesten, die gute
Arbeit leisten, "zweifacher Ehre wert zu halten". Der vorangehende und der
folgende Vers spricht über die materielle Versorgung, sodass manche Ausle­
ger hieraus geschlossen haben, dass Älteste nach dem Willen Gottes dop­
peltes Gehalt zu beanspruchen hätten im Vergleich zu anderen Gemeindemi­
tarbeitern.
215 http://aktuell.evangelisch.de/artikel/91409/keine-anklage-gegen-schlangen-pastorden-usa, (eingestellt am 10.01.2014).
216 (http://www.youtube.com/watch?v=ZZUdKAYdeeU, (eingestellt am 18.02.2014).
217 http://holiness-snake-handlers.webs.com/.
218 siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Biblischer Pauschalstil“ (Internet).
114
Andererseits ermahnt Paulus ein Kapitel weiter, dass Timotheus wie auch
allgemein Gläubige sich an "Nahrung und Kleidung genügen lassen sollten"
(1.Tim.6,8), weil aus der Frömmigkeit "kein Gewerbe" gemacht werden darf.
Was stimmt denn nun ? Man kann natürlich vermuten, dass in Ephesus die
Prediger bisher sehr kläglich bezahlt wurden und durch eine Verdoppelung
dieses Defizit aufholten.
Von etlichen Auslegern aber wird die Mahnung des Paulus gerne verallge­
meinert: Predigern und Ältesten steht doppeltes Gehalt zu. Tatsächlich ?
"Gute Arbeit" mit einem hohen Einkommensvorsprung zu belohnen, steht
mit der Tatsache in Widerspruch, dass sich gute Arbeit eben besonders
durch Uneigennützigkeit auszeichnet. Paulus weist genau darauf hin, damit
die Gemeinde in Korinth die erbärmlichen Motive seiner Konkurrenten in
Korinth erkennt.
Wie sollte man auch "gute Arbeit" definieren ? Soll man Bekehrungen zäh­
len, die möglicherweise durch das Zusammenwirken von mehreren Gläu­
bigen zustandegekommen sind ? (1.Kor 3,6) Ist die harte Arbeit von Street­
workern und Diakonen z.B., die sich verstärkt um Menschen in sozialen
Notlagen mühen, weniger "gute Arbeit" ?
Wird der Gemeinde auferlegt, den Zehnten zu geben, so ist die Gewährung
doppelten Lohnes sehr unfair. Armen Gläubige wird auferlegt, von dem, was
für einfachste Bedürfnisse der Familie kaum ausreicht, 10% abzugeben,
damit Gemeindeälteste über diesen Bedarf hinaus Luxuseinkommen anhäu­
fen können. Hat Paulus das in der Tat empfohlen ? Nach dem Wortlaut
könnte man das meinen, doch sicherlich hat er das nicht gemeint: es wäre ein
klarer Verstoß gegen den Qualitätsstandard der Fairness.
Wir stellen immer wieder bedauernd fest, dass die üblichen Modelle der
Schriftinspiration die überragende Bedeutung der Qualitätsmaßstäbe Jesu für
die Auslegung sträflich vernachlässigen und folglich gegen wörtliches
destruktives Missverstehen unzureichend abgesichert sind.
115
18. Behauptung: “Die ethischen Aussagen des Neuen Testamentes haben
alle die gleiche Autorität. Der Gläubige muss sie alle einhalten, wenn er
nicht ungehorsam sein will.”
Unterschiedliches Gewicht von Aussagen ist im biblischen Text selbst fest­
zustellen: Paulus differenziert zwischen einem ausdrücklichen Auftrag, den
ihm der Herr gegeben hat, und seiner eigenen Meinung, die er gut begründet
hat (1.Kor 7,12). Während auf dem Apostelkonvent noch der Verzehr von
Götzenopferfleisch ausnahmslos verboten war (Apg 15), erlaubte ihn Paulus
später unter der Bedingung, dass das Gewissen des schwächeren Bruders
nicht überfordert wird. (1.Ko 11,29-30)
Auch in bibeltreuen Gemeinden werden manche biblischen Aussagen nicht
beachtet. Also wird ihnen keine Bedeutung zugemessen. Viele Gläubige hal­
ten es für besser, sich nicht danach zu richten: z.B. nach dem Gebot, dass
Frauen beim Gebet einen Schleier tragen sollen (1.Ko 11,5). Wie Paulus
sagt, soll diejenige Frau, die ohne Schleier auftritt, kahl geschoren werden:
“man schneide ihr das Haar ab!” Ob es jemals eine Gemeinde gab, die die­
ser rabiaten Empfehlung folgte, ist nicht bekannt.
Paulus ermahnte, dem Zungenreden “nicht zu wehren“. (1.Kor 14,39) und
wünschte sich, dass die ganze Gemeinde diese Gabe hätte (1.Ko 14,5).
In sehr vielen bibeltreuen Gemeinden ist genau das Gegenteil der Fall. Auch
dieses Gebot wird nicht so wichtig genommen wie andere Gebote des Neuen
Testamentes.
Es ist schlecht für die Glaubwürdigkeit der Ethik, ein Bibelwort nur deshalb
nicht zu beachten, weil man durch die Tradition an die Missachtung
gewöhnt ist. Wenn gute Gründe für die eigene Überzeugung entbehrlich
sind, weil man alles nur so machen soll, wie es immer war, dann macht man
die Ethik zu einer Geschmacksfrage.
Wie will man dann junge Menschen überzeugen, dass die biblische Ethik
glaubwürdig ist? Die Jugend hat noch sich noch nie nach dem Geschmack
der älteren Generation gerichtet.
116
Durch die willkürliche, unbegründete Aufhebung eines biblischen
Gebotes wird nicht nur die Ethik zur Geschmacksfrage herabgewürdigt, son­
dern man macht sich damit selbst zum Papst, zum Mode-Papst, der ande­
ren vorschreibt, welchen Geschmack sie haben müssen.
Diese Selbstüberhebung fordert den Widerspruch aller Gläubigen heraus, die
sich nicht verpflichtet fühlen, die “Papst-Allüren” eines Gläubigen zu unter­
stützen.
Wenn ein einzelner meint, ein biblisches Gebot willkürlich aufheben zu kön­
nen, dann muss er dieses Recht auch allen anderen zugestehen. Dies ent­
spricht dem Grundsatz der Gerechtigkeitsliebe 219 und Fairness, den Jesus für
äußerst wichtig hielt (Mt 23,23) Damit wäre aber die Ethik aufgelöst.
Daraus folgt, dass eine willkürliche Aufhebung auch eines gering erschei­
nenden biblischen Gebotes nicht erlaubt ist, sondern in jedem Fall mit
einem höherrangigen Gebot begründet werden muss.
Da Aussagen des Neuen Testamentes unterschiedliches Gewicht haben kön­
nen, stehen sie in einer Rangfolge, and deren Spitze die Qualitätsmaßstäbe
Jesu Barmherzigkeit, 220 Gerechtigkeit, 221 und Ehrlichkeit 222 stehen.” (Mt
23,23).
Es darf nicht sein, dass in bibelteuen Gemeinden Gebote unter den Tisch fal­
len, die diesen höchsten Maßstäben entsprechen: z.B. das Gebot, “alles zu
prüfen” (1.Thes 5,21), oder das Gebot, sich für den Schutz der Schwächsten
vor Unrecht einzusetzen (Jes 1,12ff / Mt 25,45) oder das Gebot, ehrlich
Rechenschaft zu geben. (2.Kor. 7,2)
219 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 9. Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit”
(δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188.
220 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet).
221 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 9. Abschnitt („Gerechtigkeit“), Seite 188.
222 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 10. Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis”
(πιστις) in Mt 23,23 ... mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdigkeit” über-setzt?“, Seite 190.
117
Wer diese Gebote geringachtet, muss, wenn er die Einhaltung der traditionell
üblichen Gebote durchsetzen will, sehr bald auf die manipulativen Methoden
223
derer zurückgreifen, die wenig geistliche Autorität haben. Das erzeugt
immerfort Spannungen und Spaltungen, wohingegen sich Gläubige auf der
Basis biblischer Argumente und Prioritäten verständigen und respektieren
können.
19. Behauptung: Die strengere und härtere Interpretation eines Gebotes
ist in jedem Fall die bessere.
(siehe hierzu Gegenbeispiele: “In Ordnung bringen“ 224, “Missionsschuld“ 225
, “kleine Sünde“ 226, “Lohn“ 227, “Gelübde“228, “Prügeln“ 229)
Für Jesus war eine möglichst strenge Auslegung nicht automatisch die bes­
sere Auslegung. Er legte das Alte Testament so aus, dass der lebensför­
dernde Sinn (Mt 4,4) aufgeschlossen wurde: “Der Mensch ist nicht gemacht
um des Sabbats willen, sondern der Sabbat um des Menschen willen.”(Mk
3,27)
Die Pharisäer und Schriftgelehrten bevorzugten eine perfektionistische Aus­
legung.
Sie legten fest, was alles am Sabbat als Arbeit anzusehen ist und nicht getan
werden durfte. Sie legten die Anzahl der Schritte fest, die man am Sabbat
gehen durfte und entschieden die Frage, ob man ein Licht anzünden dürfe
usw. Sie meinten, dass sie am besten erkennen konnten, ob ein Mensch Gott
gehorsam war oder ob er gegen Gott sündigte.
223 Siehe das Kapitel „Tricks“, (Internet).
224 Siehe die 1. Behauptung “Gott erwartet vom Gläubigen, dass er jede erkannte
Sünde nachträglich in Ordnung bringt“, Seite 41.
225 Siehe die 8. Behauptung „Wer seine Mitmenschen nicht missioniert...“, Seite 86.
226 Siehe die 2 Behauptung „Kleine Sünden sind genauso schlimm wie Verbrechen“ ,
Seite 45.
227 Siehe die Behauptung „Je mehr du für Gott an Geld und Zeit opferst“ , Seite 77.
228 Siehe Seite 96.
229 Siehe die Behauptung „Prügeln ist ein unentbehrliches Erziehungsmittel des
Christen.“, Seite 123.
118
Jesus warf ihnen vor, dass sie die wichtigsten Gebote “Barmherzigkeit,
Gerechtigkeit und Verlässlichkeit” (Mt 23,23) als nebensächlich betrachte­
ten. Dadurch wird man geistlich blind, zum “blinden Blindenleiter“, der
andere zur Grube führt und mit ihm zusammen hineinfällt (Mt 15,14). Jede
Auslegung, die diese Maßstäbe als nebensächlich ansieht, verbreitet diese
Blindheit.
20. Behauptung: “Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes”
Die These, dass das Gewissen die „Stimme Gottes“ repräsentiere und
„objektiver Maßstab“ sei, geistert immer noch in etlichen Köpfen herum. Sie
lässt sowohl durch die Bibel selbst als auch durch einfachste Erfahrung
widerlegen.
Zunächst der biblische Beweis. Gott befahl Petrus, unreines, d.h. nach dem
mosischen Gesetz verbotenes Fleisch zu essen. Petrus weigerte sich, wie sich
jeder fromme Jude aus Gewissensgründen geweigert hätte. Aber Gott ant­
wortete ihm: „Was Gott gereinigt hat, das nenne du nicht verboten.“ (Apg
10,15) Das Gewissen des Petrus hat also nach Gottes ausdrücklichem Befehl
falsch reagiert.
Ein zweites Beispiel: manchen Gläubige verbot das Gewissen, Götzenopfer­
fleisch zu essen. Paulus kommentiert: „Ich weiß und Jesus der Herr bestä­
tigt es mir, dass uns keine Nahrung von Gott trennt, weil sie unrein ist, Wer
aber etwas für unrein hält, für den ist es tatsächlich unrein.“ (Röm 14,14)
Das Gewissen meldet also keinen objektiven Zustand „Vorsicht! Unrein!“,
sondern das Handeln gegen das Gewissen macht immer unrein, egal ob es
richtig oder falsch anzeigt. Das Gewissen aber kann durchaus durch über­
zeugende Argumente „umgeprägt“, neu orientiert werden.
Überzeugende Argumente liefern sowohl Gott in der Vision, die er Petrus
schenkte, als auch Paulus in seinem Brief.
Welche Funktionen hat das Gewissen?
119
Das Gewissen ist ein vom Schöpfer der Seele eingepflanzter Mechanismus,
der gewöhnlich durch Erziehung, d.h. durch die Vermittlung der elterlichen
Normen „programmiert“ wird. Diese elterlichen Normen befinden sich auch
i.d.R. im Einklang mit den Normen des sozialen Umfeldes, in dem die Fami­
lie lebt. Verstoß gegen die Normen löst Unwohlsein und Stress aus und den
Wunsch, das Verhalten wieder den Normen anzunähern.
Solche Orientierungen brauchen oft nur den Bruchteil einer Sekunde. Indem
der Mensch in moralischen Fragen instinktiv handeln kann, kann er sich
zeitraubende Analysen sparen. Zu bedenken ist hier auch, dass Kinder sol­
che Analysen z.T. noch gar nicht leisten können. Das ist also die erste Funk­
tion des Gewissens: die Entlastung des Denkens.
Die andere Funktion ist die der Alarmsirene. Das Gewissen macht sehr
starken Druck, wenn der Mensch ein Verhalten erwägt, das für die soziale
Gemeinschaft, in die er eingebunden ist, völlig inakzeptabel ist: ein Tabu­
bruch, eine Schändlichkeit oder gar ein Verbrechen.
Auch hier ist zu differenzieren. Es gibt Taten, die in jeder Kultur Verbrechen
sind: z.B. Mord oder Diebstahl (innerhalb der eigenen Gruppe wenigstens).
Bei Schändlichkeiten sieht es schon ganz anders aus. Das, was in einer Kul­
tur schändlich ist, kann in einer anderen ganz harmlos sein. Dazu wieder ein
Beispiel aus der Bibel: ein Mann in Israel, der sich weigerte, die Frau seines
verstorbenen Bruders zu heiraten, handelte höchst ehrlos. Ihm durfte ins
Gesicht gespuckt werden. (5.Mo 25,5-10) Zweifelsohne hat das Gewissen
hier auch entsprechend reagiert. Heute ist das überhaupt keine Gewissens­
frage mehr!
Warum nun ist das Handeln gegen das Gewissen schädlich? Das Gewissen
wird gebildet durch einen Überzeugungsprozess, den in erster Linie die
Eltern aber auch das soziale Umfeld mitverantworten zum Zwecke automa­
tischer Orientierung.
Gegen das Gewissen handeln, heißt daher gegen seine Überzeugung
handeln, und das ist selbstzerstörerisch. Dafür ist der Mensch nicht geschaf­
fen. Er soll ehrlich, konsequent und seiner Überzeugung treu bleiben.
120
Der frühere Überzeugungsprozess kann jedoch de facto auf schlechten
Argumenten beruhen, also Irrtümer enthalten. Deswegen ist es legitim, mit
besseren Argumenten eine stärkere Überzeugung zu bilden, die die frühere
ablöst.
Dann handelt der Mensch zwar anders, im Widerspruch zu dem, was er frü­
her glaubte, aber wieder im Einklang mit seiner Überzeugung. „Ein jeder sei
seiner Meinung gewiss!“ (Röm 14,5) Beispiele sind – wie gesagt – Petrus
und Paulus!
Also ist das Gewissen ein von Gott geschaffenes Instrument der Seele, mehr
nicht. Die Frage, wann dieses Instrument sinnvoll angewendet wird bzw. wie
es bei Kindern zu „programmieren“ ist, muss jeder Mensch selber glaubwür­
dig – in Übereinstimmung mit seinem aktuellen Wissensstand – beantwor­
ten.
Man braucht wirklich keine besondere Wissenschaft, um festzustellen, dass
das Gewissen fast in beliebiger Weise programmiert werden kann. Wenn
man über den eigenen Tellerrand hinausschaut, dann kann man die spezi­
fische Prägung des Gewissens in verschiedenen Kulturen wahrnehmen. Sol­
che Unterschiede gibt es zudem bereits innerhalb der eigenen christlichen
Kultur. Einige über das biblisch Gebotene hinausgehende Vorschriften, an
denen sich selbstverständlich auch das entsprechend geeichte Gewissen ori­
entiert, habe ich bereits genannt.
Ein weiteres besonders skuriles Beispiel einer Fehlprägung des Gewissens
ist unter dem Punkt “Kann weltliche Musik Besessenheit übertragen ?” 230
nachzulesen.
Halten wir fest: das Gewissen tut nicht mehr und nicht weniger, als Gehor­
sam entsprechend dem augenblicklichen Erkenntnisstand einzufordern.
Seine Aufgabe ist, für die Übereinstimmung von Denken und Handeln zu
sorgen. Das durch das Gewissen erzwungene Handeln aber kann falsch sein,
wenn das Denken bereits fehlerhaft war.
230 Siehe Seite 106.
121
Sehr merkwürdig: warum meldet sich das Gewissen sich nicht, obwohl
die von der Bibel ausdrücklich gebotene Fürsorge für die Ausländer in etli­
chen “bibeltreuen” Gemeinden höchst mangelhaft oder gar nicht vorhanden
ist? Warum meldet es sich nicht, wenn kein Gemeindeschiedsgericht – wie
in Mt 18,17 befohlen – eingerichtet wird und Gläubige auf ihrem Schaden
sitzen bleiben? Warum meldet es sich nicht, wenn man „evangelikalen Femi­
nismus“ anstelle der biblischen Eheordnung als Richtschnur für die Ehen
anzusehen beliebt?
Vom Gewissen zu unterscheiden ist das Schamgefühl. Das Schamgefühl ist
ebenfalls kein Beweis für die Sündhaftigkeit des Verhaltens.
Auch der nach dem Maßstab der Bibel untadelige Geschlechtsverkehr wird
nicht vor aller Augen auf der Terrasse vollzogen – was das Schamgefühl
verletzen würde! -, sondern braucht einen geschützten Raum. Warum haben
nicht wenige Eltern Mühe, ihre Kinder aufzuklären? Weil sexuelle Aufklä­
rung überflüssig und schändlich ist? Warum stehen Porzellanklosetts nicht
völlig frei in der Landschaft, sondern befinden sich stets in einem Toiletten­
häuschen? Weil die Darmentleerung etwas Sündhaftes ist? Es existierte um
die Zeit der Zeitenwende eine religiöse Gruppe, die sich aus religiösen
Gründen bemühte, die Darmentleerung zu unterdrücken. Flavius Josephus
schreibt über die Essäer, die strengste ordensartige Judensekte, dass sie den
Sabbat noch strenger als alle anderen Juden beachten und es deshalb nicht
einmal wagen, an diesem Tag ihre Notdurft zu verrichten.
Wenn man einen Menschen als Gast hat, der völlig ausgehungert ist und der
deshalb schlingt „wie ein Scheunendrescher“, dann guckt man ebenfalls
nicht allzu sehr hin. Des weiteren entsteht Schamgefühl, wenn man sich bei
der Erledigung einer beruflichen Aufgabe besonders dumm angestellt hat.
Taktvolle Kollegen überspielen dann die peinliche Situation.
All diesen Ereignissen ist gemeinsam, dass sich der Mensch hier von seiner
schwachen Seite zeigt, mit einfachen Bedürfnissen, die er mit den Tieren
gemeinsam hat, oder anderen allzumenschlichen Mängeln. Ein schwacher
Mensch ist verwundbar. Boshafte Menschen nutzen deshalb solche Situati­
onen. Zum Schutz vor ihnen ist dem Menschen das Schamgefühl gegeben.
122
Natürlich entsteht Schamgefühl auch anlässlich falschen Verhaltens, aber
der Umkehrschluss ist falsch! Man kann sich durchaus auch für etwas schä­
men, was – sachlich gesehen – gar nicht schändlich oder falsch gewesen ist.
Man kann sich sogar für seinen christlichen Glauben schämen, was man –
objektiv gesehen – nicht tun sollte (Mark 8,38 / Rö 1,16).
Gewissen und Schamgefühle gehören quasi zur „Exekutive“ (zur ausführen­
den Gewalt) der Seele, nicht zur „Legislative“ (zur gesetzgebenden Gewalt).
Sie sind gewissermaßen die Polizei der Seele. Die Polizei setzt die Gesetze
durch. Sie wendet sie an. Aber sie macht die Gesetze nicht.
Das, was richtig ist und was falsch, wird von der Regierung bzw. der verfas­
sungsgebenden Volksvertretung festgelegt. Als Regierung der Seele kann
man die Erkenntnis des Menschen betrachten, seine Überzeugung. Um
Überzeugung zu bilden, muss man gute Argumente bringen. Stehen zwei
konkurrierende Gesetze zur Auswahl, zählt nur eines: für welches Gesetz die
besseren Argumente sprechen. Überzeugende Argumente aber lassen sich
besser der Bibel als der diffusen Gefühlswelt entnehmen.
21. Behauptung: “Die Körperstrafe (Prügeln) ist ein unentbehrliches
Erziehungsmittel des Christen.”
“Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der
züchtigt ihn bald.” (Spr 13,24). Da steht es ja! Man soll die Rute nicht
“schonen“. Wer drauflos prügelt und dabei mehrere Ruten verbraucht, der
hat am besten verstanden, was Gott mit “Liebe” meint? Tatsächlich?
Wer die Bibel wörtlich verstehen will, der sollte auch andernorts genau
lesen. Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth: “Soll ich mit der Rute zu
euch kommen oder mit Liebe und Sanftmut?” (1.Ko 4,21). Es gibt wohl kei­
nen einzigen Ausleger, der die Ansicht vertritt, dass Paulus tatsächlich mit
einer Rute im Gepäck nach Korinth reisen und die Gläubigen durchprügeln
wollte. Die Rute ist nur ein Symbol (!) der Bestrafung, die – bei schlimmem
Fehlverhalten – entsprechend streng ausfallen kann.
123
Deswegen trifft diese Übersetzung den tatsächlichen Sinn am besten: “wer
seinen Sohn nicht für böses Verhalten bestraft, der hasst ihn; wer ihn aber
liebhat, der weist ihn zurecht.”
Die Israeliten waren damals ein Volk von Viehzüchtern und Ackerbauern.
Deshalb illustriert die Bibel so manche Glaubenswahrheit mit Beispielen aus
der Landwirtschaft. Gott wird mit dem Hirten verglichen, der den “Stecken”
gebraucht, um seine Schafe “zum frischen Wasser zu führen“. (Ps 1)
Es hat wenig Sinn, einem Schaf oder einem Rind, das von der Weide weg­
läuft, um auf dem Feld des Nachbarn zu fressen, einen belehrenden Vortrag
zu halten, dass man fremdes Eigentum respektieren müsse. Der Hirte kann
nur mit einem unangenehmen Zwangsmittel, einem Stecken oder einem
Schäferhund, auf das Tier einwirken.
Daraus muss man aber nicht schließen, dass man seine Kinder wie Tiere
behandeln und ggf. prügeln müsse. Es gibt wirksamere und würdigere
Zwangsmittel, um Einsicht zu erzeugen.
Wie wichtig es ist, angemessen zu bestrafen, zeigt die Geschichte des Prie­
sters Eli im Alten Testament. Seine Söhne, die ebenfalls Priester waren,
vergingen sich an den Frauen im Tempel und stahlen von den Opfergaben.
Anstatt sie – was angemessen wäre – sofort vom Tempeldienst zu suspendie­
ren, beließ es Eli bei einem milden Tadel: “Nicht doch, meine Söhne. Was
ich über euch gehört habe, das ist nicht gut. Ihr verleitet das Volk Gottes
zum Ungehorsam.” (1.Sam 2,24) Auch nachdem ihn ein Prophet ermahnt
hatte, konnte er sich nicht zu strengen Maßnahmen durchringen. Die Folgen
waren verheerend.
In unserer Zeit hat der gänzliche Verzicht auf Zurechtweisung in Form der
antiautoritären Erziehung zu moralischer Haltlosigkeit geführt und die Mög­
lichkeit, sich Gott zuzuwenden, aufs Äußerste erschwert.
Bei etlichen Menschen mag aber dieser Irrweg eine Reaktion auf das Erlei­
den einer primitiven Prügelpädagogik gewesen sein, deren Autorität nicht
mehr auf dem Vorbild und überzeugenden Argumenten, sondern im wesent­
lichen auf brutaler Einschüchterung beruhte.
124
Erziehung braucht Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Fehlt diese,
dann kann man das Defizit auch nicht durch körperliche Gewalt ausgleichen.
Zweifellos werden sich Kinder dann ihren Eltern äußerlich anpassen,
solange sie anwesend sind. Sobald die Kinder aber mit ihren Freunden unter
sich sind, werden sie sich nicht mehr an diese Normen halten – und später im
Leben auch nicht. Das ist nur konsequent. Wenn die Eltern keine Überzeu­
gungskraft haben, dann heucheln sie. Warum soll das Kind dann nicht auch
heucheln dürfen? Das, was die Eltern tun, hat immer viel mehr Gewicht als
das, was sie sagen.
Es muss davor gewarnt werden, das Kind immer und immer wieder durch
Androhung von Prügel in Angst zu versetzen. “Warte, bis Papa nach
Hause kommt, dann kannst du was erleben…” Wenn die Theologie das
schlechte Gewissen überstrapaziert, verknüpften sich solche Ängste zu leicht
mit dem Bild eines Gottes, zu dem man kein Vertrauen mehr fassen kann,
weil man ständig Angst hat. Ständige Angst macht selbstbezogen und liebes­
unfähig, auch unfähig, den Segen der göttlichen Gebote zu erkennen.
Ohne Strafen geht es nicht. Ausschluss von einer schönen Unternehmung,
Kürzung des Taschengeldes, Wegsperren der Musikanlage oder des Handys
und dergleichen mehr sind wirksam genug, erzeugen aber keine Angst. Sol­
che Strafen sind auch nachvollziehbar. Das Kind hat kein eigenes Einkom­
men. Alles was es hat, verdankt es seinen Eltern. Das, was es zurückgeben
kann, ist Respekt und Gehorsam und wenn das fehlt, dann müssen die Eltern
dieses Verhalten nicht mit weiterer Großzügigkeit belohnen.
Arbeitsaufträge als Strafe sind umstritten, da es ein Vorrecht ist, arbeiten zu
dürfen.
Das Wohl des Kindes erfordert auch, sich weitergehende Überlegungen zur
Effizienz einer Strafe und zu unerwünschten Nebenwirkungen zu machen 231
Auch in der Strafe sollte immer die Liebe der Eltern zu erkennen sein.
Strafe darf keine Aktion sein, in der die Eltern ihre Wut abreagieren – und
insoweit selber undiszipliniert sind.
231 Vgl. Michael Dieterich, Psychologie und Seelsorge, Wuppertal und Zürich, 2000,
pp. 78-83.
125
Schadenfreude, Triumph, eine “Wie du mir- so ich dir” – Mentalität sind
unglaubwürdige Verhaltensweisen. Genauso wie die Freundlichkeit kommt
auch die Strafe “von Herzen”. Das Motiv ist immer das Wohl des Kindes.
II.
(Lehrsätze, die den Gläubigen des Rechtes berauben,
sich vor Machtmissbrauch zu schützen…)
22.Behauptung: “Ein Gläubiger, der den Anweisungen des Gemeinde­
leiters nicht gehorcht, lebt in Rebellion gegen Gott.”
Hier beruft man sich auf Hebr 13,17: “Gehorcht euren Lehrern und folget
ihnen…”
Der Vers geht aber folgendermaßen weiter: “…denn sie wachen über eure
Seelen im Wissen, dass sie dereinst dafür Rechenschaft geben sollen…”
Gemeindeleitern und Ältesten ist das Hirtenamt anvertraut. “Gebt Acht auf
euch selbst und auf die ganze Herde, in die euch der Heilige Geist als Aufse­
her eingesetzt hat, damit ihr treue Hirten der Gemeinde Gottes seid. … Ich
weiß, dass nach meinem Abschied gefährliche Wölfe bei euch eindringen
und erbarmungslos unter der Herde wüten werden. Selbst aus euren eigenen
Reihen werden Männer auftreten und die Wahrheit verdrehen, um die Jün­
ger des Herrn zu ihren eigenen Nachfolgern zu machen. Seid also wach­
sam … ” (Apg 20,28-31) Zum Hirtenamt berufen ist, wer die Herde am
besten vor den Wölfen schützen kann.
