Prüfet alles ! - ausgenommen ... Wirksamer Schutz vor 28 destruktiven Behauptungen in evangelikalen Gemeinden 20. März 2014 Prüfet alles – ausgenommen... Wirksamer Schutz vor 28 destruktiven Behauptungen in evangelikalen Gemeinden Ein stark gekürzter Abdruck der Internetseite www.stoppt-religioesen-missbrauch.de bzw. www.Matth2323.de Stand: 20. März 2014 Bitte beachten: möglicherweise wurden später wichtige Verbesserungen oder Ergänzungen in der Internetseite eingefügt. Die Untersuchung erfolgt auf der Grundlage herkömmlicher bibeltreuer Theologie Über die Kontaktadresse der Internetseite ist es möglich, Kritik zu üben, Fragen zu stellen, Verbesserungen vorzuschlagen oder Material zu bestellen. Die in diesem Text verwendeten Bibelzitate stützen sich auf die Übersetzung Martin Luthers, rev. Ausgabe, 1912, sowie auf die Übersetzung „Hoffnung für alle“ in der NT-Ausgabe: „Das leben­ dige Buch“, 1983 (c) Int.Bible Society oder auf die Neue Evange­ listische Übersetzung von Karl-Heinz Vanheiden, e-Ausgabe 2012. Inhaltsverzeichnis 1. Prüfet alles ... (1.Thes 5,32) – doch warum ? 1 2. Eine reale Gefahr ... 3 3. Liebe Schwester, lieber Bruder ... 4 4. Schlüssel weg ?... 6 5. Notwendiger und schädlicher Zweifel 7 6. Wichtige Resultate ! 11 (Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen bibeltreuem Schriftverständnis und religiös bedingter Depression, sowie zur unzureichenden Wirksamkeit üblicher Hilfsangebote. Erläuterung der Vorteile des vorgeschlagenen Verfah­ rens, Rangunterschiede biblischer Aussagen mit Hilfe der Qualitätsmaßstäbe Jesu zu begründen.) 7. Welche tragfähigen Alternativen gibt es dazu ? 18 1. Eine optimistische Einstellung ist Pflicht 18 2. Den Spieß umdrehen: Der Aufruf zur Heiligung wird als Werkgerechtigkeit betrachtet 21 3. Quantitative Lösung: die Bibel grundsätzlich nur in Auswahl lesen 22 4. Heilssicherung mittels Ritual 24 5. Glauben an den Glauben anderer 27 6. Allversöhnung 28 7. Entkernung des Christentums 31 8. GIFTIGE THEOLOGIE 35 I. Behauptungen, die das Vertrauen in Gott als fairen „Bundespartner“ untergraben 1. Behauptung: „Gott erwartet vom Gläubigen, dass er jede erkannte Sünde nachträglich in Ordnung bringt, wenn er Vergebung haben will“ 41 2. Behauptung: „Kleine Sünden werden von Gott so negativ gesehen und bestraft wie schwerste Verbrechen, denn Jesus musste auch für kleine Sünden sterben.“ 45 3. Behauptung: „Da der Gläubige die Kraft des Heiligen Geistes empfangen hat, ist er frei vom Zwang zu sündigen. Wenn er nur will, kann er die Sünde lassen. Umso strenger wird der Gläubige bestraft, wenn er sich dann noch kleine Sünden leistet. Er kann und darf sich nicht mehr auf menschliche Schwachheit berufen.“ 50 4. Behauptung: „Sexuelle Sünden verunreinigen am stärksten.“ 54 5. Behauptung: „Je mehr du für Gott an Geld und Zeit opferst, desto mehr wirst du in diesem Leben an materiellem Wohlstand zurückbekommen.“ 77 6. Behauptung: „Wer seiner Gemeinde nicht den Zehnten seines Einkommens spendet, ist verflucht und wird mit finanziellen Einbußen rechnen müssen. 81 7. Behauptung: „Wer nicht fast alles opfert, um die Not der Menschen zu lindern, lebt in Sünde und unter dem Fluch Gottes.“ 83 8. Behauptung: „Wer seine Mitmenschen nicht missioniert – wo sich die Gelegenheit ergibt – trägt Mitschuld daran, wenn sie in die Hölle kommen und wird dafür angemessen von Gott bestraft.“ 86 9. Behauptung: „Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen.“ 88 10. Behauptung: „Ein Versprechen, das der Gläubige Gott gegeben hat, muss auf jeden Fall eingehalten werden, auch wenn es dumm und destruktiv war. Wenn der Gläubige es nicht einhält, dann muss er damit rechnen, dass Gott sein ganzes Leben ruiniert. 96 11. Behauptung „Wenn du noch nicht in Zungen redest oder noch kein wunderbares Erleuchtungserlebnis empfangen hast, steht noch irgendeine Sünde zwischen dir und Gott. Dann hast du evt. den Heiligen Geist noch nicht empfangen und bist noch gar kein Christ und noch nicht gerettet.“ 100 12. Behauptung: „Wenn dein Gebet nicht erhört wird, dann gibt es nur einen Grund dafür: eine Sünde steht zwischen dir und Gott.“ 101 13. Behauptung: „Krankheit ist ein starkes Indiz für mangelnden Glauben oder heimliche Sünde.“ 103 14. Behauptung: „Bei Krankheit den Arzt zu holen, ist ein Beweis mangelnden Gottvertrauens und daher Sünde.“ 105 15. Behauptung: „Durch das Anhören weltlicher Musik kann Besessenheit (Dämonen) übertragen werden, die man nur sehr schwer wieder los wird.“ 106 16. Behauptung: „Zwanghafte Lästergedanken sind ein Beweis, dass der Gläubige vom Satan besessen ist. Er kann nur durch Exorzismus befreit werden.“ 108 17. Behauptung: „Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wortlaut der Bibel hält, ist das beste.“ 111 18. Behauptung: „Die ethischen Aussagen des Neuen Testamentes haben alle die gleiche Autorität. Der Gläubige muss sie alle einhalten, wenn er nicht ungehorsam sein will.“ 116 19. Behauptung: „Die strengere und härtere Interpretation eines Gebotes ist in jedem Fall die bessere.“ 118 20. Behauptung: „Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes.“ 119 21. Behauptung: „Die Körperstrafe (Prügeln) ist ein unentbehrliches Erziehungsmittel des Christen.“ 123 II . Lehrsätze, die den Gläubigen des Rechtes berauben, sich vor Machtmissbrauch zu schützen 22. Behauptung: “Ein Gläubiger, der den Anweisungen des Gemeindeleiters nicht gehorcht, lebt immer in Rebellion gegen Gott.” 126 23. Behauptung: “Es ist Hochmut, die theologische Tradition der Gemeinde mit der Bibel zu prüfen.” 129 24. Behauptung: „Der Gläubige darf Unrecht in der Gemeinde nur dann beim Namen nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler zu sehen sind.“ 130 25. Behauptung: “Mit der Forderung, Schäden und Beschwerden in der Gemeinde zu dokumentieren, schadet man dem “Zeugnis” der Gemeinde.” 131 26. Behauptung “Ein Christ darf sich nicht wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern. Er muss Unrecht, das ihm zugefügt wird, hinnehmen, muss vergeben und vergessen. Andernfalls ist er ein “Schalksknecht” (Mt 18,32 ff) und wird von Gott mit der Hölle bestraft!” 132 27. Behauptung: “Ein Christ darf nicht vor Gericht gehen, wenn ihm ein anderer Gläubiger geschadet hat. Andernfalls sündigt er und wird dafür von Gott bestraft.” 136 28. Behauptung: “Ein Christ darf in Notwehr niemand töten. Er ist verpflichtet, sich töten zu lassen, damit der Täter nicht in die Hölle kommt.” 140 9. Persönlichkeit ? 142 10.Die negative Verformung der Persönlichkeit durch giftige Theologie 143 11. Der Semmelweis-Reflex 147 12.Prüfe Dein Urteilsvermögen 150 12.1. Unfair und parteilich entscheiden ? 150 12.2. Naheliegende Fragen … 153 12.3. Eine einfache Lösung, die immer möglich ist … 154 12.4. Skizze eines bibelgemäßen Schichtungsverfahrens 156 12.5. Das Dilemma der wortwörtlichen Interpretation 159 13.Zu Gott gehören 160 13.1. “Ein geheiligtes Leben führen” heißt die Freundschaft mit Gott im Lebensstil zu zeigen 160 13.2. Heiligung ist keine nur private Angelegenheit ! 166 13.3. Die Echtheit der Heiligung ist an der Qualität (!) der Früchte zu erkennen ! 167 13.4. Der Weg aus der Werkgerechtigkeit 169 13.5. Zerrbilder der Heiligung 171 14.Kleine Charakter-Skizze des im Glauben gereiften Christen 173 15.Prüfe Dich selbst …,bevor Du andere prüfst! 178 16.Chancen warten … 182 Anhang A 1. Häufige Fragen 186 Die Antworten auf die Fragen 1- 7 sind im Internet zu finden. Frage 1: Ist diese Internetseite nicht eher schädlich für die Gemeinde, vielleicht sogar selbst gefährlich, weil sie ein negatives Bild des christlichen Glaubens “vom Miss brauch her” zeichnet ? Frage 2: Ist es nicht völlig klar, dass mit dem “Weisen” (1.Ko 6,5), der einen Rechts streit entscheiden soll (σοϕος ος δυνησεται διακριναι), nur ein Pastor gemeint sein kann, da er die gründlichste bibelkundliche Ausbildung von allen Gläubigen hat ? Frage 3: Welche Aufgaben im Zusammenhang mit dem schiedsgerichtlichen Dienst werden am besten vom Pastor wahrgenommen ? Frage 4: Wer kommt für ein schiedsrichterliches Amt in Frage? Frage 5: Warum sollte ein Gemeindemitarbeiter im vollzeitlichen Dienst es grundsätzlich vermeiden, schiedsgerichtliche Urteile zu fällen ? Frage 6: Hat Paulus nicht den Gläubigen geboten, sich mit Kritik gegenüber dem Vor stand einer Gemeinde zurückzuhalten, da sie “Obrigkeit” sei und Christen “der Obrig keit untertan” (Rö 13,1) sein sollen? Auch wenn sie eine Obrigkeit ist, die Unrecht tut wie die Regierung Kaiser Neros zur Zeit des Paulus ? Frage 7: Ist es nicht besser, die Gemeinde stillschweigend zu verlassen, wenn der Vorstand immer wieder über die Qualitätsmaßstäbe Jesu hinwegsetzt? Frage 8: Wie kann man NICHT erkennen, ob die Forderung der Barmherzigkeit (ελεος), die Jesus als erste der wichtigsten Gebote in Mt 23,23 nennt, tatsächlich den höchsten Rang im Denken der Gemeindeleitung einnimmt ? sich 186 Frage 9: Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt? Ist “Gerechtigkeit” im Umgang mit dem Nächsten nicht eine typisch alttestamentliche Forderung, die für die Gemeinde heute nicht mehr relevant ist? Wird sie nicht im Neuen Testament durch die Aufforderung ersetzt, sich zu Jesus zu bekehren, der unsere “Gerechtigkeit” ist ? 188 Frage 10: Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 nicht wie bei Luther mit dem Begriff “Treue” sondern mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdigkeit” übersetzt? A 2. Die Angst vor der unvergebbaren Sünde und seelsorgerliche Hilfsangebote 1. Oberflächliche seelsorgerliche Antworten 190 191 192 1.1. Aufforderung zur Auswahl und Verdrängung 193 1.2. Luthers Kunstgriff: formale Zustimmung zum Verdammtwerden 194 1.3. Visualisierungen des Leidens Christi 195 2. Antworten der “nouthetischen” Seelsorge (Jay Adams) 195 3. Definition der unvergebbaren Sünde als “nationale Sünde” (Arnold Fruchtenbaum) 197 4. Am Buchstaben klebende “Lösung” als verheerender “Kunstfehler” (Adolf Schlatter) 199 A 3. Wie gehe ich angemessen mit ideologisch denkenden Gläubigen um? 209 A 4. Anzeichen für die Widerstandskraft einer Gemeinde gegen Machtmissbrauch und Korruption 211 A 5. Miese Tricks (nur im Internet) (Killerphrasen, Pauschalisierungen, Heucheln einer kritischen Sicht, Arrogantes Ignorieren, Ausgrenzung, Einschüchterung, üble Nachrede, Form über den Inhalt stellen, Verständnis heucheln, Bevormundung, Abschirmung, Sich-totStellen.) A 6. Satire: Hiob und seine Freunde (nur im Internet) A 7. Warum ist eine Gemeinde-Haftpflicht notwendig ? (nur im Internet) A 8. Wichtige Artikel in Stichworten (Auswahl) (nur im Internet) Die Stichworte betreffen folgende Themenbereiche: BA = Biblische Autorität H = Heiligung, Leben in der Kraft des Heiligen Geistes HG = Heilsgewissheit M = Effiziente Maßnahmen gegen Machtmissbrauch (HG) (H) (M) (M) (H, M) (M) (H) (H) (M) (H) (HG) (BA) Absolut verlässlich: die Zusagen Gottes Achtung vor dem Alter Ansehen der Person verboten Augensalbe verwenden! (nur im Internet) Authorisierung und Berufung des Gläubigen Autorität der Gemeindeversammlung Barmherzigkeit, echte Barmherzigkeit, scheinbare Beichtgeheimnis gilt nur für den Ratsuchenden Beschwerdebrief, Vorsichtsmaßnahmen für den Beweis der Liebe nachvollziehbar? Bibeltreu die Bibel verstehen (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (nur im Internet) (HG) (M) (H, BA) (M) (H, M) Blinder Fleck der Werbungsabteilung (nur im Internet) Böses tun ist nicht so schlimm wie böse sein (nur im Internet) Buchstabentreue (nur im Internet) Churchly Correctness (nur im Internet) Destruktive Motive (nur im Internet) Du – Anrede (nur im Internet) Ehre Gottes (nur im Internet) (H, M) Fairness-Regeln im Umgang mit ideologisch denkenden Gläubigen 209 (H, M) Fixierung auf den eigenen Gemeindeverein (nur im Internet) (M) Folgen der Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht (nur im Internet) (H) Freiheit des Christen (nur im Internet) (H, BA) Geistliche Disziplin (nur im Internet) (M) Gemeindeordnung im Sinne Jesu gestalten (nur im Internet) (H) Gemeindezucht (nur im Internet) (H) Gerechtigkeit, Fairness (nur im Internet) (M) Gesetz der 50-jährigen (nur im Internet) (H, BA) Gesetzliche Illusionen (nur im Internet) (H) Gottesbeweis (nur im Internet) (HG) Heilsgewissheit, eingeschränkt durch Vertragspflichten? (...) (H, HG) Heilsgewissheit ohne Heiligung ? (nur im Internet) (H, HG) Heilstatsachen, unverzichtbare (nur im Internet) (HG) Hölle (nur im Internet) (BA) Inspirationsmodell, schöpfungsgemäßes (nur im Internet) (M) Keine Zeit für Qualitätsprüfung ? (nur im Internet) (M) Laien-Bote (nur im Internet) (BA) Liberale Theologie (nur im Internet) (BA) Pauschalstil (nur im Internet) (BA) Polarität der Bibel (nur im Internet) (M) Predigt-Nachbereitungsdienst (nur im Internet) (H, M) Propaganda (nur im Internet) (M) Qualitätsförderung (nur im Internet) (H, M, BA) Qualitätsmaßstäbe Christi (nur im Internet) (BA) Rangunterschiede biblischer Aussagen (nur im Internet) (H, BA) Religiosität (nur im Internet) (M) Satire “Hiob und seine Freunde ” (nur im Internet) (M) Schiedsgerichtlicher Dienst (nur im Internet) (M, BA) Schutzmaßnahmen gegen giftige Theologie (nur im Internet) (H) Selbsterkenntnis (nur im Internet) (H, BA) Selbstverstärkung (nur im Internet) (H) Sorgfaltsparadox (nur im Internet) (M) Strafbare Handlungen (nur im Internet) (BA) Unterscheidung der Verantwortungsbereiche (nur im Internet) (H, HG) Unterscheidung zwischen echter und vermeintlicher Jüngerschaft (nur im Internet) (H, HG) Unvollkommenheit, gefährdet sie das Heil ? (nur im Internet) (H, BA) Urteilsvermögen (nur im Internet) (H, HG) Vorbild im Glauben – die Ältesten (nur im Internet) (H, HG) Werkgerechtigkeit (nur im Internet) (H, HG) Wie finde ich aus der Werkgerechtigkeit wieder heraus? (...) (H) Wert des Glaubens (nur im Internet) (BA) Wörtl. Missverstehen in der Kirchengeschichte (nur im Internet) Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Deshalb bleibt standhaft und lasst euch nicht wieder ein Sklavenjoch aufzwingen ! (Gal 5,1) 1. Prüfet alles ... (1.Thes 5,32) – doch warum ? Kinder und Jugendliche, die in eine christliche Gemeinde eingeladen wer­ den, bedürfen besonderen Schutzes. Sie haben ein Recht darauf, dass ihre Seele nicht durch Irrtümer, Fahrlässigkeit oder Machtmissbrauch verletzt und vergiftet wird. Die Heilige Schrift fordert alle Gläubigen auf (1.Thes 5,21): Prüfet ALLES ! Auch in einer gesunden Gemeinde wirken immer wieder destruktive Impulse vielfältig und unkontrollierbar ein. Sie können ausgehen von einem einzelnen Aufsatz in einem Buch auf dem Büchertisch oder sie wer­ den möglicherweise im Hauskreis, auf christlichen Freizeiten, durch Freunde oder durch Kontakte mit anderen Gemeinden, mit Evangelisten, Bibelschülern oder Missionsgruppen, die zu Besuch in der Gemeinde sind, vermittelt. Destruktive Impulse sind – ungeachtet ihrer tiefreligiösen Erscheinungsform – Fremdkörper im christlichen Glauben. Der christliche Glaube selbst hat eine befreiende und aufbauende Wirkung. Jeder Gläubige kann sich und die Menschen, für die er sich verantwortlich fühlt, schützen. Denn “Der geistliche Mensch beurteilt alles” (1.Kor 2,15-16) Zur Prüfung dienen die drei Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi (Mt 23,23): Barmherzigkeit 1, Fairness 2, Ehrlichkeit 3 Für Jesus Christus waren es die die wichtigsten Maßstäbe! 