Umgekehrt sagt die Bibel über schlechte Hirten: “Den Schwachen steht ihr
nicht bei, und die Kranken heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr
nicht, das Verirrte holt ihr nicht und das Verlorene sucht ihr nicht; sondern
streng und hart herrscht ihr über sie” (Hes 34,4) ?
Deshalb haben Gläubige, die Mitchristen vor giftiger Theologie schützen
wollen, in dieser Sache Autorität und göttlichen Auftrag und nicht etwa
Gemeindeleiter, die das nicht wollen.
126
“An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen…” (Mt 7,16) “Prüfet alles…” –
ohne Ausnahme!”
Jesus hatte 12 Männer zu Augenzeugen seines Wirkens und zu Aposteln
berufen. Er hatte ihnen höchste Autorität gegeben: “Was ihr auf Erden bin­
den werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden
lösen werdet, soll auch im Himmel ungültig sein.” (Mt 18,18). Man könnte
meinen, dass diese hohe Berufung den Aposteln eine Art institutionelle
Autorität verliehen hätte, der der Gläubige nicht widersprechen dürfte.
Doch das entspricht nicht der Wirklichkeit. Als Jesus diese Rede hielt,
gehörte auch noch Judas Ischariot zu den Zwölf. Und nicht die Zwölf
erhielten größte Autorität und den größten Einfluss. Paulus gewann später
größere Bedeutung als sie alle. Petrus musste sich strengste, öffentliche
Zurechtweisung durch Paulus gefallen lassen (Gal 2), obwohl Jesus ihn als
den “Fels, auf den die Gemeinde steht” (Mt 16,18) besonders ausgezeichnet
hatte.
Beichtzwang ?
In der katholischen Kirche ist die unangebrachte Aufwertung von Amtträ­
gern besonders ausgeprägt. Dort wird gelehrt, dass eine schwere Sünde
(“Todsünde”) nur dann vergeben werden kann, wenn sie in der Beichte
einem Pfarrer oder Priester mitgeteilt worden ist und dieser die Absolution
erteilt hat. “Nur ein geweihter Priester, der auch rechtlich dazu befähigt ist
(Beichtjurisdiktion), hat die Vollmacht, das Beichtsakrament zu spenden
(Beichtvater).” (Quelle: kathpedia)
Woher katholische Theologen das wohl wissen wollen ? Die Bibel ruft alle
(!) Gläubigen auf, die Beichte eines Freundes anzuhören: “Bekenne einer
dem andern seine Sünden und betet füreinander, daß ihr gesund werdet. Des
Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstgemeint ist. ” (Jak 5,16)
Wie gut, das wir katholische Theologen haben, die klarstellen, dass das
Gebet eines “gerechten Gläubigen” weitaus weniger vermag als der Apostel
Jakobus glaubt.
127
Die Behauptung des Jakobus muss man – wenn man der katholischen Sicht
folgt – sogar verantwortungslos nennen (!), da hier Gläubige hier den
falschen Eindruck vermittelt bekommen, dass sie auf diese Weise “gesund
werden” können, während sie doch – mangels der Lossprechung durch den
geweihten Priester – ewige Verdammnis erwartet. Was für eine schreckliche
Falle! Soll man das wirklich glauben ?
Wenn Gläubige sich an derartig absurden Aussagen nicht stören, dann ist
Zweifel angebracht, ob sie auf diese Weise im Glauben jemals “gesund wer­
den” können.
Wieso soll die Weihe, d.h. Rituale, vollzogen durch den Oberzeremonien­
meister, einen Vertreter der Institution Kirche exklusiv authorisieren,
schwere Sünden zu vergeben ? Niemand weiß, welch unreifer Glaube, wel­
che fragwürdigen Motive hinter zur Schau getragener Frömmigkeit stehen.
Ist der Genuß von Macht über geängstete Gewissen und Selbstüberhebung
etwa keine schwere Sünde ? Zusätzlich erfährt man bei Gelegenheit Pein­
liches, das mit sexueller Frustration und Verklemmtheit zusammenhängt.
Immer wieder wird sexueller Missbrauch an Schutzbefohlenen von Bischö­
fen unter den Teppich gekehrt. Die grundsätzliche Einstellung, das große
Leid der Betroffenen zu ignorieren und bei Bedarf zu heucheln, ändert sich
nicht. Wieso sollen solche Leute exklusive Autorität haben, schwere Sünden
zu vergeben ?
In Kirche und Gemeinde präsentiert sich eine bunte Mischung von guten
und schlechten Hirten, wobei die guten Hirten in der Überzahl zu sein schei­
nen. Dieser Eindruck ist nicht verlässlich, da die schlechten Hirten getarnt
sind. Sie kommen als Wölfe in Schafskleidern in die Gemeinde. Sie ahmen
gute Hirten täuschend ähnlich nach, aber machen Menschen nicht zu Nach­
folgern Jesu, sondern zu Anhängern der eigenen Person. (Apg 20,29 ff)
Viele Gläubige fallen auf sie herein.
Was werden solche Leute mit Informationen machen, die sie in der Beichte
erfahren ? Man kann nicht ausschließen, dass sie in irgendeiner Weise zum
Nachteil des Beichtenden missbraucht werden. Schon deshalb kann es einen
Beichtzwang nicht geben.
128
Der richtige Adressat für das Sündenbekenntnis ist Gott allein. Fällt es
schwer, sich von einer bestimmten Sünde zu lösen, so kann man gemeinsam
mit einem Freund Gott darum bitten, wie es der Apostel Jakobus empfohlen
hat: “Bekenne einer dem andern seine Sünden und betet füreinander, daß ihr
gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstgemeint ist.
” (Jak 5,16) So einen Freund, dem man alles sagen kann, wünscht der Apo­
stel jedem Gläubigen in der Gemeinde.
23. Behauptung: “Es ist Hochmut, die theologische Tradition der
Gemeinde mit der Bibel zu prüfen.”
Wenn das Überprüfen und Nachdenken Hochmut wäre, könnte der Apostel
dann wohl sagen: “Prüfet ALLES” ? (2.Thess 5,21) An wen richtet sich diese
Aufforderung, wenn nicht an alle Gläubigen? Wenn alles richtig ist, so wie
es immer schon war, warum soll man dann prüfen? Keine Gemeinde ist
gegen sektiererische Tendenzen 232 und gefährlichen Irrtum automatisch
immun! Viele Dinge des Glaubens sind unsichtbar. Man sieht auch die
schädliche Folgen für die Seele selten sofort. Das führt zweifellos leicht zu
Fehleinschätzungen.
Zum Prüfen braucht man Urteilsvermögen und Verstand! Er ist – wie das
Beispiel Salomos zeigt (1.Kö 3, 5 ff) – eine der wichtigsten Gottesgaben.
Paulus hielt überhaupt nichts davon, dass man sich leichtgläubig wie ein
Kind auf das Denken der “Erwachsenen” verlässt. Der Verstand, den Gott
gegeben hat, soll angemessen gebraucht werden: “Denkt nicht wie Kinder,
liebe Brüder! Im Tun sollt ihr unschuldig wie Kinder sein, aber denken
müsst ihr wie erwachsene Menschen!” (1.Kor 14,20) Verständig sein muss
geübt werden!
232 Siehe das Kapitel „Was ist Irrlehre?“ im Internet.
129
24.Behauptung: Der Gläubige darf Unrecht in der Gemeinde nur dann
beim Namen nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler zu sehen sind.
Diese Behauptung ist bei Gemeindeleitungen mit gewissenloser Amtsfüh­
rung sehr beliebt. So kann man sich ganz selbstverständlich Korruption,
Lüge, Übervorteilung und Verleumdung leisten und braucht keine Angst zu
haben, dass irgendjemand das Thema anspricht. Falls es jemand doch ver­
sucht, richtet man das Vergrößerungsglas auf ihn und sein Verhalten, ob da
nicht doch etwas Unvollkommenheit zu sehen ist. Was für ein Glück, wenn
man etwas findet: da war etwas Sorge um den Arbeitsplatz zu spüren, man
hat von einem Streit in der Familie gehört, und dergleichen mehr. Und wenn
man nichts findet, dann war da ein liebloser Ton in der Stimme, die vom
Unrecht gesprochen hat, über den man sich entrüstet.
Und jemandem, der lieblos ist, dem braucht man doch erst recht nicht zuzu­
hören. “Wer Sünde tut, der ist vom Teufel” (1.Jo 3,8). Der soll erst mal vor
seiner eigenen Tür kehren. Und schon ist das Thema erledigt.
Diese Behauptung fußt auf dem bereits genannten (falschen!) Lehrsatz, dass
kleine Sünden oder Unvollkommenheiten so schlimm seien wie schwere
Verbrechen. 233
So etwas kann man nur denken, wenn man sich über die tatsächlichen Aus­
wirkungen einer Tat überhaupt keine Gedanken macht. Welche negativen
Folgen hat ein liebloser oder stressiger Ton in der Stimme ? Überhaupt keine
Folgen als diejenigen, die der, der dieses Argument gebraucht, selbst mut­
willig herbeiführt! Dagegen haben Korruption, Lüge, Übervorteilung und
Verleumdung möglicherweise erheblichen Schaden für die Betroffenen zur
Folge. Deshalb ist jeder Versuch, die Gemeinde auf diese Vorgänge auf­
merksam zu machen, vollauf gerechtfertigt und geschieht im Gehorsam
gegen das Gebot: “Helft das Böse in der Gemeinde aufzudecken.”
(Eph.5,11 ff)
233 Siehe Seite 45.
130
25. Behauptung: “Mit der Forderung, Schäden und Beschwerden in der
Gemeinde zu dokumentieren, schadet man dem “Zeugnis” der
Gemeinde.”
Hätten Jesus oder Paulus tatsächlich so geredet ? Was soll denn ein “Zeug­
nis” wert sein, wenn es ohne das übliche Vertuschen und Beschönigen kein
“Zeugnis” mehr ist ? Man müsste es ehrlicherweise “Propaganda” nennen,
einen von oben verordneten Jubel, wie ihn sich Diktatoren bestellen. Jeder
weiß, dass es nicht stimmt, aber alle müssen mitmachen.
Wenn “Lügen für Gott” keine schwere Sünde mehr ist, sondern etwas, was
man in der Gemeinde für notwendig hält, dann vergiftet der Krebsschaden
der Unglaubwürdigkeit am Ende auch all das, was dort noch heilig, gut und
richtig ist. Die Grenzen zwischen dem Aufruf zum Glauben und der Auffor­
derung, sich und anderen etwas vorzuschwindeln, werden immer unklarer.
Wahrhaftigkeit (πιστις) ist eines der drei wichtigsten Qualitätsstandards
Jesu. Die ganze Botschaft des Neuen Testamentes beruht darauf, dass es
zwölf Männer aus dem Volk gab, die Jesus zu Jüngern erwählte, und die
berichteten, „was sie mit eigenen Augen gesehen, was sie mit ihren Händen
betastet haben“ (1.Jo 1,1). Diese Männer waren Handwerker, Fischer, Zoll­
beamter, kurz: einfache Leute, die ehrlich Zeugnis gaben von dem, was jeder
gesehen hat, der damals dabei war.
Auf diesem schlichten, unverfälschten Zeugnis beruht der ganze christ­
liche Glaube.
Wenn sich die Gemeinde als “Gemeinschaft der Heiligen” bekennt, dann
muss sie sich auch von dem distanzieren, was unheilig, falsch und schädlich
ist. Wenn sie andere belehren will, darf sie nicht selbst unbelehrbar sein.
Wenn sie die Offenbarung des Heils bezeugen will, darf sie selbst nicht
blind gegenüber dem Unheil in ihrer Mitte sein.
131
26. Behauptung: “Ein Christ darf sich nicht wehren, darf auch nicht
Ersatz des Schadens fordern. Er muss Unrecht, das ihm zugefügt wird,
hinnehmen, muss vergeben und vergessen. Andernfalls ist er ein
“Schalksknecht” (Mt 18,32 ff) und wird von Gott mit der Hölle
bestraft!”
Sich alles gefallen lassen müssen, um nicht von Gott bestraft zu werden… ?
Was wird bei dieser deprimierenden Einstellung anderes herauskommen als
erlernte Hilflosigkeit und Anfälligkeit für Depression ? Der Geschädigte
wird ja doppelt geschlagen und erniedrigt, einmal durch den Übeltater,
dann aber auch durch Gott selbst, der sich durch Missachtung des Rechtes
auf die Seite des Täters stellen und dem Starken gegen den Schwachen bei­
stehen würde.
Wer das Gleichnis Jesu vom “Schalksknecht” (Mt 18, 23 ff) so versteht, der
verfälscht den Inhalt. Man muss genau lesen. Die Pflicht, eine ver-gleichs­
weise kleine Schuld zu bezahlen, wird nicht in Frage gestellt. Der Klein­
schuldner will ja zahlen. Das Furchtbare ist, dass der Schalksknecht, dem
selbst eine Riesenschuld erlassen wurde, nicht bereit ist, geduldig zu warten.
Ohne jedes Mitgefühl fordert er brutal das Unmögliche, die sofortige Bezah­
lung, um den Kleinschuldner ins Gefängnis zu bringen, wo er die Schuld
vielleicht gar nicht mehr abarbeiten kann. Diese Hartherzigkeit empört den
König aufs Äußerste, sodass er den Erlass der großen Schuld widerruft.
Das Bezahlen einer vergleichsweise kleinen Schuld ist nichts Anrüchiges,
sondern eine Selbstverständlichkeit. Auch im Kleinen soll der Gläubige treu
sein (Lk 16,10) bzw. niemandem etwas schuldig bleiben (Rö 13,8).
Umgekehrt darf er faires Verhalten auch von anderen, insbesondere
von Mitchristen erwarten. “Behandelt die Menschen so, wie ihr von ihnen
behandelt werden wollt.” (Mt 7,12)
Wäre es anders, dürfte der Gläubige von anderen nichts zurückfordern, weil
ihm ja Christus alle Schuld vergeben hätte, so wäre der Gläubige sehr bald
wirtschaftlich ruiniert. Es wäre geradezu dumm von ihm, sich als Christ zu
erkennen zu geben, wenn er sich an solche Regeln halten müsste. Daran
glaubt im Ernst niemand!
132
Und doch wird man in etlichen Gemeinden immer noch mit destruktiven
Behauptungen, die dem Gläubigen das Recht auf faire Behandlung abspre­
chen, konfrontiert.
Worum geht es Jesus wirklich ?
Jesus sagte in der Tat: “Wenn dich einer auf die eine Backe schlägt, dann
biete ihm die andere auch dar.” (Mt 5,39) Der Gläubige soll nicht Böses mit
Böses vergelten! Vielleicht ist der andere nur deshalb böse, weil er auch ver­
letzt wurde und unglücklich ist. Wenn man nicht mit gleicher Münze heim­
zahlt, sondern großzügig reagiert, dann wird der Konflikt nicht verschlim­
mert, sondern kann einschlafen.
Jünger hat seine Jünger aufgerufen, für ihre Feinde zu beten (Mt 5,44) – ein
Gebot, das den christlichen Glauben deutlich vor den Religionen der Welt
auszeichnet. Der Gläubige darf beten, dass sie auch Christus finden und
durch ihn mit einem neuen Leben beschenkt werden. Wenn Christen sich
böse verhalten, dann sollte er für sie bitten, dass sie zu Christus zurückfin­
den. “Lass nicht das Böse über dich siegen, sondern überwinde das Böse mit
Gutem“. (Rö 12,21) Das ist ein Versprechen! Das Böse kann überwunden
werden. Ein Feind kann zum Freund werden! Das alles ist möglich bei
Gott!
Durch diese Haltung nähert sich der Jünger der Haltung Jesu, der aus Liebe
zu Menschen, die es nicht verdienten, viel Leid auf sich nahm. Und so wie
Jesus später dafür vom Vater geehrt und belohnt wurde, so wird auch der
Gläubige, der sich wie Jesus verhält, am Ende wiederhergestellt. “Welche
Waffe auch immer gegen dich gerichtet wurde – sie wird nicht über dich sie­
gen. Was immer auch Menschen gegen dich sagen – du wirst sie im Gericht
dafür verurteilen. Dieses Recht gehört zum Erbe der Menschen, die mir die­
nen. Ich, Gott, habe es gesagt, und das gilt. (Jes 54,17)
Es ist ein wunderbares Geschenk, dass der Gläubige nicht dem Hass
unterworfen ist, der nach einer bösen Tat aufsteigt und alles weitere bestim­
men will.
133
Der Verzicht auf Vergeltung annulliert nicht das Recht, sich vor weiteren
Übergriffen mit erlaubten Mitteln zu schützen. Notorisch schädlich han­
delnde Menschen müssen zurechtgewiesen werden, damit sie vorsichtiger
werden und damit der Respekt vor dem Recht in der Gemeinschaft gestärkt
wird . Natürlich immer mit erlaubten Mitteln. Paulus bestand auf einer
öffentlichen Entschuldigung der Stadtobersten, nachdem man ihn zu Unrecht
ausgepeitscht hatte. (Apg 16,35-39) Jesus wies den Mann zurecht, der ihm
grundlos geohrfeigt hatte. (Jo 18,22+23)
Jeder Pädagoge oder Lehrer weiß, dass es sinnlos ist, eine Regel aufzu-stel­
len, ohne ihre Missachtung zu bestrafen. Wer die Missachtung einer Abma­
chung stillschweigend toleriert, wird nicht mehr ernstgenommen. Seine
Autorität ist erheblich geschrumpft. Je wichtiger eine Regel, desto nach­
drücklicher muss auf ihre Missachtung reagiert werden.
Der Gläubige dient “dem Besten der Stadt“, (Jer 29,7) seinen Mitmenschen
und sich selbst, wenn er für den Respekt vor dem Recht eintritt. Keine
Gemeinschaft kann ohne Regeln der Fairness gedeihen. Deshalb kann der
Gläubige guten Gewissens in einem Betriebsrat mitarbeiten und auf diese
Weise dazu beitragen, dass Mitarbeiter vor willkürlichen Übergriffen und
Machtmissbrauch geschützt werden. Er darf erfahren: Gott ist der “Freund
des Rechts“. (Ps 37,28) Sein Wort hat Macht und das Recht, das sein Wort
beachtet und den Nächsten schützt, sollte die Macht haben, die ihm zusteht.
(Jes 32,1 ff)
In der “Gemeinschaft der Heiligen” gilt das noch viel mehr. Es darf dort
nicht geduldet werden, dass ein Christ den anderen mit bösem Verhalten
schädigt. Denn eine Gemeinde untersteht der Autorität Jesu, des “guten
Hirten” (Jo 10,12), der um den Schutz der schwachen Mitglieder beson­
ders besorgt ist. Würde man das Böse hinnehmen, so würden sich andere
daran ein schlechtes Beispiel nehmen, die Predigt über “Heiligung”234 oder
die “Pflichten eines Hirten” würde unglaubwürdig. “Weh den Hirten, die
sich selbst weiden! … Auf den Schwachen passt ihr nicht auf, den Kranken
versorgt ihr nicht, den Verwundeten verbindet ihr nicht, den Verirrten holt
ihr nicht und den Verlorenen sucht ihr nicht.” (Hes 34,2-4)
234 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
134
Deshalb ist die Sache zu klären. Zunächst soll der Betroffene mit dem Übel­
täter reden, um ihn zu gewinnen. Gegebenenfalls soll er Zeugen hinzuziehen
und – falls das erfolglos bleibt – das Sache vor die Gemeinde bringen. 235
(Mt 18,15-18) Die letzte Konsequenz der Unverbesserlichkeit ist der
Hinauswurf: “Trennt euch von dem, der böse ist“. (1.Kor 5,13) Diese Tren­
nung gilt grundsätzlich immer für alle Gemeinden. Eine Gemeindeleitung,
die den reuelosen Täter aufnimmt, versündigt sich.
Gemeinden, die Übeltäter dulden, rechtfertigen dies gerne mit dem Wort
Jesu, dass man “Unkraut und Weizen zusammen bis zur Ernte aufwachsen
lassen” soll. (Mt 13,29-30) Dieser Hinweis Jesu kann sich aber nicht auf
einen Rechtsstreit beziehen, da für diesen Fall klare Anweisungen gegeben
sind.
Hier geht es ihm darum, dass man über die geistliche Einstellung anderer
Mitglieder der Gemeinde nicht vorschnell urteilen soll. Wie schnell ist
ein pharisäisches Urteil in vermeintlicher Erkenntnis gefällt, bloß weil man
die eigene geistliche Unreife nicht erkennt. Wie schnell geschieht es, dass
die Liebe erkaltet, weil man sich in theologischen Nebensächlichkeiten nicht
mehr einig ist. Mit Unfreundlichkeit und Distanz wird man den andersden­
kenden Bruder erst recht nicht überzeugen und bringt damit für ewige Zeiten
den Geist der Spaltung in die Gemeinde. Obwohl so häufig betrieben, ist das
in der Tat eine Sünde, die vom Himmel ausschließen kann (Gal 5,21). Auf
diese Weise kann es dazu kommen, dass jemand Unkraut herausreißen will
und am Ende vom Herrn selbst als Unkraut betrachtet wird!
Deswegen der treue Rat Jesu: Überlasse das Urteil dem Herrn! Lass es deine
Liebe nicht trüben, dass der andere dir manchmal nicht fromm genug
erscheint. Du kannst in das Herz eines Menschen nicht hineinsehen. Die
Gefahr ist zu groß, dass du ungerecht urteilst und nur sinnlos verletzt.
Gott wird das Leben des Bruders am Ende gerecht beurteilen so wie dein
Leben auch. Jeder wird ganz allein vor Gottes Richterstuhl stehen und ob er
sich selbst in positivem Licht gesehen hat, das fällt nicht ins Gewicht: “Mir
ist es nicht so wichtig, wie ihr oder andere über mich urteilen. Wie ich über
mich urteile, spielt auch keine Rolle.
235 Siehe die Skizze eines schiedsgerichtlichen Verfahrens, Seite 156.
135
Zwar bin ich mir keiner Schuld bewusst, aber damit bin ich noch nicht frei­
gesprochen. Entscheidend ist allein Gottes Urteil! Deshalb urteilt nicht vor­
eilig über mich. Wenn Christus kommt, wird er alles ans Licht bringen, auch
unsere geheimsten Gedanken. Dann wird Gott jeden so loben, wie er es ver­
dient hat.” (2.Kor 10,18)
27. Behauptung: “Ein Christ darf nicht vor Gericht gehen, wenn ihm
ein anderer Gläubiger geschadet hat. Andernfalls sündigt er und wird
dafür von Gott bestraft.”
In der Tat sagte Paulus: „Wenn jemand von euch mit einem Gläubigen Streit
hat, wie bringt er es dann fertig, vor das Gericht der Ungläubigen zu gehen,
anstatt sich von den Heiligen Recht sprechen zu lassen?“ (1.Kor 1,6 / NeÜ)
Dennoch ist obige Behauptung ein grober Fehlschluss, der durch oberfläch­
liche am Buchstaben festhängende Interpretation zustandekommt. Achten
wir darauf, das das ganze Thema mit der Aufforderung beginnt, dass sich die
Gemeinde mit einer fairen Entscheidung bewähren soll.
Zugleich scheint Paulus die Inanspruchnahme der staatlichen Justiz zu ver­
bieten: “Wie könnt ihr nur bei diesen alltäglichen Dingen solche Menschen
über euch Recht sprechen lassen, die in der Gemeinde nichts gelten? Ihr
solltet euch schämen!” (1.Kor 6,4 / NeÜ) Diese Aussage ist nach dem Glau­
bensbekenntnis bibeltreuer Gemeinden wie alle anderen Aussagen der Bibel
“völlig zuverlässig!” 236 Und viele Gläubige ziehen aus diesem Satz den
Schluß, dass die Inanspruchnahme des Staates Sünde ist.
Doch inwieweit kann die Gemeinde staatliche Rechtsprechung ersetzen? Hat
Paulus das wirklich gemeint? Gerade bei schweren Schäden ist eine
schnelle, möglichst objektive Beweissicherung notwendig, auf die die Inte­
ressen des Schädigers keinen verfälschenden Einfluss nehmen dürfen. Ein
entsprechend hoher angemessener Schadenersatz führt evt. zu einem erheb­
lichen Verlust an materieller Lebensqualität bei dem Schädiger und kann
deshalb nur mit Hilfe des Justizapparates erzwungen werden.
236 http://www.ead.de/die-allianz/basis-des-glaubens.html
136
Die Gemeinde verfügt über derartige Zwangsmittel nicht. Sie kann sich nur
aufs Bitten und allenfalls auf die Androhung des Ausschlusses beschränken.
Die Unwirksamkeit dieser Mittel bei hohen Schadenersatzforderungen ist
vorhersehbar. Wenn dem Gläubigen verwehrt wird, sein Recht vor Ablauf
der Verjährungsfrist wahrzunehmen, wird es sehr wahrscheinlich unterge­
hen.
Und dennoch werden sich Gläubige in ihrem Gewissen an die fragwürdige
Interpretation gebunden fühlen.
Das Dilemma hat in vielen bibeltreuen Gemeinden dazu geführt, dass man
sich so verhält, als ob Paulus gar nichts gesagt hätte. Die ersten 6 Verse des
Kapitels werden ein “unerforschlicher” weißer Fleck, über den der Gläubige
möglichst nicht nachdenken soll. Wenn man über 1.Kor 6 predigt, dann
pflegt man man automatisch bei dem Vers 7 zu beginnen: “Warum lasst ihr
euch nicht lieber Unrecht tun? Warum lasst ihr euch nicht lieber benachtei­
ligen?”
Infolgedessen wird ein geschädigter Bruder, der sein Recht vor Gericht
sucht, manchmal mehr als der Schädiger kritisiert, vielleicht sogar als
“Schalksknecht”, der die geschenkte Vergebung mit Undank vergelten
würde (Mt 18,23 ff), beschimpft. Man lässt dem Geschädigten nicht nur auf
seinem Schaden sitzen, sondern sorgt auch noch dafür, dass er sich für sei­
nen Wunsch nach fairem Ausgleich schuldig fühlt, anstatt an das Gewissen
des Täters zu appellieren.
Wenn der Apostel Paulus in der Bibel klar und deutlich ermahnt, Streitfälle
fair zu schlichten und der Gläubige darauf reagiert, indem er den Kopf in
den Sand steckt und behauptet, gerade diese Ermahnung wäre unerforschlich
und man dürfe darüber nicht nachdenken, so ist das ein intellektuell unred­
liches, inakzeptables und peinliches Verhalten! Von der Schädigung des
Bruders und der lieblosen Gleichgültigkeit gegenüber seinem Leid ganz zu
schweigen! Die halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge!
Der Fehler liegt keinesfalls in der Ermahnung des Paulus, sondern vielmehr
in der Starrheit der Interpretation, die klare Aussagen von Jesus und Paulus
zur staatlichen Autorität unzureichend berücksichtigt.
137
Sollte Paulus nicht wissen, dass der Staat das Recht des einzelnen auf effizi­
ente Weise zu schützen vermag ? Andernorts betont er nämlich sehr wohl
die Aufgabe des Staates, im Auftrag Gottes vor Unrecht zu schützen! “Jede
Regierung … steht ja zu deinem Besten im Dienst Gottes. Tust du aber
Böses, hast du allen Grund, sie zu fürchten, schließlich ist sie nicht umsonst
die Trägerin von Polizei- und Strafgewalt. Auch darin ist sie Gottes Diene­
rin. Sie zieht den Schuldigen zur Verantwortung und vollstreckt damit
Gottes Urteil an denen, die Böses tun.” (Rö 13,4) Wenn die Regierung das
im Strafrecht so vortrefflich tun kann, warum nicht auch in zivilrechtlichen
Konflikten ? Wollte Paulus das sagen ? Nein !