1 Siehe unter „Stichworte: „Barmherzigkeit, echte“ im Internet. 2 Siehe unter „Häufige Fragen“ die 9.Frage auf Seite 188. 3 Siehe unter „Häufige Fragen“ die 10.Frage auf Seite 190. 1 Es sind sehr leistungsfähige Prüfinstrumente. Du 4 kannst damit: - Dich selbst 5 und Deine Einstellung prüfen - Dein geistliches Urteilsvermögen 6 prüfen - das pädagogische Leitbild der Gemeinde und seinen Einfluss auf Deine Persönlichkeit 7 prüfen - Deine Widerstandskraft gegenüber schädlichen Einflüssen 8 prüfen. Wer diese Prüfinstrumente anwendet, kann seine Urteilskraft erheblich verbessern! Nur wenn die Gemeinde Jesu destruktiven Einflüssen widersteht, bleibt die gute Nachricht von der Befreiung durch Jesus Christus 9 unver­ fälscht und zuverlässig bestehen. (Es versteht sich dabei von selbst, dass auch wir korrigierbar bleiben. In der notwendigen Auseinandersetzung fühlen wir uns an Fairness-Regeln im Umgang mit Andersdenkenden 10 gebunden. Wir greifen niemanden nament­ lich an, auch wenn wir manche Missbrauchsfälle im Detail darstellen wer­ den. Unsere Untersuchung erfolgt auf der Grundlage herkömmlichbibeltreuer Theologie. Deshalb bitten wir insbesondere unsere bibeltreuen Leser, uns auf Fehler und Mängel in unseren Texten aufmerksam zu machen und uns ihre mit der Bibel begründete Kritik über unser Kontaktformular auf der Internetseite mitzuteilen.) Der bibelgemäße Stil dieser Internetseite wird bisweilen als “fundamentali­ stisch” kritisiert. Wir bitten zu bedenken, dass gerade diese Argumentati­ onsweise eine pauschale, schnelle Abwehr der Reformvorschläge als “Ungläubigengeschwätz” verhindert. Sie stellt sicher, dass hilfreiche Argu­ mente auch von Mitgliedern extremer, gut abgeschotteter und gut kontrol­ lierter religiöser Gruppen angehört und diskutiert werden. 4 5 6 7 8 9 10 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Du-Anrede“, (Internet) Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet) Siehe unter „Prüfe Dein Urteilsvermögen“, Seite 150. Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173. Siehe unter „Giftige Theologie“, Seite 35. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet). Siehe Seite 209. 2 Auch ermöglicht gerade diese Argumentationsweise Gläubigen, Machtmiss­ brauch auf der Grundlage ihres eigenen Normensystems wahrzunehmen. Es gibt wohl kaum einen effizienteren Weg, gegen Machtmissbrauch vorzuge­ hen, als an eine Motivation anzuknüpfen, die aus dem eigenen Normensy­ stem stammt. Auch wenn manche unsere Sicht nicht in allen Punkten teilen, so wird man dennoch den Wert einer offenen Diskussion der hier erwähnten Themen erkennen und unsere Bemühung um mehr Transparenz zu schätzen wissen. Diese Bemühung trägt bereits erheblich zu einer Entgif­ tung einer Theologie bei, die an kurzsichtige allzumenschliche Interessen gebunden ist. 2. Eine reale Gefahr … Destruktive Theologie ist eine reale Gefahr für Deine seelische Gesundheit. Keine christliche Gemeinde ist immun dagegen. Das Schädliche kann unter vielem, was dort an Hilfreichem und Richtigen gelehrt wird, versteckt sein. 3 Hier erfährst Du, 11 wie Du dich rechtzeitig davor schützen kannst … Viele Menschen machen überwiegend positive Erfahrungen mit dem christ­ lichen Glauben. Entsprechend hört man in christlichen Gemeinden viele positive Berichte, denen man vertrauen darf. Der Grundsatz der Ehrlichkeit 12 gebietet jedoch, dass auch Gläubige zu Wort kommen dürfen, die dort negative Erfahrungen mit GIFTIGER THEO­ LOGIE 13 oder Machtmissbrauch gemacht haben. Hier hast Du Zugang zu wichtigen Informationen, die Du in etlichen Gemeinden vielleicht niemals bekommen wirst… Jesus Christus will, dass seine Jünger freie Leute sind und bleiben: “Lasst euch die Freiheit 14 nicht wegnehmen, zu der euch Christus berufen hat!” (Gal 5,1) 3. Liebe Schwester, lieber Bruder ... - wenn dein Gewissen deine Unvollkommenheit nicht akzeptiert und dich ständig mit perfektionistischen Forderungen quält, - wenn du meist unsicher bist, ob Gott dir freundlich gesonnen ist, - wenn dir Bibelstellen Angst machen und die Theologie deiner Gemeinde darauf in unglaubwürdiger Weise reagiert, - wenn Mitchristen dich ablehnen, weil du ehrliche Antworten suchst, - wenn dich ein Gemeindemitglied erheblich geschädigt hat, aber deine Beschwerde nicht angehört wird, - wenn Zweifel 15 am Charakter Gottes aufsteigen oder gar Verzweiflung, weil Scheinheiligkeit und Tolerieren von Unrecht in der Gemeinde nie­ manden mehr stört … 11 12 13 14 15 Siehe unter „Giftige Theologie“, Seite 35. Siehe unter „Häufige Fragen“ die 10.Frage auf Seite 190. Siehe unter „Giftige Theologie“, Seite 35. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet). Siehe Seite 7. 4 3.1. Wirf deinen Glauben nicht weg ! (Hebr 10,35) Auch wenn nur noch wenig davon übrig ist – so wenig „wie ein Senfkorn“ (Lk 17,6) – , so ist doch dieser Rest in Gottes Sicht unendlich kostbar und kann wieder stark werden. Wenn Menschen sich Christen nennen und unbarmherzig, unfair und unehrlich mit anderen umgehen, dann sollte man nicht daraus daraus schließen, dass Gottes Charakter ähnlich ist. Ein fataler Fehlschluss! Gott liebt Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit ohne Einschrän­ kung, wie man an Jesus Christus sehen kann. 3.2. Nimm den Schlüssel 16 Jesu, der zum Verstehen der Bibel notwendig ist, auch wenn andere Gläubige der Ansicht sind, dass sie das Recht hätten, ihn dir vorzuenthalten oder wegzunehmen. Wenn du diesen Schlüssel gebrauchst, wirst du den lebensfördernden Sinn (Mt 4,4) der Bibel verste­ hen: das ist “Christi Sinn” (1.Kor 2,16), in Liebe und Freiheit. 3.3. Investiere in den Glauben Zeit, Kraft und Verstand. Wenn er dir kostbar wird, wird er stärker und du erlebst wieder Glaubensfreude. Triff dich mit Gläubigen, die ehrliches Fragen und Suchen erlauben, um den lebensfördernden Sinn (Mt 4,4) der Bibel aufzuschließen. Löse dich vom Einfluss von Gläubigen, die das nicht wollen, sondern Anpassung an Ideolo­ gie und Propaganda erwarten. 3.4. Wenn du Hilfe erfahren hast, hilf anderen, die diesen Weg noch nicht kennen. Mache den Schlüssel Jesu bekannt, ohne den die Theologie giftig 17 wird. 16 Siehe Seite 6. 17 Siehe Seite 35. 5 4. Schlüssel weg ? Die drei Qualitätsstandards Jesu (Mt 23,23) Barmherzigkeit 18 , Fairness 19 , Ehrlichkeit 20 sind die wichtigsten Ordnungsprinzien des Neuen Testamentes. Sie sind der Schlüssel ohne den eine konstruktive, lebensfördernde Auslegung der Bibel nicht möglich ist. Wenn dieser Schlüssel nicht benutzt wird, können gefährliche Missverständ­ nisse entstehen: (“Giftige Theologie“ 21 ) Mit Hilfe dieses Schlüssels kann jeder Gläubige den Rang eines Bibelwortes erkennen, sodass seine Interpretation widerspruchsfrei bleibt. Etliche bibeltreue Theologen sind der Ansicht, dass die betreffenden Worte Jesu keine Schlüsselfunktion haben. Es genüge, Bibelworte aufeinander zu beziehen. So hört man immer wieder Sätze wie: “die Bibel legt sich selbst aus …”, “die Bibel erklärt die Bibel …”, Manchmal ja. Doch wenn Bibelworte einander einschränken, wer legt dann den Rang 22 der einzelnen Bibelworte fest ? Wenn der Schlüssel nicht angewandt wird, dann übernehmen Theologen seine Funktion. Sie stufen Bibelworte nach ihrem Ermessen ein oder gemäß der Tradition. Das macht es den Gläubigen sehr schwer zu lernen, wie die Bibel mit Hilfe der drei Prinzipien Jesu 23 selbständig erschlossen und ver­ standen werden kann. Stattdessen bleiben sie abhängig von der (interessen­ geleiteten) Sicht von Theologen und übernehmen gutgläubig diese Sicht. 18 19 20 21 22 23 Siehe unter „Stichworte“ (Internet). Siehe Seite 188. Siehe Seite 190. Siehe Seite 35. Siehe unter „Stichworte“ / „Polarität“ (Internet). Siehe unter „Stichworte“ / „Qualitätsmaßstäbe“ (Internet). 6 Jesus warnte vor den Schriftgelehrten, die “das Himmelreich zuschließen vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen !” (Mt 23,13) Es gibt also Theologen, die der Gemeinde den Schlüssel vorenthalten oder wieder wegnehmen. Sie haben kein Interesse daran, dass Gläubige mit seiner Hilfe selbständig urteilen 24 lernen. Auch dass Menschen deswegen ihren Glauben verloren und die Gemeinde verlassen haben, scheint sie wenig zu stören (“Churchly Correctness“ 25) , solange nur genug neue Mitglieder angeworben werden können. Dieser Schlüssel steht jedem Gläubigen zur Verfügung. Du hast das Recht, ihn zu verwenden. Wer ihn gebraucht, wird feststellen, dass der Heilige Geist sein Anwalt ist und ihn befähigen kann, andere vor Rechtsverlet­ zungen zu schützen. 5. Notwendiger und schädlicher Zweifel Zweifel wird von manchen Gläubigen generell negativ gesehen, als sündiges Verhalten, das der Gläubige zu vermeiden hat. Sie können sich auf zahl­ reiche Ermahnungen ihn der Bibel, nicht zu zweifeln, sondern zu glauben, berufen. Haben sie also damit recht ? Sehen wir einmal genauer hin. Im alten Bund sollte der Hohepriester am Versöhnungstag ein Tieropfer dar­ bringen (3.Mo 16, 17ff), um die Sünden des ganzen Volkes (!) zu “bede­ cken” und es von der Schuld zu “reinigen” (Septuaginta: καθαρισθησεσθε) . Im Hebräerbrief heißt es später, dass es unmöglich sei, durch das Opfer von Tieren Sünden “wegzunehmen” und Vergebung zu erlangen. (Hebr 10,4) Nur das Blut Jesu hat die Kraft, “den Gläubigen zu reinigen (καθαριζει) von aller Sünde.” (1.Joh 1,7) Was stimmt denn nun ? Hatten frü­ her Tieropfer tatsächlich die Kraft, von Sünde zu reinigen oder kann das nur das Blut Jesu ? Dieser Kontrast der Aussagen wäre ein Widerspruch, wenn beide Aussagen gleicher Art wären. 24 Siehe Seite 150. 25 Siehe unter „Stichworte“ (Internet). 7 Indes, ein wirklicher Widerspruch ist nicht vorhanden, weil nur die Aussage des Neuen Testamentes letztgültige Wirklichkeit ist, die Aussage des Alten Bundes dagegen eine vorläufige, vorbereitende Aussage, die auf die letztgül­ tige Wirklichkeit hinweist: sie ist nur der “Schatten” (Hebr 8,5) der Wirk­ lichkeit. An letztgültigen Aussagen sollte der Gläubige nicht zweifeln. Letztgültige Aussagen fordern das Vertrauen in Gott und eine Verhaltensänderung unmit­ telbar heraus. Wer in dieser Weise vertraut, handelt anders als der NichtGlaubende, denn er rechnet mit den unsichtbaren Tatsachen, die sich aus der Aussage ergeben. Dieses Vertrauen ehrt Gott. “Obwohl Abraham damals schon fast hundert Jahre alt war und wusste, dass er keine Kinder mehr zeu­ gen und seine Frau Sara keine Kinder mehr bekommen könnte, wurde er im Glauben nicht schwach und zweifelte nicht an der Zusage Gottes. Er ehrte Gott, indem er ihm vertraute , und wurde so im Glauben gestärkt. Er war sich völlig gewiss, dass Gott auch tun kann, was er verspricht. Eben darum wurde ihm der Glaube als Gerechtigkeit angerechnet. ” Doch wie ist es bei vorläufigen Aussagen ? David kamen nach seiner an Uria verübten Bluttat zum erstenmal Zweifel an der Wirksamkeit eines Tieropfers: “Tieropfer gefallen dir nicht, sonst würde ich sie dir geben. Aus Brandopfern machst du dir nichts.” (Ps 51,18) Das Gesetz sagte in seinem Fall ausdrücklich: “ihr sollt keine Sühneleistung annehmen bei Mord.” (4.Mo 35,31) “Wer vorsätzlich einen Menschen ermordet hat, der schändet das Land, und das Land kann von der Blut­ schuld nicht gereinigt werden außer durch das Blut dessen, der es vergossen hat.” (4.Mo 35,33) Für Mord war kein Opfer vorgesehen. Es gab keine Sühne dafür. Doch die Justiz konnte das Todesurteil nicht vollstrecken. Der König war die Justiz. Er garantierte den Rechtsfrieden. Ohne ihn gäbe es Anarchie, Kämpfe um die Macht, noch mehr Morde. So blieb die Sünde ungesühnt. Was konnte David noch zu seinen Gunsten anführen? Tiefe Zerknirschung und Reue ? 8 “Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängstetes Herz…“. (Ps 51,18) Eine reu­ ige Einstellung ist eine Selbstverständlichkeit. Zu opfern und nichts zu bereuen wäre eine Verhöhnung Gottes. Schon weil das Opfer Geld kostet, wird es in der Regel von einem Gefühl des Bedauerns begleitet sein (so wie das Bezahlen eines Strafzettels). Dieses Bedauern erspart das Opfern nicht, es ist nur eine Begleiterscheinung. Wenn die Tat – wie ein Mord z.B. – nicht durch ein Tieropfer gesühnt wer­ den kann, dann kann die Schuld nach alltestamentlichem Recht nur durch den Verlust des eigenen Lebens beseitigt werden – was Seele und Gewissen natürlich enorm belastet. Diese seelische Belastung hat jeder zum Tode Ver­ urteilte vor der Hinrichtung zu tragen. Sie hat ebenfalls keine sühnende Wir­ kung, sodass deshalb das Opfer des eigenen Lebens erlassen werden könnte. In dieser ausweglosen Situation befindet sich David. Doch er erlebt staunend und dankbar, dass Gott die Opferfrage als bereits erledigt betrachtet. Wie das möglich ist – weiß David nicht. Oder ahnt er etwas ? Auf sein Sündenbe­ kenntnis hin kann ihm Nathan mitteilen: “so hat der Herr deine Sünde weg­ genommen und du wirst nicht sterben.” (2.Sam 12,13). Auf seine große Sünde folgt: gar nichts! Die Sünde ist einfach weg, völlig beseitigt. Die im folgenden auferlegten Strafen sühnen die Sünde nicht, son­ dern haben nur einen Zweck, den Verächtern des Glaubens zu zeigen, dass Gott gerecht ist, nicht mit zweierlei Maß misst, und keine Günstlinge hat, denen er alles durchgehen lässt. Hätte niemand die Sünde bemerkt, wären diese Strafen sehr wahrscheinlich erlassen worden. Wenn aber nun bei dem schlimmsten Verbrechen die Schuld ohne Bestra­ fung des Sünders hinweggenommen wird, dann muss das fairerweise auch bei allen kleineren Vergehen so sein. Wie kann ein Gott gerecht erscheinen, der “die Kleinen hängt, die Großen aber laufen lässt” , der “Mücken aus dem Getränk filtert, aber zugleich Kamele hinunterschluckt” (Mt 23, 24) ? Auch hier wäre die Ehre Gottes, das Vertrauen in Sein gerechtes Urteilen in Frage gestellt. Das darf nicht sein. Kann David vergeben werden auf sein bloßes Schuldbekenntnis hin, so muss das auch für alle anderen Sünder gelten, die weniger Schlimmes getan und weniger Strafe verdient haben. 9 Deswegen ist Davids Erkenntnis: “Tieropfer gefallen dir nicht..” (Ps 51,18) eine allgemeingültige Aussage, die seltsam verloren dasteht inmitten des weiter praktizierten Opferkults. Sie bringt zwangsläufig die Frage mit sich: was erwartet Gott statt eines Opfers von mir ? Was ist ihm lieber als dieses Opfer ? Denn auch der gebo­ tene Opferdienst ist kein Irrtum Gottes, ist nicht sinnlos: er muss eine Art Vorbereitung für die neue Erkenntnis sein. Von Nathan erhält David diese Erkenntnis nicht. Gott überlässt es dem Menschen, sich hier allein Gedanken zu machen und sich selbst um eine tragfähige Antwort zu bemühen. David vermutet ehrliche Reue, Demut und tiefe Selbsterkenntnis, und ist damit auf dem richtigen Weg. Seine Erkenntnis vereinigt sich später mit den Erkenntnissen der Pro­ pheten, die sogar den Abscheu Gottes vor dem Opferdienst bekunden, sofern er nicht mit einer innerlichen Erneuerung verbunden ist. “ihr mögt mir noch so viele Brand- und Speisopfer darbringen – ich kann sie nicht leiden. Ich mag eure fetten Dankopfer nicht ansehen… sorgt lieber, dass gerechte Rechtsprechung im Land zu sehen ist…” (Amos 5,22-24) Das Bemühen um tiefe Selbsterkenntnis 26 wird den Zweifel am vorhan­ denen Opferkult weiter vertiefen. Wer die ganze Verdorbenheit seines Her­ zens erkennt, wird immer ins Zweifeln kommen, ob das Opfern eines Tieres, das man ja auch schon für die Zubereitung einer Mahlzeit getötet hätte, nun zusätzlich auch noch Sünde ungeschehen machen kann. Das ist ja das Ziel der Vergebung: Die “Reinigung” von der Sünde (Ps 51,12 / 1.Joh 1,9), die den Gläubigen so stellt, als hätte er sie nie begangen. Wie soll das möglich sein ? Getötet würde das Tier ohnehin, um es zu essen. Das was hinzukommt, ist das religiöse Ritual, das das Opfer begleitet. Ein Ritual, das Menschen vollziehen, soll letztlich die Erlösung bringen: eine magische Vorstellung, die gründlich denkende Gläubige nicht überzeugt. Wer ein Tieropfer als ausreichende Sühnung ansieht, der denkt wenig über das Gewicht der eigenen Sünde nach. Sicherlich kann er sich auf den Wort­ laut alttestamentlicher Opfervorschriften berufen. 26 Siehe unter „Stichworte“ (Internet). 10 So werden es viele konservative Gläubige getan haben, die dann später auch vom Messias nichts wissen wollten, der “ein für allemal” (Hebr 7,27) das einzig gültige und ausreichende Opfer – sich selbst – darbrachte (Hebr.5,3 / 9,27) So blieb ihnen nicht weiter übrig als sich weiter – unter Berufung auf die mosaische Tradition – an der Illusion 27 des Tieropfers festzuhalten. Gehorsam gegenüber dem Wortlaut ist keinesfalls immer das Richtige. Er kann das Grundfalsche sein, wenn die Aussage “Schattencharakter” hat, wenn sie von sich selbst weg auf eine noch nicht erschlossene Wirklichkeit verweist. Wie destruktiv und irreführend eine blinde und gedankenlose wört­ liche Anwendung biblischer Aussagen sein können, zeigen viele unter der Überschrift “Giftige Theologie” 28 genannten Beispiele. Die Frage: “Habe ich das Wirkliche gesehen oder nur einen Eindruck seines Schattens gewonnen ?”, begleitet den Leser der Bibel ständig. Eine sorgfältige Argumentation ist für die Stabilität eines freundlichen Gottesbildes und für den Schutz der Heilsgewissheit unerlässlich 6. Resultate Was wurde bisher durch unsere Untersuchung konkret an Erkenntnis­ sen gewonnen? 1. Die Mehrzahl der Gläubigen, die ein bibeltreues Glaubensbekenntnis haben, das die “Heilige Schrift als völlig zuverlässig” 29 bezeichnet, macht auf dieser Grundlage augenscheinlich überwiegend befreiende und stär­ kende Erfahrungen mit dem christlichen Glauben. Einzelne Gläubigen aber sind von immer mehr frustrierenden und entmutigenden Wahrnehmungen und zuletzt von religiöser Depression betroffen, obwohl sie sich beharrlich um positive Erfahrungen bemühen. 27 28 29 Siehe unter „Stichworte“ (Internet). Siehe Seite 35. http://www.ead.de/die-allianz/basis-des-glaubens.html 11 2. Religiöse Depression muss nicht zwingend eine wahnhafte Erkran­ kung sein. Der Gläubige schließt einen Bund (Vertrag) mit Gott. Grundlage dieses Vertrages (Vertragstext) ist die Bibel, die über Rechte und Pflichten 30 des Gläubigen verbindlich Auskunft gibt. Wenn der Wortlaut des biblischen Vertragstextes die Möglichkeit einer erheblichen Bedrohung oder Schädigung nicht sicher ausschließen kann, dann ist eine ängstliche oder depressive Reaktion der betroffenen Person, die sich auf diesen Text verlässt, absolut normal. Das medizinische Problem ist also im Grunde genommen ein rechtliches oder logisches Problem. 3. Menschen, die gründlich nachdenken, können ihre seelische Stabilität schwerlich dadurch zurückgewinnen, indem sie nachteilige Teile des Ver­ tragstextes willkürlich ignorieren oder verdrängen 31, wie es von etlichen Seelsorgern empfohlen wird. 4. Menschen mit deprimierender Biographie können ihre seelische Stabilität schwerlich dadurch zurückgewinnen, indem sie sich der optimistischen Sicht anschließen 32, dass nur die ermutigenden Stellen der Bibel für sie Gültigkeit haben. 5. Wenn man der Bibel göttliche Herkunft und Autorität zuerkennt, dann las­ sen sich Befürchtungen am effektivsten entkräften, wenn ein Interpretati­ onsverfahren zur Verfügung steht, das sich wiederum überzeugend an biblische Autorität anbinden lässt und nicht von subjektiven, optimi­ stischen, rein spekulativen Sichtweisen abhängig ist. 6. Die Qualität des “Schriftbeweises” setzt das Wissen um bestimmte Eigenschaften der Bibel voraus (z.B. keine Interpretation ohne geistliche Disziplin 33, Pauschalstil 34, Polarität 35, Prioritäten 36, Selbstverstärkung 37, 30 31 32 33 34 35 36 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Heilsgewissheit“, (Internet) Siehe unter „Alternativen“ den 3.Abschnitt, Seite 22. Siehe unter „Alternativen“ den 1.Abschnitt Seite 18. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Geistliche Disziplin“, (Internet) Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Pauschalstil“, (Internet) Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Polarität der Bibel“, (Internet) Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Rangunterschiede biblischer Aussagen“, (Internet) 37 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Selbstverstärkung“, (Internet) 12 Unterscheidung der Verantwortungsbereiche 38). Eine seriöse Theologie wird diese Eigenschaften erschließen und selbstkritisch reflektieren, inwieweit ihre Arbeit zu selbständigem, stabilem Vertrauen hinführt. Das weithin übliche Verfahren, einfach nur Heilszusagen zu zitieren, ohne die Vertrauensblockade mit Hilfe einer beweiskräftigen Argumentation auf­ zulösen, und im übrigen zu beteuern, “dass es in religiösen Angelegenheiten eben keine absolute Sicherheit geben könne” dürfte insoweit effizient sein, dass der Ratsuchende sich von weiteren Seelsorgeterminen nichts mehr ver­ spricht. 7. Eine hilfreiche und ermutigende Interpretation des biblischen Vertrag­ stextes ist unmöglich, wenn alle Sätze des biblischen Vertragstextes gleiches Gewicht haben und insoweit Sätze mit gegensätzlichen Aussagen (Heilszu­ sagen, Tröstungen, Warnungen und Drohungen) sich gegenseitig entkräften oder aufheben. 39 Eine hilfreiche und ermutigende Interpretation ist gleicher­ maßen unmöglich, wenn alle Sätze des neutestamentlichen Vertragstextes gleiches Gewicht haben. 8. Die Bibel lehrt unmissverständlich, dass die verbindlichsten Sätze, die Gebote, nicht gleichwertig sind, sondern in einer Rangfolge 40 stehen. Eben­ falls lehrt sie, dass die Autoren biblischer Texte nicht gleichwertig sind, son­ dern in einer Rangfolge stehen. 9. Die Person mit der größten Autorität in der Bibel ist der sündlose Gottes­ sohn Jesus Christus. Er vermittelt das klarste und alleingültige Gottesbild: “Wer mich sieht, sieht den Vater.” (Jo 14,9) Seine Worte haben den höchsten Rang: “Ihr habt gehört… Ich aber sage euch“. (Mt 5) Unter dem, was er gebietet, gibt es drei Gebote, denen er die größte Autorität verliehen hat: das Gebot, barmherzig zu sein, das Gebot, gerecht zu sein, und das Gebot, ehrlich zu sein (Mt 23,23). Diese Gebote sind hohe Qualitätsstandards 41, die zur Interpretation aller übrigen Bibelworte dienen können und müssen. 38 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unterscheidung der Verantwortungsbe­ reiche“, (Internet) 39 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das Heil?, (Internet) 40 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Rangunterschiede biblischer Aussagen“, (Internet) 41 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Christi“, (Internet). 13 10. Werden diese Gebote als Maßstab der übrigen Aussagen der Bibel ver­ wendet, so treten die Rangunterschiede dieser Aussagen viel deutlicher her­ vor. Ebenfalls wird deutlich, dass im biblischen Text verstreut einzelne Aussagen gibt, die den Rang “Null” haben und deshalb auch von Gläubigen unter­ schiedlicher theologischer Richtungen gemeinsam instinktiv ignoriert 42 wer­ den: z.B. das Gebot, einer Frau, die unbedeckt betet, das Haar abzuschnei­ den (1.Ko 11,6) oder das Gebot, dass Sklaven ihren Herren untertan sein, ihre Pflichten ohne Murren erfüllen und Misshandlungen demütig ertragen müssen (1.Pe 3,18-19). 11. Man kann eine unterschiedliche Rangfolge biblischer Aussagen, ja sogar den Rang “Null” feststellen, ohne damit eine negative Rückwirkung auf die Würde und Autorität der Heiligen Schrift in Kauf nehmen zu müs­ sen. Die Rangfolge biblischer Aussagen wird mit Hilfe eines höheren Ord­ nungsprinzips – den drei Qualitätsmaßstäben 43 – festgelegt. Auch das vom Schöpfer konzipierte biologische “Lebensbuch”, die Erbsubstanz, wird mit Hilfe übergeordneter Mechanismen ausgelesen. Um das Leben zu entwi­ ckeln und zu erhalten, werden Abschnitte des genetischen Codes nach einem sinnvollen Plan aktiviert, zeitweilig deaktiviert oder ganz stillgelegt. Eine gleichzeitige und dauerhafte Aktivierung aller Abschnitte findet nie­ mals statt (schöpfungsgemäßes Inspirationsmodell). 12. Der Gläubige, der einen Bibeltext oder eine bestimmte Auslegung dieses Textes deaktiviert (Beispiele 44), weil er mit den wichtigsten Geboten der Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit in deutlichem Widerspruch steht, handelt im Namen Jesu, der es bei Bedarf uns zum Vorbild ähnlich gemacht hat (Mt 18,8 ff / Joh 8,1 ff), und darf sich auf seine Autorität beru­ fen. 42 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Rangunterschiede biblischer Aussagen“, (Internet). 43 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Christi“, (Internet). 44 Siehe unter „Giftige Theologie“ die Behauptung: „Die strengere und härtere Inter­ pretation ist auf jeden Fall die bessere“, Seite 118. 