Wie sooft, auch hier: man muss wirklich genau lesen! Der Schwerpunkt des
Abschnitts liegt in Vers 2: “… warum betrachtet ihr euch als unzuständig
für solche Bagatellen ?” Das griechische Wort “ελαχιστων” bezeichnet Klei­
nigkeiten! Sogar wegen Kleinigkeiten, die man mit ein bischen Weisheit
vernünftig regeln könnte, rennen die Gläubigen zum Zivilgericht. Und dann
beschimpfen sie sich womöglich noch vor den weltlichen Richtern als
unwürdig, zur “Gemeinschaft der Heiligen” zu gehören. Welchen Schluß
können die Richter und das Publikum im Gerichtssaal daraus wohl ziehen?
Sie können daraus doch nur schließen, dass das ethische Niveau in der
“Gemeinschaft der Heiligen” sehr gering sein muss. Was für ein erbärm­
liches Zeugnis! Diese “Schande” will Paulus der Gemeinde ersparen.
Jesus argumentiert ähnlich: “Wenn du jemand eine Schuld zu bezahlen hast,
einige dich schnell mit deinem Gegner, solange du noch mit ihm auf dem
Weg zum Gericht bist. Sonst wird er dich dem Richter ausliefern, und der
wird dich dem Gerichtsdiener übergeben, und du kommst ins Gefängnis.
Ich versichere dir, du kommst dann wieder heraus, wenn du den letzten Cent
bezahlt hast.“ (Mt 5,25-26) Auch Jesus war die Effizienz der weltlichen
Justiz gut bekannt und er bewertete diese Effizienz nicht negativ. Vielmehr
empfiehlt er: “Einige dich schnell mit deinem Gegner!” Ja, für Jesus hat die
Einigung mit dem Geschädigten sogar Vorrang vor einem Opfer, das man
ins Gotteshaus bringt: “Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst
und es fällt dir dort ein, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass
deine Gabe vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem
Bruder! Dann komm und bring Gott dein Opfer.” (Mt 5,24)
138
Paulus will die Gemeinde nicht nur davor bewahren, sich vor weltlichen
Richtern lächerlich zu machen. Er will sie auch herausfordern. Jawohl,
göttliche Weisheit kann auch in schlimmen Fällen die Not erheblich lindern.
Es ist gar nicht einzusehen, dass schweres Unrecht, das zwischen Geschwi­
stern steht, unbearbeitet und unkommentiert stehen bleibt. Die Gemeinde
kann durchaus ein seriöses Schlichtungsverfahren einrichten, in dem sich
geistliche Weisheit als wichtige Ergänzung zur weltlichen Rechtsprechung
bewähren kann und in dem Maßnahmen gegen Befangenheit und Willkür
getroffen werden – so wie es man es von einem weltlichen Verfahren ganz
selbstverständlich erwarten darf.
Deshalb tritt gerade auch in Fällen, in denen es nicht um Kleinigkeiten geht,
neben die weltliche Rechtsprechung die seelsorgerliche Klärung in der
Gemeinde. Die Konfliktgegner müssen die Möglichkeit erhalten, sich zu
versöhnen und den Groll gegeneinander zu überwinden. Die Gemeinde ist in
der Pflicht, Gottes Weisheit für diese Aufgabe in Anspruch zu nehmen. (Spr
4,5 / Kol 2,3) Denn sie darf sich hier nicht entziehen – auch wenn der Erfolg
manchmal hinter den Hoffnungen und Erwartungen zurückbleibt.
Dieses nicht zu tun, hieße Unrecht zu dulden – und das widerspricht einer
durch beide Testamente gehenden grundsätzlichen und wichtigen Aussage
der Schrift. Schon im Alten Testament wird wieder und wieder betont, dass
die Gleichgültigkeit gegenüber Unrecht in der Gemeinschaft ein Kennzei­
chen gottloser Gesinnung ist. “Was zertrampelt ihr meine Vorhöfe… ihr
kommt zu den Festen zusammen, aber ich verabscheue sie… betet soviel ihr
wollt: ich werde nicht zuhören… lernt wieder Gutes zu tun ! Setzt euch ein
für eine gerechte Rechtsprechung, helft den Rechtlosen, den Witwen und
Waisen gegen ihre Bedränger!” (Jes 1,12 ff) “Hört auf mit dem Geplärr
eurer Lieder, ich mag eure Musik nicht hören! Bemüht euch endlich um ein
faires Miteinander! Die Liebe zum Recht soll das ganze Land durchströmen
wie ein mächtiger Fluss!“ (Amos 5,23-24)
Dem enspricht die abschließende Warnung des Apostels, dass “ungerechte
Menschen” gar nicht zur Gemeinde gehören, auch wenn sie das meinen,
auch wenn andere in der Gemeinde das meinen: “Wisst ihr denn nicht, dass
ungerechte Menschen keinen Platz im Reich Gottes haben werden? Täuscht
euch nicht!” (1.Kor 6,9)
139
Der Vers “Warum lasst ihr euch nicht lieber Unrecht tun? Warum lasst ihr
euch nicht lieber benachteiligen?” (V.7) hat deshalb das vergleichsweise
geringste (!) Gewicht im Text. Paulus richtet ihn auch nicht an die Geschä­
digten, sondern an die Täter, denn er fährt fort: “Stattdessen tut ihr selbst
Unrecht und benachteiligt andere – und das unter Brüdern!” (V.8)
Die übliche Theologie unterstellt dem Vers 7 beharrlich das größte Gewicht
im Absatz. Dadurch wird der ganze Text so unsinnig, dass er zum weißen,
unerforschlichen Fleck geworden ist. Gegenüber Unrecht und Schädigung
gleichgültig zu sein, zerstört die Einheit des Leibes Christi: “wenn ein Kör­
perteil leidet, so leiden alle anderen Teile mit“. (1.Kor 12,26) Was bleibt
denn davon noch wahr? Es wird übelste Propaganda! 237 !
Somit existiert das Dilemma des “Entweder – Oder” gar nicht. Wenn wir uns
den lebensfördernden Sinn (Mt 4,4) von 1.Kor 6 bemühen wollen, dann wer­
den wir erkennen, dass in vielen Fällen beide Alternativen notwendig sind:
sowohl die Justiz – als auch die seelsorgerliche Klärung.
28. Behauptung: “Ein Christ darf in Notwehr niemand töten. Er ist ver­
pflichtet, sich töten zu lassen, damit der Täter nicht in die Hölle
kommt.”
Was kann man mit einer solchen Lehre, die man Jugendlichen vorsetzt, her­
vorrufen ? Eine wahrhaft ausweglose Situation: die junge Seele eingesperrt
zwischen derAussicht der physischen Selbstauslöschung und der grauen­
haften Aussicht, für den Rest des Lebens mit einem aufs Äußerste
beschwerten Gewissen leben zu müssen. Was soll die Frucht einer solchen
Belehrung sein? Tiefere Liebe für die Mitmenschen? Ist es nicht viel wahr­
scheinlicher, dass hier Hilflosigkeit und Depression gründlich eingeübt wird
seelische Defekte, mit denen man Familie und Mitmenschen später zur Last
fällt ? Die stabile Seele braucht den gesunden Selbsterhaltungstrieb – er ist
nichts Böses oder Verwerfliches. Doch solche skurrilen Blüten gedeihen auf
dem Sumpf einer allgemeinen Geringschätzung des Rechts.
237 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Propaganda“, (Internet).
140
Auch wenn man solche grotesken Behauptungen selten offen und in aller
Deutlichkeit hören wird, so ergeben sie sich dennoch aus einem konsequent
mechanistisch-wörtlichen Bibelverständnis. Jesus gab sein Leben für die, die
ihn hassten, der Jünger ist verpflichtet, dem Vorbild des Meisters in “voll­
kommener” Weise (Mt 5,48) zu folgen. Dabei soll er die Bereitschaft haben,
„sein eigenes Leben zu verlieren” (Mt 10,39). Wer seinen Nächsten nicht
missioniert hat, obwohl er Gelegenheit dazu hatte, ist schuld an dessen
Bestrafung mit vorzeitigem Untergang und wird dafür angemessen von Gott
bestraft (8.Behauptung). Wer einen Menschen tötet – auch aus Notwehr -,
der nimmt ihm endgültig die Gelegenheit, missioniert zu werden und sich zu
bekehren, denn “nach dem Tode folgt nur noch das Gericht” (Hebr 9,27).
Diese Tat ist wesentlich schlimmer, als nicht missioniert zu haben. Was
würde dafür die angemessene Strafe sein? Müsste sie nicht um ein Viel­
faches schlimmer sein ? “Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten,
und die Seele nicht können töten; fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der
Leib und Seele verderben kann in der Hölle.” (Mt 10, 28). Wird Gott nicht
grenzenlos brutal reagieren ? Alles scheint ganz logisch – oder ?
Der Denkfehler liegt in einer Verwechslung von göttlichem und mensch­
lichem Verantwortungsbereich. 238 Es ist Gott, der das Unglück zulässt
(Amos 3,6 b), mithin auch die lebensbedrohliche Situation. Es ist Gott, der
entscheidet, ob er jemandem nach dem Tod noch das Heil verkündigt (1Pe
3,19) oder nicht. Es ist Zweifel angebracht 239, dass der Gläubige gezwungen
wird, diese Entscheidungen Gottes durch Opfern des eigenen Lebens zu ver­
bessern oder zu kompensieren. Das Opfer Jesu erfolgte völlig freiwillig (Jo
10,17-18). Das gerade macht seinen Wert aus. (Eph 2,6 ff) Es ist absurd
anzunehmen, dass Gott ein solches Opfer von Gläubigen durch Androhung
schlimmster Strafe erpressen würde. Hinter der Behauptung erblicken wir
wieder den bekannten “Pferdefuß” des Bösen: der ganze Wahn ist nichts
anderes als Werkgerechtigkeit 240 und Scheinheiligkeit.
238 Siehe „Stichworte“ / „Unterscheidung der Verantwortungsbereiche“ im Internet.
239 Siehe Seite 7.
240 Siehe „Stichworte“, (Internet).
141
9. Persönlichkeit ?
Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde prägt Deine Persönlichkeit.
Welchen der beiden gegensätzlichen Charaktertypen wird dort der Vorzug
gegeben ?
142
Im Zusammenhang mit dem Idealbild Typ A taucht immer wieder eine merk­
würdige, destruktive Verformung des Charakters 241 auf.
Der nach Mündigkeit strebende Gläubige (Typ B) dagegen macht sich die
Mühe, über die Bildung von Charakter 242 und Persönlichkeit selbstkritisch
nachzudenken.
Beide Typen reagieren ganz unterschiedlich auf:
- riskante bzw. giftige Theologie 243
- offenbares Unrecht 244 , das Gläubige anderen Gläubigen zufügen.
- Manipulation 245 und Machtmissbrauch in der Gemeinde.
10. Die negative Verformung der Persönlichkeit durch
giftige Theologie
Die Arbeit mit der Bibel, das Lehren und das Lernen soll – wie die Bibel
selbst es deutlich sagt – zur Wertschätzung der Gerechtigkeit 246 führen.
Zitat: “Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nützlich zur Lehre, zur
Beurteilung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit
(δικαιοσύνη), damit ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten
Werk geschickt.” (2.Tim 3,16)
Man erlebt es leider gar nicht so selten, dass die Bemühung, einer
“bibeltreuen” Gemeinde das Nachdenken über die Wertschätzung von Fair­
ness und Gerechtigkeit zu ermöglichen, auf Desinteresse, ja Widerstand
stößt.
Dennoch fühlen sich auch solche Gemeinden berufen, den Mann auf der
Strasse zur “Bekehrung” und zur “Umkehr” aufzurufen.
241
242
243
244
245
246
Siehe nächstes Kapitel.
Siehe Seite 171.
Siehe Seite 85.
Siehe Seite 178.
Siehe Seite 211.
Siehe unter „Häufige Fragen“ die Frage 9, Seite 188.
143
Das wirft die Frage auf: was wird dort mit der Seele der Menschen gemacht?
Was für eine seltsame Art von “Charakterbildung” findet dort statt?
Auch in solchen Gemeinden arbeiten ja bekanntermaßen viele treue und lie­
benswerte Christen gutgläubig mit. Wir wünschen uns, dass sie es bemerken
können, wenn ihre Persönlichkeit in einer scheinbar christlichen und
verdrehten Weise geprägt und ihre Widerstandskraft gegen giftige Theolo­
gie 247 geschwächt wird.
Insbesondere den jungen, leicht lenkbaren Menschen in der Gemeinde
wünschen wir, dass sie ein Gespür für diese Gefahr entwickeln und sich
gegen unredliche Manipulationen rechtzeitig wehren können.
Um zu sehen, wohin die Entwicklung gehen kann, beschreiben wir ein
Extrembeispiel einer negativen charakterlichen Entwicklung eines Gläu­
bigen.
(Dabei sollte ein vergleichender Blick auf die vorbildliche Persönlichkeit
eines im Glauben gereiften Gläubigen nicht fehlen… )
248
Ein Zerrbild des “bibeltreuen” Gläubigen
(im schlimmsten Fall)
Eine Bibelstunde oder ein Gottesdienst hat für ihn nur eine Funktion: binnen
45 Minuten schöne religiöse Gefühle hervorzurufen. Die Stärke seines Glau­
bens beruht darauf, dass möglichst viele Leute um ihn herum dasselbe glau­
ben. Er plappert immer nach, was die Mehrheit meint, um “dazu zu
gehören”.
Falls der Verdacht aufsteigt, dass ihm eine Halbwahrheit vermittelt wurde,
geht er diesem Gedanken lieber nicht nach. Wenn jemand über die prak­
tische Anwendung der Qualitätsmaßstäbe Christi sprechen möchte, fühlt er
sich emotional überanstrengt und hält er es für seine heilige Pflicht, das Den­
ken sofort abzuschalten.
247 Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 35 ff.
248 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173.
144
Den Glaubensbrüdern und -schwestern, die daran erinnert haben, ist er ernst­
lich böse. Sie kommen für eine freundschaftliche Beziehung nicht mehr in
Frage. Er redet nicht mehr mit ihnen, sondern nur noch über sie. Nur Gläu­
bige, die wie er allergisch reagieren, wenn auf eine Verletzung dieser Maß­
stäbe hingewiesen wird, haben Anspruch auf seine Herzlichkeit.
Falls ihn eine tiefer gehende Frage beunruhigt, wendet er sich an den Herrn
Gemeindeleiter. Wenn ihm dieser versichert, dass alles in bester Ordnung
sei, dann denkt er nicht mehr darüber nach, sondern wendet sich erleichtert
anderen Dingen zu. Der Gemeindeleiter ist ja in besonderer Weise mit dem
heiligen Geist ausgestattet und muss es schließlich wissen.
Weisheit und gründliches Nachdenken empfindet er von vornherein als stö­
rend, verdächtig und negativ. Nach seiner Meinung kann nur der Herr
Gemeindeleiter damit richtig umgehen. Um nicht durch Neues und Unbe­
kanntes verunsichert zu werden, wünscht dieser Gläubige, dass ihm in der
Bibelstunde möglichst dünne “Milchsuppe” serviert wird, d.h. etwas
Bekanntes, was in erster Linie Emotionen erzeugt. Ein Häppchen Neues,
eine Anekdote oder ein Scherz sollte aber auch dabei sein, damit es nicht
allzu langweilig wird.
Wenn ein Mitchrist in der Gemeinde durch ungerechtes Verhalten eines
Gläubigen geschädigt worden ist, so fühlt er sich aufgefordert, tröstende
Bibelworte zu zitieren. Damit hat er nach seiner Ansicht mehr als genug
geleistet. Die Bitte, den Betroffenen durch Teilnahme an einem Klärungsge­
spräch ( Mt 18, 16) zu unterstützen, weist er zurück. Auch darf man nicht
auf seine Hilfe rechnen, wenn die Sache vor die Gemeinde zu bringen ist.
(Mt 18,17) Er ist der Ansicht, dass der Betroffene sich mit seinen Worten
des Mitgefühls zufriedenzugeben hat. Falls dieser sich nun auf die Anwei­
sungen Jesu beruft, versucht er dem Geschädigten klarzumachen, dass er ein
liebloser Störenfried ist, der die Bibel missbraucht und vermeidbaren Unfrie­
den in die Gemeinde hineinbringt. Diese Art Gläubiger hat es eilig Mitge­
fühl zu bekunden, da er sich selbst mit dieser Aktion beweisen will, dass er
nicht ohne Mitgefühl ist. Tatsächlich aber ist ihm das Leid des Geschädigten
gleichgültig.
145
Falls nun gar jemand von außen kommen und sich über das böse Verhalten
eines Mitgliedes beschweren sollte, ist er sofort der Ansicht, es sei seine hei­
lige Pflicht, sich ohne Prüfung solidarisch mit diesem Mitglied zu erklären.
Gewissensbedenken kommen ihm dabei nicht.
Falls Hinweise kommen, dass sich ein Gemeindeleiter falsch verhält oder in
einem bestimmten Bereich inkompetent ist, dann hält er sich die Ohren zu,
weil er eine Korrektur für unzumutbar hält. Jegliche Korrektur – selbst im
Falle offenbarer Korruption - wird von ihm grundsätzlich als “Vatermord”
empfunden. Glaubensgeschwister, die für böses Verhalten Beweise liefern,
hält er für Schurken, den Gemeindeleiter aber in jedem Fall für das Opfer, da
er nun einmal der “Gesalbte des Herrn” ist. Er ist der Ansicht, dass man auch
einem Gemeindeleiter, der böses Verhalten nicht korrigiert, die Aufgabe
anvertrauen kann, die Gläubigen der Gemeinde in der Heiligung und Gottes­
furcht weiterzubringen und dass die Austeilung des Heiligen Abendmahls
sein selbstverständliches Recht ist, dass nicht bezweifelt werden darf.
Obwohl ein Gläubiger dieser Art tiefer gehende Fragen eigentlich nie an sich
heranlässt und das Denken bei allem, was ihn beunruhigt, sofort abschaltet,
hält er sich nach einigen Jahren für einen theologischen Experten, für einen
“alten Hasen”, dem man in Sachen Bibelkunde nichts vormachen kann.
Diese Einstellung ist später kaum noch korrigierbar, sodass die Bezeichnung
„Verstockung“ den Sachverhalt recht gut trifft. Der christliche Pädagoge
Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827): formulierte es so
Wenn bei einem Menschen das Herz einmal hart geworden ist,
dann ist es aus.
Was er auch sonst Gutes hat,
man kann nicht mehr auf ihn zählen.
146
11. Der Semmelweis-Reflex
Der Semmelweis-Reflex bezeichnet die automatische, nicht auf besseren
Argumenten beruhende Ablehnung einer nützlichen Information, eines Ver­
besserungsvorschlags oder wissenschaftlichen Entdeckung, weil sie mit eta­
blierten Denkmustern und Verhaltensweisen schwer oder gar nicht vereinbar
ist. Die Ablehnung erfolgt aus rein emotionalen Gründen, zur Vermeidung
von Prestigeverlust oder Schuldgefühlen oder weil die Verbesserung
Reformen notwendig macht, die als unbequeme Zumutung empfunden wer­
den. (Vgl. “Das Gesetz der 50-Jährigen“ 249). Der Unterschied der Sichtwei­
sen kann nicht auf der argumentativen Ebene ausgetragen und entschärft
werden: er entwickelt sich schnell zu einem Interessen- und Machtkonflikt,
in dem die Bemühungen um Verbesserung von den etablierten Meinungsma­
chern nicht honoriert, sondern bestraft werden.
Benannt ist dieser Mechanismus nach dem ungarischen Arzt Ignaz Semmel­
weis, der als Ursache für Erkrankungen an Kindbettfieber unzureichende
Hygiene vermutete und vom Klinikpersonal die Beachtung strenger Desin­
fektionsregeln forderte (sorgfältige Desinfektion mit Chlorkalklösung
zusätzlich zum Händewaschen). Obwohl seine Vorschläge zu einem deut­
lichen Rückgang der Todesfälle führte, wurden sie von Vorgesetzten und
Kollegen (von einigen Ausnahmen abgesehen) abgelehnt. Semmelweis
erkrankte infolge der Anfeindungen psychisch und wurde von Kollegen in
eine Irrenanstalt eingeliefert, wo er zwei Wochen später starb. (Quelle: wiki­
pedia)
Die von uns genannten schädlichen Lehrsätze der “giftigen Theologie” 250
entwickeln sich fast zwangsläufig auf dem Boden eines gedankenlos-mecha­
nisch-wörtlichen Verständnisses der Bibel, das in bibelgläubigen Gemeinden
und Gemeinschaften immer wieder Fuß fasst. Dieses Verständnis spiegelt
Unsicherheit sowie ein unreifes Urteilsvermögen 251 wider: Je ängstlicher
Gläubige sind, desto mehr flüchten sie sich unter die Macht des Buchsta­
bens, in der Meinung, dort Schutz gegen verunsichernde Veränderung zu
finden.
249 Siehe „Stichworte“, (Internet).
250 Siehe Seite 188.
251 Siehe „Stichworte“ / „Urteilsvermögen“ (Internet).
147
Zu spät erkennen manche, dass sich diese Macht irgendwann sehr destruktiv
gegen sie selbst, gegen ihre Glaubensfreude, gegen ihre seelische Gesund­
heit und auch gegen ihre Heilsgewissheit 252 richten kann. “Der Buchstabe
tötet.” (2.Kor 3,6).
Aber “der Geist macht lebendig” ! (V.7) Doch wie versteht man die betref­
fenden Bibelstellen richtig, in einer lebendigen, lebensfördernden Weise (Mt
4,4) ? Dazu bedarf es natürlich guter Argumente, die die Macht des Buchsta­
bens im Gewissen entkräften können, insbesondere eines übergeordneten
Prinzips (“Schlüssel“ 253 ), um den Rang eines Bibelwortes einschätzen zu
können. Das Gewissen 254 lässt sich nur durch gute Argumente überzeugen.
Wird der Buchstabe nicht entkräftet und widerlegt, bleibt das Gewissen
wund.
Obwohl die Schädlichkeit der genannten Lehrsätze für jeden Laien
unmittelbar nachvollziehbar ist, und auch offensichtlich ist, dass eine
offene Diskussion über die Beweiskraft möglicher Argumente unentbehrlich
ist, und obwohl die Würdigung der Beweiskraft solcher Argumente im deut­
schen Internet (nach unseren Recherchen) kaum präsent ist, haben Mit­
glieder unseres Arbeitskreises so gut wie keine Anerkennung, Beachtung
oder gar Förderung (durch Bekanntmachung) gefunden. Wie würden sie sich
freuen, wenn man sie wenigstens einmal einladen und ihnen ein Podium zur
Diskussion geben würde !
Unermüdlich haben sie seit Jahren viele bibelgläubige Gemeinden (siehe
“Beispielbrief“ 255), Ethik-Lehrer und theologische Institute angeschrieben.
Es kam bisher kaum Antwort. Man hielt in der Regel nicht einmal eine Emp­
fangsbestätigung für nötig. Gibt es das Problem wirklich nicht?
Gelegentlich kam eine beleidigte Reaktion: man fühlte sich “verletzt” oder
“belästigt” oder “zu Unrecht verunsichert”. Andere, die sich “rechtgläubige
Christen” nennen, reagierten gar mit Feindschaft und übler Nachrede.
252
253
254
255
Siehe „Stichworte“ / „Heilsgewissheit“ (Internet).
Siehe Seite 6.
Siehe Seite 119.
Siehe Internet.
148
Dass Gläubige durch “giftige Theologie” 256 zeitlebens seelischen Schaden
davongetragen haben oder gar ganz am Glauben verzweifelt sind, interes­
sierte nicht. (“Blinder Fleck“257).
Kann man das mit dem Gebaren einer mafiosen Baufirma vergleichen, die in
einem armen Land mit mangelhafter Rechtsprechung tätig ist ? Sie
errichtet beeindruckende Bauwerke, die der Allgemeinheit dienen - Kran­
kenhäuser, Schulen und Kirchen -, womit sie sich viel Unterstützung und
Sympathie der Bevölkerung sichert. Ein kleiner Schönheitsfehler: um Geld
zu sparen, werden Sicherheitsmaßnahmen vernachlässigt. Gelegentlich stürzt
ein Bauarbeiter vom Gerüst in die Baugrube hinab, wo ihn niemand mehr
sieht. Da es nur selten passiert und alle gut entlohnt werden, stört sich kaum
jemand daran. Die Bauleitung ist der Ansicht, wer stürzt, sei unaufmerksam
gewesen und habe sich das selbst zuzuschreiben. Die Belegschaft darf über
Unfälle nicht informiert werden. Die Belegschaft vermeidet selbst, über
dieses Thema zu sprechen, da niemand das “gute Betriebsklima” gefährden
will. Niemand “will in die Hand beißen, die ihn füttert.”
Doch wenn eine Kirche sich mit sozialen Projekten profiliert (wobei der
Löwenanteil durch ehrenamtliche Arbeit ehrlich gesinnter Gläubiger beige­
steuert wird), aber gleichzeitig hinnimmt, dass einzelne Menschen durch
destruktive und dilettantische Theologie schwer geschädigt werden, kann
dann das Motiv 258 der leitenden Personen tatsächlich aufrichtige Liebe
sein ? Können sie für sich beanspruchen, dass sie die wichtigsten Qualitäts­
standards Jesu 259 – Barmherzigkeit, Fairness, Ehrlichkeit – respektieren ?
Oder muss man sie eher den “Schriftgelehrten und Pharisäern” zuordnen, die
sich über diese Maßstäbe hartnäckig hinweggesetzt haben ? (Mt 23,23)
Haben sich das Recht, sich für ihr Tun auf Jesus Christus zu berufen ?
Wie wird wohl später einmal die Nachwelt – viel wichtiger: wie wird Jesus –
über diese Leute urteilen, die sich jetzt noch selbstbewusst für “gute Hirten”
und “Verteidiger der Wahrheit” halten ? Wird er sagen: “O ihr treuen und
frommen Diener, was habt ihr doch für beeindruckende Erfolge vorzuwei­
sen, insbesondere ein volles Gotteshaus!”
256
257
258
259
Siehe Seite 85.
Siehe „Stichworte“ / „Blinder Fleck“, (Internet).
Siehe „Stichworte“ / „Destruktive Motive“, (Internet).
Siehe „Stichworte“ / „Qualitätsmaßstäbe“, (Internet).
149
Wird er sagen: “Oh ihr treuen Diener, wie seid ihr doch fromm, das ihr die
meisten Besucher zufriedengestellt habt ? ” Oder wird er sagen: “Was ihr
dem Geringsten unter meinen Brüdern angetan habt, das habt ihr mir ange­
tan” ? (Mt 25,40)
12. Prüfe Dein Urteilsvermögen
Urteilsvermögen wird durch Übung gestärkt.
Wenig Urteilsvermögen hat, wer alles gedankenlos hinnimmt.
“Macht euch nicht mitschuldig an finsteren Machenschaften. Helft vielmehr
das Böse in der Gemeinde aufzudecken.” (Eph.5,11 ff)
In evangelikalen und pietistischen Gemeinden ist dieses wichtige Gebot
weithin vergessen.
1. Ist das wirklich wahr ?
2. Naheliegende Fragen ... 260
3. Eine einfache Lösung, die immer möglich ist ! 261
4. Skizze eines bibelgemäßen Schlichtungsverfahrens 262
5. Das Dilemma der wortwörtlichen Interpretation 263
Wir wollen uns einmal einen typischen Fall anschauen, um Urteilsvermögen
zu üben … (weitere Fälle sind in Vorbereitung…)
12.1 Ist das wirklich wahr ?
Es war einmal ein Mensch. Er bekehrte sich und wurde gläubig. In einer
bibeltreuen Gemeinde. In allen bibeltreuen Gemeinden, die er kannte, ver­
sicherte man ihm, dass die Bibel Gottes Wort und „völlig zuverlässig“ sei.