14 Bei diesem Urteilen ist nicht nur die Wirkung auf die seelische Stabilität des einzelnen Gläubigen zu berücksichtigen, sondern auch die Wirkung auf seine charakterliche 45 Bildung und darüber hinaus die Wirkung auf die gesamte Gemeinde, auf ihre Glaubwürdigkeit und auf ihr Zeugnis in der Welt. 13. Die Untersuchung der Rangfolge biblischer Aussagen stellt die Eindeu­ tigkeit des Gottesbildes wieder her, sowie die Eindeutigkeit der Ethik und der Heilszusagen – eine unerlässliche Voraussetzung für die Überwin­ dung der deprimierenden Verunsicherung im Glauben. 14. Die Untersuchung der Rangfolge biblischer Aussagen schärft das Urteilsvermögen 46 und erleichtert es, Interpretationen der Bibel hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Beweiskraft zu bewerten. Psychisch schwer geschädigten Geschwistern wird am ehesten mit einer Interpretation gehol­ fen, die die vergleichsweise stärkste Überzeugungskraft hat. 15. Auf diesem Wege wird die Giftigkeit gewisser mangelhafter Bibelin­ terpretationen aufgedeckt und ihnen wird die Autorität und damit die Wir­ kungsmacht in der Seele entzogen. Wie das konkret aussehen kann, haben wir hier an 28 Beispielen 47 gezeigt. Wir hoffen dadurch langes unnötiges Leid zu vermeiden. Besonders gefährlich für die seelische Gesundheit sind Missverständnisse in Bezug auf die unvergebbare Sünde. 48 16. Die Gemeinde kann zur Vorbeugung und Heilung beitragen, indem sie Gott als zuverlässigen und fairen “Vertragspartner” (Bundespartner) bezeugt. Das tut sie, indem sie selbst sich dem Ziel der Heiligen Schrift, zur Gerechtigkeitsliebe zu erziehen 49, unterordnet und sich eifrig um eine Kul­ tur der Fairness 50 bemüht. 45 46 47 48 49 50 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet). Siehe die Auflistung unter „Giftige Theologie“, Seite 35 ff. Siehe Seite 189 ff. Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173. Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211. 15 17. Man muss aber auch mit der Tatsache rechnen, dass manche Gemeinde­ lehrer und Mitglieder weiter Barmherzigkeit, Fairness und Ehrlichkeit für zweitrangig halten und eisern am perfektionistischem Dogmatismus festhal­ ten werden. Es bleibt dann nicht aus, dass sie versuchen, ihn auch anderen aufzuzwingen, um ihre eigene moralische Position nicht in Frage stellen zu müssen. Diese wird allerdings automatisch durch die Art der unfairen Methoden in Frage gestellt, die sie mangels Überzeugungskraft verwenden. Wenn der Gläubige diese Methoden kennt 51 und mit dem Wort Gottes abwehren kann, ist er sehr gut gegen Einschüchterungsversuche geschützt. Er hat dann den Freiraum, selbständig und verantwortlich auf biblischer Grundlage zu urtei­ len und zwischen vermeintlicher und tatsächlicher Autorität zu unterschei­ den. 18. Es ist hilfreich, den Blick für typische Defizite und Sünden in der Lei­ tung 52 zu schärfen – nicht um Christen in dieser Position anzufeinden, son­ dern um zu erkennen, dass Perfektionismus selbst bei den Vorbildern im Glauben, den Ältesten, eine Fiktion ist. Die Erkenntnis, dass Gott eine Gemeinde weiter segnet trotz Unvollkommenheiten, Schwächen und lang­ fristigem Versagen in der Leitung, trägt viel zur Entkrampfung und Loslö­ sung von perfektionistischer Prägung bei. Um aus einer durch das Bibelverständnis verursachten Depression wie­ der herauszufinden, wird also auf unserer Internetseite folgendes Vor­ gehen empfohlen: 1. perfektionistische, “giftige” Theologie dig widerlegen 53 demaskieren und glaubwür­ 51 Siehe die Auflistung unter „Tricks“ (Internet). 52 Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211. 53 Siehe die Auflistung unter „Giftige Theologie“, Seite 35 ff. 16 (Ziel: Durch Anwenden des höchstrangigen Ordnungskriteriums der Bibel, den Qualitätsmaßstäben Jesu 54, kann der depressiv gefährdete Gläubige den Freiraum zurückgewinnen, den er benötigt, um sich aus destruktiven Prä­ gungen durch Tradition, Erziehung und Gewissen 55 zu lösen.) 2. den positiven und mutmachenden Charakter einer Freundschaft mit Gott (“Heiligung“ 56) verdeutlichen (Ziel: auf die Überwindung negativer Missverständnisse muss das frucht­ bare, konstruktive Verstehen folgen, das die liebevolle Beziehung des Gläu­ bigen zu Gott ermöglicht und vertieft. Dabei nimmt der Gläubige das durch die Bibel verbriefte Recht in Anspruch, die Frage nach der Qualität der Früchte zu stellen (Mt 7,16 / Joh 8,46). Ohne konstruktives Verstehen ent­ steht ein Vakuum, das bald wieder von Destruktivität – Gottlosigkeit oder Werkgerechtigkeit – ausgefüllt werden wird.) 3. zur kritischen Wahrnehmung von Autorität und Macht Gemeinde anleiten 57 in der (Ziel: der depressiv gefährdete Gläubige braucht zusätzlich den Schutz vor unfairen Methoden der Manipulation und seelischen Erpressung, die weiter von außen auf ihn einwirken werden. Zugleich soll er aber auch erkennen, wieviel Segen Gott schenken kann trotz vielfältiger Unvollkommenheit, die sich manche Gemeindeleitung leistet.) 54 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Jesu“, (Internet). 55 Siehe unter „Giftige Theologie“ die „Behauptung: Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes“, Seite 119. 56 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. 57 Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211. 17 7. Welche tragfähigen Alternativen gibt es dazu ? Gegen eine durch perfektionistisches Bibelverständnis verursachte Depres­ sion gibt es eine evangeliumsgemäße Therapie 58,die das höchstrangige Ord­ nungskriterium der Bibel, die Qualitätsmaßstäbe Jesu 59, zur Interpretation aller biblischen Aussagen verwendet. Wenn dieser Schlüssel 60 nicht ange­ wendet werden kann oder darf, dann stehen üblicherweise die folgenden (u.U. wenig tauglichen) Alternativen zur Verfügung: 1. Eine optimistische Einstellung ist Pflicht 2. Den Spieß umdrehen: Der Aufruf zur Heiligung wird als Werkgerechtigkeit betrachtet 3. Quantitative Lösung: die Bibel grundsätzlich nur in Auswahl lesen 4. Heilssicherung mittels Ritual 5. Glauben an den Glauben anderer 6. Allversöhnung 7. Entkernung des Christentums 7.1. Eine optimistische Einstellung ist Pflicht. Argumentation: Die Güte Gottes gegenüber jedem Menschen hat grund­ sätzlich ein viel höheres Gewicht als alle Warnungen und Strafen. “Sein Zorn währt nur einen Augenblick, aber lebenslang seine Gnade.” (Ps 30,6) Auch bei strengsten Warnungen gilt: es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Warnungen sind gutgemeinte Übertreibungen, um gleichgültige Menschen zum Zuhören zu bewegen. Deswegen darf der Gläubige grundsätzlich opti­ mistisch sein. Damit ehrt er Gott am besten. Vorsichtige Beurteilung: Zweifellos sind die Ansichten Gottes grundsätz­ lich gut. “Gott will ja, dass alle Menschen gerettet werden und die Wahr­ heit erkennen können.” (1.Tim 2,4). 58 Siehe Seite 11. 59 Siehe unter „Stichworte“ (Internet). 60 Siehe Seite 7. 18 Auch seine Strenge ist Güte: „Mein Sohn, denke nicht schlecht über die strenge Hand des Herrn, verliere nicht den Mut, wenn er dich straft! Denn wen der Herr liebt, den erzieht er streng und wen er als Sohn annimmt, dem gibt er auch Schläge. Was ihr ertragen müsst, dient also eurer Erziehung. Gott behandelt euch so wie ein Vater seine Söhne. Oder habt ihr je von einem Sohn gehört, der nie bestraft wurde? Wenn Gott euch nicht mit strenger Hand erziehen würde, wie er das bei allen macht, dann hätte er euch nicht als Kinder anerkannt.” (Hebr 12,5-8) Wenn der Mensch sein Unrecht ehrlich bereut und lässt, vergibt ihm Gott gerne und verzichtet auf die Bestrafung. (Jona 3,10 + 4,11) Gott straft nicht gleich, sondern versucht zunächst den Menschen mit Güte zu überzeugen: “Begreifst du denn nicht, dass er dich mit seiner Güte zur Umkehr bringen will?” (Rö 2,4) Strafe und Gnade stehen in einem zeitlichen Verhältnis: “Einen Augenblick nur dauert Sein Zorn, aber lebenslang seine Gnade.” (Ps 30,6) Wieviele Sekunden hat das Leben! Dem Zorn wird gerade eine einzige Sekunde zuge­ standen. Das sind die Relationen Gottes. Dies alles erlaubt eine ermutigende und zuversichtliche Betrachtung der Bibel. Optimistisch sein gelingt Gläubigen mit einer positiv verlaufenden Biografie in der Regel sehr gut. Da sich bei ihnen fast alles “zum Besten” gefügt hat, fällt es ihnen nicht schwer an die Liebe und Großzügigkeit Gottes zu glau­ ben. Ihre seelische Stärke lässt sie glauben, dass sie vorsichtigen Gläu­ bigen überlegen sind. Wie oben gezeigt, kann das aber eine Selbsttäu­ schung sein. (siehe auch “Sorgfaltsparadox“ 61) Selbst wenn ihre positive Sicht berechtigt ist, so ist es dennoch naiv, zu glauben, dass dieser Optimismus von Gläubigen, die durch schwere Schick­ salsschläge geprägt sind, einfach übernommen werden könnte. Eine negativ verlaufende Biographie liegt die Befürchtung nahe, dass das Unglück die Antwort Gottes auf eigenes Versagen sein könnte. 61 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet). 19 Zudem gibt es auch einen Optimismus, der leichtsinnig ist. Die Bibel warnt an manchen Stellen davor. “Es werden nicht alle, die zu mir “mein Herr”, sagen, in den Himmel kommen, sondern nur die, die den Willen meines Vaters im Himmel tun.” (Mt 7,27) “Wehe denen von euch, die sagen: “Möge doch bald der Tag des Herrn kommen”. Für euch wird dieser Tag die Finsternis bringen und nicht Licht.” (Amos 5,17) Die fünf törichten Jungfrauen gingen dem Bräutigam entgegen, mussten aber draußen bleiben, weil sie “kein Öl mehr” hatten. (Mt 25,1ff) Mit dem “Tun des Willens” kann keine zufriedenstellende Erfüllung des Gesetzes gemeint sein. (Werkgerechtigkeit 62) Aber die Freundschaft des Gläubigen mit Gott, seinem Herrn (Jak 2,19) soll an seinem Lebensstil zu erkennen sein. Die Bibel nennt diese Einstellung “Heiligung”. Sie ist unbe­ dingt notwendig ! “Ohne Heiligung wird niemand den Herrn sehen.” 63 (Hebr 12,14) Eine Gemeinde, deren Theologie das Thema der “Heiligung” vernachlässigt, wird sorgfältigen Bibellesern keine Heimat sein können. Sie machen sich dann auf die Suche nach einer “besonders entschiedenen” Gemeinde, wobei sie in Kontakt mit der perfektionistischen bzw. werkgerechten Variante gif­ tiger Theologie 64 kommen können. In der früheren Gemeinde haben sie nicht lernen können, den Missbrauch der Bibel mit der Bibel abzuwehren, da dort die biblische Autorität in wichtigen Punkten nicht anerkannt wurde. Sowohl optimistische als auch pessimistische Gläubige benötigen für eine realistische Selbsteinschätzung die klare Unterscheidung zwischen Heiligung 65 und Werkgerechtigkeit 66. Ohne diese Unterscheidung bleibt unklar, ob der verunsicherte Gläubige die Heilsversprechen Gottes 67 auf sich beziehen kann oder nicht. Mit Hilfe die­ ser Unterscheidung kann sich der Gläubige vor leichtfertigem Optimismus schützen. 62 63 64 65 66 67 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet). Siehe u. „Stichworte“ den Artikel „Heilsgewissheit ohne Heiligung ?“, (Internet). Siehe die Auflistung unter „Giftige Theologie“, Seite 35 ff. Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet). Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Absolut verlässlich: die Zusagen Gottes“, (Internet). 20 7.2. Den Spieß umdrehen: Der Aufruf zur Heiligung wird als Werkgerechtigkeit betrachtet Argumentation: Der Aufruf zur Heiligung ist nichts anderes schädliche Werkgerechtigkeit 68! Es ist nur Unglaube in die allumfassende Gültigkeit des Sühneopfers Jesu. Kritische Beurteilung: Tatsächlich ? In der lutherischen Volkskirche ist lei­ der diese irrige Ansicht weitverbreitet. Zweifellos macht man sich beliebt, wenn man einen Glauben verkündet, der nichts mehr verlangt und nichts mehr kostet (Wert des Glaubens 69): vergeudete Gnade! (Das Wort von der “billigen Gnade” (Bonhoeffer) ist sehr missverständlich, denn billig oder teuer ist etwas, was man bezahlen muss. Der Gläubige muss aber nicht für seine Errettung bezahlen – auch nicht nachträglich.) Luther hat in einer Tischrede später durchblicken lassen, dass er mit der Unterscheidung von”Gesetz und Evangelium”, d.h. von Heiligung 70 und Werkgerechtigkeit immer noch Probleme hatte und hat dieses Unvermögen kurzerhand jedem Menschen unterstellt. “Kein Mensch auf Erden ist, der da kann und weiß das Evangelium und Gesetz recht zu unterscheiden. Wir las­ sen es uns wohl dünken, wenn wir hören predigen, wir verstehen es; aber es fehlet weit, allein der heilige Geist kann diese Kunst. … Ich hätte wohl auch gemeint, ich könnte es, weil ich so lange und so viel davon geschrieben habe; aber wahrlich, wenn es ans Treffen geht, so sehe ich wohl, dass es mir es weit, weit fehlet! Also soll und muss allein Gott der heiligste Meister und Lehrer sein!” (Martin Luther, Tischreden, ausgewählt von Karl Gerhard Steck, München 1959, S.42.) Das wäre wahrlich ein bitteres Resultat, wenn lebensgefährliche (!) Werkgerechtigkeit und lebensnotwendige (!) Heiligung 71 so schwer aus­ einander zu halten wären ! Wie kann dann ein vernünftiger Mensch ver­ langen, dass der Gläubige sich mit diesem Thema überhaupt befasst ? 68 69 70 71 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet). Siehe unter „Stichworte“ den betreffenden Artikel, (Internet). Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. Siehe ebd. 21 Es kann dann doch nur ein skurriles Hobby theologischer Spezialisten sein und der Gläubige tut gut daran, wenn er sich mit seinem Eifer und Fleiß ganz auf irdische Dinge konzentriert. Ist das wirklich so ? Auch der einfache Gläubige ist in der Lage, zwischen “Gesetz und Evangelium”, zwischen Heiligung und Werkgerechtigkeit klar zu unterscheiden, indem er sich nämlich hütet, eine einzige Bibelstelle so auszulegen, dass die Deutung gegen die Qualitätsmaßstäbe Jesu 72 “Barm­ herzigkeit, Fairness, Ehrlichkeit” verstößt. Nur wenn man ihre absolute Prio­ rität respektiert, entsteht eine klare Rangfolge biblischer Aussagen. 