Nun geschah es, dass ihm ein Mitchrist aus einer anderen Gemeinde einen
schlimmen Schaden zufügte und sich nicht weiter darum kümmerte. Norma­
lerweise bringt man den Streitfall vor Gericht.
260
261
262
263
Siehe Seite 153.
Siehe Seite 154.
Siehe Seite 156.
Siehe Seite 159.
150
Er aber konnte das nicht tun, denn in der Bibel hatte er gelesen, dass das eine
„schändliche Sünde“ sei. (1.Ko 6,5) Die Bibel sagte ihm, er sollte einen
Rechtsstreit vor „die Weisen“ der Gemeinde bringen. Sehen wir uns die
betreffende Bibelstelle einmal genau an! „Wie kann jemand von euch
wagen, dass ihr als Christen euren Rechtsstreit vor ungläubigen Richtern
austragt, anstatt vor Menschen, die zur Gemeinschaft der Heiligen
gehören? Wisst ihr nicht, dass die Heiligen einmal über die Welt richten
werden? Müsstet ihr dann nicht erst recht eure Rechtsstreitigkeiten unter
euch regeln können? Habt ihr vergessen, dass wir sogar über Engel richten
werden? Wie viel mehr über Dinge des täglichen Lebens. Müsstet ihr dann
nicht erst recht eure alltäglichen Streitigkeiten schlichten können? Ihr aber
lauft damit zu Richtern, die noch nicht einmal Christen sind. Euch zur
Schande muss ich das sagen. Gibt es denn gar keinen weisen Menschen bei
euch, nicht einmal einen einzigen, der in einem Rechtsstreit zwischen Gläu­
bigen fair entscheiden könnte?“ (1.Kor 6,1-5).
Leider wusste der Gläubige nicht, wer der „Weise“ sein sollte, der hier in
Frage kam. Denn über faire Schlichtung wurde in den Gemeinden weder
gesprochen noch nachgedacht. Das tat nun der Geschädigte und schrieb
einiges dazu auf. Wie konnte man einen geeigneten Schiedsrichter finden ?
Wie wird Befangenheit nach Möglichkeit vermieden ? Was muss getan wer­
den, damit der Täter seine Verantwortung erkennt ? Darauf bat er den Pastor
der bibeltreuen Gemeinde, zu der der Täter gehörte, zu diesen Gedanken
Stellung zu nehmen.
De Pastor teilte ihm mit, dass er dafür „keine Zeit“ hätte. Er wollte nur den
Namen des Täters wissen und dann den Fall entscheiden. Der Geschädigten
aber konnte nicht mehr glauben, dass Pastor „der Weise“ war, da dieser
weder Zeit noch Lust hatte, über völlig selbstverständliche Fragen nachzu­
denken. Als er ihn nun bat, ihn bei der Suche nach geeigneten Gläubigen zu
unterstützen, weigerte sich der Pastor.
Ebenso weigerte er sich, als der Gläubige fragte, ob er die Angelegenheit
nach dem Scheitern des Vermittlungsgesprächs „vor die Gemeinde bringen“
könnte – wie es die Bibel fordert. (Mt 18,17). Der Pastor sagte, dass er das
nicht zulassen würde, da der Geschädigte „nicht Mitglied seiner
Gemeinde“ sei. Die Angelegenheit sei damit für ihn erledigt.
Und so blieb der gläubige Bruder auf seinem beträchtlichen Schaden sitzen –
bis zum heutigen Tag.
151
Kaum zu glauben: Dieses skandalöse Ergebnis ist in evangelikalen Gemein­
den keine Ausnahme! Schon vor eineinhalb Jahrzehnten (!) hat Prof. Dr.
Dr.Thomas Schirrmacher in seiner „Ethik zum Selbststudium“ die „völlige
Aushöhlung des christlichen Rechtsbewusstseins“ in evangelikalen Gemein­
den beklagt. 264 Geändert hat sich bisher so gut wie nichts!
Wie kann man da behaupten, dass sich das übliche Verfahren, dass der Herr
Pastor mit beiden Konfliktparteien spricht und dann “nach seinem Ermes­
sen” entscheidet, bewährt habe ?
Immer wieder passiert es: Immer wieder passiert es: gläubige Christen
erleiden einen Schaden durch einen Mitchristen. Aber in der Gemeinde wird
an der gemeinsamen Lösung des Konflikts nicht gearbeitet. Vielmehr stellt
man sich dort auf die Seite des Täters, der den Fall unter den Teppich kehren
möchte und so tut, als ob nichts geschehen wäre. Die Mitglieder werden
nicht einmal darüber informiert, dass sie ihren Fall vor das weltliche Gericht
bringen dürfen, sondern sogar noch kritisiert, wenn sie es tun – unter Beru­
fung auf eine wörtliche – und falsche ! – Auslegung von 1.Kor 6. 265
Kommt der geschädigte Bruder oder die Schwester gar noch aus einer ande­
ren Gemeinde, so sind die Chancen auf eine faire Konfliktschlichtung noch
viel geringer.
264 Band 2, Neuhausen-Stuttgart, 1994, Seiten 593 – 594.
265 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 26. Behauptung: “Ein Christ darf sich nicht
wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern“, Seite 132.
152
Die Tatsache, dass der heilige Geist alle Gläubigen über Grenzen und Spren­
gel hinweg zu einem Leib zusammenfügt, und dass diese Einheit heilig ist
und viel höher steht als der Zusammenhalt eines religiösen Vereins oder
einer Kirchgemeinde macht leider auf manchen Pastoren, der sich als
„bibeltreu“ betrachtet, keinen nennenswerten Eindruck.
Was sagt das Neue Testament, die “Verfassung” aller gläubigen Gemein­
schaften? “Nun seid ihr also nicht mehr Fremde und Leute ohne Bürger­
recht, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und gehört zur Familie
Gottes. Die Familie Gottes, die Gemeinde, ist ein ständig wachsender Bau,
der auf dem Fundament der Apostel und Propheten steht. In ihm ist Jesus
Christus der wichtigste Stein, der das ganze Haus zusammenhält, ein Haus,
das sich der heilige Gott selbst zur Wohnung erwählt hat.” (Eph 2,19-21)
Das ist gültiges biblisches Recht!
12.2. Naheliegende Fragen …
a) Welche Folgen hat das Verhalten des Pastors für die Seele des Geschä­
digten ? Ist es nicht wahrscheinlich, dass er zusätzlich zu den Folgen der Tat
auch noch die quälende Erkenntnis aufgeladen bekommt, dass seine Mit­
christen de facto Partei für den Schädiger ergreifen und ihn im Stich lassen ?
b) Ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er bald an den tröstenden Worten
Jesu zu zweifeln beginnt, weil seine Geschwister ihm beweisen, dass die
Anweisungen Jesu zur Konfliktschlichtung nur bedeutungsloses Geschwätz
sind ?
c) Ist es nicht wahrscheinlich, dass der Geschädigte sehr bald seinen
Geschwistern nicht mehr glauben kann, die ihre “Liebe” zu ihm beteuern ?
Gibt es Liebe ohne Fairness ?
d) Ist es nicht möglich, dass ihn sogar noch einzelne Geschwister anfeinden
und als “Schalksknecht” beschimpfen, und ihm es als Sünde vorwerfen, dass
er eine faire Lösung erwartet ?
153
e) Kann der Pastor noch glaubwürdig über die Einheit des Leibes Christi
(1.Kor 12,12) und über die Aufgabe des Gläubigen “mitzuleiden” (1.Kor
12,26) und “die Last des anderen zu tragen” (Gal 6,2), predigen oder ist das
als unredliche Propaganda anzusehen?
f) Ist die Einheit des Leibes Christi ein nebensächliches oder ein ganz zen­
trales Thema ?
g) Welche Folgen hat das Verhalten des Pastors für die Seele des Täters ? Ist
es möglich, dass sie zu einer Haltung der Verstocktheit und der Schaden­
freude beiträgt ? Wie sind dann die Aussichten des Täters auf Errettung,
wenn die Bibel sagt, dass “ein unbarmherziges Gericht ergeht” (Jak 2,13)
über den, der nicht barmherzig sein wollte ?
h) Welche Motive mag wohl der Pastor haben, wenn er dazu aufruft, eifrig
zu missionieren und zu evangelisieren, um “Seelen zu retten”, wenn ihm das
Schicksal des Täters gleichgültig ist ?
i) Jeder Betrieb hat seinen Betriebsrat, mit dessen Hilfe sich auch der unbe­
deutendste Mitarbeiter gegen Willkür, Übervorteilung und Gemeinheit weh­
ren kann. Doch was hat die christliche Gemeinde? Wie könnte eine bibelge­
mäße Lösung des Problems aussehen?
12.3. Eine einfache Lösung, die immer möglich ist …
Wenn der Pastor merkt, dass der geschädigte Bruder nicht das Vertrauen in
eine unparteiische Anhörung seitens des Vorstandes aufbringt, so kann er
dennoch dafür sorgen, dass eine solche Anhörung durch Älteste einer
anderen Gemeinde, die nicht zu seinem Einflussbereich gehört, stattfindet.
Der Pastor kann den Beschuldigten auffordern, an dieser Anhörung teilzu­
nehmen. Die beauftragten Ältesten hören beide Parteien zur Sache und
berichten dann darüber in den Mitgliederversammlungen beider
Gemeinden, der des Geschädigten und der des Beschuldigten.
154
Diese entscheiden dann – nunmehr vollständig informiert – unabhängig über
Wiedergutmachung und Disziplinierung.
Verweigert der Beschuldigte die Teilnahme an der Anhörung, so hören die
Ältesten nur den Geschädigten und formulieren Fragen an den Beschuldig­
ten.
Die Mitgliederversammlung stellt diese Fragen dann dem Beschuldigten und
entscheidet dann über Vorschläge zur Wiedergutmachung und Disziplinie­
rung.
Diese kleine Lösung hätte der Pastor im oben genannten Fall vorschlagen
können. Es entsteht kaum Aufwand, da die Entscheidungen durch andere
getroffen werden. Es ist nur Offenheit und Ehrlichkeit nötig. Mit der Bemü­
hung um Transparenz ist bereits sehr viel erreicht.
Wenn die untersuchenden Ältesten aus zwei verschiedenen Gemeinden
stammen, dann werden beide noch mehr um eine glaubwürdige Leitung der
Untersuchung bemüht sein. Die Qualität der Entscheidungen, die die Mit­
gliederversammlung trifft, lässt sich noch weiter verbessern, wenn man das
ganze Verfahren enger an der Bibel ausrichtet (siehe folgender Abschnitt).
Ein Pastor, der die kleine Lösung unterstützt, sollte natürlich auch selbst
bereit sein, sich bei einer Beschwerde gegen ihn selbst einer unparteiischen
Anhörung zu stellen.
Für jemand, der sein Amt redlich versieht, ist das kein Problem.
155
12.4. Skizze eines bibelgemäßen Schlichtungsverfahrens:
a) Die Gemeinde muss auf den Ernstfall einer Straftat, die von einem Mit­
glied begangen worden ist, vorbereitet sein. Ohne Vorbereitung ist es sehr
wahrscheinlich, dass bei Rechtsbruch und Schädigung weggesehen und ver­
drängt wird, anstatt die Wunden im Geiste Jesu zu verbinden. Die Bemü­
hung um gegenseitige Versöhnung bleibt unerläßlich, auch wenn die welt­
liche Justiz für Bestrafung und Schadensausgleich gesorgt hat. Wichtig: das
Schlichtungsverfahren ist eine Notordnung für Straftaten und regelt des­
halb keine Erbschaftsstreitigkeiten. (Luk 12,14)
b) Wenn die Gemeinschaft der Gläubigen in die Konfliktschlichtung nicht
in sinnvoller Weise einbezogen werden kann (Mt 18, 17; 1.Kor 11,13b),
bleibt nicht selten die Vorstufe, das Mediations- oder Vermittlungsgespräch
(Mt 18,16), ergebnislos oder findet erst gar nicht statt.
c) Am wirksamsten und sinnvollsten wird die Gemeinde einbezogen, indem
sie mindestens zwei oder drei “weise” (1.Kor 6,5), d.h. geeignete Gläubige
zu Schiedsrichtern (4.Mo 11,16-17) wählt, hinter deren Entscheidung sie
sich stellen kann. Dies ist der effizienteste Weg, um den guten Ruf des Scha­
densverursachers zu schützen und um eine Beeinträchtigung des Gemeinde­
lebens zu vermeiden.
Geeignet sind Gläubige, die sich durch Wertschätzung der Fairness (Ps
37, 28 / 94, 15 / Jes 1, 17), Liebe zu den schwachen Geschwistern (Mt
25,40 / 1.Kor 12, 22 -24) und durch Fähigkeit zur Selbstkritik (Rö 2,21a /
2.Kor 10,12-13+18 / 15,5) auszeichnen. Diese Eigenschaften kann man lei­
der nicht bei allen Mitgliedern voraussetzen.
d) Wenn die Gemeinde sich hinter ihr Urteil stellen soll, müssen diese Gläu­
bigen mit entsprechender Autorität ausgestattet werden. Sie legen deshalb so
wie hauptamtliche Mitarbeiter einen Amtseid ab, indem sie sich verpflich­
ten, unparteiisch zu urteilen (Jes 50, 20-24a / Jak 2,9) und das Gewissen
nicht fahrlässig zu erleichtern. (Jer 6,14)
156
e) Die Konfliktpartner bekräftigen ihre Aussagen in der Untersuchung,
indem sie Gott zum Zeugen ihrer Wahrhaftigkeit anrufen, so wie auch
Paulus Gott zum Zeugen anrief, wenn ihm die Sache wichtig genug erschien.
(Rö 1,9 / 2.Kor 1,18 / Phil 1,8) Die Anrufung Gottes ist angemessen, da
ungelöste oder lange schwelende Konflikte die Gemeinschaft erheblich bela­
sten können.
f) Das vorrangige Ziel der Konfliktschlichtung ist die Förderung des Ver­
antwortungsgefühls (1.Mo. 4,9 / 1.Kor 12, 26) und nicht die materielle
Wiederherstellung. Der Täter soll erkennen, dass sein Gottesdienst jetzt
darin besteht, die Wunden des geschädigten Mitchristen zu verbinden. (Mt
5, 23-24) Bibelgemäße Konfliktschlichtung versucht, eine Brücke zwischen
den Konfliktgegnern herzustellen.
g) Die Predigt muss diesen Prozess der Gewissensbildung unterstützen und
Wertschätzung der Fairness lehren, zumal die ganze Gemeinde ja geeig­
nete Schiedsrichter wählen soll. Sie tut das am wirksamsten, indem sie deut­
lich darauf hinweist, dass sie Spenden und Mitarbeit eines Gläubigen
zurückweisen muss, der gegenüber dem geschädigten Mitchristen gleichgültig bleibt („Korban“ – Predigt: Mk 7, 11-13). Wertschätzung der Fair­
ness ist die unverzichtbare Grundlage „ungeheuchelter Bruderliebe“ (Rö
12,9 / 2Kor 6,6 / 1Pe 1,22). Gegebenenfalls müssen zusätzlich geeignete
Prediger für diese Aufgabe bestellt werden.
h) Das Ziel der Konfliktschlichtung ist nicht der vorschnelle Ausschluss des
Täters. Es wäre unfair und scheinheilig, das Problem auf diese Weise einer
anderen Gemeinde aufzubürden. Der Gläubige, der den Mitchristen geschä­
digt hat, kann sich seiner Verantwortung ebenfalls leicht durch Wechsel der
Gemeinde entziehen. Deshalb müssen die Schiedsrichter verschiedener
Gemeinden zusammenarbeiten (vgl Ri 19-20) und die Beurteilung des
Täters sollte in der Gemeinde geschehen, in der man ihn und sein Verhalten
gut kennt.
157
i) Wer andere prüft oder zum Gehorsam aufruft, muss auch selbst bereit
sein, sich prüfen zu lassen. Deshalb sollte es selbstverständlich sein, dass
jeder, der eine Funktion oder ein Amt in der Gemeinde hat, sich und sein
Verhalten an der Bibel prüfen lässt. (2.Kor 4, 2 / 6,7 / 7,2) Die Prüfung der
charakterlichen Eignung eines Schiedsrichters (siehe Punkt c) ist schon des­
halb selbstverständlich, da der Geschädigte in der Regel nur einen einzigen
Versuch (!) hat, sein Anliegen vorzubringen und es (anders als in der Welt)
keine übergeordneten Instanzen gibt, die man zur Überprüfung der Ent­
scheidung anrufen könnte.
j) Wer Einkommen von der Gemeinde bezieht, ist in Rechtsentscheidungen,
die möglicherweise zu Parteiungen, zu Stress an der Arbeitsstelle und zu
einer Einbuße von Spenden führen können, nicht unbefangen. Deshalb ist
es unfair, ihn zum Schiedsrichter zu bestellen, der ja einen Amtseid abzule­
gen hat. (1.Thess 5,22)
k) Auch wenn eine Gemeinde selber keinen schiedsgerichtlichen Dienst ein­
richten möchte und hier lieber die Hilfe einer anderen Gemeinde in
Anspruch nimmt, sollte dort die Charakterbildung 266 mit Hilfe der 3 Maß­
stäbe Jesu 267 „Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit“ “ (Mt 23,23)
ein wichtiges Thema sein.
l) Falls sich ein Gemeindeleiter bösartig und ungerecht verhält, dann darf
die Gemeinde nicht gezwungen sein, dazu zu schweigen, weil ja “über dem
Leiter niemand mehr steht”. Wie soll ein solcher Leiter dann das Abendmahl
austeilen, mit welchem Recht kann er noch Mitglieder ermahnen, sich selbst
zu prüfen und ihre Sünde zu bereuen ? Dies ist dann ja unmöglich, ohne zu
heucheln.
Es muss daher möglich sein, eine Beschwerde gegen einen böse handelnden
Gemeineleiter an geeigneter Stelle vorzubringen, wo unparteiisch und
ohne Ansehen der Person darüber geurteilt werden kann. Der beste Ort
dazu sind Älteste einer anderen bibeltreuen Gemeinde, die keine persön­
lichen Beziehungen oder Kooperationen mit der Gemeinde des Beschul­
digten haben.
266 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173.
267 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe“, (Internet).
158
Diese hören beide Seiten an, bilden sich ein Urteil nach biblischen Maßstä­
ben und berichten auch in den Mitarbeiterversammlungen beider Gemein­
den, der Gemeinde des Klägers und der Gemeinde des Beschuldigten. Diese
entscheiden dann – nunmehr vollinformiert – selbständig über Schadensaus­
gleich bzw. Disziplinierung.
Bevor man sich an Älteste einer dritten Gemeinde wendet, sollte man immer
einen Vermittlungsversuch mit einem Freund oder Fürsprecher machen, die
auch als Zeugen dienen. (Mt 18,16) Wenn dieser scheitert, bleibt nur der
beschriebene Weg. (Mt 18,17) Die Gemeinde hat damit eine echte Chance,
auf der Basis ungeschönter Information zu entscheiden. Diese Chance hat sie
heute häufig nicht. Sie sollte sie auf jeden Fall haben, weil eine faire Ent­
scheidung für ihre geistlichen Gesundheit wichtig ist.
Wenn Du Details wissen willst, steht Dir kostenlos die Broschüre „Liebe
ohne Fairness ?“ unter “Downloads” (Kurzversion und Vollversion) zur
Verfügung.
Bitte mache Deine Mitchristen auf die Notwendigkeit eines seriösen (!)
Verfahrens aufmerksam!
12.5. Das Dilemma der wortwörtlichen Auslegung
Wenn der Apostel Paulus in der Bibel klar und deutlich ermahnt, Streitfälle
fair zu schlichten und der Gläubige darauf reagiert, indem er den Kopf in
den Sand steckt und behauptet, gerade diese Ermahnung wäre unerforschlich
und man dürfe darüber nicht nachdenken, so ist das ein intellektuell unred­
liches, inakzeptables und peinliches Verhalten! Von der Schädigung des
Bruders und der Gleichgültigkeit gegenüber seinem Leid ganz zu schwei­
gen!
Der Fehler liegt aber nicht in der Ermahnung des Paulus, sondern vielmehr
in der Starrheit der Interpretation, die andere Bibelverse unzureichend
berücksichtigt.Die bibelgemäße Lösung 268 ist klar, konsistent und überzeu­
gend.
268 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 26.Behauptung: „Ein Christ darf sich nicht
wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern“, Seite 132.
159
13. Zu Gott gehören
1. “Ein geheiligtes Leben führen” heißt
die Freundschaft mit Gott im Lebensstil zu zeigen
a) Negative Definition der Heiligung
b) Positive Definition
2. Heiligung ist keine nur private Angelegenheit ! 269
3. Die Echtheit der Heiligung ist an der Qualität (!)
der Früchte zu erkennen ! 270
4. Der Weg aus der Werkgerechtigkeit 271
5. Zerrbilder der Heiligung 272
13.1. “Ein geheiligtes Leben führen” heißt,
die Freundschaft mit Gott im Lebensstil zu zeigen
Wer die Gnade Gottes und Seine beglückende Freundschaft erlebt hat,
möchte nun auch seinerseits seine Freundschaft mit Gott mit seinem Lebens­
stil zeigen. Diese Einstellung heißt “Heiligung”. Gott möchte, dass Seine
Gläubigen Ihn mit ihrem Lebensstil ehren (Eph 4,1). Er möchte, dass ihr
Charakter der Person Jesu ähnlicher wird (Rö 8,29, 2.Kor 3,18), sodass
andere Menschen ermutigt werden, Gott ebenfalls ihr Vertrauen zu schen­
ken.
Durch Heiligung wirkt der Heilige Geist im Innersten der Seele, sodass auf
diese Weise beim Gläubigen selbst Glaubensgewissheit und Gotteserkennt­
nis verstärkt werden: “Gott schenke euch aus seinem unerschöpflichen
Reichtum Kraft, damit ihr durch seinen Geist innerlich stark werdet, und
Christus durch den Glauben in euren Herzen wohnt und ihr in der Liebe
eingewurzelt und fest gegründet seid. Denn nur so könnt ihr mit allen ande­
ren Christen das ganze Ausmaß seiner Liebe erkennen, die wir doch mit
unserem Verstand niemals fassen können, die aber uns selbst und unser
Leben völlig ausfüllen kann. ” (Eph 3,16-19).
269
270
271
272
Siehe Seite 166.
Siehe Seite 167.
Siehe Seite 169.
Siehe Seite 171.
160
Obwohl der Apostel Paulus die Formung der christlichen Persönlichkeit sehr
positiv beschreibt, ist der Begriff “Heiligung” leider bei vielen Gläubigen
eher mit negativen Emotionen verbunden.
a) Negative Definition der Heiligung:
Nicht wenige verbinden mit dem Begriff “Heiligung” eher negativ empfun­
dene Verhaltensweisen: überzogene Bravheit, Unselbständigkeit im Denken,
moralinsaure Überheblichkeit und servilen, selbstquälerischen Perfektionis­
mus. Auch wenn man immer wieder einmal unter Gläubigen auf solche
“Vorbilder” trifft – hat Jesus wirklich das mit “Heiligung” gemeint ?
Zerrbilder der Heiligung entstehen durch eine falsche oder unklare Bezie­
hung des Gläubigen zum Gesetz. Echte Heiligung wird unabhängig vom
Gesetz geschenkt, denn der gläubige Christ ist “tot für das Gesetz“. (Gal
2,19) Wäre er noch dem Gesetz unterworfen, so müsste er es komplett ein­
halten, um Gottes Wohlgefallen zu erhalten. “
Die sich von der Beachtung des Gesetzes Gottes Segen versprechen, sind
verflucht. Denn so steht es im Gesetz: Verflucht ist jeder, der nicht alles
ausnahmslos einhält, was im Gesetz gefordert wird.” (Gal 3,10).
Deswegen kann echte Heiligung nicht darin bestehen, möglichst viele
Gebote einzuhalten, d.h. moralische Leistung quantitativ nachzuweisen, um
sich des göttlichen Segens zu versichern. Paulus weist deutlich darauf hin:
auch der Gläubige, der ganz viele Gebote einhält, ist kein bisschen besser
dran als der, der nur wenige einhält. Die Tatsache, dass ein einziges Gebot
nicht eingehalten werden kann, genügt, um verflucht zu sein. (Gal 3,10)
Wer kann alle Gebote einhalten ? Nur Jesus konnte das. (Jo 8,46) Selbst
Paulus, der sich aufopferte wie selten jemand, sagte, dass er sich lieber nicht
auf seine Gerechtigkeit verlassen wolle. (Phil 3,9)
161
Wieviel Gläubige sonst schaffen es denn, vollkommen selbstlos zu leben 273,
täglich ihr Leben zu riskieren und alles zu einzusetzen, was sie haben, um
Menschen zu retten ? Auch wenn es vereinzelt solche Gläubige gibt – wenn
sie es tun, ist es ganz und gar freiwillig. Sie sind nicht gezwungen, es zu tun.
274
Der Segen Gottes, seine Liebe, die Erlösung wird ganz und gar aus Gnaden
geschenkt und ist nicht von der moralischen Leistung des Gläubigen abhän­
gig.”Ganz aus Gnaden seid ihr gerettet worden – nicht etwa aufgrund treuer
Gesetzeserfüllung, deren sich irgendjemand rühmen könnte.” (Eph 2,9-10)
Echte Heiligung ist ein durch Freundschaft und Liebe motiviertes Ver­
halten und hat nichts mit quantitativer Leistung zu tun.
Die innere Befreiung und Heilung ist dabei die Grundlage des äußerlichen
Tuns. Der Apostel bezeichnet Heiligung als ein Geschehen in der Seele des
Gläubigen (“innerlich stark werden“). Das ist das Entscheidende.
Bei der unechten, vermeintlichen Heiligung, der Gesetzesknechtschaft ist
es umgekehrt.
In der Seele wird die größte Fäulnis und Unfreiheit geduldet, denn es kommt
nur auf die äußerliche moralische Fassade an. (Mt 23,27-28) D.h. es genügt
dann, eifrig die Bibel zu lesen, zum Gottesdienst zu gehen, nicht die Ehe zu
brechen, nicht zu stehlen, nicht zu betrügen, eifrig zu spenden, neben der
beruflichen Arbeit in der Gemeinde Dienste zu übernehmen.
Schwieriger wird es dann schon bei den Wortsünden: nicht schlecht über
andere reden, nicht beleidigen, verhöhnen und verspotten, nicht täuschen
oder lügen. Etliche Gesetzesknechte bewerten diese Verhaltensweisen eher
als Bagatelle, die ihnen sogar entschuldbar scheinen, wenn sie dazu dienen,
die eigene Rechtgläubigkeit anderen aufzuzwingen. Von den Gedankensün­
den ganz zu schweigen.
273 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Hundertprozentige Buchstabentreue ist eine
Illusion“. (Internet).
274 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 7. Behauptung: “Wer nicht fast alles opfert, ...
lebt in Sünde und unter dem Fluch Gottes.”, Seite 83.
162
Doch selbst, wenn man sich bei den Wort- und Gedankensünden zurückhal­
ten würde: Falsche Heiligung, die nur mit der eigenen Willenskraft (vgl Joh
1,13) zustande gebracht wird und nicht aus Liebe und Freundschaft entstan­
den ist, bleibt ein Fremdkörper in der Seele. Sie ist Heuchelei, weil sie sich
als Freiheit ausgibt (“Propaganda“ 275), und dabei doch mit ständiger Über­
forderung, Einschüchterung und Bedrohung verbunden ist.