73 Doch wie kann man den absoluten Vorrang dieser Qualitätsmaßstäbe erken­ nen, wenn man sich wie Luther der fürstlichen Macht bedient, um seinen theologischen Einfluss gewaltig zu vermehren und dabei unschuldige Men­ schen in großen Mengen – Juden, christliche Bauern und täuferische Glau­ bensgeschwister – zu Schaden kommen lässt 74? Dies muss man realistisch sehen, auch wenn Luthers Lebensleistung Christen bis heute in vielerlei Hinsicht zu Recht großen Respekt abnötigt. 75 7.3. Quantitative Lösung: die Bibel grundsätzlich nur in Auswahl lesen. Argumentation: Der Gläubige soll es so machen, wie es ihm viele Pastoren in der Predigt vormachen: er soll sich auf die Verheißungen konzentrieren und nur über sie nachdenken anstatt über die angstmachenden Stellen der Bibel. Dann wird das Gute und Heilsame seine Seele allmählich ausfüllen und das Negative überdecken. Verstehen könne die angstmachenden Stellen ohnehin niemand. Sie gehen den Gläubigen daher auch nichts an. Kritische Beurteilung: Das Ausmaß der Zerstörungskraft hängt nicht von der Menge der Worte ab. “Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig.” (Gal 5,9) 72 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Jesu“, (Internet). 73 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Polarität der Bibel“, (Internet). 74 Siehe im Aufsatz „Was ist Irrlehre“ den 5.Abschnitt „Ist jemand ein Sektierer, weil er den Vätern des Glaubens widerspricht?“ (Internet) 75 Siehe ebd. 22 Man kann zweifellos Gläubige daran gewöhnen, die Bibel nur in Auswahl zu lesen. So wird es in der Regel gemacht. Doch es dürfte wenig Erfolg haben, jemanden, der die Bibel kennt, aufzufordern, sich nur in Auswahl zu erinnern. Haben warnende Stellen der Bibel wirklich keine Bedeutung für den Gläu­ bigen ? Wenn man eine inhaltliche Analyse für überflüssig hält, wie kann man dann behaupten, dass jedes Aussage der Schrift “völlig zuverlässig” sein soll (Credo der Evangelischen Allianz 76) ? Dieses zu behaupten und gleichzeitig besonders eindringliche Texte (War­ nungen) willkürlich außer Kraft zu setzen, kann man nur als schizophrene Betrachtungsweise bezeichnen ! Braucht der Mensch tatsächlich schizo­ phrenes Denken, um die Bibel verkraften zu können ? Wirklich Schizophre­ nie oder Unehrlichkeit? Wird die Autorität der Heiligen Schrift auf diese Weise tatsächlich gestärkt oder wird sie nicht vielmehr aufgeweicht ? Wer bestimmt, was ausgewählt wird und was ignoriert werden muss? Ohne ein allgemein überzeugendes Ordnungskriterium ist die Quintessenz, dass sich der sorgfältige Gläubige vor dem seelischen Absturz nur mit Hilfe des blinden Vertrauens auf Gläubige 77 retten kann, die ihm dank ihres Vorbildes oder ihres Erfolges im “Menschenfischen” überlegen erscheinen ? Etwas mehr seelische Stabilität wird auf diese Weise mit dem Verlust der persön­ lichen Würde erkauft. Der Ratsuchende bleibt ein abhängiges, allein nicht lebensfähiges, kleines religiöses “Würstchen”, während die Bedeutung des Seelsorgers als Garant der Heilsgewissheit enorm zunimmt. Auch für die weniger Ängstlichen bleibt es schwierig, ohne glaubwürdige Begründung selbst zu bestimmen, was ignoriert werden darf. Am besten ist es, wenn die Tradition die betreffende Aussage schon immer ignoriert hat. Was die Mehrheit der Gläubigen schon immer machte und dachte, kann ja nicht falsch sein – und bedarf deshalb keiner Erklärung. 76 Auf ihrer Internetseite (http://www.ead.de/die-allianz/basis-des-glaubens.html) heißt es: Wir bekennen uns... zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung“ 77 Siehe den 5.Abschnitt dieses Aufsatzes, Seite 27. 23 Wenn die Verdrängung nicht durch die Tradition abgesegnet wird, so kann sie durch einen überlegenen Gläubigen legitimiert werden. Indem die Gläu­ bigen ihn in das Amt wählen, anerkennen sie seine geistliche Überlegenheit und gestehen ihm nicht nur das Interpretations- sondern auch das Auswahl­ monopol zu. Er organisiert mit anderen zusammen ein reichhaltiges Informa­ tionsprogramm, das die geistige Aktivität der Mitglieder weitgehend absor­ biert und sich von allen Tabuthemen fernhält. Wer dennoch ein uner­ wünschtes Thema anspricht, der erfährt sehr schnell von der Mehrheit der Zuhörer, dass dafür überhaupt keine Zeit zur Verfügung steht und dass eine Programmänderung von allen als Friedensstörung gesehen und nicht gedul­ det wird. 7.4. Heilssicherung mittels Ritual Argumentation: “Wer einmal das Bekehrungsritual vollzogen und ein Übergabegebet gesprochen hat, kann nicht mehr verlorengehen.” Eine schwächere Variante dieser Auffassung ist das Vertrauen auf die Rettung­ durch die Taufe oder durch die Gabe des Heiligen Abendmahls. Bekeh­ rungsritual, Taufe oder Abendmahl werden als “Heilsmittel” gesehen, die von Gott nicht mehr in Frage gestellt werden (können). Vorsichtige Beurteilung: Eine Geschichte im Alten Testament zeigt uns, dass man es sich mit dieser Anschauung vielleicht doch zu einfach macht. Es gab zwei Priester, Hophni und Pinehas, deren Leben von Respektlosig­ keit gegenüber Gott geprägt war. Sie stahlen von den Opfergaben (1.Sam 2,13-14) und schliefen mit den Frauen, die im Tempel dienten. (V.22) Diese Sünden waren dem ganzen Volk bekannt. (V.14) Nachdem die Israeliten von den Philistern in einer Schlacht besiegt worden waren, ließen die Ältesten des Volks die Bundeslade holen, um sie – als Zeichen der Gegenwart Gottes – in die Schlacht mitzunehmen. Als Hophni und Pinehas die Lade brachten, jubelte das Volk, das nun den Sieg sicher glaubte. (1.Sam 4,5) Doch diese Hoffnung wurde grausam enttäuscht. Israel erlitt eine vernichtende Nieder­ lage und die Bundeslade war weg. Nun hatten sie die Philister. (V.10-11) 24 Es scheint eine törichte Hoffnung zu sein, Gottes Segen mit einem Ritual erzwingen zu können, obwohl man sich einen bösen und unbarmherzigen Lebensstil erlaubt. Es scheint töricht zu sein, auf den Himmel zu hoffen, wenn man anderen das Leben zur Hölle macht 78 !Deshalb auch die eindring­ lichen Warnungen in der Bibel: “Wisset ihr nicht, dass ungerechte Men­ schen das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasset euch nicht verführen! Weder die Hurer, noch die Verehrer der Götzen noch die Ehebrecher, noch die Pädophilen, noch die Diebe noch die Habgierigen noch die uneinsich­ tigen Trunkenbolde noch die Lästerer noch die Räuber werden das Reich Gottes ererben.” (1.Kor 7,9) (Auch diese strenge Mahnung ist allerdings bereits wieder mit Verheißungen Gottes “durchlöchert” und abgeschwächt, denn all diese Fehlver­ haltensweisen werden ja gerne von ihm vergeben, wenn man sie bereut.) Leider halten sich immer wieder hartherzige Menschen zur Gemeinde, an denen diese Warnungen, die eigentlich auch abgebrühte Naturen beeindru­ cken sollten, wirkungslos abprallen. Umgekehrt beziehen sorgfältige und eifrige Christen, die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes empfinden, ausgerech­ net diese Warnungen, die sie gar nicht betreffen, auf sich. Sie haben Mühe zu verstehen, dass sich die Warnungen an “die Starken”, an rücksichtslose Gläubige, richten und nicht an “die Schwachen”, die gewissenhaften Gläu­ bigen. (Sorgfaltsparadox 79) Infolgedessen wird für manche der Glaube zu einer ständigen “Zitterpartie”, einem ständigen Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung. Sie finden nie zum Frieden und zur Glaubensfreude – da Tröstung und Bedrohung immer in schizophrener Gleichzeitigkeit vorhanden sind. Diese Situation macht die Erlösungsbotschaft unglaubwürdig. Kann man dann noch Men­ schen zum Glauben einladen? Muss man ihnen nicht rechtgeben, wenn sie sich auf diese Schizophrenie, auf dieses Pseudo-Heil nicht einlassen wollen ? 78 Siehe u. „Stichworte“ d. Artikel „Heilsgewissheit ohne Heiligung?“, (Internet). 79 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet). 25 Man kann daraus nur einen Schluss ziehen: die Heilsverheißungen 80 haben ein unvergleichlich größeres Gewicht als alle Warnungen. “Selbst wenn wir untreu sind, so bleibt er doch treu – er wird nicht widerrufen, was er zuge­ sagt hat.” (2.Tim 2,13) Es ist undenkbar, dass der Gläubige aus Schwäche eine Sünde zuviel begeht und deshalb verlorengeht. “Denn der Herr ver­ stößt nicht auf ewig. Selbst wenn er dunkelste Zeiten für einen Menschen bestimmt hat, so erbarmt er sich doch eines Tages wieder über ihn – denn seine Güte ist groß und es macht ihm keine Freude, Menschen in Not und Traurigkeit zu lassen.” (Klgl 3,32-33) Schwache Menschen hat Jesus nie bedroht, nur selbstgerechte und gewalttätige. Wäre es anders, gäbe es überhaupt keine Heilsgewissheit. Dann würde sich der Gläubige wieder abrackern und mit frommen Werken mühen müssen, um sich etwas weniger bedroht zu fühlen. Die “Freiheit” des Geistes (2.Kor 3,17) wäre übelste Propaganda 81, denn das Neue Testament wünscht sich vom Gläubigen unendlich viel mehr 82 mehr als das Alte, nämlich Vollkom­ menheit. (Mt 5,48) Ist das wirklich noch Grund zum Jubeln, wenn man “vom Regen in die Traufe gekommen” ist ? Wohl kaum! Es ist ein fataler Fehler, wenn man die Gebote des Neuen Testamentes in alttestamentlicher Weise missversteht! C.H. Spurgeon lernte in seinem Dienst viele treue Gläubige kennen, die sich mit der Angst herumplagten, das Heil wieder zu verlieren. In seinen “Klein­ oden” legte er immer wieder dar, wie unsinnig und unwürdig diese Befürch­ tung ist. Er selbst war der Ansicht, dass das einmal geschenkte Heil unver­ lierbar sei. Der Gläubige hat ja eine unzerstörbare, geistliche Natur geschenkt bekommen, die niemals sterben kann. Jesus sagte: “ich gebe ihnen das ewige Leben; und sie werden nimmermehr umkommen, und nie­ mand wird sie mir aus meiner Hand reißen.” (Joh 10,27+28) Die Auffassung, dass das einmal geschenkte Heil unverlierbar ist, mag im Ergebnis richtig sein. In der unsichtbaren Welt angekommen, werden die Gläubigen sicherlich staunen, wem Gott noch die Treue gehalten hat. 80 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Absolut zuverlässig: die Heilszusagen Gottes“,(Internet). 81 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Propaganda“, (Internet). 82 Siehe unter „Stichworte“ den 6.Abschnitt des Artikels „Buchstabentreue“ mit der Überschrift „Hundertprozentige Buchstabentreue ist eine Illusion“, (Internet). 26 Da werden viele sein, denen Menschen keine Chance mehr gegeben hätten. Es ist sicherlich auch angemessen, wenn gutwillige Gläubige, die nicht bru­ tal mit Mitmenschen umgehen, von diesem Standpunkt aus alle anderen Bibelstellen, insbesondere Warnungen interpretieren. Bei Warnungen ist immer der lebensfördernde Sinn herauszuarbeiten: “der Mensch lebt von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.” (Mt 4,4) Bei der Betrachtung der Heilsversprechen ist zu berücksichtigen, dass viele Verheißungen nur im Rahmen einer “Freundschaft mit Gott” gültig 83 sind, d.h. nur dem Gläubigen gelten, der sich eines freundschaftlichen Verhaltens gegenüber Gott befleißigt. (Jak 2,23) Auch die zitierte Heilszusage Jesu stellt das ganz klar heraus: “Denn meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben (Joh 10,27) Die “Schafe” sind charakterisiert als solche, die auf Jesus “hören” wollen. Das bloße Negieren und Ignorieren von Warnungen ist mit dem Odium will­ kürlicher Verdrängung 84 behaftet und wird bei sorgfältig lesenden Gläu­ bigen schwerlich zu stabiler Heilsgewissheit führen. Deshalb ist für Heilsgewissheit ein konsistentes Konzept der “Freundschaft mit Gott” nötig (“Heiligung“ 85), das durch bleibende Unvollkommenheit 86 des Gläubigen nicht in Frage gestellt wird. 5. Glauben an den Glauben anderer Argumentation: Der geängstete Gläubige darf sich auf die optimistische Prognose von Gläubigen verlassen, die im Glauben gereift und anderen ein Vorbild sind. Diese Gläubigen haben viel mit Gott erlebt und können seinen Charakter und seine Reaktionen besser einschätzen. 83 Siehe unter „Stichworte“ den 2.Abschnitt des Artikels „Absolut zuverlässig: die Heilszusagen Gottes“, (Internet). 84 Siehe den 3. Abschnitt dieses Kapitels: „Quantitative Lösung: die Bibel grundsätz­ lich nur in Auswahl lesen ?“, Seite 22 85 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. 86 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das Heil?“, (Internet). 27 Kritische Beurteilung: Sicherlich kann ein solcher Zuspruch sehr wertvoll und auch unbedingt notwendig sein, um den Absturz in dauernde Panik und schwere Schädigung der Seele abzuwenden. Doch ist diese Lösung unbefriedigend. Es kann keine Dauerlösung sein, dass der Glaube des Betroffenen verkümmert und krüppelhaft bleibt und ohne Stützung von außen kraftlos in sich zusammensinkt. Einem solchen Gläu­ bigen ist ja das frohe Zeugnis des Glaubens weitgehend unmöglich. Sein ganzes Leben lang wird er sich als fragwürdiger Gläubiger vorkommen, den Gott vielleicht gerade noch duldet, und neidisch auf die privilegierten Gläu­ bigen blicken, die mit Glaubensfreude und Geborgenheit überschüttet wer­ den. Eine seelische Abhängigkeit vom Seelsorger ist möglicherweise ein Hinweis darauf, dass es der Theologie erheblich an Selbstkritik mangelt und dass inkonsequente und fragwürdige Bestandteile nicht ausgeräumt wurden. (Verdrängung 87) Es gibt Gemeindeleiter, die seelische Abhängigkeit und blindes Vertrauen in ihre Person geradezu kultivieren, um ihr übersteigertes Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Diese Vermutung liegt besonders nahe, wenn die Gemeindeleitung die Autorität der Gemeindeversammlung 88 nicht respektiert. 7.6. Allversöhnung Argumentation: Es gibt wohl kaum einen Christen, der nicht froh wäre, wenn es keine Hölle 89 gäbe. Vielen Menschen erscheint es unangemessen, selbst einem notorischen Verbrecher unaufhörliche Qual zuzufügen. Wenn man ihm das Doppelte, Dreifache, ja das Fünffache allen Leides aufbürden würde, das er anderen zugefügt hat – all das könnte man noch als fairen, wohlverdienten Ausgleich ansehen. Aber ewige Qual ? 87 Siehe den 3. Abschnitt dieses Kapitels: „Quantitative Lösung: die Bibel grundsätz­ lich nur in Auswahl lesen ?“, Seite 22. 88 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Autorität der Gemeindeversammlung“, (Internet). 89 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Hölle“, (Internet). 28 Eine uferlos grausame Bestrafung steht im Widerspruch zu menschlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, sodass deshalb vielen Menschen die Botschaft eines liebenden Gottes nicht mehr als glaubwürdig erscheint. Aus diesem Grund wird angenommen, dass es eine Hölle nicht geben kann. Jesus ver­ wendete einfach nur ein besonders starkes Bild, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen. Menschen, die allen Worten Jesu glauben wollen, behelfen sich damit, dass sie über diesen Punkt möglichst nicht tiefer nachdenken. Die Existenz der Hölle ist aber gewöhnlich auch für sie ein unangenehmes, weil unaufge­ löstes Problem. Kritische Beurteilung: Es gibt keinen Beweis, dass es sich bei der Hölle nur um ein starkes Bild handelt. Diese Sichtweise bleibt eine menschliche Spekulation. Jesus ist der Gottessohn, der aus der unsichtbaren Welt zu uns gekommen ist. Wenn wir an seine Göttlichkeit glauben, dann ist er der einzige, der uns unverfälscht und unfehlbar über die Wirklichkeit dieser Welt berichten kann. Menschen mag die Warnung vor der Hölle schockieren, sie mögen sie entrü­ stet ablehnen, doch sind sie schon in der unsichtbaren Welt gewesen ? In der Tat gibt es wohl keinen Menschen, der Hölle und Barmherzigkeit Gottes überzeugend zusammenbringen kann – doch wir sehen an Jesus, dass für ihn diese beiden Tatsachen offensichtlich kein Widerspruch waren. Warum das so ist, verstehen wir nicht. Das Konzept der Hölle gehört zum göttlichen Verantwortungsbereich. 90 Das heißt, es ist sinnvoll, über einige wenige Aspekte nachzudenken, soweit sie durch die Heilige Schrift uns erschlossen werden. Darüber hinaus aber ist dieses Thema dem Menschen verschlossen und er tut gut daran, diese deut­ liche Grenze zu respektieren. Die Warnung vor der Hölle 91 ist der lauteste, brutalste Weckruf, der vor­ stellbar ist. Er spiegelt wieder, wie unvorstellbar taub der Mensch norma­ lerweise gegenüber dem Reden Gottes ist. 90 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unterscheidung der Verantwortungsbereiche“, (Internet). 91 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Hölle“, (Internet). 29 Die Lebensgeschichte Jesu zeigt uns dasselbe: manche Menschen bleiben stocktaub, obwohl sie nur die Hand auszustrecken und den Sohn Gottes zu berühren brauchten, der tatsächlich zu ihnen gekommen ist. Es gibt Men­ schen, die darauf verzichten, ihn anzurühren, um gesund zu werden und stattdessen lieber seine Feinde werden. Die Barmherzigkeit zum Greifen nah – aber dennoch entscheiden sich Menschen gegen sie. Wir beobachten manchmal eine paradoxe Wirkung des Weckrufs: Etliche Menschen fern von Gott, die eigentlich aufgerüttelt werden müssten, beach­ ten ihn nicht. Etliche Gläubige, die auf das leise Reden Jesu achten, werden durch diesen lauten Ruf zutiefst erschreckt und in sinnlose Furcht versetzt. (Sorgfaltsparadox 92) Letzteres kann eigentlich nur geschehen, wenn die eigene Unvollkommen­ heit zum Zweifel am Heil führt, 93 d.h. wenn die Theologie durch Werkge­ rechtigkeit 94 verunreinigt und vergiftet worden 95 ist. Atheistische Theologie kann den Warnruf nicht ernstnehmen. Wenn Jesus ein Mensch war wie alle anderen auch, und nicht der Sohn Gottes, wie soll er dann etwas Maßgebliches über die unsichtbare Wirklichkeit wissen kön­ nen? Die Warnung vor der Hölle kann man dann nur als ein zweifelhaftes Werbemittel ansehen. Sie ist ein starkes Bild, um die Zuhörer zu beeindru­ cken – wobei nur die ganz Naiven und Leichtgläubigen sich beeindrucken lassen. Die Allversöhnungstheologie behauptet, dass die Warnung vor der Hölle ein Schreckschuss war. Jesus hat mächtig mit dem Säbel gerasselt, aber es kommt nie zum Krieg. Es gibt keine Hölle noch irgendwelche Menschen, die verloren gehen könnten. Man kann sich deshalb auch Mission und den Auf­ ruf zur Umkehr sparen. Gott führt jeden Menschen heim in sein himmlisches Reich – auch die, die Ihn zeitlebens abgelehnt und bekämpft haben. 92 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet). 93 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das Heil ? “, (Internet). 94 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet). 95 Siehe die Beispiele im Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 35 ff. 30 Die Frage bleibt: Wenn Jesus in der Tat der Gottessohn und in der unsicht­ baren Welt zu Hause war, woher kann dann ein Theologe, der zweifelsohne nicht dort war, Vollmacht haben, Jesus zu verbessern ? Wie kann das Wort eines Menschen mehr Gewicht und mehr Bedeutung haben als die Worte Jesu, des Gottessohnes? Nicht Jesus spricht dann das mächtigste Wort, son­ dern der Theologe ist es, der der Menschheit das volle Heil aufschließt. Nicht auf das Wort Jesu, der warnt, sollen sich die Menschen verlassen, son­ dern auf ihn, den Theologen, der die Warnung für bedeutungslos erklärt. Es bleibt das mulmige Gefühl, dass ein Mensch, der sich auf die beruhi­ gende Spekulation eines Theologen verlässt, am Ende doch der Dumme sein könnte. Der Theologe jedenfalls wird für eine Fehleinschätzung keinen Schadenersatz leisten. Und es dürfte auch keinen Zweck haben, sich am Tag des Gerichts auf ihn zu berufen. Gott bietet seine Barmherzigkeit hier und heute an: “Heute ist der Tag des Heils.” (Heb 3,13) Die Warnung vor der Hölle soll das taub gewordene Gewissen aufwecken – mehr nicht. Die Furcht vor ihr darf nicht das Leben des Gläubigen vergiften. 96 Nicht die Angst, sondern Gottes Barmherzigkeit soll das Leben des Gläubigen prägen und verändern (“Heiligung“ 97). Zugleich ist klar: Die Barmherzigkeit Gottes wird missbraucht, wenn sie dazu dienen soll, einen Lebensstil fernab der Maßstäbe Christi 98 zu ent­ schuldigen. 7.7. „Entkernung“ des Christentums: Weltliche Lösungsversuche beinhalten alle den Verlust des christlichen Glaubens, der nach dem Neuen Testament unauflöslich an gewisse Grund­ wahrheiten (“Heilstatsachen“ 99) gebunden ist. Es bleibt allenfalls eine christlich scheinende Fassade übrig. 96 Siehe unter „Stichworte“ den 4.Abschnitt des Artikels „Hölle“ mit der Überschrift „Höllische Fehlschlüsse“, (Internet). 97 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. 98 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Christi“, (Internet). 99 Siehe im Kapitel „Was ist Irrlehre“ den 8.Abschnitt „Biblisch unanfechtbare Argu­ mente“ (Internet) 31 Letztlich ist damit aber nicht nur die Hoffnung auf eine leibliche Auferste­ hung und Neuschöpfung der Erde aufgegeben, sondern auch die Hoffnung, die biblische Botschaft in einer lebensfördernden Weise verstehen zu kön­ nen. Gott erscheint nicht die Lösung zu sein, sondern vielmehr das Problem. Es geht nur noch darum, für die restliche Lebenszeit Distanz zu diesem Pro­ blem zu halten, um die Lebensfreude, die materielle Dinge bieten, ungetrübt ausschöpfen zu können. Zur Lebensfreude gehören auch religiöse Gefühle (Religiosität 100), die aber nicht im Rahmen einer Vertrauensbeziehung zu Jesus Christus entstehen, sondern durch Übungen, Rituale usw. hervorgeru­ fen werden. Das Ursache der Depression wird in der Sünden- und Opfertheologie der Bibel gesehen. Der grausame Tod Jesu wird nicht als Beweis der Liebe Gottes 101 erkannt, sondern als wirksame Methode eingeschätzt, um den Menschen einzuschüchtern und für kirchliche Machtausübung empfänglich zu machen. Wenn der Mensch so schlecht sei, dass er ohne das sadistische Blutopfer des Gottessohnes am Kreuz nicht von Gott angenommen werden könne, so sei die Fixierung auf das eigene Versagen, Entmutigung durch perfektionis­ tische Normen, Selbsthass und Selbstverachtung vorprogrammiert. Deswe­ gen wird angeboten, die Sünden- und Opfertheologie als menschliche Verir­ rung, als theologischen “Sündenfall” zu betrachten. Mängel: Es ist Tatsache, dass die Botschaft vom stellvertretenden Kreuzes­ tod von vielen Gläubigen überhaupt nicht als Belastung, sondern als große Befreiung wahrgenommen wird und deshalb auch die Basis ihrer Glaubens­ freude und -hoffnung ist. Eben weil der höchste Preis von Gott bezahlt wor­ den ist, besteht kein Zweifel mehr daran, dass Gott dieses Opfer als völlig ausreichend anerkennen und die Schuld jedes Gläubigen als völlig bedeckt ansehen wird. 100Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Religiosität“, (Internet). 101 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Beweis der Liebe nachvollziehbar?“, (Internet). 32 Würde bei der Frage der Errettung die Güte des eigenen Lebens die ent­ scheidende Rolle spielen, so wäre bei denen, die ehrlich und ungeschönt über sich nachdenken, ein quälender Zweifel kaum zu vermeiden. Besonders in der Todesstunde soll sich der Gläubige auf das stellvertretende Opfer voll und ganz verlassen können. Destruktiv wird dieser Gedanke erst, wenn der Gläubige sich die Errettung durch zufriedenstellende Beachtung perfektionistischer Normen aneignen muss. (Werkgerechtigkeit 102). Ständig schlechtes Gewissen kann nur vermieden werden, wenn Unvoll­ kommenheit unter der Geduld Jesu 103 steht (Mt 19,29) und keine Bedro­ hung zur Folge hat. Der Gläubige soll das Gute tun, weil es Freude macht, Gutes zu tun (Jo 4,34). Es ist schön, wenn Menschen lieb und brüderlich miteinander umgehen (Ps 133,1). Dies ist nur ehrlich, wenn es in völliger Freiheit und ohne den berechnenden Blick auf das eigene Verdienstkonto geschieht. Auch hier hilft die Erkenntnis, dass sich niemand über den anderen stellen muss, sondern genauso wie der andere ganz von der Gnade Jesu lebt. Nicht nur Gott soll der Gläubige lieben, sondern auch “seinen Nächsten und sich selbst“. (Mt 22,26-40). Auch die “Liebe zu sich selbst” wird das “wichtigste Gebot” genannt (V.36). Ist sie das tatsächlich, so müssen alle anderen Gebote so interpretiert werden, dass “die Liebe zu sich selbst”, die Selbstannahme nicht Schaden nimmt. Wenn in der “Beziehung zu Gott” gar Selbsthass (s.a. Tilman Moser, Gottes­ vergiftung, Frankf.am Main, 1980, S.10) oder Selbstverachtung entsteht, so wurde das wichtigste Gebot missverstanden oder nicht angemessen ernstge­ nommen. 102 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet). 103 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das Heil?“, (Internet). 33 “Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft” klagt Paulus (Rö 7,14). Er stellte fest, dass seine Gerechtigkeit nicht ausreicht, um sich dem gerechten Urteil Gottes zu entziehen. Als Pharisäer hatte er lange Zeit in dem Wahn gelebt, dass sie ausreiche. (Phil 3,9) Wenn der Gläubige wirklich ganz und gar auf das Opfer Jesu vertrauen kann, dann hat er auch die Freiheit zu tiefster Selbsterkenntnis, ohne davon erdrückt zu werden. Weil er sich und sein Versagen ungeschönt betrachten kann, wird er barmherzig mit anderen dort, wo sie versagt haben. Der Pharisäer dagegen, der über den unglücklichen, in Schuld ver­ strickten Mitmenschen erhaben die Nase rümpft, hat überhaupt keine ange­ messene Selbsterkenntnis und daher auch keine Gotteserkenntnis. Sich selbst realistisch einschätzen können heißt aber nicht, dass der Mensch zum Guten unfähig sei und sich daher selber als Ausgeburt der Hölle hassen und verabscheuen müsse. Es gibt zweifellos dumme und destruktive Theolo­ gie, die solches lehrt. Doch der Wunsch, fair, barmherzig und aufrichtig zu sein, gehört zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen und ist ihm von Anfang an einge­ schaffen. (1.Mo 1,27) Deshalb kann auch ein Mensch, der sich noch nicht zum Glauben an Jesus Christus entschlossen hast, Gutes tun und einen guten Charakter haben, was Jesus ausdrücklich lobend anerkennt (Mt 11,42 / 25,40 / Lk 10,33 / vgl auch Rö 2,27-29!) Dann sollten es seine Gläubigen auch lobend anerkennen können. Alles andere wäre sehr unfair. In der Nazi-Zeit gab es viele an Jesus Christus Gläubige, die sich bei den Nazis anbiederten, dem Führer zujubelten und für das Leid der Juden kein Mitgefühl hatten. Beispiel: In Artikel 7 der Satzung des evangelikalen Mülheimer Verbandes wurde Adolf Hitler gar als Glau­ bensvorbild gepriesen und mit Moses verglichen: so wie Mose einst die Isra­ eliten aus Ägypten herausgeführt hätte, so würde Hitler die Juden aus Deutschland “herausführen”. 104 104 Quelle: Junghardt, Adelheid, et.al., Ruhrfeuer. Erweckung in Mülheim an der Ruhr 1905. 1905 – 2005 Christus-Gemeinde Mülheim, Eine Chronik über die 100-jäh­ rige Geschichte der ersten Gemeinde des Mülheimer Verbandes, 2004, hrsg. von der Christus-Gemeinde Mülheim, Uhlandstr.25, 45468 Mülheim an der Ruhr, Seite 146. 