Wer unter Heiligung hauptsächlich äußerliche Verhaltensweisen versteht
und das innerliche Geschehen als zweitrangig betrachtet, der verfällt sehr
leicht in den Wahn, dass er Gott mit seiner äußerlichen Leistung zufrieden­
gestellt habe. Dann sieht er auf andere, die seiner Meinung nach weniger
“leisten”, von oben herab: “Der Pharisäer betete : Ich danke dir, Gott, dass
ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder
auch wie dieser Zöllner da.” (Luk 18,11)
Durch moralischen Hochmut wird Gott nicht würdig repräsentiert. Ein
fataler Irrtum und Mangel an Selbsterkenntnis ! Der Pharisäer gab sich selbst
die Ehre, dagegen ist echte Heiligung ein Werk des Heiligen Geistes, das
allein Gott ehren soll. “Kann man da noch selbst auf etwas stolz sein? Das
ist ausgeschlossen.” (Rö 3,27 / Eph 2,9)
Moralischer Hochmut und die Lust, Mitmenschen mit dem moralischen
Knüppel auf den Kopf zu hauen, ist eine leider weit verbreitete und sehr
traurige und schäbige Sache. Wie blind muss man sein, um dieses Verhalten
mit der Heiligung, dem Werk des Heiligen Geistes, zu verwechseln!
Wie blind muss man sein, um zu glauben, dass man mit diesem trostlosen
Verhalten Gott würdig repräsentiert !
275 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Propaganda“, (Internet).
163
b) Positive Definition der Heiligung:
Heiligung ist eine frohmachende Lebensweise, die den Gläubigen selbst,
seine Mitchristen und Gott erfreut.
Paradoxerweise ist die Voraussetzung dieser Freude ehrliche Selbstprüfung
276
und Selbsterkenntnis 277. Wenn der fromme Moralist sich eines Tages zu
dieser Haltung entschließt, dann steht auch ihm der Weg zu dieser Freude
offen.
“Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meiner menschliche Natur, nichts
Gutes wohnt. Es fehlt mir nicht am Wollen, aber das wirklich Gute bringe
ich nicht zustande.” (Rö 7,18) Realistische Einsicht in die Verdorbenheit
der alten menschlichen Natur ist das erste Werk des Heiligen Geistes, der
die Menschen von ihrer Sündhaftigkeit überzeugt (Jo 16,8), die “nicht durch
die Willenskraft eines Menschen” (Jo 1,13) überwunden werden kann.
Mit Selbsthaß oder Selbstverachtung hat diese Einsicht nichts zu tun. Denn
Gott bietet dem Menschen, der seine Sünde bereut, eine neue Natur als
Geschenk an, die sein eigentliches Wesen wird. Im Himmel angekommen,
wird er nur noch diese Natur haben. Vor dem physischen Tod hängt ihm
zugleich noch die alte Natur wie ein Klotz am Bein. Weil er das erkennt,
bleibt er vor moralischem Hochmut bewahrt. Selbsterkenntnis 278 wird er
immer positiv als Chance sehen. Sie macht ihn nicht mehr depressiv, weil
die alte Natur ja nur etwas Vorläufiges ist.
Um den Einfluss der alten bösen Natur zurückzudrängen, bleibt der Gläu­
bige bis zu seinem Lebensende auf die Hilfe des Heiligen Geistes angewie­
sen: “Wenn ihr aber durch den Geist die Interessen des alten Menschen
tötet, werdet ihr leben.” (Rö 8,15)
Der Heilige Geist hat im Gläubigen neuartige Interessen geschaffen. Die
Qualität des Glaubens und seiner freundschaftlichen Beziehung zu Gott
ist ihm nun wichtig.
276 Siehe das Kapitel „Prüfe dich selbst“, Seite 178.
277 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Selbsterkenntnis“, (Internet).
278 Ebd.
164
Weil es um Qualität geht, kann alles, was er für diese Beziehung tut, nur
freiwillig sein.
Die Maßstäbe Jesu Barmherzigkeit, 279 Gerechtigkeit, 280 Ehrlichkeit 281
ermöglichen es ihm, das eigene Tun “von außen” mit den Augen Jesu zu
sehen. So kann er die Qualität seiner Entscheidungen verbessern und seinem
Tun “Ewigkeitswert” verleihen. Alles, was ein Mensch mit dem Motiv der
Liebe getan hat, wird von Jesus Christus gewürdigt und belohnt. (Mt 24,4547 / Lk 12,37 / 19,17-19) Nichts davon wird vergessen. (Mt 11,42)
Auf diesem Weg kommt Qualität in das Glaubensleben, Liebe, Vertrauen,
Gewissheit, Freude an Gottes heilsamen Ordnungen, Vorfreude auf die
Ewigkeit. Der Glaube wird kostbar! 282 Der Gläubige wünscht sich von Her­
zen, Gott zu ehren, ihn zu lieben und zu loben, über ihn und sein Wort nach­
zudenken, ihm für alle Hilfe, Bewahrung und Führung dankbar zu sein.
Auf diese Weise bildet sich Charakter 283, eine Beständigkeit der Seele, die
nicht mehr von Verführungen oder Provokationen hin- und hergeworfen
oder gar aus der Bahn geworfen wird. “es ist eine gute Sache, wenn das
Herz zuverlässig wird durch die Gnade Gottes.” (Hebr 13,9).
Durch solche Gläubigen wird Gott am würdigsten repräsentiert.
279 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet).
280 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit”
(δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188.
281 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis”
(πιστις) in Mt 23,23 ... mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdig­
keit” übersetzt?“, Seite 190.
282 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Wert des Glaubens“, (Internet).
283 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173.
165
13.2. Heiligung ist keine nur private Angelegenheit !
Nicht nur der Gläubige selbst soll “geheiligt” werden, sondern auch die
Gemeinde, die „Gemeinschaft der Heiligen“: “So wie Christus die
Gemeinde geliebt und sein Leben für sie gegeben hat, um sie zu heiligen und
zu reinigen im Wasserbad des Wortes. Wie eine Braut soll seine Gemeinde
sein: wunderschön und frei von jeglichem häßlichen Merkmal, weil sie zu
Jesus Christus gehört.” (Eph 5,25-27).
Da die Gemeinde Jesus Christus repräsentiert, muss sie sich reinhalten vom
Bösen, und „das Böse in ihr aufdecken“ und überwinden (Eph 5, 11).
“Heiligung” ist also nie eine rein private Angelegenheit, sondern beinhal­
tet zugleich immer die Sorge für die Gemeinschaft, für die jeder Gläubige
mitverantwortlich ist.
Leider ist die Gleichgültigkeit gegenüber offenbarem Unrecht in der
Gemeinde weitverbreitet. Wenn Gläubige Konflikte unbearbeitet lassen und
Böses in der Gemeinde dulden, dann missachten sie wichtige Gebote Gottes
und leben keinesfalls in der Heiligung, wie sie vielleicht meinen.
Die Weigerung, sich für den geistlichen Zustand seiner Gemeinde mitverant­
wortlich zu sehen, wird gerne als “geistliche Einstellung” getarnt: als “Fried­
fertigkeit”. Umgekehrt wird der Versuch, Unrecht nach Mt 18,17 “vor die
Gemeinde zu bringen“, als “fleischliche Unversöhnlichkeit”, als “Schalks­
knecht-Gesinnung” 284 diffamiert. Dass der Geschädigte weiter unter dem
Unrecht leidet und sich von der Gemeinschaft im Stich gelassen fühlt, inte­
ressiert nicht. Kain, der Sohn Adams war gottgläubig und religiös. Und doch
leuchtete ihm diese Tatsache nicht ein: “Soll ich meines Bruders Hüter
sein” (1.Mose 4,9). Dank mangelhafter “Erziehung 285 in der Gerechtigkeit”
(2.Tim 3,16) zeigen die Gewissen vieler Gläubiger bei diesem falschen Ver­
halten gar nichts an.
284 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 26.Behauptung: „Ein Christ darf sich nicht
wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern“, Seite 130.
285 Siehe Seite 141 ff.
166
13.3. Die Echtheit der Heiligung ist an der Qualität (!)
der Früchte zu erkennen !
Da Heiligung eine Wirkung des Heiligen Geistes ist, hat sie auch entspre­
chende Qualität.
Der Gläubige, der durch Gottes Geist motiviert wird, handelt völlig freiwil­
lig, weil er vom Wert seines Tuns restlos überzeugt ist. Sowie Jesus völlig
freiwillig handelte – selbst beim Opfern seines Leibes (Jo 10,18). Nur posi­
tive Motive können auch andere überzeugen, schlechte nicht.
Das Gewissen 286 ist uns als “treuer Wachhund” gegeben, der uns ohne
großen gedanklichen Aufwand warnen soll, wenn wir uns gegen Gott und
gegen Mitmenschen versündigen. Das Gewissen muss aber an der Heiligen
Schrift “geeicht” werden, denn es wird durch die Erziehung geformt, womit
menschliche Fehleinschätzungen Einfluss nehmen können. Manche Gewis­
sen zeigen unangemessen eng, andere wieder viel zu oberflächlich an.
Letzteres ist häufig dann gegeben, wenn Gemeindelehrer ihrer Gemeinde
eine Botschaft vermitteln, die fleischlichen Bedürfnissen entgegenkommt.
(2.Tim 4,3)
286 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 20. Behauptung: “Das Gewissen ist die
unfehlbare Stimme Gottes”, Seite 119.
167
Umgekehrt gibt es auch Prediger, die die biblischen Forderungen stark über­
treiben (Mt 23, 4) um das Gewissen aufs Äußerste zu beschweren und mit
einer möglichst großen Zahl an Neubekehrten auftrumpfen zu können. Diese
Prediger binden Menschen an die eigene Person, sodass sie nur ihm selbst,
der ihnen das schlechte Gewissen auflud, zutrauen, sie ” in Vollmacht” wie­
der davon zu befreien.
Wenn das schlechte Gewissen die zentrale Rolle im Glaubensleben spielt, so
ist das Bibelverständnis gründlich krank und zeugt von einem Mangel an
Gotteserkenntnis. Gutes tun – um die Pein des schlechten Gewissens zu ver­
meiden – ist ein übles Motiv, das mit dem Geist der Liebe unvereinbar ist.
Nicht der andere und seine Freude ist im Blick, sondern man ist hauptsäch­
lich um das eigene seelische Wohl besorgt. Auch wenn man dieses Motiv
nach außen hin verbirgt, so bleibt doch das Tun deshalb wertlos.
Werkgerechtigkeit 287 ist nur eine scheinbare Heiligung. Sie ist nicht die
Frucht tatsächlicher innerer Erneuerung, sondern kommt nur durch eigene
Willenskraft zustande. Sie lässt keine Glaubensfreude entstehen, sondern
entmutigt und schädigt den Gläubigen.
Sie ist auf keinen Fall eine notwendige Vorstufe zu wirklicher Heiligung.
Von diesem Wahn können sich leider etliche betroffene Christen nur sehr
schwer verabschieden! Diese Theologie ist lebensgefährlich 288 und kann den
ganzen Glauben zerstören. Paulus warnte: “Ihr habt Christus verloren, die
ihr euch durch die Erfüllung göttlicher Normen retten wollt.” (Gal 5,4) Er
spricht von einem Entweder – Oder. Entweder „Sohn der Sklavin“ oder
„Sohn der Verheißung“. (Gal 4,22 ff) Es gibt keine Vermischung und keinen
allmählichen Übergang. Werkgerechtigkeit ehrt Gott nicht, da sie ihn als
jemanden hinstellt, der Menschen mit seelischer Erpressung Leistungen auf­
zwingt, die sie ohne diese Drohungen niemals geben würden.
287 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit”, (Internet).
288 Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 85.
168
13.4. Der Weg aus der Werkgerechtigkeit:
1. Entschärfe das überstrenge Gewissen, indem du seine Funktionsweise
erkennst: es ist nicht die Stimme Gottes, sondern ein notwendiger Mechanis­
mus der Seele (siehe: Details 289).
2. Unterscheide zwischen frommen Menschengeboten (Giftige Theologie 290)
und dem, was Gott wirklich will, indem du die Wirkung des Gebotes auf den
Charakter 291 beurteilst.
3. Denke viel über die Gebote nach, die Jesus Christus für die wichtigsten
hielt: “Barmherzigkeit, 292 Gerechtigkeit, 293 Ehrlichkeit 294” (Mt 23,23) und
interpretiere jedes Gebot so, dass diese Maßstäbe respektiert werden.
4. Halte fest, dass Jünger Jesu freie Menschen 295 sind und dass du dich
nicht bestechen oder erpressen lassen darfst. Werkgerechtigkeit 296 zerstört
den Glauben gründlich ! Tue dann lieber nichts, sondern bete um die richtige
Einstellung.
5. Glaube daran, dass Jesus grundsätzlich große Geduld mit dir hat, auch
wenn du nicht perfekt bist. Geduld mit dem, der schwach ist, ist ein Kenn­
zeichen echter Liebe. (1.Kor 13, 4-7)
Wenn es heißt, dass Jünger Jesu “vollkommen sein sollen” (Mt 5,48), so ist
dies ein großer Wunsch Jesu, aber nicht ein Gesetz, das die Nichterfüllung
unter Strafe stellt.
289 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 20. Behauptung: “Das Gewissen ist die
unfehlbare Stimme Gottes”, Seite 119.
290 Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 85 ff.
291 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173.
292 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet).
293 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 9. Abschnitt „Gerechtigkeit”, Seite 188.
294 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 10. Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis”
(πιστις) in Mt 23,23 ... mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdig­
keit” übersetzt?“, Seite 190.
295 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet).
296 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit, (Internet).
169
Man kann nicht befehlen, vollkommen zu sein, man kann es nur wünschen,
weil das wesentliche Element der Vollkommenheit die Freiwilligkeit ist.
Der Vollkommene tut das Gute um seiner selbst willen, weil er davon restlos
überzeugt ist und nicht weil er Belohnung erhofft oder Strafe fürchtet. Halte
also fest, dass du unvollkommen sein darfst. 297
Nicht nur für den Gläubigen des alten Testaments, sondern auch für den
Christen heute können äußerliche Regeln, die er dem Neuen oder Alten
Testament entnimmt, eine Glaubenshilfe sein und ihm ermöglichen, sich an
die Notwendigkeiten der unsichtbaren Wirklichkeit zu erinnern. Es gibt
Gemeinden, die mehr äußerliche Regeln beachten als andere, wobei dieser
äußerliche Unterschied nicht zu Qualitätsunterschieden in der Liebe und
Treue führen muss. Für manche Gläubigen sind viele äußerliche Regeln eher
störend, für andere eher hilfreich.
Genauso wie es einst bei den mosaischen Schriftgelehrten geschah, können
auch in der christlichen Gemeinde äußerliche Regeln und Traditionen mehr
Bedeutung als die Qualitätsmaßstäbe Christi 298 “Barmherzigkeit, Gerechtig­
keit, Verlässlichkeit” (Mt 23,23) erlangen. Infolge der Missachtung der
biblischen Priorität wird die Persönlichkeit Gottes nur noch verzerrt wahrge­
nommen.
297 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das
Heil ?“, (Internet).
298 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Jesu“, (Internet).
170
13.5. Die Zerrbilder der Heiligung
Parallel entstehen die typischen Zerrbilder der Heiligung:
a) Man befolgt den Wortlaut der Gebote in sklavischer Weise
wenn man damit einem anderen Menschen Schaden zufügt,
299
, auch
b) Man glaubt, Gott durch sklavischen Gehorsam gegenüber dem Wortlaut
der Bibel in Dienst nehmen, verpflichten, manipulieren zu können (Werkge­
rechtigkeit 300),
c) Das ständig schlechte Gewissen 301 ist der Motor des Handelns, der Gläu­
bige fühlt sich erniedrigt und terrorisiert,
d) Die biblischen Begriffe der Freiheit 302 und Mündigkeit des Gläubigen
sind nur noch inhaltsleere Propaganda 303,
e) Die Leitung erwartet von Gläubigen kritiklosen Gehorsam
wo sie selbst sich nicht an biblisches Recht hält,
304
auch dort,
f) Weisheit und Urteilen 305 nach bestem Wissen und Gewissen werden als
sündige Anmaßung, als gottlose Autonomie diffamiert,
g) Gebote werden missbraucht, um über den Glauben anderer zu herrschen,
statt zur Freude zu helfen (2.Kor 1,24),
299 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 17. Behauptung: “Das Textverständnis, das
sich am engsten an den Wortlaut hält, ist das beste.”, Seite 111..
300 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet)..
301 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 20. Behauptung: “Das Gewissen ist die
302
303
304
305
unfehlbare Stimme Gottes”, Seite 119.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit“, (Internet).
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Propaganda“, (Internet).
Siehe unter „Giftige Theologie“ die 22.Behauptung: “Ein Gläubiger, der den
Anweisungen des Gemeindeleiters nicht gehorcht, lebt in Rebellion gegen Gott.”,
Seite 126.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet).
171
h) man ist hochmütig (Lk 18,9 ff) und lieblos gegenüber allen Gläubigen,
die sich an die eigene Glaubenstradition nicht anpassen, sogar dann, wenn
sie es aus Gewissensgründen gar nicht können,
i) Gläubige verletzen und verdächtigen 306 einander unnötig (Gal 5,15),
Feindschaften, Rivalitäten, Spaltungen und Parteiungen entstehen (Gal
5,20), der Umgangston und das Klima in der Gemeinde ist durch Unfreund­
lichkeit geprägt.
Die Zerrbilder der Heiligung führen bei Nichtgläubigen zum Fehl­
schluss, dass der ganze Glaube unglaubwürdig ist. Sie sind für ihn ein
objektives Glaubenshindernis, ein Fallstrick. “Denn »euretwegen wird
Gottes Name gelästert von den Heiden«, wie geschrieben steht” (Jesaja
52,5).
Gotteserkenntnis ist nicht durch philosophische “Gottesbeweise” 307 herzu­
stellen. Der einzige Weg dorthin ist echte Heiligung. Heiligung ist der
“sechste Sinn”, mit dem jeder, der will, die unsichtbare Wirklichkeit
wahrnehmen kann. Deswegen sind Glaubensvorbilder so wichtig.
Die Bibel warnt uns: Wenn Gott Menschen gläubig werden lässt und sie
herausruft aus der Masse in seine Gemeinde, so besteht das Privileg in der
Chance, das Geschenk echter Heiligung zu erhalten. Ein Privileg, weniger
streng von Gott beurteilt zu werden, wird damit nicht erworben.
Weil eben diese Chance so groß ist, hat ihre Ablehnung strengere Bestrafung
(!) zur Folge.
“Ihr seid das einzige Volk, dass ich mir zum Eigentum erwählt habe. Und
deshalb werde ich euch für all eure Untreue zur Rechenschaft ziehen”
(Amos 3,2). “Weigert euch nicht, auf den zu hören, der jetzt zu euch redet.
Die Israeliten wollten damals nicht hören und sind ihrer Strafe nicht ent­
gangen. Uns wird die Strafe noch viel härter treffen, wenn wir den zurück­
weisen, der jetzt vom Himmel her zu uns spricht.” (Hebr 12,25).
306 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Selbsterkenntnis“, (Internet).
307 Siehe „Stichworte“ / „Gottesbeweis“, (Internet).
172
Manche Gemeindelehrer lehren das leider überhaupt nicht, bestreiten es u.U.
sogar. Dabei ist es sehr wichtig, dass der Gläubige, der echte Heiligung
überhaupt ablehnt oder das Zerrbild der Heiligung bevorzugt, über die mit
seinem Verhalten verbundene Gefahr klar und deutlich informiert wird.
“Ohne Heiligung wird niemand den Herrn sehen.” 308 (Hebr 12,14)
14. Kleine Charakter-Skizze
des im Glauben gereiften Christen
Der im Glauben gereifte Christ erkennt, dass 2.Tim 3,16 wesentliche Bedeu­
tung für das Schriftverständnis hat und dass dieser zentrale Vers die Not­
wendigkeit einer “Erziehung in der Gerechtigkeit” (προξ παιδείαν τήν εν
δικαιοσύνη) besonders hervorhebt und dass Gerechtigkeitsliebe zu den
wichtigsten Maßstäben (βαρυτερα του νομον) des Neuen Testamentes gehört
(Mt 23,23).
Entsprechend ist er daran interessiert zu verstehen, was das Neue Testament
mit “Erziehung in der Gerechtigkeit” 309 meint. Dabei wird er sich nach
bestem Wissen und Gewissen der Frage stellen, was denn als unbefrie­
digende oder gar missglückte Erziehung bzw. Charakterbildung 310anzusehen
ist.
Die Maßstäbe für diesen pädagogischen Vergleich entnimmt er dem Vorbild
Jesu und der Apostel. Ihr Vorbild zeigt, dass ein starker, gesunder Glaube
sich nicht abhängig macht von dem, was andere Gläubige glauben. (Jo 6,67)
Lebendige Fische schwimmen GEGEN den Strom …
tote oder halbtote Fische treiben mit ihm …
Jeder muss seine Überzeugung selber bilden nach bestem Wissen und
Gewissen (Rö 14,5) – allein auf der Grundlage der Heiligen Schrift.
308 Siehe weiter unter „Stichworte“ den Artikel „Heilsgewissheit ohne Heiligung ?“,
(Internet).
309 Siehe im Kapitel „Häufige Fragen“ die 9.Frage „Warum wird “Gerechtigkeit”
(δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188.
310 Siehe das Kapitel „Die negative Verformung der Persönlichkeit durch giftige The­
ologie“, Seite 143.
173
Dass viele Leute dasselbe glauben, ist überhaupt keine Garantie für die
Richtigkeit dessen, was geglaubt wird. Keine Gemeinde ist gegen sektiere­
rische Tendenzen 311 automatisch immun. (Mt 24,24 / Apg 20,29)
Weiter ist er sich der Tatsache bewusst, dass theologische Rechthaberei und
Bevormundung bestenfalls vor prüfendem Nachdenken schützt, aber keine
echte Glaubensgewissheit erzeugt. Deshalb wird sich der gereifte Gläubige
auch Versuchen selbstherrlicher Lehrer widersetzen, Christen auf die eigene
Person zu fixieren und ihre Glaubensgewissheit von der eigenen abhängig
zu machen. (2.Kor 4,5)
Wenn der Gläubige über seinen Glauben nur mit geliehenen Worten spre­
chen kann, ist dies ein starkes Indiz dafür, dass er noch sehr unselbständig
im Glauben ist und Anschauungen seiner Lehrer ungeprüft übernimmt.
Wenn echte Glaubensgewissheit fehlt, dann wird sie durch Leichtgläubigkeit
ersetzt, die den notwendigen Seelenfrieden liefert. In der Regel werden ein­
fach die religiösen Vorstellungen der Eltern oder der Gemeinde, in der man
sich bekehrt hat, ungeprüft übernommen, weil sie mit einer eindrücklichen
Nestwärmeerfahrung verbunden sind.
“Wer sich nach dem Willen dessen richtet, der mich gesandt hat, der wird
feststellen, ob meine Lehre von Gott kommt…” (Jo 7,17). Keine Glaubens­
gewissheit ohne Respekt vor dem heilsamen Willen Gottes ! Deswegen wird
ein Christ, der statt Illusionen Gewissheit haben und im Glauben “auf eige­
nen Füßen stehen” möchte, sich für die biblische Sicht echter Heiligung 312
interessieren, die der Freiheit 313 und Würde des Gläubigen 314 entspricht.
311
312
313
314
Siehe das Kapitel „Was ist Irrlehre“ im Internet.
Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet).
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Authorisierung und Berufung des Gläu­
bigen“, (Internet).
174
Der gereifte Gläubige weiß, dass man nicht andere Menschen zur Umkehr
auffordern sollte, wenn man selbst klare Anweisungen, die allen Jüngern
Jesu gegeben sind, ignoriert. (Rö 2) Eine Gemeinde, die evangelisieren will,
muss sich um die praktische Anwendung der Qualitätsmaßstäbe Jesu Barm­
herzigkeit, 315 Gerechtigkeit, 316 Ehrlichkeit 317 (Mt 23,23) bemühen.
Der im Glauben gereifte Gläubige wünscht sehnlich, dass sein Leben durch
diese Maßstäbe bestimmt wird und “erfüllt ist mit den Früchten der Gerech­
tigkeit“. (Phil 1,11) Deswegen ist er gewöhnt, zuerst sich selbst zu prüfen 318
, ob er barmherzig, fair und ehrlich mit seinen Mitmenschen umgeht. Nie­
mand soll durch ihn verletzt oder geschädigt werden.
So wie Jesus als gutem Hirten die Sorge für ein einziges verlorengegan­
genes Schaf am Herzen lag (Mt 18,12), so ist es auch für den gereiften Gläu­
bigen ein wichtiges Anliegen, sich für verletzte und vergessene Menschen in
seiner Nähe verantwortlich zu fühlen. Wie ein guter Hirte hat er für Men­
schen, denen es schlimm ergangen ist, tiefes Mitgefühl. Er wird es unerträg­
lich finden, wenn solchen Menschen in der Gemeinde durch gedankenlose,
hochmütige oder rücksichtlose Menschen noch mehr Schaden zugefügt wird.
Ihm wird deshalb ihr Schutz nicht gleichgültig sein.
Der gereifte Gläubige weiß, dass jeder Christ das gleiche Recht hat, eine
glaubwürdige und tragfähige Antwort auf die Fragen zu suchen, die sich aus
persönlich erlebten Nöten notwendigerweise ergeben. Er weiß, dass jeder
das gleiche Recht hat, eine Antwort abzulehnen, die unglaubwürdig ist, weil
sie der Heiligen Schrift oder offenkundigen, beobachtbaren Tatsachen
widerspricht.
Er weiß, dass niemand das Recht hat, solche Fragen zu verbieten, bloss weil
die damit verbundenen Nöte im eigenen Lebenslauf nicht vorgekommen
sind. Er hütet sich auch vor der Sünde, über den Glauben anderer Christen
“herrschen” (2.Kor 1,24) zu wollen, sie erbarmungslos in das Schema der
eigenen Biographie zu pressen und sie mundtot zu machen.
315 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet).
316 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit”
(δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188.
317 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis”
(πιστις) in Mt 23,23 mit “Ehrlichkeit” übersetzt?“, Seite 190.
318 Siehe das Kapitel „Prüfe dich selbst“, Seite 178.
175
Die unabdingbare Voraussetzung der Wahrhaftigkeit ist die Möglichkeit,
über divergierende Ansichten in einer fairen und liebevollen Weise zu spre­
chen so wie es Jesus und die Apostel getan haben. Die unabdingbare Basis
dieser Gespräche ist das Festhalten an den in der Heiligen Schrift deutlich
genannten Heilstatsachen. 319
Wenn ein geistlich gereifter Christ feststellt, dass der andersdenkende
Gesprächspartner bessere Argumente hat, wird er diesem das Recht, so zu
denken, zugestehen und sich niemals unfairer und übler Methoden bedie­
nen, die “unter die Gürtellinie zielen” – wie z.B. Verachtung, Verleumdung
oder üble Nachrede.
Ein geistlich gereifter Christ wird sich immer um eine Kultur der Fairness 320
in seiner Gemeinde bemühen, um ein freundliches Klima, in dem ein offener
Austausch möglich ist und hier auch eine wichtige pädagogische Aufgabe
an Gläubigen sehen, die die Notwendigkeit dieses Niveaus nicht erkennen.
Es ist ein alarmierendes Zeichen, wenn Gläubige nur dann freundschaftlich
mit Geschwistern umgehen können, solange die eigene religiöse Meinung
bestätigt wird.
Der gereifte Gläubige weigert sich, von dem Qualitätsstandard der Glaub­
würdigkeit 321 und Zuverlässigkeit (πιστις) Abstriche zu machen, auch wenn
ihn Gläubige dazu mit bösen Blicken und Unfreundlichkeit zwingen wollen.
Er hält es für feige und würdelos und erinnert sich daran, dass andere
Christen um des Glaubens willen weitaus Schlimmeres ertragen müssen.