34 Umgekehrt gab es neben gläubigen Menschen auch Nicht-Christen, die Unrecht und Unbarmherzigkeit nicht ertragen konnten und sich für die Ver­ folgten unter Lebensgefahr einsetzten. Man kann sich der Auffassung Diet­ rich Bonhoeffers nur anschließen, dass diese Nicht-Christen – ohne es zu wissen – Jesus viel näher standen als die erste Gruppe mit ihrem christlichen Lippenbekenntnis. “Glücklich sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.” (Mt 5,7) 8. GIFTIGE THEOLOGIE Ein bisschen Moral kann ja nichts schaden ? Die richtige Interpretation biblischer Texte führt immer zur Freiheit: “Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht fest in dieser Freiheit und lasst euch nicht wieder unter das Joch der Knechtschaft zwingen.” (Gal 5,1+2). Die Freiheit 105, die Christus seinen Jüngern schenkt, ist bedroht! Sie muss wachsam verteidigt werden! (Schutzmaßnahmen 106) Werden Schutzmaßnahmen vernachlässigt, so kann der Bibelunterricht äußerst destruktiv (!) auf die Seele insbesondere von Kindern und Jugend­ lichen wirken können. Im Einzelfall können Menschen psychisch dauerhaft geschädigt werden, was haftungsrechtliche 107 Fragen aufwirft. Über die Gefahren, die immer wieder einmal in Gemeinden in Verbindung mit dem herkömmlich bibeltreuen Bibelverständnis 108 anzutreffen sind, informiert unser 28-Punkte-Check Wie ist es in Deiner Gemeinde ? Ist dort bekannt, dass die im folgenden aufgelisteten Behauptungen destruktiv sind ? 105 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet). 106 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Schutzmaßnahmen gegen giftige The­ ologie“, (Internet). 107 Siehe das Kapitel „Gemeinde-Haftpflicht“, (Internet). 108 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Bibeltreu die Bibel verstehen“, (Inter­ net). 35 Dabei ist es unerheblich, ob viele oder nur ganz wenige dieser theologischen Aussagen in der Gemeinde vertreten werden. Auch eine einzelne Aussage kann unter ungünstigen Umständen sehr destruktive Folgen haben. Dabei wird es nur in Einzelfällen zu einer sichtbaren Schädigung der Seele und zu klinischen Symptomen kommen. Die Dunkelziffer derer, die dank der Fahrlässigkeit ihrer Gemeindelehrer ein Leben lang bedrückt und deprimiert durchs Leben gehen und sich dieses Ergebnis selbst oft gar nicht eingestehen wollen, ist sehr viel höher. Zu Unrecht verlassen sich viele Ärzte darauf, dass Theologen und Pastoren als “Fachleute” das Problem im Griff haben (Blinder Fleck 109). Wie etliche Menschen aus leidvoller Erfahrung wissen, kann davon keine Rede sein. Erfahrungsgemäß sind Gemeindeleiter auf die emotionalen Bedürfnisse der Mitgliedermehrheit fixiert. Ein offener Austausch über diese Gefahren wird als nachteilig für die Mitgliederwerbung und für religiöses Erleben angesehen und ist deshalb in der Regel unerwünscht. Dabei ist die destruktive Wirkung der zitierten Behauptungen absolut plausibel – auch ohne ärztliches Spezialwissen. Wer sie – dank einer kurzsichtigen und bevormundenden Theologie – für bewiesen ansieht und ihnen damit gött­ liche Autorität zuerkennt, sieht sich bald massiver seelischer Erpressung ausgesetzt. Die Widerlegung dieser Behauptungen verwendet den Schlüssel 110der Heili­ gen Schrift, das höchstrangige biblische Ordnungskriterium, nämlich die Qualitätsmaßstäbe Christi. Es wird der Beweis geführt, dass die Behauptungen diesen Qualitätsmaßstä­ ben widersprechen und deshalb eben nicht göttliche Autorität beanspruchen und das Gewissen belasten dürfen. 109 Siehe im Kapitel „Stichworte“ den Artikel „Blinder Fleck“, (Internet). 110 Siehe Seite 6. 36 Es wird bewiesen, dass diese Behauptungen nur unweise Fehlschlüsse sind, die gedankenlos weitergegeben werden, aber den Gläubigen nicht verpflich­ ten oder gar erpressen dürfen. Destruktive Behauptungen Wir unterscheiden 2 Arten: I. Lehrsätze, die das Vertrauen in Gott als fairen “Bundespartner” untergraben … II. Lehrsätze 111, die den Gläubigen des Rechtes berauben, sich vor Machtmissbrauch zu schützen… 111Siehe den zweiten Teil der Auflistung auf Seite 30. 37 I. 1. Behauptung: 112 Gott erwartet vom Gläubigen, dass er jede erkannte Sünde nachträglich in Ordnung bringt, wenn er Vergebung haben will, d.h. jede Lüge richtigstellt, sich für jede Verleumdung entschuldigt, alles Gestohlene zurückbringt, und für jeden Schaden Ausgleich leistet. Andernfalls kann ihm Gott nicht vergeben. 2. Behauptung: 113 Kleine Sünden werden von Gott so negativ gesehen und bestraft wie schwerste Verbrechen, denn Jesus musste auch für kleine Sün­ den sterben. 3. Behauptung: 114 Da der Gläubige die Kraft des Heiligen Geistes empfan­ gen hat, ist er frei vom Zwang zu sündigen. Wenn er nur will, kann er die Sünde lassen. Umso strenger wird der Gläubige bestraft, wenn er sich dann noch kleine Sünden leistet. Er kann und darf sich nicht mehr auf mensch­ liche Schwachheit berufen. 4. Behauptung: 115 Sexuelle Sünden verunreinigen am stärksten. 5. Behauptung: 116 Je mehr du für Gott an Geld und Zeit opferst, desto mehr wirst du in diesem Leben an materiellem Wohlstand zurückbekommen. 6. Behauptung: 117 Wer seiner Gemeinde nicht den Zehnten seines Einkom­ mens spendet, ist verflucht und wird mit finanziellen Einbußen rechnen müs­ sen. 7. Behauptung: 118 Wer nicht fast alles opfert, um die Not der Menschen zu lindern, lebt in Sünde und unter dem Fluch Gottes. 8. Behauptung: 119 Wer seine Mitmenschen nicht missioniert – wo sich die Gelegenheit ergibt – trägt Mitschuld daran, wenn sie in die Hölle kommen und wird dafür angemessen von Gott bestraft. 112 Siehe die Widerlegung auf Seite 41 113 Siehe die Widerlegung auf Seite 45. 114 Siehe die Widerlegung auf Seite 50. 115 Siehe die Widerlegung auf Seite 54. 116 Siehe die Widerlegung auf Seite 77. 117 Siehe die Widerlegung auf Seite 81. 118 Siehe die Widerlegung auf Seite 83. 119 Siehe die Widerlegung auf Seite 86. 38 9.Behauptung: 120 Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen. 10. Behauptung: 121 Ein Versprechen, das der Gläubige Gott gegeben hat, muss auf jeden Fall eingehalten werden, auch wenn es dumm und destruktiv war. Wenn der Gläubige es nicht einhält, dann muss er damit rechnen, dass Gott sein ganzes Leben ruiniert. 11.Behauptung: 122 Wenn du noch nicht in Zungen redest oder noch kein wunderbares Erleuchtungserlebnis empfangen hast, steht noch irgendeine Sünde zwischen dir und Gott. Dann hast du evt. den Heiligen Geist noch nicht empfangen und bist noch gar kein Christ und noch nicht gerettet. 12.Behauptung: 123 Wenn dein Gebet nicht erhört wird, dann gibt es nur einen Grund dafür: eine Sünde steht zwischen dir und Gott. 13.Behauptung: 124 Krankheit ist ein starkes Indiz für mangelnden Glauben oder heimliche Sünde. 14.Behauptung: 125 Bei Krankheit den Arzt zu holen, ist ein Beweis man­ gelnden Gottvertrauens und daher Sünde. 15.Behauptung: 126 Durch das Anhören weltlicher Musik kann Besessenheit (Dämonen) übertragen werden, die man nur sehr schwer wieder los wird. 16. Behauptung: 127 Zwanghafte Lästergedanken sind ein Beweis, dass der Gläubige vom Satan besessen ist. Er kann nur durch Exorzismus befreit wer­ den. 17.Behauptung: 128 Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wort­ laut hält, ist das beste. 120 Siehe die Widerlegung auf Seite 88. 121 Siehe die Widerlegung auf Seite 96. 122 Siehe die Widerlegung auf Seite 100. 123 Siehe die Widerlegung auf Seite 101. 124 Siehe die Widerlegung auf Seite 103. 125 Siehe die Widerlegung auf Seite 105. 126 Siehe die Widerlegung auf Seite 106. 127 Siehe die Widerlegung auf Seite 108. 128 Siehe die Widerlegung auf Seite 111. 39 18.Behauptung: 129 Die ethischen Aussagen des Neuen Testamentes haben alle die gleiche Autorität. Der Gläubige muss sie alle einhalten, wenn er nicht ungehorsam sein will. 19.Behauptung: 130 Die strengere und härtere Interpretation eines Gebotes ist in jedem Fall die bessere. 20.Behauptung: 131 Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes. 21.Behauptung: 132 Die Körperstrafe (Prügeln) ist ein unentbehrliches Erzie­ hungsmittel des Christen. II. (Lehrsätze, die den Gläubigen des Rechtes berauben, sich vor Machtmissbrauch zu schützen…) 22. Behauptung: 133 Ein Gläubiger, der den Anweisungen des Gemeindelei­ ters nicht gehorcht, lebt in Rebellion gegen Gott. 23. Behauptung: 134 Es ist Hochmut, die theologische Tradition der Gemeinde mit der Bibel zu prüfen. 24. Behauptung: 135 Der Gläubige darf Unrecht in der Gemeinde nur dann beim Namen nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler oder Schwächen zu sehen sind. 25. Behauptung: 136 Mit der Forderung, Schäden und Beschwerden in der Gemeinde zu dokumentieren, schadet man dem “Zeugnis” der Gemeinde. 129 130 131 132 133 134 135 136 Siehe die Widerlegung auf Seite 116. Siehe die Widerlegung auf Seite 118. Siehe die Widerlegung auf Seite 119. Siehe die Widerlegung auf Seite 123. Siehe die Widerlegung auf Seite 126. Siehe die Widerlegung auf Seite 129. Siehe die Widerlegung auf Seite 130. Siehe die Widerlegung auf Seite 131. 40 26. Behauptung: 137 Ein Christ darf sich nicht wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern. Er muss Unrecht, das ihm zugefügt wird, hinnehmen, muss vergeben und vergessen. Andernfalls ist er ein “Schalksknecht” und wird von Gott mit der Hölle bestraft! 27. Behauptung: 138 Ein Christ darf nicht vor Gericht gehen, wenn ihm ein anderer Gläubiger geschadet hat. Andernfalls begeht er eine schändliche Sünde und wird dafür von Gott bestraft. 28. Behauptung: 139 Ein Christ darf in Notwehr niemand töten. Er ist ver­ pflichtet, sich töten zu lassen, damit der Täter nicht in die Hölle kommt. Bibelgemäße Kritik der Behauptungen 1. Behauptung: “Gott erwartet vom Gläubigen nicht nur, dass er jede erkannte Sünde gegenüber einem Mitmenschen bekennt und lässt, son­ dern dass er sie nachträglich ‘in Ordnung bringt’, wenn er Vergebung haben will (!). Er muss jede Lüge richtigstellen, sich für jede Verleum­ dung entschuldigen, alles Gestohlene zurückbringen und für jeden Schaden Ausgleich leisten.Andernfalls kann ihm Gott nicht vergeben.” Das alles klingt sehr fromm ! Was kann man gegen das Maximum an mög­ licher Hingabe und Reue sagen, wenn jemand nicht nur nach den Geboten Gottes lebt, sondern sich außerdem darum bemüht, seine Vergangenheit zu reparieren, um Gott ein nahezu vollkommenes Leben präsentieren zu können ? Kann man dem heiligen Gott mehr Respekt erweisen ? Sagt Jesus nicht selbst, dass seine Jünger „vollkommen sein sollen“ ? (Mt 5,48) “… wenn er Vergebung haben will?” Wer kann denn diese Bedingung erfül­ len? Wer kann alles, was er jemals im Leben falsch gemacht hat, nachträg­ lich “in Ordnung bringen”? Bei Zungensünden ist es besonders schwierig! Auch Übertreibung ist streng­ genommen die Unwahrheit. 137 Siehe die Widerlegung auf Seite 132. 138 Siehe die Widerlegung auf Seite 136. 139 Siehe die Widerlegung auf Seite 140. 41 Und wie leicht hat man jemanden durch Taktlosigkeit verletzt! Hier werden dem Gläubigen sicherlich immer wieder neue Verfehlungen einfallen. Muss er all diese Dinge “in Ordnung bringen”, sich dafür entschuldigen, auch wenn es dem Empfänger der Entschuldigung eher peinlich ist, der die dahinter stehende Unfreiheit bemerkt und sich dann als Objekt einer neuro­ tischen Zwangshandlung sieht? Die Drohung ist massiv: wenn der Gläubige es nicht tut, muss er in dem Bewusstsein weiterleben, dass er von Gott durch seine Sünde getrennt ist und dass der Zorn Gottes über ihn, der die Sünde “nicht lässt” (Spr 28,13), ständig weiter wächst. Eine ausweglose Situation. Nicht nur das Vertrauen zu Gott, sondern auch die Heilsgewissheit kann auf diesem Weg gefährdet sein. Nebeneffekt: Zu guter Letzt hat der Gläubige Angst, an die Vergangenheit zu denken, weil einem immer neue Bagatellen einfallen könnten, die “in Ordnung zu bringen” sind. An die Vergangenheit denken ist aber notwendig, um sich über sich selbst klar zu werden. Die obige Behauptung hat also eine sehr heilig scheinende Schale und einen bösartigen Kern. An den „Früchten“, den Folgen kann man es erkennen. (Mt 7,16) Sie macht vor allem die Vorstellung von Gott zum Zerrbild: er sitzt da mit der Lupe und ist ständig mit der Vergangenheit beschäftigt. Er muss ständig kontrollieren, wo ein dunkler Punkt ist und ob ihn der Gläubige auch sofort in Ordnung bringt. Der Gläubige hat den Eindruck, dass Gott eher in nega­ tiver Weise über ihn denkt. Ist dies das Gottesbild, das Jesus vermittelt ? Wird Gott tatsächlich geehrt, wenn der Gläubige so über ihn denkt ? Eine weitere wichtige Frage: wird das Vertrauen und die Liebe des Gläubigen zu Gott unter diesem Eindruck wachsen oder schrumpfen ? Es ist nicht schwer zu sehen: der Sinn der zitierten Bibelstellen ist verfälscht. Bei richtiger Anwendung ist immer ein lebensfördernder Sinn (Mt 4,4) zu erkennen. 