Ebenso weigert er sich, von dem Qualitätsstandard der Gerechtigkeit und
Fairness 322 Abstriche zu machen und bei Unrecht in der Gemeinde wegzuse­
hen, bloss weil die Mehrheit der Mitglieder ihre oberflächlichen Harmonie­
bedürfnisse für wichtiger als die Not des Betroffenen hält und vor dem aus­
drücklichen Gebot, sich für den Schutz des Schwachen einzusetzen (Jes 1,12
ff / Amos 5,23-24) und sich um die “Erziehung zur Gerechtigkeit” zu küm­
mern (2.Tim 3,16), wenig Respekt hat.
319
320
321
322
Siehe im Kapitel „Was ist Irrlehre ?“, Nr. 8 und 9 im Internet.
Siehe im Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211.
Siehe unter „Häufige Fragen“, Seite 190.
Siehe unter „Häufige Fragen“, Seite 188.
176
Der gereifte Gläubige erkennt, dass es unbarmherzig ist, wenn Gläubige
auf ihrem Schaden sitzen bleiben, bloß weil sie mangels einer glaubwür­
digen Interpretation 323 die Anweisung des Apostels Paulus (1.Kor 6,1 ff)
wörtlich verstehen und sich deshalb bei einer Schädigung nicht an das
Gericht gewandt haben. Er erkennt, dass diese Situation eine der wichtigsten
Qualitätsmaßstäbe Jesu, das Gebot der “Barmherzigkeit” (Mt 23,23) eklatant
verletzt. Ebenfalls steht diese Situation in krassem Widerspruch zum Gebot
“mitzuleiden” (1.Kor 12,26) und “mitzutragen” (Gal 6,2). Die Geschwister
legen nicht etwa Geld zusammen, um den Schaden auszugleichen, sondern
der Betroffene muss für alles selbst aufkommen. Der gereifte Gläubige
erkennt, wie scheinheilig und verletzend unter diesen Umständen die
üblichen Floskeln des Bedauerns sind. Deswegen wird er ein seriöses
Schlichtungsverfahren 324 in seiner Gemeinde befürworten.
Der gereifte Gläubige glaubt dem Apostel, wenn er sagt, dass die Gemeinde
“eine wunderschöne Braut Christi” sein soll, “ohne ein hässliches Merkmal”
(Eph 5,15) und er gehorcht deshalb der Aufforderung des Apostels, “das
Böse in der Gemeinde aufzudecken“ (Eph.5,11 ff), damit sie Christus vor
der Welt glaubwürdiger repräsentieren kann.
Deshalb ist es für den gereiften Gläubigen nicht schwer zu erkennen, dass
die Gemeinde nur von geistlich gereiften Persönlichkeiten geleitet werden
kann, die sich den wichtigsten Qualitätsmaßstäben Jesu Barmherzigkeit, 325
Gerechtigkeit, 326 Ehrlichkeit 327 (Mt 23,23) verpflichtet sehen.
Er kann erkennen, dass Gläubige, die selber unrecht tun, ungerecht oder
unfair handeln und dieses Verhalten nicht korrigieren, nicht andere Gläubige
in der “Heiligung” 328 anleiten und auch nicht das Heilige Abendmahl austei­
len können – wenn man nicht will, dass “Gottes Ehre beleidigt” wird. (Rö
2,24)
323 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 26. Behauptung: “Ein Christ darf sich nicht
324
325
326
327
328
wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern.“, Seite 132.
Siehe im Kapitel „Urteilsvermögen ?“, Seite 150.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet).
Siehe unter „Häufige Fragen“, Seite 188.
Siehe Seite 200.
Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
177
Ist man hier gleichgültig, dann wird die Gemeindelehre entsprechend dieser
Defizite verbogen. Manipulation und Desinformation 329 werden unentbehr­
lich, um die fromme Fassade zu wahren.
Deshalb muss es möglich sein, jeden Gläubigen in der Gemeinde ohne Aus­
nahme auf Fehlverhalten hin anzusprechen, ihn zur Umkehr aufzufordern
und bei Starrsinnigkeit geeignete Maßnahmen zu treffen, unabhängig davon,
welche Funktion oder welchen Rang oder welche früheren Verdienste er hat.
Für den geistlich reifen Gläubigen ist es nicht schwer zu sehen: niemand in
der Gemeinde, auch der hauptamtliche Mitarbeiter nicht, steht über dem
Recht, sondern alle Gemeindeglieder müssen bereit sein, sich nach dem
Scheitern eines Vermittlungsgesprächs einer Untersuchung durch ein unpar­
teiisches Schiedsgericht zu stellen, das im Auftrag der Gemeinde entscheidet
– wenn sie denn die Gültigkeit des biblischen Maßstabs “Gerechtigkeit”
respektieren und Wert auf eine Kultur der Fairness 330 legen.
15. Prüfe Dich selbst …, bevor Du andere prüfst!
Erlaube anderen, Dich auf Fehlverhalten hinzuweisen!
Bleibe selbst korrigierbar!
Die Fähigkeit der Selbsterkenntnis 331 ist eine wertvolle Eigenschaft – unver­
zichtbar für tiefe Freundschaft und echte Brüderlichkeit.
Barmherzigkeit, 332 Gerechtigkeit, 333 Ehrlichkeit 334
sind notwendig , damit Liebe und gegenseitige Achtung das Klima in der
christlichen Gemeinde prägen.
329 Siehe das Kapitel „Tricks“, (Internet).
330 Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211.
331 Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211.
332 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet).
333 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit”
(δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188.
334 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis”
(πιστις) in Mt 23,23 mit “Ehrlichkeit” übersetzt?“, Seite 190.
178
Glaubst Du Jesus Christus, wenn Er sagt, dass dies die wichtigsten Maß­
stäbe (Mt 23,23) sind ? Ist es Dir wichtig, dass sie in Deinem Leben prak­
tische Bedeutung erlangen ?
1. Barmherzigkeit
- prüfst Du Dich, weil Du Dir wünscht, der Persönlichkeit Jesu Christi
ähnlicher zu werden und „Deines Bruders Hüter“ zu sein ?
- prüfst du Dich und andere, weil Du die schlimmen Folgen des frommen
Selbstbetrugs kennst und Menschen davor bewahren willst ?
- zeigst Du Geduld mit Geschwistern, die im Irrtum befangen sind und
hilfst ihnen “mit sanftmütigem Geist” (Gal 6,1) zurecht ? (Siehe dazu
die Hilfe zum richtigen Umgang… 335 )
- Achtest du den anderen trotz seines Irrtums höher als dich selbst ? (Phil
2,3)
oder …
- prüfst Du in erster Linie jemand anderen, weil du rechthaberisch, scha
denfroh und streitsüchtig bist, weil Du deinerseits gerne Macht ausübst,
weil Du über den anderen triumphieren willst, weil Du Antipathie gegen
ihn empfindest ?
2. Gerechtigkeit, Fairness
- wendest Du deine Maßstäbe auf Dich selbst an?
- möchtest Du grundsätzlich fair mit deinen Mitmenschen umgehen, selbst
wenn Du dadurch vielleicht Nachteile hast?
- gibst Du dem, den du korrigierst, ausreichend Gelegenheit, entlastende
Argumente vorzubringen ?
- bist Du bereit, einen Menschen, den Du mutwillig geschädigt hast und
der unter Deinem Verhalten leidet, wieder aufzuhelfen und ihm das Ver
geben zu erleichtern?
oder ...
335 Siehe unter „Was ist Irrlehre ?“, Nr. 12 im Internet.
179
- verlangst Du von anderen mehr als von Dir selbst?
- bist Du nur fair, solange es nichts kostet?
- weist Du nur Menschen auf Fehlverhalten hin, die schwächer sind als
Du selbst ?
- redest Du negativ über jemanden und trägst weiter, was andere über ihn
sagen, bevor Du mit ihm selbst gesprochen hast ?
- hältst Du an einer einmal gefassten Meinung über jemanden fest, sodass
man Dich nicht mehr auf Fehleinschätzungen hinweisen kann?
- gibt es jemanden, dem Du das Vergeben erleichtern solltest ?
3. Ehrlichkeit
- stehst Du selbst ehrlich Rede und Antwort für das, was Du vertrittst und
glaubst?
- bemühst Du Dich um klares, nachvollziehbares und widerspruchsfreies
Denken?
- kannst Du Dir vorstellen, dass in dem, was Dir ein unsympathischer
Gesprächsgegner sagen will, eine Wahrheit enthalten könnte, die Du unbe
dingt anhören und beachten solltest,
- bist Du bereit, die Wahrheit auch dann anzuerkennen, wenn sie Dir von
einem unbedeutenden, wenig attraktiven, ja unwürdigen Menschen
gesagt wird?
oder
- lässt Du den anderen nicht ausreden, weil Du fürchtest, mit einer wahren
Aussage konfrontiert zu werden,
- beschönigst, verharmlost, übertreibst, manipulierst oder lügst Du im
Gespräch, um deine Interessen zu wahren?
- stört es Dich nicht, wenn Du Dir selbst widersprichst?
- stört es Dich nicht, wenn Du freundlich mit jemand redest, aber lieblos
gegen ihn handelst?
– lässt Du wahre Aussagen nicht gelten, weil Du die Person, die sie mit teilte, nicht respektierst?
–
180
Das Entscheidende ist
das Motiv 336 ,
das der Gläubige immer wieder mit Gebet überprüfen sollte.
Das Recht des Gläubigen zu prüfen, wird gerne bestritten.
Falsch ist z.B. die Behauptung: Wer andere prüft, muss nahezu perfekt sein
337
oder ein “besonderes moralisches Niveau” erreicht haben. (Wie sollte
man das auch messen und beurteilen?)
Jeder kann und musss im Rahmen seiner Möglichkeiten prüfen und tut es
auch ganz selbstverständlich im täglichen Leben, um sich vor Schaden zu
schützen.
336 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Destruktive Motive“, (Internet).
337 Siehe unter „Giftige Theologie die 24.Behauptung: „Der Gläubige darf Unrecht in
der Gemeinde nur dann beim Namen nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler zu
sehen sind.“ , Seite 130.
181
Und ausgerechnet dann, wenn es um Dinge von ewiger Bedeutung geht, soll
Prüfung überflüssig oder anstößig sein?
Das soll man glauben?
Die Wahrheit hat eine innewohnende, natürliche Autorität. Was wahr ist,
bleibt wahr, selbst wenn es von einem Kind, einem geistig Behinderten oder
einem wenig attraktiven Menschen gesagt wird.
Deswegen sagt die Bibel auch ganz lapidar ALLEN Gläubigen: (1.Thes
5,21)
Prüfet alles !
16. Chancen warten ...
Liebe Schwester, lieber Bruder im Glauben,
Eine Gemeinde kann nur dann geistlich gesund bleiben, wenn sie die Maß­
stäbe, die unserem Herrn und König Jesus Christus so wichtig waren, ange­
messen beachtet. Vielleicht ist Dir schon aufgefallen, wie groß hier die
Defizite in manchen Gemeinden sind.
Doch wo liegen jetzt die Chancen, die Du nutzen kannst ?
Manche Gläubige denken, dass es besser ist, ihre Gemeinde zu verlassen 338 ,
wenn sie dort Machtmissbrauch und sektiererische Tendenzen 339 feststellen.
Doch das ist nicht unbedingt die beste Reaktion.
Viele wertvolle Beziehungen sind dort entstanden und auch etliche Freunde
sind dort zu Hause. Wenn Du ihnen hilfst, die Verhältnisse angemessen zu
beurteilen, so können sie sich vor Manipulationsversuchen 340 und fatalen
Irrtümern schützen.
338 Siehe unter „Häufige Fragen“ im Internet.
339 Siehe das Kapitel „Was ist Irrlehre ?“ im Internet.
340 Siehe das Kapitel „Tricks“, (Internet).
182
Mache die Qualitätsmaßstäbe Jesu 341 und die dadurch geprägten charakter­
lichen Eigenschaften 342 in Deiner Gemeinde immer wieder zum Thema.
Spreche darüber – wenn sich dazu eine gute Gelegenheit ergibt. Je mehr
Gläubige durch Deine Hilfe klarer sehen, desto schwieriger wird es die Maß­
stäbe Jesu als nebensächlich abzutun. Dadurch wird auch schädliche und gif­
tige Theologie 343 entlarvt, und einzelne Menschen in der Gemeinde wer­
den durch Dich möglicherweise vor schwerem Schaden bewahrt.
Die christliche Gemeinde soll ein Ort sein, an dem es schön ist (Eph 5,15)
und an dem die Liebe regiert. Ohne Fairness gibt es keine Liebe. Eine Kul­
tur der Fairness 344 aber entsteht, indem sich Gleichgesinnte verbünden und
dem Recht “ihre Stimme geben”.
Du kannst mit Freunden eine kleine Aktionsgruppe gründen, die sich für die
Förderung einer Kultur der Fairness in deiner Gemeinde einsetzt, indem sie
“Augensalbe” 345 (Offb. 3,18) verteilt.
Dabei wirst du feststellen, dass dieses Vorhaben Missionsarbeit ist und du
immer wieder mit starkem Widerstand konfrontiert sein wirst. Sei niemals
böse auf Menschen, die anderer Meinung sind oder dich nicht verstehen.
Damit du deine Kräfte schonst und die Arbeit Freude macht, sprich mög­
lichst nur mit Menschen, die dir gerne zuhören. Gott wird die richtigen
Türen auftun.
Besonders unter jungen Menschen gibt es viele, die ein natürliches starkes
Interesse für Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit haben und noch nicht an ein
Missbrauchssystem angepasst sind. Gott hat ihnen den Wunsch einge­
pflanzt, es in ihrer Generation besser zu machen.
Ganz wichtig ist, dass Dich das Motiv der Liebe antreibt und nicht etwa das
Motiv der Rechthaberei oder des Hochmuts. Mögen andere unfair kämpfen.
341
342
343
344
345
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe“, (Internet).
Siehe das Kapitel „Charakter“ , Seite 173.
Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“ , Seite 85.
Siehe das Kapitel “Widerstandskraft“ , Seite 211.
Siehe unter „http://www.matth2323.de/augensalbe/“
183
Ein Anliegen gewinnt erheblich an Überzeugungskraft, wenn der, der es ver­
tritt, in der Auseinandersetzung Charakter zeigt 346 und fair kämpft. 347
Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich selbst korrigieren zu lassen. 348
Wir wollen überzeugen und gewinnen, nicht taktieren oder austricksen.
Überzeugen kann man nur, wenn die Freiheit des anderen geachtet wird.
Bedenke immer eines: ein Feind, den man mit Liebe und seriösen Argu­
menten eines Tages überzeugt, kann zum wertvollen Partner werden - ein
Saulus kann durch Gottes Gnade zum Paulus werden!
Wenn du das 18.Lebensjahr erreicht hast, dann stehen dir noch ganz andere
Möglichkeiten zu Verfügung. Dann kannst du Mitglied im Gemeindekon­
vent werden und hast dort Stimmrecht.
Eure Aktionsgruppe kann dort weitere Mitglieder überzeugen, wirksame
Maßnahmen gegen Machtmissbrauch zu beschließen. Wenn sich viele
beteiligen, kann man sogar die Verfassung zum Guten verändern. Unserer
Kapitel “Stichworte” 349 macht dazu eine ganze Reihe von Vorschlägen.
“Was immer ihr tut,
lasst es immer in der Liebe geschehen …”
(1.Kor 16,14)
346
347
348
349
Siehe das Kapitel “Charakter“ , Seite 173.
Siehe unter “Was ist Irrlehre ?“ im Internet.
Siehe das Kapitel “Prüfe Dich selbst“ , Seite 178.
Siehe das Kapitel “Stichworte“ , (Internet).
184
Anhang
185
A 1. Häufige Fragen
(Die Fragen 1-7 sind im Internet zu finden.)
Frage 8: 350
Wie kann man NICHT erkennen, ob die Forderung der
„Barmherzigkeit“ (ελεος), die Jesus als erste der wichtigsten Gebote in Mt
23,23 nennt, tatsächlich den höchsten Rang im Denken der Gemeindeleitung
einnimmt ?
Frage 9: 351 Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness”
übersetzt? Ist “Gerechtigkeit” im Umgang mit dem Nächsten nicht eine
typisch alttestamentliche Forderung, die für die Gemeinde heute nicht mehr
relevant ist? Wird sie nicht im Neuen Testament durch die Aufforderung
ersetzt, sich zu Jesus zu bekehren, der unsere “Gerechtigkeit” ist ?
Frage 10: 352Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 nicht wie
bei Luther mit dem Begriff “Treue” sondern mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftig­
keit” oder “Verlässlichkeit” übersetzt?
Antworten
(Die Antworten auf die Fragen 1-7 sind im Internet zu finden.)
Frage 8. Wie kann man NICHT erkennen, ob die Forderung der Barm­
herzigkeit (ελεος), die Jesus als erste der wichtigsten Gebote in Mt 23,23
nennt, tatsächlich den höchsten Rang im Denken eines Gemeindemitar­
beiters einnimmt ?
Gläubige beteiligen sich an vielfältigen missionarischen und sozialen Pro­
grammen, die in der Gemeinde organisiert werden und einen unverzicht­
baren gesellschaftlichen Beitrag darstellen. Vielen Menschen erfahren auf
diesem Wege Segen und Hilfe.
350 Siehe unten.
351 Siehe die Antwort, Seite 188.
352 Siehe die Antwort, Seite 190.
186
Andererseits dienen die Aktivitäten der Gemeindeleitung und der -mitarbei­
ter dazu, sich selbst zu präsentieren und die eigene Position zu legitimieren,
was dem eigenen Einkommen und Einfluss sowie der Arbeitsplatzsicherung
zugute kommt. So segensreich die Aktivitäten sein können, so wenig aussa­
gekräftig sind sie mitunter, was die tatsächlichen Motive betrifft.
Deswegen kann es zu der paradoxen Situation kommen, dass ein Gemeinde­
mitarbeiter, der sich vielfältig engagiert, dennoch mit einzelnen Menschen in
der Gemeinde hartherzig und unbarmherzig umgeht. Das kann die Verwei­
gerung von Hilfe sein, die leicht zu leisten wäre, oder das willkürliche Ver­
bot, die Gemeindemitglieder über Gefahren zu informieren, oder auch die
unfaire und bösartige Behandlung eines Hilfesuchenden in der Seelsorge.
Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehen Levit und Priester am Ver­
letzten vorbei und die Auslegung hat immer wieder den Gedanken aufgegrif­
fen, dass sich beide sehr wohl auf dem Weg zum Gottesdienst befunden
haben können. Sie handeln nur innerhalb eines frommen Programms gottge­
mäß. Abseits dieses Programms reagieren sie aber unbarmherzig, sodass
man die Frage nach ihren wirklichen Beweggründen 353 stellen muss.
Es liegt im Interesse der Gemeinde, solche Vorfälle nicht als überflüssige
Störung des Betriebs zu sehen und zu ignorieren, sondern sie als Chance zu
sehen, das geistliche Urteilsvermögen zu üben. Die Gemeinde wird daran
erinnert, dass “Liebe ohne Heuchelei sein” (Rö 12,9) soll und dass diese
Liebe etwas Heiliges ist im Unterschied zur Freundlichkeit im eigenen Inte­
resse.
Geht eine Gemeindeleitung mit einem einzelnen Menschen unbarmherzig
um, so sollte die Gemeinde diesem das Recht zugestehen, die Angelegenheit
nach Mt 18,17 vorzubringen. Sie sollte ihm außerdem das Recht zugestehen,
eine miserable Seelsorge zu protokollieren und der Gemeinde zur Beurtei­
lung zu geben. Das Beichtgeheimnis 354 schützt nämlich nur den Ratsuchen­
den.
Wenn nach der Ermahnung des Gemeindemitarbeiters wenig Einsicht zu
sehen ist, sollten die Mitglieder nicht zögern, die Aufgabe einem geeig­
neteren Mitarbeiter zu übertragen.
353 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Destruktive Motive“, (Internet).
354 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Beichtgeheimnis“, (Internet).
187
Sehr nachteilig ist es, wenn die Verfassung der Gemeinde eine Betrauung
mit geringeren Aufgaben nicht zulässt, sondern die Gemeinde zu einer
“Alles oder nichts” – Lösung zwingt.
Da erfolgreiche Gemeindemitarbeiter rar sind, kann es äußerst schwierig
sein, ihn in die zweite Reihe zu versetzen oder ihm gar zu kündigen. Leider
ist es auch in vielen evangelikalen Gemeinden so wie in der Welt: letztlich
zählt nur der Erfolg – auch wenn er nur mit Heuchelei zustandekommt.
Als Alternative zu einer undurchführbaren Alles-oder-Nichts-Lösung könnte
ein ehrenamtlich besetztes Schiedsgericht nachdrückliche materielle Sankti­
onen verhängen oder sie von vornherein in einem geänderten Arbeitsvertrag
unterschreiben lassen, um eine Wiederholung üblen Verhaltens unwahr­
scheinlicher zu machen.
In manchen Fällen wird aber auch das nicht durchführbar sein: es besteht die
Möglichkeit, dass der erfolgreiche Mitarbeiter nun seinerseits mit Kündi­
gung droht, falls die Gemeinde sein übles Verhalten nicht ignoriert. So man­
che Gemeinde wird sich tatsächlich erpressen lassen und den damit verbun­
denen Dauerzustand der Heuchelei in Kauf nehmen.
Frage 9. Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness”
übersetzt? Ist “Gerechtigkeit” im Umgang mit dem Nächsten nicht eine
typisch alttestamentliche Forderung, die für die Gemeinde heute nicht
mehr relevant ist? Wird sie nicht im Neuen Testament durch die Auf­
forderung ersetzt, sich zu Jesus zu bekehren, der unsere
“Gerechtigkeit” ist ?
Jesus warf den Pharisäern vor, dass sie nur religiös waren und “die Vorbe­
reitung auf das Gericht (κρισις) für zweitrangig hielten.” (Mt 23,23) Die
richtige Vorbereitung auf das Gericht ist ein geheiligtes Leben, wozu immer
faires, “gerechtes” Verhalten gegenüber dem Nächsten gehört: “Hieran sind
die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels zu erkennen. Jeder, der nicht
Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) übt, gehört nicht zu Gott, und wer nicht seinen
Bruder liebt.” (1.Jo 3,10) Jesus forderte von seinen Jüngern, dass sie “in
erster Linie nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit (δικαιοσύνη)
streben” sollten. (Mt 6,33)
188
Damit hat er sicherlich nicht das Vertrauen auf seinen stellvertretenden
Opfertod gemeint. Den hat er den Jüngern zwar einschließlich seiner Aufer­
stehung angekündigt, aber sie verstanden es nicht. Deswegen waren sie ja
auch nach seiner Hinrichtung völlig verzweifelt und hielten Jesus tatsächlich
für gescheitert. Das Gespräch Jesu mit den Jüngern, die auf dem Weg nach
Emmaus waren, zeigt dieses Nicht-Verstehen in aller Klarheit. (Luk 24,13
ff) Wenn nicht einmal die gutwilligen Jünger die Notwendigkeit des Sühne­
todes begriffen haben, bevor Jesus von den Toten auferstanden war, wie
sollten es da die Schriftgelehrten verstehen ?
“Gerechtigkeit” und “Ungerechtigkeit” bezog sich also auf etwas anderes,
nämlich das, was ALLE Gläubigen des alten Bundes darunter verstanden:
auf das faire Verhalten im Alltag. “Gerechtigkeit” ist also kein philoso­
phisches Ideal, mit dem sich in erster Linie theologische Fachleute befassen,
sondern etwas, das jeden angeht. Denn niemand möchte selbst ungerecht
behandelt werden.
Jesus warf den Schriftgelehrten genau das vor, dass sie das Gebot der Fair­
ness nicht respektierten, dass sie Kollekten einnahmen, durch die anderen
das Nötige vorenthalten wurde (Mk 7,11: „Korban“) oder dass sie “der Wit­
wen Häuser fraßen” (Mt 23,14).
Das Neue Testament warnt die Gläubigen genauso wie das alte vor unge­
rechten Verhaltensweisen, die das Verständnis für die Wahrheit ver­
dunkeln können. (Rö 1,18 / 2.Thess 2,10-12). Es fordert sie auf, Unrecht zu
lassen und Recht zu tun. (Apg 10,35 / Kol 3,25 / 1.Jo 2,29 / 3,10) Ohne
diese Einstellung ist eine Bekehrung Selbsttäuschung. (Jak 2,17) Durch
unbeirrbares, boshaftes Festhalten am Unrecht schließt man sich selbst vom
Reich Gottes aus: “Wisset ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes
nicht ererben werden? Macht euch bitte nichts vor! ” (1.Kor 6,9)
Es gibt keine Liebe ohne Fairness. Dass, was der unfair Handelnde als
“Liebe” missversteht, sind bestenfalls gute Manieren bzw. Umgangsformen.
Sie lassen jemanden “lieb” erscheinen, der in Wahrheit hart, lieblos und
unbarmherzig ist.
189
Viele Gläubige werden hier zustimmen. Doch weit weniger Gläubige erken­
nen, dass sie auch dafür Verantwortung tragen, dass die von ihnen gewählte
Gemeindeleitung diese unumstößliche Regel auch nach der Wahl weiter
respektiert.
Ist das nicht der Fall, wird also damit das gegebene Wahlversprechen, die
Gemeinde im Sinne Jesu zu leiten, nachträglich gebrochen, dann kann die
Gemeinde – um der Ehre Gottes willen – nicht dabei tatenlos zusehen. Viel­
mehr sollte dann baldmöglichst ein weiterer Wahltermin angesetzt werden
mit einem ernstzunehmenden Kandidaten.
Leider betrachten immer mehr Gläubige die geistliche Einstellung des
Bewerbers als zweitrangig. Viel wichtiger ist ihnen die Frage, ob er ein Zug­
pferd ist und viele Leute in die Gemeinde bringt. Herrscht diese Meinung in
der Gemeinde vor, so ist sie bereit geistlich sehr krank und wird durch die
Wahl noch kränker. Wenn eine Gemeinde wächst auf Kosten von Wahrheit
und Gerechtigkeit, dann ist es das Beste, wenn möglichst viele Gläubige
abwandern und eine Gemeinde aufsuchen, wo sie lernen können, wie man
ehrlicher und fairer mit dem Nächsten umgeht.
Die Weigerung der Gemeinde, eine Gemeindeleitung, die Unrecht tut,
zurechtzuweisen, bloß weil sie beliebt und erfolgreich ist, wertet Gott als
Verachtung seiner Person. (1.Sam 2,30 b) Deshalb traf den Prieser Eli am
Ende eine ähnlich schwere Strafe wie seine Söhne, deren Fehlverhalten im
Amt er nicht bestrafte.
Frage 10. Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 nicht wie
bei Luther mit dem Begriff “Treue” sondern mit “Ehrlichkeit”, “Wahr­
haftigkeit” oder “Glaubwürdigkeit” übersetzt?
Viele verstehen unter dem Begriff “Treue” einfach das Festhalten an der
Tradition, an dem, was schon da ist, oder eine blindgläubige Unterwürfigkeit
gegenüber der Gemeindeleitung (“Nibelungentreue”), auch wenn sie
Unrecht tut. Was das Festhalten an der Tradition betrifft: Jesus und die
Urgemeinde haben gezeigt, dass selbst eine jahrtausendealte ehrwürdige
Tradition wie die mosaische Gesetzesfrömmigkeit zum Fallstrick und Glau­
benshindernis werden kann.
190
Daher darf man bezweifeln, dass Jesus mit dem Begriff “Treue” ein bloßes
Festhalten an dem, was schon da war, gemeint hat. Man konnte den Pharisä­
ern nicht vorwerfen, dass sie nicht konservativ genug waren. Über die Phari­
säer und Schriftgelehrten fällte Jesus das Urteil: “getünchte Gräber – äußer­
lich schön anzusehen, innerlich mit Fäulnis erfüllt.” (Mt 23,27) Die im NT
beschriebenen Pharisäer waren geistlich blind (Mt 15,14) Sie bemühten sich
wenig um Selbsterkenntnis 355 und verkündeten deshalb eine gefährliche
Heilspropaganda 356 (Phil 3,2-7). Dieser Propaganda blieben sie treu, doch
Jesus warnte seine Jünger, sich auf ihre durch “Sauerteig” verunreinigte
Lehre zu verlassen. (Mt 16,6)
Allezeit treu sein kann man nur Inhalten, die wahr und deshalb verlässlich
sind. Nur, was wahr ist, wird immer zuverlässig sein. Wer nach dieser Wahr­
heit strebt und dem Halbwahren widersteht, der liebt Ehrlichkeit. Deswe­
gen gehören Verlässlichkeit und Treue immer mit der Bemühung um Ehr­
lichkeit zusammen. Jesus ging es um Echtheit und Glaubwürdigkeit. Der
Apostel Johannes sprach in seinen Briefen von der Notwendigkeit “in der
Wahrheit zu sein” (Jo 17,19 / 1.Jo 1,6 / 2.Jo 1,4 / 3.Jo 1,3). Dieses Grund­
motiv durchzieht alle Evangelien und Briefe, und schließt das Festhalten an
dem, was als wahr erkannt worden ist, natürlich ein. Eph 5,9 bringt den Sinn
des dreifachen Gebotes in Mt 23,23 besser zum Ausdruck: “die Frucht des
Lichtes ist … Güte (αγαθωσυνη), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) und Wahrheit (
αληθεια).”
A 2. Die Angst vor der unvergebbaren Sünde
und seelsorgerliche Hilfsangebote
Die Angst, den Heiligen Geist gelästert zu haben und unwiderruflich der
ewigen Verdamnis verfallen zu sein, ist wahrscheinlich eine der grausamsten
menschlichen Angsterfahrungen – nicht nur wegen ihrer kaum noch zu stei­
gendernden Intensität, sondern auch wegen ihrer möglicherweise jahrzehnte­
langen Dauer – sofern sie nicht zu einem gesundheitlichen Zusammenbruch
und frühem Tod führt wie z.B. bei Francesco Spira. 357
355 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Selbsterkenntnis“, Seite (Internet).
356 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Heilspropaganda“, (Internet).
357 Karl Roenneke, Francesquo Spiera – eine Geschichte aus der Zeit der Reformation
in Italien, Hamburg 1874.
191
Für die gesundheitlichen Folgen ist die Frage sehr wichtig, inwieweit die
permanente Angstbelastung zu Schlaflosigkeit führt. Der totale Verlust der
Fähigkeit zu schlafen (Asomnie) wird nach etlichen Monaten lebensbedroh­
lich.
Die extreme Schädlichkeit der seelischen Erkrankung steht in auffälligem
Missverhältnis zu den oft halbherzigen Bemühungen, die Ursache der see­
lischen “Verriegelung” aufzuspüren.
Eine Lösung mit höchster Autorität und Glaubwürdigkeit muss auf die Qua­
litätsmaßstäbe Jesu gegründet sein.
Siehe dazu die Lösung im Detail unter Behauptung Nr.8 der “giftigen Theo­
logie” 358 sowie im folgenden verschiedene (unzureichende) Lösungsansätze
in der Seelsorge.
1. Oberflächliche seelsorgerliche Antworten
1.1. Aufforderung zur Auswahl und Verdrängung
1.2. Luthers Kunstgriff: formale Zustimmung zum Verdammtwerden
1.3. Visualisierungen des Leidens Christi
2. Antworten der “nouthetischen” Seelsorge (Jay Adams)
3. Definition der unvergebbaren Sünde als “nationale Sünde” (Arnold Fruch
tenbaum)
4. Am Buchstaben klebende “Lösung” als verheerender “Kunstfehler”
(Adolf Schlatter)
1. Oberflächliche seelsorgerliche Antworten
„Gott-ist-tot“ – Theologen machen es sich hier sehr einfach, indem sie die
biblische Warnung vor der Lästerungssünde als allzumenschliche Übertrei­
bung abtun. Diese Sicht kann ein Mensch, der von der Autorität und Zuver­
lässigkeit der heiligen Schrift überzeugt ist, nicht übernehmen, ohne seinen
ganzen Glauben in Frage zu stellen. Er müsste damit etwas tun, was er für
zutiefst gottlos hält: sein eigenes Urteil willkürlich über das göttliche Wort
stellen.
358 Siehe die Widerlegung der 9.Behauptung, Seite 88.
192
Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass sich dadurch bei ihm die
Gewissheit, nunmehr endgültig auf die gottlose Seite zu gehören, und damit
die Verdammungsangst noch verstärkt.
Eine schnell wirksame Lösung erscheint deshalb nur „systemimmanent“
möglich. Das heißt: man muss sie mit Hilfe der Bibel und biblisch gut
begründeter Interpretationsmethoden finden. Man erweist dem Ratsuchen­
den keinen guten Dienst, wenn man ihn nicht ernstnimmt und seine Not von
vornherein und ausschließlich als irrationale Wahnerkrankung einstuft.
Damit ist der Weg zu einer sachlichen Analyse versperrt.
Auch wenn Gott unsichtbar ist, ist er dennoch eine reale Person und auch die
Ankündigung seiner Strafe ist – selbst wenn sie lange auf sich warten lässt –
eine reale Bedrohung.
Auf reale Bedrohungen reagiert der Mensch normalerweise mit Angst. Eine
unendlich hohe Bestrafung ist nach Aussage der Bibel die Folge einer
bestimmten Tat. Der Gläubige hat etwas getan, was dieser Tat sehr ähnlich
ist und bezieht deshalb die furchtbaren Drohungen auf seine Person.
Der Seelsorger geht davon aus, dass eben dieser Bezug ein Missverständnis
ist. Das muss er beweisen.
Weil das Thema schwierig ist, sind Lösungsversuche mit geringstem
gedanklichen Aufwand beliebt. Nicht wenige Seelsorger behelfen sich mit
dem Zitieren einiger ermutigender Bibelstellen, verbunden mit der Aufforde­
rung, sich ihrer optimistischen Sicht anzuschließen. Wenn der Verzweifelte
es nicht kann, dann ist er eben krank oder verrückt, der arme Kerl und kann
sich seine Situation nur noch mit Medikamenten erleichtern. Eine Reflexion,
warum die Seelsorge scheiterte, unterbleibt häufig.
1.1. Aufforderung zur Auswahl und Verdrängung
So wird manchmal behauptet, wer Jesus seinen Herrn nennt, könne die
unvergebbare Sünde nicht begangen haben, denn “Niemand kann Jesus
einen Herrn nennen, es sei denn durch den Heiligen Geist.” (1.Kor 12,3)
Tatsächlich ? Dabei heißt es andernorts: “es werden nicht alle, die Herr zu
mir sagen, ins Himmelreich kommen, sondern nur die, die den Willen
meines Vaters im Himmel tun…” (Mt 7,21)
193
Offenbar war das Phänomen des biblischen Pauschalstils 359 unbekannt. Oder
hat der Seelsorger die entgegengesetzte Aussage in Mt 7,21 gekannt und sie
einfach ignoriert 360 ?
Eine seriöse Antwort wird immer auch entgegengesetzte Aussagen einbezie­
hen. Wird der zweite Vers berücksichtigt, dann ist klar, dass für eine saubere
Trennung zwischen Heiligung und Werkgerechtigkeit zu sorgen ist. Denn
die Erfüllung des Willens Gottes, die Heiligung 361,ist Voraussetzung, um
das Heilsversprechen Gottes in Anspruch zu nehmen.
1.2. Luthers Kunstgriff: formale Zustimmung zum Verdammtwerden
Luther hatte sich eine besonders originelle Methode ausgedacht: wer Angst
hat, in die Hölle zu kommen, der braucht bloß damit einverstanden zu sein.
Ein Mensch, der in jeder Hinsicht wünscht, dass Gottes Wille geschehe und
sei es die eigene Bestrafung mit der Hölle, kann dies nur durch den Geist
Gottes und hat damit den Beweis erlangt, dass er gerettet ist: “Diejenigen,
welche Gott in Wahrheit und Freundschaft lieben,… fügen sich aus freien
Stücken in jeglichen Willen Gottes, auch in die Hölle und den ewigen Tod,
wenn es so Gottes Wille sein sollte, nur damit sein Willen ganz geschehe; so
wenig suchen sie das Ihre. Doch ebenso, wie sie sich dem Willen Gottes
ohne Vorbehalt gleichförmig machen, ist es auch unmöglich, dass sie in der
Hölle bleiben. Denn es ist ausgeschlossen, dass der außerhalb Gottes bleibt,
der sich mit Leib und Seele in seinen Willen hineinwirft. Er will ja was Gott
will – also findet er Gottes Gefallen. Findet er sein Gefallen, so ist er
geliebt; ist er geliebt, so ist er gerettet.” 362
Eine Lösung, die nicht überzeugt. Wie soll ein Christ, der vor der Hölle zit­
tert, Gott lieben können? Er kann formal seiner Verdamnis zustimmen, zwei­
fellos – aber nur mit dem Hintergedanken, sie eben dadurch zu vermeiden.
Die Zustimmung geschieht also aus Berechnung – und keinesfalls freiwillig.
359
360
361
362
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Pauschalstil“, (Internet).
Siehe im Kapitel „Alternativen“ den Abschnitt Nr 3, Seite 22.
Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
Aus der Römerbriefvorlesung (1515/16) Scholie zu Rö 9,3 nach Ficker I,2, Seite
217,26ff.
194
Sich mit einem Kunstgriff, einer beispiellosen psychologischen Verrenkung
der Liebe Gottes Gottes versichern müssen – wie soll dabei Liebe
entstehen ? Und welcher Gläubige “fügt sich in jeglichen Willen Gottes” und
überwindet alles in seinem Leben, was unvollkommen ist, um sein Heil zu
sichern ? Eben das wäre ja wieder äußerste Verknechtung der Seele, da
Gläubige eben nicht vollkommen sind 363, auch wenn ihr Herr wünscht, dass
sie es sich wünschen. (Mt 5,48)
1.3. Visualisierungen des Leidens Christi
Visualisierungen oder Veranschaulichungen des Leidens Christi können
äußerst kontraproduktiv sein: mit einem spitzen Nagel in die Handfläche
pieken, einen Stamm als “Kreuzesholz” anrühren, eine brutale Kreuzigungs­
szene im Film anschauen.
Die gezeigte Brutalität vergrößert nur die Angst, wenn das Sühneopfer Jesu
nicht als Beweis der Liebe Gottes gesehen werden kann. 364
2. Antworten der “nouthetischen” Seelsorge (Jay Adams)”
Adams geht davon aus, dass die unvergebbare Sünde nur von einem Men­
schen begangen werden kann, der so “verhärtet” und gegen den heiligen
Geist abgestumpft ist, dass er auch keine Angst mehr vor dem Gericht Gottes
empfindet. Gerade die Besorgnis ist ein Indikator für das Heil. 365
Das ist in der Tat der Eindruck, den das Verhalten der religiösen Führer Isra­
els im weiteren Verlauf der Geschichte vermittelt. Sie bringen nicht nur
Jesus ans Kreuz, sondern versuchen auch später die Gemeinde auszurotten.
Nirgends wird etwas von Reue und Bedenklichkeit berichtet.
363 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das
Heil ?“, (Internet).
364 Siehe ausführlich unter „Stichworte“ den Artikel „Beweis der Liebe nach­
vollziehbar?“, (Internet).
365 Jay Adams, Handbuch für Seelsorge, Wuppertal 1976, S.311.
195
Dieser Punkt wird von etlichen Ratsuchenden zu wenig beachtet. Da Gott
jeden Menschen aufrichtig liebt, wird er nichts unversucht lassen, um ihn zu
retten. Diese Absicht lässt er sich sogar von Menschen bestätigen (Jes
5,4-5 ). 366
Man darf deshalb davon ausgehen, dass der “point of no return” den
Abschluss einer beispiellos gottlosen Lebenszeit bildet, bei dem eine
Umkehr nach menschlichem (!) und göttlichen Ermessen nicht mehr zu
erwarten ist.
Leider betrachten sehr oft die falschen Leute, die sensibel, schwach und
ängstlich sind und deren Sünden sich in vergleichsweise kleinem Rahmen
halten, die Warnung Jesu vor der unvergebbaren Sünde wie auch andere
Warnungen, die an verhärtete und an Bosheit gewöhnte Menschen gerichtet
sind, als an sich gerichtet. (Sorgfaltsparadox 367)
Der an sich richtige Hinweis von Adams greift indes zu kurz, wenn das
Gewissen des Ratsuchenden durch perfektionistische Theologie geprägt
ist. (“Giftige Theologie“ 368)
Auch kleine Schwächen und Unzulänglichkeiten erzeugen dann den Ein­
druck, ein “beispiellos gottloses Leben” geführt zu haben, an dessen Ende
nun das unvermeidliche Verdammungsurteil stehen muss. Adams erwähnt
eine perfektionistische Sicht der Sexualität, die darin gipfelt, dass bereits der
unreine Gedanke als unvergebbare Sünde betrachtet wird. 369 (Vgl. den Arti­
kel “sexuelle Sünden verunreinigen am stärksten.” 370 )
Deshalb muss als erster Schritt die seelische Fesselung durch perfektio­
nistische Theologie aufgelöst werden, was nur mit “systemimmanenter”
Argumentation geschehen kann, d.h. mit einer Methode, die die fundamenta­
listisch-perfektionistische Sicht “mit ihren eigenen Waffen” widerlegt.
366 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 9. Behauptung: “Man kann
367
368
369
370
durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen.”, Seite 88.
Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet)..
Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 85 ff.
Jay Adams, Handbuch für Seelsorge, Wuppertal 1976, S.311.
Siehe unter „Giftige Theologie“ die 16.Behauptung, Seite 85.
196
Gleichzeitig ist es wichtig, den positiven Charakter bibelgemäßer Heiligung
371
umfassend und glaubwürdig zu vermitteln.
Richtig ist der Hinweis von Adams, dass die Angst vor der unvergebbaren
Sünde nicht die Frage nach anderen Fehlverhaltensweisen überflüssig
machen darf. Wird an groben Sünden (Ehebruch, Unversöhnlichkeit, Neid)
festgehalten, dann kann beim Bibellesen das lebendige Reden, Wirken und
Bevollmächtigen nicht entstehen, die Interaktion zwischen Bibel und Gläu­
bigen, die für geistliches Leben typisch ist. Dann ist es auch um die Gewiss­
heit des Heils schlecht bestellt.
Kontraproduktiv ist dieser Ansatz, wenn der Seelsorger ohne konkretes Wis­
sen von vornherein unterstellt, dass der Ratsuchende die Angst vortäuscht,
weil er “von anderen Sünden ablenken will”. Ohne es zu wollen, können
Seelsorger sehr grausam reagieren. Das zeigt auch die am Buchstaben kle­
bende Antwort von Adolf Schlatter. 372
3. Definition der unvergebbaren Sünde als “nationale Sünde” (Arnold
Fruchtenbaum)
Nach Fruchtenbaum bildet der Hinweis auf “dieses böse Geschlecht” (Mt
12,41+42+45) den Schlüssel für das Verständnis der unvergebbaren Sünde.
Nur eine einzige Generation hatte die Möglichkeit, dem Messias direkt zu
begegnen und sich von seinem sündlosen Charakter und seiner göttlichen
Vollmacht zu überzeugen. Jesus vollbrachte zudem die Wunder, die in der
jüdischen Tradition nur der Messias tun konnte: die Heilung von Aus­
sätzigen, das Austreiben eines stummen Dämons und die Heilung eines
Blindgeborenen.
Bessere Beweise für die Vollmacht des Messias konnte es nicht geben. Auch
ging Jesus auf die Menschen mit vollkommener Liebe zu. Niemals war es
leichter, mit der Liebe Gottes, seiner Hilfe und seiner heilenden Kraft in
Berührung zu kommen.
371 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160.
372 Siehe Abschnitt 4 in diesem Kapitel, Seite 199.
197
In dieser einzigartigen Situation gab es Menschen, die Jesus als Verkörpe­
rung des Bösen bezeichneten, als Boten Satans. Wieder werden als Schieds­
richter im Endgericht Menschen bemüht, die Leute von Ninive und die
Königin von Saba (VV.41-42), die das verdammende Urteil aussprechen.
Das Verdammungsurteil ist also keine überlogische, unverständliche Grau­
samkeit Gottes: die Einstellung der Pharisäer ist so boshaft, dass auch Men­
schen um der Fairness willen darüber ähnlich urteilen würden. Wer Jesus
unter diesen Bedingungen und in dieser Weise ablehnt, der hat den endgül­
tigen Bruch mit dem Messias vollzogen.
Am Ende des Kapitels 12 wird der Bruch mit Israel und der Übergang des
Heils zu den Heiden angedeutet. Jesus wertete seine verwandtschaftlichen
Beziehungen ab, und bezeichnete nur noch die als zugehörig zum Gottes­
volk, die den Willen Gottes respektieren. (Mt 12,47-50). Der endgültige
Bruch wurde bald offenkundig, als der Tempel samt Jerusalem zerstört und
das jüdische Volk in alle Welt vertrieben wurde. “Wahrlich, all dieses wird
über dieses Geschlecht kommen.” (Mt 23,36) Dieses Gericht war unvermeid­
lich, da Gott die Verwerfung des Messias nicht vergeben konnte.
Sehr wertvoll an der Lösung von Fruchtenbaum ist die Tatsache, dass sie die
geistliche Katastrophe mit der Verwerfung des Messias verknüpft und nicht
mit einer falschen Bezeichnung von Wundern.
In pfingstlerischen und charismatischen Gruppen wird manchmal behauptet,
dass jemand, der die dort gezeigten Wunder in Frage stelle, eine unvergeb­
bare Sünde begangen hätte. Wie verantwortungslos ist diese Behauptung !
Wunder, die Menschen vorzeigen, sind nicht eindeutig. Wie viel Betrug hat
es da schon gegeben – auch in christlichen Gruppen. Wenn ein Christ so
leicht verloren gehen könnte, weil er ein Wunder für unecht hält, was wären
dann die Verheißungen Jesu und seine Kraft zu bewahren, wert ?
Ebenso positiv ist zu sehen, dass das menschliche Fairnessurteil eine
wichtige Rolle spielt, sodass die endgültige Tennung von Jesus nicht wie
ein willkürliches Verhängnis über den Menschen hereinbricht.
198
Positiv an der Lösung von Fruchtenbaum ist auch zu sehen, dass er auf die
einzigartige privilegierte Stellung der Generation Jesu hinwies. Auch die
Zeit der Apostel, die Zeichen und Wunder im Namen des Messias voll­
brachten, die göttliche Liebe beispielhaft vorlebten und Anschluss an die
göttliche Inspiration hatten (Apostelbriefe!), ist noch als eine privilegierte
Situation der Urgemeinde zu sehen.
Dieses Faktum mildert den Satz des Hebräerbriefes, dass Gläubige “das Blut
des Bundes, durch das sie geheiligt sind, für unrein achten und den Geist
beleidigen” können. (Hebr. 10,29) Man muss der Tatsache ins Auge sehen,
dass diese Hebräerstelle bei manchem Gläubigen dennoch wieder Ängste
aufsteigen lässt und dass deshalb zusätzlich Überlegungen zur Fairness 373
notwendig sein können.
4. Am Buchstaben klebende “Lösung” als verheerender “Kunstfehler”
(Adolf Schlatter)
Seelsorge, die sklavisch am Buchstaben klebt
Hoffnung zerstören.
374
,kann den Rest jeglicher
Dies soll anhand der Ausführungen des Theologieprofessors Adolf Schlatter
(1852-1938), der für eine ganze Reihe ähnlich denkender Theologen steht,
veranschaulicht werden.
Auch er hat sich mit der Frage befasst, wie man Menschen helfen könnte,
die Angst haben, die unvergebbare Sünde begangen zu haben. Es tut uns
leid, ihn hier kritisieren zu müssen, denn er hat in seinen Werken der
Gemeinde viele wertvolle Erkenntnisse hinterlassen. Viele haben ihn mit
großem Gewinn gelesen. Doch in der Frage der unvergebbaren Sünde hat er
leider schwerwiegende Fehler begangen, die angesprochen werden müssen.
Seine Antwort lautet, dass in diesem Fall Hilfe unmöglich ist. Niemand
könne wissen, ob jemand diese Sünde begangen habe. Der Mensch, der von
dieser Angst gequält wird, natürlich auch nicht.
373 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 9. Behauptung: “Man kann
durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen.”, Seite 88.
374 Siehe dazu unter “Giftige Theologie” die 17. Behauptung: “Das Textverständnis,
das sich am engsten an den Wortlaut hält, ist das beste.”, Seite 111.
199
Nach Schlatters Ansicht ist selbst das Glaubensleben kein Beweis: der Fei­
genbaum, den Jesus verflucht hatte (Mt 21,19), trüge ja auch noch Blätter
und wäre doch längst tot. 375
Diese Argumentation zeigt, dass eine orthodoxe Auslegungsregel (“Schrift
erklärt die Schrift” = “Sola Scriptura!”) bei Schlatter die entscheidende
Beurteilungsgrundlage bildet. Zweifellos macht die Anwendung der Ausle­
gungsregel “Schrift erklärt die Schrift” in einer dem Heiligen Geist gemäßen
(!) Weise Sinn: die Bibel erklärt sich selbst, wenn Jesus das Alte Testament
auslegt (Mt 5,21ff / Mt 22,42-46) oder wenn im Hebräerbrief Zusammen­
hänge zwischen Altem und Neuem Testament erläutert werden.
Doch ein gedankenlos mechanischer “Schriftbeweis” auf der Basis des nurwörtlichen Verständnisses kann – wie man hier sieht – auch zu haarsträu­
benden Ergebnissen führen.
Es ist fürwahr eine schaurige Vorstellung, dass vielleicht viele Brüder und
Schwestern, die sich ihres Glaubens freuen, gerne in der Gemeinde mithel­
fen, den Herrn freudig bekennen und anderen den Weg zu Christus zeigen,
gar nicht wissen, dass sie selber nichts anderes als leichenkalte Untote sind,
weil sie mal irgendwann ein unüberlegtes Wort gegen geistliche Dinge
gesagt haben.
Der Denkfehler liegt bereit darin, dass das Problem als eine Art Denksport­
aufgabe gesehen wird und ein Lösungsansatz ausschließlich mit “neutraler”,
dogmatischer Logik versucht wird.
Das funktioniert schon deshalb nicht, weil es keine allgemeine Auskunfts­
pflicht Gottes dem Bibelleser gegenüber gibt. Die Bibel ist kein Prospekt für
die Reise ins Jenseits, der jedem Kunden “unpersönliche” Informationen
anbietet, für deren Richtigkeit der Veranstalter der Reise (Gott) haftet.
Die Bibel erkennt vielmehr den inneren Zustand und Lebensstil des
Lesers und reagiert darauf. (Selbstverstärkung 376) Sie schenkt keinesfalls
automatisch Klarheit. Soweit der Leser Wahrheitsliebe vermissen lässt, för­
dert sie Irrtum und Missverständnis.
375 Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 55.
376 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Selbstverstärkung“, (Internet).
200
„Deshalb schickt Gott ihnen wirksame Täuschung, sodass sie der Lüge
Glauben schenken. So wird jeder gerichtet, der die Wahrheit nicht glauben
will, sondern das Unrecht liebt“ (2Thes 2,11-12). „Euch lässt Gott die
Geheimnisse seiner neuen Welt verstehen, anderen sind sie verborgen. Denn
wer viel hat, der bekommt noch mehr dazu, ja, er wird mehr als genug
haben. Wer aber nichts hat, dem wird auch noch das Wenige, das er hat,
genommen” (Mt 13,10 ff.).
Auch enthält der Buchstabe der Bibel nicht alle Informationen, die zum
Glaubenswachstum notwendig sind. Damit Glaubenswachstum stattfinden
kann, müssen weitere Informationen hinzukommen, die nicht in der Bibel
enthalten sind und diese Informationen werden nur durch die geistliche
Lebenspraxis, durch die Interaktion zwischen göttlichem Wort und dem
Gläubigen, der darauf hört, geliefert.
(Das wäre etwa so, als würde jemand behaupten, dass nur der DNS-Code das
Leben enthalten würde, während doch die Interaktion zwischen DNS und
lebendiger Zelle für das Leben typisch ist. Die isolierte DNS ist aber nur
totes Eiweiß. (s.a. schöpfungsgemäßes Inspirationsmodell. 377)
Wie kann Schlatter der Ansicht sein, dass das, was die Bibel direkt zur
unvergebbaren Sünde sagt, völlig ausreicht? Gerade in der alles entschei­
denden Frage, ob man bei Gott nun noch eine Chance hat oder keine mehr,
sind diese Informationen so dürftig und sparsam, dass es mehr als auffällig
ist.
Warum werden Merkmale eines geistlichen Lebens, die der Betroffene zeigt,
von Schlatter von vornherein als bedeutungslos abgetan? Muss man hier
nicht fragen: wenn geistliches Leben nicht einmal für den Gläubigen sel­
ber einen Zeugniswert hat, welchen Zeugniswert kann es dann für
andere haben?
Welchen Wert hat dann das christliche Zeugnis überhaupt? Wenn es genau­
sogut Einbildung sein kann, warum muss man denn unbedingt seine Mit­
menschen mit diesem brutalen Glauben belästigen?
377 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Inspirationsmodell“, (Internet).
201
Dürftig und trostlos muss man nennen, was Schlatter als Ratschlag anzubie­
ten hat. Der Gläubige soll am Glauben festhalten, dass Jesu Opfer für wirk­
lich alle Sünden ausreicht, und soll sich dann durch die Warnung vor der
unvergebbaren Sünde „erschrecken lassen“. 378
Schlatter hat sich offenbar mit der Lebensgeschichte von Christen, die diese
Ängste haben, niemals sorgfältig befasst. Hätte er das getan, so würde er
auch wohl kaum diesen praxisfernen „Rat“ gegeben haben.
Welchen Nutzen soll es haben, wenn “man sich erschrecken lässt”? Die
Angst vor der unvergebbaren Sünde rückt die Hölle 379 in unmittelbare Nähe,
sie lässt sie bereits in diesem Leben beginnen.
Es ist gar keine Frage, dass dieses unmenschliche Grauen bei ängstlichen
Gläubigen ein Höchstmaß an serviler Unterwerfung erzwingt, mit dem sie
sich gegen ein mögliches Widersprechen gegen den heiligen Geist abzusi­
chern versuchen. 380
Doch das ist – wie gesagt – eine Illusion. Wie sollte der Gläubige aus Liebe
die Gebote beachten können, wenn alles Tun vom Motiv begleitet ist, es sich
auf keinen Fall mit einem derartig grausamen Herrn zu verderben? Kein
Mensch kann das! Hier haben wir die klassische Situation, die Paulus in
Römer 7 schildert – und zwar bei bekehrten Christen!
Um sich abzusichern, flüchten sie in freudlose Werkgerechtigkeit. 381 Um
einen Widerspruch zu Gottes Willen gar nicht erst aufkommen zu lassen, der
in ein Widersprechen gegen den heiligen Geist ausufern könnte, schinden sie
sich nach Kräften, um den Forderungen Gottes möglichst vollständig zu ent­
sprechen. Da das Neue Testament “Vollkommenheit” verlangt (Mt 5,48),
kann man sich das Ausmaß der Belastung vorstellen.
378
379
380
381
Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 44.
Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Hölle“, (Internet).
Vgl. Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seiten 44+53.
Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).
202
Dass ihr Verhalten der allsonntäglich verkündeten “Erlösung aus Gnaden”
(Eph 2,8) widerspricht, nehmen sie kaum noch wahr. Die falsche theolo­
gische Grundlage zwingt sie konsequent auf diesen fatalen Kurs. Dabei wer­
den Zusagen Gottes wie z.B. Hebr 2,15 (“Gott hat die erlöst, die durch
Furcht vor dem Tod ihr ganzes Leben lang Sklaven sein mussten”) weder
vergessen noch bestritten. Sie sind aber etwas, was nur in der Theorie exi­
stiert und nie existenziell erfahren wurde.
Sie sind im Grunde genommen reine Propaganda. 382 Gott hat nun einmal
befohlen, „die frohe Botschaft weiter zu sagen“. Und weil der Gläubige, der
sich dieser Pflicht entzieht, Gott ungehorsam ist und Strafe zu erwarten
hätte, muss auch mit durch Theologie zerrütteten Nerven gejubelt und gelobt
werden.
Kritik an Gott ist ohnehin hochgefährlich und unvorstellbar. Deswegen ist es
auch zwecklos, sich über die Tatsache, dass man selber das genaue Gegen­
teil erlebt, den Kopf zu zerbrechen. Für aufkeimende Zweifel steht immer
das erlernte Totschlagargument der “göttlichen Unerforschlichkeit” bereit.
Oder das Totschlagargument der geforderten “Demut”, mit dem man Gläu­
bige an die Geringschätzung des Urteilsvermögens 383 und des geheiligten
Verstandes gewöhnt hat.
In der Meinung, dass Gott wie weltliche Diktatoren bestellten und erpressten
Jubel liebt, zeigt sich die erlernte Unfähigkeit zu einer realistischen Ein­
schätzung des göttlichen Charakters. Ohne theologisch verbildet worden
zu sein, würde kein Mensch so krumm denken.
Eben diese erlernte Unfähigkeit kann zu abstrusen Absicherungshandlungen
führen. Es ist wahrscheinlich, dass gerade die eifrig zum Zwecke der Absi­
cherung betriebene Werkgerechtigkeit 384 zu guter Letzt genau das bewirkt,
was man unter allen Umständen vermeiden wollte: nämlich den verbalen
Exzess in der Lästerung.
Ständig wehrlos der Angst vor der Ungnade Gottes ausgesetzt zu sein, und
keine andere Hilfe zu haben als eine unehrliche Theologie – das erzeugt
schließlich Hass.
382 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Propaganda“, (Internet).
383 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet).
384 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).
203
Auch Luther hasste vor seinem Turmerlebnis Gott schließlich aus tiefster
Seele 385 , was ihn aber in noch tiefere Ängste stürzte, da ihm dieser Hass ein
Beweis dafür zu sein schien, dass er zur Verdammnis bestimmt war.
Wird in der Gemeinde gar noch gelehrt, dass der Gläubige mit der Bekeh­
rung eine allumfassende Begabung erhalten hat, die ihm ermöglicht, alle
Gebote leicht zu erfüllen (“Totalbegabungswahn” 386 ), so bedarf es noch
nicht einmal einer exzessiven Lästerung, um in panische Angst zu geraten.
Die erkannte Unfähigkeit, vollkommen zu leben, kann bereits zu ähnlich
grausamen Ängsten Anlass geben, nämlich zur Angst, den heiligen Geist
möglicherweise verloren zu haben (Hebr 6,4-6). Zwar fällt dem Gläubigen
keine konkrete unvergebbare Lästerung ein, aber er kann das Ereignis ja
schlicht vergessen haben, zumal er sich der Bedeutung dieses Vorgang mög­
licherweise gar nicht bewusst war.
Ist eine despektierliche Bemerkung über den heiligen Geist und seine
Absichten nicht ohnehin sehr wahrscheinlich?
Dem Gläubigen ist doch geboten, zwischen „geistlich“ (im Interesse des hei­
ligen Geistes) und „fleischlich“ (im Interesse des Menschen, dessen
„Fleisch“ konkurrierende Ansprüche stellt) zu unterscheiden. “Stellt euch
nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures
Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und
Wohlgefällige und Vollkommene” (Rö 12,2). Er unterliegt also einem Ent­
scheidungs und Urteilszwang!
Dann ist es doch leicht möglich, dass er irgendwann einmal – weil er sich
durch geistliche Dinge überfordert sieht – Geistliches zu Alibizwecken als
fleischlich deklarieren könnte (z.B. Diffamierung des schiedsgerichtlichen
Dienstes 387 gemäß 1.Kor 6,1ff als „ungeistliches Richten“ usw.)
Wer sehr eng denkt, könnte darunter bereits „ein Wort gegen den heiligen
Geist“ verstehen.
385 TR 2,2654a, Sep 1532.
386 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 3. Behauptung: “Wenn wir
nur wollen, können wir die Sünde lassen. , Seite 50.
387 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Schiedsgerichtlicher Dienst“, (Internet).
204
An solchen Punkten spitzt sich der Widerspruch zwischen pauschalen Heils­
zusagen und dem heilsrelativierendem „Kleingedruckten“ 388 in nicht mehr
zu übersehender Deutlichkeit zu!
Wie bewertet Gott lästernde Gedanken 389 die von einem schwachen Willen­
simpuls begleitet waren? Wertet er diesen Willensimpuls als Genehmigung
und Zustimmung? Bestraft er sie möglicherweise, als ob sie gesprochen wor­
den wären? Warum soll der Gebrauch der Stimmbänder das entscheidende
Instrument sein, das die Weiche zur endgültigen Vernichtung stellt?
Wie soll der Gläubige auf diese Gedanken reagieren? Wie soll er den Wil­
lensimpuls bewerten, wenn seine Seele längst vom Abscheu gegenüber
einem Gott erfüllt ist, der tyrannisiert und erpresst und dabei ständig von
Liebe redet?
Je mehr er sich vor diesen Gedanken fürchtet, desto häufiger kommen sie,
dutzendemal, hundertemal am Tag, oder noch häufiger. Und jedesmal muss
er sich rechtzeitig davon distanzieren. Das wenigstens muss er tun, denn die
negativen Gefühle gegenüber Gott wird er nicht los, so sehr er es wünscht.
Deswegen wird der Willensimpuls, der lästernde Gedanken begleitet, auch
immer stärker. Bald kann er sich nicht mehr erinnern, ob er rechtzeitig etwas
gegen den lästernden Gedanken gedacht hat. Jetzt muss er laut formulieren,
dass er sich distanziert, denn an das laut Gesprochene erinnert er sich besser.
Bald ist er im Zweifel, ob er eine Lästerung gedacht hat. Um sich zu ver­
gewissern, spricht er die lästernden Gedanken nach. Bald ist er im Zweifel,
ob er einen lästernden Gedanken gewollt hat oder nicht. Er versucht nun den
Willensimpuls zu rekonstruieren, um sich besser zu erinnern.
Dieser Prozess geht weiter und weiter und eines Tages genügt ein relativ
kleiner Anlass, um die Lästerung in aller Deutlichkeit hinauszubrüllen, sie
minutenlang richtig und gut zu finden, um dann das tonnenschwere Gewicht
einer grenzenlosen Angst auf sich herabstürzen zu sehen.
388 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 9. Behauptung: “Man kann
durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen.”, Seite 88.
389 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 16. Behauptung: “Zwang­
hafte Lästergedanken sind ein Beweis, dass der Gläubige vom Satan besessen
ist.”, Seite 108.
205
Es erfordert wenig Phantasie, sich das Ausmaß der Traumatisierung vorzu­
stellen. Es ist dem Leben in der Todeszelle vergleichbar. Der Gläubige sieht
sich an ein Starkstromkabel gekettet. Er vegetiert dahin in der ständigen
Erwartung des tödlichen Stromschlages. Wann die Katastrophe eintritt, ist
nur eine Frage der Zeit.
Solche Prozesse, die die Persönlichkeit des Menschen quasi auslöschen,
seine Würde und seelische Gesundheit bis auf den Grund ruinieren, markie­
ren die Endstation, die gutwillige und ahnungslose Gläubige auf der Schiene
der traditionellen Überbewertung des Buchstabens auf Kosten des Ver­
standes erreichen können.
Wie sinnlos ist das alles! Wie leicht vermeidbar! Wie würde sich der wahre
Gott dazu äußern, der keine zweideutige Persönlichkeit hat? Dessen Ethik
nicht willkürlich und widersprüchlich ist? Bei dem die Begriffe “Barmher­
zigkeit, Gerechtigkeit, Glaubwürdigkeit” (Mt 23,23) nicht umgedeutet und
ausgehöhlt werden, sondern das beinhalten, was sie aussagen?
Die Möglichkeit, solche Gedankenprozesse durch ein christusgemäßes
Schriftverständnis zu stoppen, ist der handgreifliche Beweis, dass es sich bei
solchen tragischen Entwicklungen nicht um eine Geisteskrankheit handelt,
wie von gewissen Theologen vorschnell behauptet wird.
Eine Geisteskrankheit, die auf schwer erforschbare Ursachen wie hirn­
organische Schädigung, charakterliche Fehlprägung, geistige Minder­
begabung usw. zurückzuführen ist, wäre in der Regel als unabänderliches
Schicksal hinzunehmen.
Natürlich können solche Ursachen im Einzelfall vorhanden sein. Doch in
jedem Fall muss doch die naheliegendste Ursache erst einmal ausge­
schlossen werden, zumal sie zuverlässig beseitigt werden kann!
Das ist die Zweideutigkeit im Gottesbild, in der Ethik und in der Heils­
zusage! Wenn alles zweideutig ist, dann können Gläubige mit sensiblem
Gewissen und gedanklicher Sorgfalt sehr leicht in den mörderischen Sog
frommer Absicherungsbemühungen hineingeraten.
206
Ein paar Interviews mit solchen Gläubigen hätten eigentlich Schlatter die
Einsicht vermitteln können, dass wenigstens in solchen Fällen seine große
Ahnungslosigkeit, was denn nun aus solchen Leuten wird, unangebracht ist.
Es scheint ihn wenig zu stören, dass harmlose Christen jahrzehntelang eine
völlig sinnlose seelische Folter erleiden, bis sie dann endlich wieder Mut
zum Glauben fassen und auch Erfahrungen mit der Hilfe Gottes machen. Ein
hilfreiches, die Panik lösendes Wort ist nach seiner Einschätzung überflüs­
sig.
Ist das der langen kirchengeschichtlichen Schulung zu verdanken, in der
man gründlich gelernt hat, auf entsetzliches Leid von Gläubigen zu blicken
und nur gleichgültig mit den Achseln zu zucken?
Keiner bezweifelt, dass Schlatter selbst keine Angst hatte, als er seinen Text
schrieb. Sein Seelenfrieden beruht jedoch nicht auf nachvollziehbaren Grün­
den, sondern auf dem ihm zur Verfügung stehenden Optimismus bzw. der
Stärke seiner Einbildungskraft, es werde schon bei ihm selber nicht so
schlimm sein.
Nach seinen eigenen Worten kann bereits ein negatives Wort über Brüder,
über ein Bibelwort, über etwas, was der heilige Geist will, die unvergebbare
Sünde sein.390 Tatsache ist aber, dass sich niemand an alle negativen Worte
erinnern kann, die er jemals gesagt hat.
Somit bleibt die Frage, ob der Gläubige nun erlöst oder verdammt ist,
nach Schlatter ungeklärt und unbeantwortbar.
Schlatter erklärt, dass man „ganz fest“ (Einbildungskraft! Optimismus! 391)
daran glauben soll, dass die Gnade Jesus „ausreicht“, „alle“ Sünden außer
der unvergebbaren zu bedecken. In dem Wort „alle“ sieht er angeblich „den
ganzen Reichtum göttlichen Vergebens vor uns ausgebreitet“. 392
390 Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 52-53.)
391 Siehe im Kapitel „Alternativen?“ den Abschnitt 1 „Eine optimistische Einstellung
ist Pflicht“, Seite 18.
392 Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 44.
207
Was hier vor den Lesern “ausgebreitet” wird, ist etwas ganz anderes. Man
nennt das wohl “Frohe Botschaft”. Aber so richtig froh will dem Gläubigen
dabei nicht werden. Auch wenn etliche Schriftgelehrte mit ihrem abge­
brühtem, frommem Stoizismus und Optimismus bei unsicheren Gläubigen
mächtig Eindruck schinden werden.
Absurd ist Schlatters “Rat”, der verzweifelnde Gläubige müsse in dieser
wichtigen Frage auf Klarheit verzichten, dürfe aber außerdem noch den Lob­
preis der „Wohlgefälligkeit“ (Mt 11, 26!) anstimmen. (Schlatter benutzt in
diesem Zusammenhang tatsächlich dieses Zitat! 393 Das ist wirklich der Gip­
fel der Gefühlsabstumpfung!
Vielleicht will er ja gerne barmherzig sein. Aber er kann es nicht. Sein theo­
logisches Denksystem zwingt ihn, unmenschlich zu denken. Und weil das
Unmenschliche dem Menschen widerlich ist, erscheint ihm möglicherweise
gerade das “treue” Festhalten an der Unmenschlichkeit als ein Kennzeichen
besonders konsequenter Frömmigkeit.
Dann ist es nur folgerichtig, wenn sich der Gläubige über Mitchristen, die in
der Psychiatrie möglicherweise bis zum Lebensende in grausamstem Seelen­
leid dahinvegetieren, keine weitergehenden Gedanken macht. Retten braucht
man daraus auch niemand. Man kann ja in Ruhe warten, bis die „Blätter“
von selber abfallen!
Das ist auch das weitverbreitete Verhalten von bibeltreuen Gläubigen gegen­
über Mitchristen, die befürchten, gegen den heiligen Geist gelästert zu
haben. Man lässt sie einfach im Stich! Mögen sie sang- und klanglos aus den
Gemeinden verschwinden. Dann muss man das Elend wenigstens nicht mit­
ansehen!
Ist die Verkündung des “geschenkten Heils” dann noch glaubwürdig ? Sagt
nicht die Bibel, dass es Gott verabscheut, wenn fromm vom Frieden geredet
wird, „obwohl kein Friede da ist“ (Hes 13,9-10), dass er es hasst, wenn aus
schwarz weiß und „aus sauer süß gemacht“ wird (Jes 5,20) ?
393 Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 55.
208
Dass das so ist, ist nicht schwer nachzuvollziehen. Wie sehr wird seine Ehre
durch Heilspropaganda und verlogenen Jubel verletzt! Wie sehr leidet der
Respekt, wenn Gott zur Sicherung seines Einflusses der frommen Lüge und
des bestellten Beifalls bedarf! Dabei hat er es doch mit der Erlösung so ernst
gemeint, dass ihm dafür kein Opfer zu teuer war, nicht einmal das Opfer sei­
nes lieben Sohnes. Wie lächerlich muss sein Bemühen nun jedermann
erscheinen.
Ist es nicht besser, wir respektieren konsequent, was die Bibel über sich
selbst sagt: es ist die Absicht JEDES Bibelwortes, Leben zu geben ?
“Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von ALLEM, was aus dem
Mund des HERRN geht” (5.Mo 8,3) Somit kann es nur ein lebensförderndes,
ermutigendes Verständnis dieser problematischen Textstelle geben oder gar
keines! Ein lebensförderndes Verständnis (!) 394, das einen klaren pädago­
gischen Nutzen hat (2.Tim 3,16).
Nützlich ist es sicher, zu erkennen, dass die wichtigste Frage (!) nicht mit
einem “Schriftbeweis” auf der Basis des nur-wörtlichen Verständnisses 395
zu beantworten ist, nämlich die Frage, ob man selbst auf den Himmel hoffen
darf oder nicht. Das Sola-Scriptura-Prinzip versagt an dieser entscheidenden
Stelle. Die Frage nach dem persönlichen Heil ist und bleibt aber die wich­
tigste Frage, weil ihre negative Beantwortung alle weiteren Fragen überflüs­
sig macht.
A 3. Wie gehe ich angemessen mit ideologisch denkenden Gläu­
bigen um?
1. Bleibe nach Möglichkeit immer freundlich und betrachte sie nicht als
deine Feinde, sondern als Menschen, die im Gefängnis ihrer eigenen
Bedürfnisse sitzen und so denken müssen. Sei dir immer bewusst, dass Gott
auch sie liebt und möchte, dass sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.
Bete deshalb viel für sie.
394 Wie es unter “Giftige Theologie” bei der Widerlegung der 9. Behauptung:
beschrieben wird, Seite 88.
395 Siehe dazu unter “Giftige Theologie” die 17. Behauptung: “Das Textverständnis,
das sich am engsten an den Wortlaut hält, ist das beste.”, Seite 111.
209
2. Bedenke stets, dass Gott eines Tages auch alle deine innersten Gedanken
und Motive offenbar machen wird. Prüfe deine eigenen Motive 396 an der
Bibel, damit du weißt, warum du anders denkst. Aggression entsteht oft aus
Hilflosigkeit heraus. Wenn du über Gegenargumente wütend wirst, könnte
dies ein Hinweis darauf sein, dass deine eigenen Argumente schwächer und
schlechter sind. Dann solltest du erst einmal dir selber ehrlich Rechenschaft
geben. Hüte dich, das Denken der Menschen nach deinen eigenen fleisch­
lichen Bedürfnissen formen zu wollen. Du schadest deinem Anliegen, wenn
du von dir selber groß denkst. Verweigere deshalb niemandem eine Antwort,
der an dich eine kritische Frage stellt.
3. Achte die Würde deiner Gesprächspartner, diffamiere und beleidige
sie nicht! Hilf ihnen, ihr Gesicht zu wahren, damit sie nicht ihre Person mit
ihren Irrtümern identifizieren. Nenne ihren Namen nur, wo es unumgänglich
ist (Quellenangaben). Meide alle niederträchtigen und manipulativen Metho­
den! Arbeite viel mit Fragen, statt mit Behauptungen und Anschuldigungen!
Wenn Gott der gerechten Sache den Sieg geben sollte, dann triumphiere nie­
mals über den, der unterlegen ist, und sei niemals schadenfroh!
4. Wenn du die Wahrheit erkennen darfst, die viele ablehnen, dann ist Gottes
Auftrag an dich ergangen, für sie einzutreten. Die Wahrheit hat viel
Geduld. 397 Sie wird auf jeden Fall gewinnen und alle, die ihr widerstanden
haben, werden sich eines Tages dafür schämen müssen. Versuche nicht, ein
Ergebnis vor der Zeit zu erzwingen, die Gott bestimmt hat. Dass erzeugt Fru­
stration, die viel von der Kraft aufzehren kann, die du brauchst, um durchzu­
halten. Ehre Gott und seine Wahrheit durch Gelassenheit und durch Ver­
trauen auf den Sieg. Lasse deine Gesprächspartner aber auch erkennen, dass
du niemals aufgeben oder resignieren wirst, sondern dass du jede Möglich­
keit nutzt, die Gott dir schenkt.
5. Wenn du einmal zornig geworden bist, weil du das Leid siehst, das Men­
schen mit Ideologie sinnlos zugefügt wird, dann habe nicht so viel Schuldge­
fühle. Es ist nicht so schlimm, einmal böse zu werden 398 als unverbesserlich
böse zu sein. Bedenke, dass unser Herr Jesus Christus auch manchmal ganz
ähnlich gefühlt hat.
396 Siehe das Kapitel „Prüfe dich selbst“, Seite 178.
397 Siehe „Was ist Irrlehre ?“, Nr 1, (Internet)
398 Siehe unter Stichworte den Artikel „Böses tun...“, (Internet).
210
Bedenke aber immer: ein Feind, den man mit Liebe und seriösen Argu­
menten eines Tages überzeugt, kann zum wertvollen Partner werden – ein
Saulus kann durch Gottes Gnade zum Paulus werden!
A.4. Anzeichen für die Widerstandskraft einer Gemeinde
gegen Machtmissbrauch und Korruption
Zwischen Theologie und persönlichen Machtinteressen besteht ein Zusam­
menhang. Dem Einfluss giftiger Theologie 399 kann besser vorgebeugt wer­
den, wenn Gläubige lernen, den Manipulationsspielraum, den gewisse Struk­
turen bieten, realistisch einzuschätzen.
Die Widerstandskraft ist umso größer, je besser die Gemeinde Verhaltens­
weisen überwinden kann, die zwar verbreiteter Tradition entsprechen, aber
nach biblischer Sicht ungeistlich und unfair sind.
Sich geistlich verhalten heißt dem Nächsten gegenüber Gerechtigkeit üben
(Jes 64,4), den fairen Umgang mitander lieben und pflegen (Kultur der
Fairness).
Fairness ist die Voraussetzung ungeheuchelter (Rö 12,9) Liebe.
(Die Details zeigt die Tabelle auf den nächsten Seiten)
399 Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 85 ff.
211
Starke Widerstandskraft
Schwache Widerstandskraft
Innige Verbundenheit mit Jesus Christus
Mt 23,23
Die praktische Anwendung der Quali­ Die praktische Anwendung der Quali­
tätsmaßstäbe Jesu Christi ist ein wich­ tätsmaßstäbe Jesu interessiert kaum
tiges Thema in der Gemeinde
oder gar nicht.
Würde des Gläubigen
Apg 26,29, Die Lehre hat das Ziel, möglichst alle Die Hauptamtlichen sehen die Ge­
Eph 4,13
Mitglieder der Gemeinde zu geistlich meindemitglieder nur als zu Betreu­
ebenbürtigen Mitarbeitern zu machen. ende, deren Streben nach geistlicher
Mündigkeit nicht ernstzunehmen ist.
Lu 22, 28- Durch besondere Bewährung in einer
29 / 2.Kor Aufgabe kann jedes Gemeindemitglied
4,2 / 2.Ti entsprechende Autorität erwerben.
2,1
Hauptamtliche haben in allen Fragen
höchste Autorität, auch in Aufgaben,
in denen sie sich vergleichsweise
wenig auskennen und bewährt haben.
1.Kor 12, Ehrenamtlicher Dienst hat grundsätz­
22-25 / Phil lich den gleichen Rang wie die Arbeit
2,3
der hauptamtlichen Mitarbeiter, sofern
die ehrenamtliche Arbeit an Umfang
und Qualität ebenbürtig ist.
Ehrenamtliche Arbeit gilt als gering­
wertiger als die Arbeit der hauptamt­
lichen Mitarbeiter, selbst wenn sie in
Umfang und Qualität ebenbürtig ist.
Mt 25,40
„Geringe“ Gläubige, auf die die Gesell­ „Geringe“ Gläubige
schaft herabsieht, fühlen sich in der Gemeinde.
Gemeinde wohl.
meiden
die
Predigt des unverkürzten Gotteswortes
Gal 1,10
Das Wort Gottes wird ohne Abstriche
gepredigt: der Gemeinde wird keine
Wahrheit erspart, bloß weil man sich
vielleicht damit unbeliebt machen
könnte.
Es ist nicht erkennbar, dass der Predi­
ger die Liebe zu Wahrheit und
Gerechtigkeit über den Wunsch stellt,
beliebt zu sein.
Mt 7, 20-23 Der Tenor der Predigt ist: Niemand
/ 25,1-13
betrüge sich selbst. Auch innerhalb der
Gemeinde scheidet der Geist Gottes
zwischen Menschen, die "drinnen"
sind, und solchen, die "draußen" sind.
Der Tenor der Predigt ist: Leute, ihr
seid alle schon o.k. Aber es könnte
etwas mehr sein... Bereits der Besuch
der Gemeinde gilt als Beweis für die
richtige Einstellung, sodass auf eine
Bußpredigt verzichtet werden kann.
Apg 7,56 / Jeder hat das Recht, von der Tradition
Gal 2,5
abweichende Erkenntnisse vorzutragen,
wenn sie biblisch gut begründet sind
und der Qualitätssicherung dienen.
Der Informationsfluss wird mutwillig
behindert, oder seine Störung wird
geduldet, um bibelgemäße Argumente
ignorieren zu können
212
Starke Widerstandskraft
Schwache Widerstandskraft
Korrigierbarkeit
Amos 7, 12- Die Gemeinde nimmt Korrektur von
15 / 3.Jo 10, außen an, wenn sie auf Missstände oder
11
Gefahren hingewiesen wird, die nach
dem NT zu vermeiden sind.
Korrektur von außen wird grundsätz­
lich als Angriff auf die Gemeinde
empfunden und nicht an der Bibel
geprüft.
1.Tim 5,19 Wenn zwei oder drei Gläubige auf
Fehlverhalten eines Gemeindeleiters
hinweisen, dann ist dieser bereit, sich
an der Bibel prüfen zu lassen.
Auf Beschwerden über falsches Ver­
halten des Leiters wird erst dann rea­
giert, wenn sich eine starke Fraktion
gegen ihn gebildet hat.
Mt 23,23
Man erkennt die Notwendigkeit, die Über biblisches Recht wird wenig
Gemeinde am Maßstab des biblischen oder gar nicht nachgedacht. Die
Rechtes zu messen.
Gemeindemitglieder werden darüber
nicht informiert. Die Tradition
bestimmt, was gilt.
Rechtsschutz für die Schwachen
Dan 12, 2 /
Jes 28, 6 /
Mt 5, 6 /
2.Tim 3,16
Unter “Heiligung” wird die Formung
der Persönlichkeit durch das Vorbild
Jesu Christi verstanden. Das schließt
das Bemühen ein, die Gemeinde Liebe
zur Gerechtigkeit zu lehren, damit in
der Gemeinde ein faires und gerechtes
Miteinander aller Gläubigen, die zum
Leib Christi gehören, möglich ist und
sie in der Welt Salz und Licht sein
kann.
Unter “Heiligung” wird nur das eifrige
Streben nach Verbesserung des ganz
privaten moralischen Niveaus verstan­
den. Die Aufarbeitung von Konflikten
in der Gemeinde gehört nicht zur Hei­
ligung.
Mt 5,25-26 Es wird daran erinnert, dass der Gläu­ Unrecht zwischen Gläubigen ist deren
bige Unrecht in Ordnung bringen und Privatangelegenheit, in die sich die
sich mit Geschwistern versöhnen sollte, Gemeinde nicht einmischen sollte.
um sich auf die Wiederkunft Jesu zu
vorbereiten.
1.Kor 6,1ff Zu diesem Zweck wird der schieds­ Es existiert kein auf die Bibel gegrün­
gerichtliche Dienst eingerichtet.
detes Konzept des schiedsgericht­
lichen Dienstes.
Mt 18,15 ff Konflikte werden nach dem dreistu­
figen Verfahren bearbeitet, das Jesus
vorgegeben hat: 4-Augen-Gespräch,
Mediation, Entscheidung der Ge­
meinde.
213
Die Gemeindemitglieder haben keine
Entscheidungsbefugnis, da sie auf die
Aufgabe, in Konflikten zu entschei­
den, nicht vorbereitet worden sind.
Starke Widerstandskraft
Schwache Widerstandskraft
1.Thess
5,22
Der schiedsrichterliche Dienst ist die
Aufgabe ehrenamtlicher Mitglieder,
damit die Entscheidungen nicht in der
Verdacht der Befangenheit geraten.
Die schiedsrichterliche Entscheidung ist
das selbstverständliche Recht von Per­
sonen, die Einkommen aus der
Gemeinde beziehen.
Mk 7,11
Die Gemeinde ist darüber informiert, Über das Thema "Korban" (= verbotene
dass sie weder Spenden noch Mitar­ Spenden) wird sehr selten oder mög­
beit einzelner annehmen darf, die lichst gar nicht gepredigt.
Angehörigen und Geschädigten ge­
schuldet werden.
Ri 19-20 / Ein Außenstehender, der durch ein
Spr 18,10 Mitglied der Gemeinde geschädigt
worden ist, darf darauf vertrauen, dass
er angehört und seine Sache gerecht
entschieden wird.
214
Der Schaden von außenstehenden Gläu­
bigen, die zum Leib Christi gehören,
wird nicht ernstgenommen, sondern nur
die Anliegen der Gemeindemitglieder.
Wenn ein Hirte hundert Schafe hat
und eines davon läuft ihm weg,
was wird er dann wohl tun ?
Wird er bei den Hundert bleiben
oder wird er sich auf die Suche machen
nach dem einen Schaf,
das ihm verloren gegangen ist ?
(Luk 15,4)
215
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