42 Gut, wenn sich der Gläubige nicht vom Satan hereinlegen lässt! Denn auch der Satan kennt die Bibel genau und weiß sehr geschickt mit ihr umzugehen. (Mt 4) Die oben genannte Behauptung erscheint fromm, ist aber destruktiv. Denn durch sie kommt durch die Hintertür der eigene Beitrag zur Erlösung, die Selbstgerechtigkeit, die Werkgerechtigkeit wieder herein! Und Werkgerech­ tigkeit 140 ist eine absolut tödliche Gefahr für den Glauben. “Ihr habt Chri­ stus verloren, weil ihr euch selbst durch die Erfüllung der göttlichen Nor­ men retten wollt. Ihr lebt wieder ohne Gnade! ” (Gal 5,4) Ihr Ergebnis ist absolut wertlos. Denn nur das, was aus Dankbarkeit und Liebe freiwillig getan wird, hat vor Gott tatsächlich einen Wert. Deshalb wird die Vergebung allein aufgrund ehrlicher Reue gegeben: “wenn wir unsere Sünde bekennen, so ist hält er seine Zusage zuverlässig: er wird uns die Sünde vergeben und uns von aller Ungerechtigkeit reinigen.” (1.Joh 1,9) Wer ehrlich bereut, d.h. wer die Sünde verabscheut und sie nicht weiter tun will, dem wird vergeben! Andere Bedingungen werden nicht gestellt! Auf dieser Basis kann (und sollte) sich der Gläubige liebevoll und freiwillig (!) Gedanken machen über Menschen, denen er mit seinem Tun geschadet hat und mit denen er – unter der Leitung des Heiligen Geistes – Mitgefühl hat: Liebevolle Gedanken befinden sich immer im Einklang mit den Quali­ tätsmaßstäben Jesu – sie sind barmherzig, fair und ehrlich. Wenn man jemanden beleidigt, beschimpft oder mit Unterstellungen gekränkt hat, dann ist es sinnvoll, möglichst sofort hinzugehen, um sich angemessen zu entschuldigen. Böse Worte, die man stehen lässt, können wie ein Feuer 141 (Jak 3,1 ff) immer weiter um sich greifen und die Seele quälen und schädigen. Sie können Beziehungen so gründlich und unwiderruflich ruinieren, dass am Ende überhaupt keine Brücke mehr zum anderen möglich ist. 140 Siehe unter Stichworte den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet). 141 Siehe „Feuer rechtzeitig bekämpfen“ im Menü rechts (nur im Internet). 43 Muss man dem Partner einen Seitensprung beichten? Auch wenn die see­ lische Gesundheit des Partners dabei Schaden nimmt? Wenn die Ehe ausein­ anderbrechen würde ? Das zukünftige Wohl des Partners steht im Mittel­ punkt der Überlegungen, nicht ein steriles Entlastungsritual. Noch anders liegt der Fall wohl bei übler Nachrede und Verleumdung. Es macht wenig Sinn, diese dem Betroffenen zu bekennen. Sofern man nicht davon ausgehen kann, dass die üble Nachrede nicht inzwischen längst ver­ gessen und bedeutungslos geworden ist, sollte allerdings der Gläubige, dem die Liebe zum Nächsten wichtig ist, die Menschen, die durch seine Worte irregeführt wurden, aufsuchen und die Ehre des Geschädigten wiederherstel­ len. Möglicherweise ist aber das, was leichtfertig ausgestreut wurde, gar nicht mehr einzufangen. Bei Diebstahl kann eine Selbstanzeige und Rückgabe vor dem Ablauf der Verjährungsfrist riskant sein und eine gerichtliche Verurteilung nach sich ziehen – mit eventuell verheerenden Folgen für die Familie. In schwer-wie­ genden Fällen ist anzuraten, einen gläubigen Anwalt zu konsultieren, der ebenso wie der Seelsorger an die Schweigepflicht gebunden ist. Wenn ein Mensch konkret leidet unter den Folgen eines Diebstahls, dann sollte der Gläubige diesem gegenüber nicht gleichgültig bleiben, sondern ihm das Ver­ geben erleichtern. Die Rückerstattung kann auch anonym, etwa durch die Vermittlung eines Pastors, der an das Beichtgeheimnis gebunden ist, erfol­ gen. Unter lang zurückliegenden Diebstählen, etwa in der Jugendzeit, leidet heute sehr wahrscheinlich niemand mehr. In diesem Fall würde bei einer Rückerstattung das Motiv einer sterilen Gewissensentlastung wieder in den Vordergrund treten, das sich nachteilig auf die seelische Stabilität auswirkt. Das Gesagte betrifft nur die Selbstanzeige. Wird der Gläubige in der Gemeinde konkret beschuldigt, jemandem geschadet zu haben, so muss die Sache im Mediationsgespräch untersucht und – falls dieses scheitert – vor die Gemeinde gebracht 142 werden, da Böses in der “Gemeinschaft der Heili­ gen” nicht geduldet werden darf. 142 Siehe das Verfahren im Kapitel „Urteilsvermögen“, (Internet). 44 2. Behauptung: Kleine Sünden werden von Gott so negativ gesehen und bestraft wie schwerste Verbrechen, denn Jesus musste auch für kleine Sünden sterben.” O wie fromm wirkt doch auch dieser Satz ! Kann die Reue perfekter sein, wenn schon kleinste Fehler zu größter Zerknirschung führen ? Wird es Jesus nicht erfreuen, wenn der Gläubige sich deswegen die schwersten Selbstvor­ würfe macht ? Wird dadurch nicht die Bedeutung seines Opfers noch viel mehr betont ? Oh wie entschieden und wie fromm ! Diese Lehre kann doch nur von Gott kommen. Tatsächlich ? Sehen wir einmal genau hin! Wenn kleine Sünden und Unvollkommenheiten so schwer wiegen würden wie große, dann müssten sie genauso streng bestraft werden. Wer “sich an Sünde gewöhnt hat, gehört zum Satan” (1.Jo 3,8) Wer “mutwillig (εκουσίως) sündigt“, kann die Vergebung endgültig verlieren. (Hebr 10,26-27) Somit müsste jeder Gläubige, der seine Unvollkommenheit nicht überwindet, Angst haben, dass er eines Tages die Vergebung endgültig verliert. Logischerweise müsste das Gewissen bei der kleinsten Unvollkommenheit so heftig reagieren, als hätte man einen Mord begangen. In der Tat gibt es Gläubige, deren Gewissen von unfähigen oder gewissenlosen Gemeindeleh­ rern derart verschärft wurde, dass sie jahrelang von einem aus Rand und Band geratenen Gewissen terrorisiert werden. Das ist unzulässig, denn es widerspricht dem ersten Qualitätsmaßstab Jesu, der “Barmherzigkeit”. Nicht nur die eigene Persönlichkeit, Würde und Gesundheit wird zerstört. Auch die Vorstellung von der Persönlichkeit Gottes wird auf diesem Weg zum Zerrbild. Seltsamerweise gibt es Gemeindelehrer, die sich an diesem Zerrbild gar nicht stören. Im Gegenteil: Terror und Schrecken vertragen sich nach ihrer Sicht recht gut mit der “Ehre” 143eines allmächtigen Gottes, dem der Gläubige größte Ehrfurcht schuldet. 143 Siehe unter „Stichworte“ (Internet). 45 Der “Respekt” wird allerdings sehr stark darunter leiden, dass Gott verspro­ chen hat, dass seine Gläubigen ohne Furcht und Schrecken leben sollen (Lk 1,74), und dann – wie es scheint – sein Versprechen nicht einhält. Das ist unzulässig, denn es widerspricht dem dritten Qualitätsmaßstab Jesu, der “Ehrlichkeit” und “Zuverlässigkeit”. Die ständige Furcht bewahrt mitnichten vor der Sünde – wie manche glau­ ben. Das ist eine Illusion. Sehr wahrscheinlich kommt es irgendwann zu einer Abstumpfung des Gewissens. 144 Da das Gewissen ständig quält, lohnen sich auch keine Bemühungen mehr, auf einzelne Warnungen zu hören. Auf einen Wachhund, der ständig kläfft, gleichgültig ob nun eine tatsäch­ liche Gefahr vorhanden ist oder nicht, hört man zu guter Letzt gar nicht mehr. Das ständige Kläffen ist nur noch ein störendes Hintergrundgeräusch. Wie leicht macht man es damit einem Einbrecher! Die perfektionistische Sicht ist nicht nur unehrlich und unbarmherzig. Sie ist auch unfair. Wer sich über Sünde wenig Gedanken macht, hat die Chance, ein positives, freundliches und ermutigendes Gottesbild zu entwickln. Die sorgfältigen und gewissenhaften Gläubigen müssen sich mit einer sehr düsteren Gottesvorstellung herumschlagen. Diese Quälerei kann sich über Jahre hinziehen, wenn Gläubige die Freiheit eines Christen nie kennengelernt haben und folglich auch keinen Vergleichs­ maßstab haben, um die fehlende Qualität des werkgerechten Lebensstils zu erkennen. Natürlich macht auch die kleinste Sünde den Menschen unwürdig, mit Gott Gemeinschaft zu haben. Das muss man allen sagen, die selbstsicher meinen, keine Erlösung zu brauchen, weil sie doch gute Menschen seien. Hier gilt: auch der anständigste und beste Mensch braucht die Bedeckung seiner Schuld durch das Sühnopfer Jesu. Jeder Mensch hat sich an Menschen und an Gott versündigt. Verdrängen der Schuld und Heuchelei belastet Cha­ rakter und Seele – die Löschung der Schuld befreit. 144 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 20.Behauptung, Seite 119. 46 Bei Menschen, die sich ohnehin sehr viel Gedanken über ihr Versagen machen, muss man das nicht extra betonen (Sorgfaltsparadox) 145). Das haben sie längst verstanden und akzeptiert. Damit ist die Notwendigkeit der Charakterbildung 146 nicht abgewertet. Man­ che meinen ja, es komme nicht mehr darauf an, da ja ohnehin alle Sünder seien. Ein Fehlschluss! Gläubige, die so denken, können bösartiger handeln als Menschen, die Gott gar nicht kennen. Charakter- und Persönlichkeitsbildung ist Jesus wichtig. Menschen mit Cha­ rakter entscheiden sich freiwillig für das Gute, weil sie von der langfristig positiven Wirkung überzeugt sind. Um Charakter zu bilden, braucht der Mensch Vorbilder und Freiraum. Zwang und Erpressung überzeugen schlecht oder gar nicht. Deshalb ist die Aufforderung Jesu an seine Jünger, „vollkommen zu sein“ (Mt 5,48) kein Befehl, sondern ein Wunsch. Er weiß, dass sie es nur wün­ schen können – im Eifer, dem Vorbild ihres geliebten Meisters zu folgen. Das wesentliche Element der Vollkommenheit ist die Freiwilligkeit. Nach Vollkommenheit soll der Jünger streben, und an sich arbeiten, wo es in Frei­ heit möglich ist. Die unabdingbare Grundlage aber ist immer das Vertrauen in die unwandelbare Liebe und Treue Jesu, die nicht durch unsere Schwä­ chen und Gebundenheiten in Frage gestellt wird. “Er bleibt immer treu, selbst dann, wenn wir nicht treu sind.” (2.Ti 2,13) Jesus war vollkommen. Er fragte seine Jünger: “wer von euch kann mir eine Sünde nachweisen?” (Jo 8,46) Achten wir einmal darauf, dass er sogar den Kontakt mit Geld sorgfältig vermied. Er hatte keins. Als er Steuern zahlen sollte, schickte er Petrus, der ein Geldstück in einem gefangenen Fisch fand. (Mt 17,27) An Geld klebt viel Unrecht und Gewalt ! Banken spekulieren mit dem Spar­ groschen der Armen, machen jede Menge unfaire Geschäfte und ruinieren dabei Existenzen, treiben Menschen in Verzweiflung und Selbstmord, kor­ rupte Politiker schauen weg. 145 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet). 146 Siehe Seite 173. 47 Geld ist unrein! Es ist dreckig! Wenn man vollkommen sein müsste, dürfte man es gar nicht anfassen. Wir dagegen haben Geld. Wir schaffen es nicht, ohne es zu leben. Wir spie­ len das große Spiel mit. Wir konsumieren und verleiten andere dazu, zu kon­ sumieren, weil sie dasselbe haben wollen. Und Jesus verdammt uns deshalb nicht. Die Apostel haben auch später niemanden deshalb verurteilt und aus der Gemeinde ausgeschlossen. Auch wenn Gewissenhaftigkeit im Denken und Handeln nicht zum ständig schlechten Gewissen führen darf, so ist doch Sorgfalt sehr wertvoll und dient in etlichen Bereichen der Vorbeugung vor Schlimmerem. Der Gedanke der Vorbeugung spielt in der Bergpredigt (Mt 5,31-37) eine wichtige Rolle. Es ist besser, sich vor Zorn auf den Bruder und vor dem Schimpfwort zu hüten, als eine Entwicklung in Gang zu setzen, an deren Ende vielleicht tät­ liche Gewalt und Mord stehen. Es ist besser, sich begehrlicher Gedanken und Blicke zu enthalten, anstatt sie zu dulden und dann im Ehebruch zu lan­ den. Es ist besser, gar nicht zu schwören, als durch ständigen Gebrauch von Eidesformeln bald als unglaubwürdig dazustehen. Diese Liste kann man fortsetzen: es ist besser sich vor dem Neid zu hüten, als zu guter Letzt den anderen zu bestehlen, es ist besser, Großzügigkeit zu üben, als zu raffen und dabei immer habgieriger zu werden. Eben das Bemühen um wirksame Vorbeugung beweist: kleine Sünden und große Sünden wiegen nie und nimmer gleich schwer. Völliger Unsinn! Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob der Gläubige einen ehebre­ cherischen Wunsch hat oder ob er tatsächlich mit einer verheirateten Frau Ehebruch begeht. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob der Gläubige Gedanken des Hasses hat gegen einen Menschen, der ihn verletzt hat, oder ob er ihn deswegen halb tot schlägt. Soll man nun denken: “nun ist das Kind ja in den Brunnen gefallen, ich habe die kleine Sünde begangen und mir dadurch schlimmsten Zorn Gottes zugezogen. Nun kommt es nicht mehr darauf an, ob ich auch noch die große Sünde tue? Wenn ich sexuell begehr­ lich war, dann kann ich auch gleich den Ehebruch wirklich begehen? Wenn ich gehasst habe, dann kann ich den Feind auch gleich windelweich prügeln…!?” 48 Das Gegenteil ist wahr: Jesus hat viel Geduld und Mitgefühl mit dem Gläu­ bigen, der sich mit begehrlichen oder wütenden Gedanken herum-schlägt und wird ihn bewahren, dass er nicht in den Abgrund des Ehebruchs oder der Feindschaft hinabstürzt. Dazu braucht der Gläubige Ermutigung und Stärkung durch Liebe und nicht ein Gewissen, das ihn sofort terrorisiert und bedroht. Ein wichtiges Kennzeichen der Liebe ist die Geduld. (1.Kor 13,4-5) Wenn Jesus wünscht, dass seine Jünger Geduld mit den Schwächen anderer haben sollen, dann wird er selbst nicht ungeduldig sein. Im Gegenteil: die Bibel redet sogar von einer jahrhundertelangen Geduld Gottes mit mensch­ licher Schwachheit. (Rö 3,25) Ein Gläubiger, der kein Vertrauen in Gottes Geduld hat, der denkt sehr klein von der Liebe Gottes. Entsprechend gering ist sein Vertrauen, das doch die Grundlage des Lebens mit Gott sein soll: alles geschieht “aus Glauben” (Rö 1,17). Was “nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde” (Rö 14,23), selbst dann, wenn es mit der größten Willensanstrengung verbunden ist. Die Gläubige “wächst im Glauben” (Eph 4,15), was ja nichts anderes heißt, als dass es ihm immer besser gelingt, gewisse Unvollkommenheiten abzule­ gen. Was wachsen muss, kann nicht sofort vollständig vorhanden sein. Erpressung durch das Gewissen 147 ändert an dieser Situation nichts. Deshalb muss man ihr widerstehen. Die Tatsache, dass Jesu Opfer am Kreuz auch unsere Unvollkommenheiten sühnt, sollte den Gläubigen erfreuen, beruhigen und ermutigen und nicht ihn mit einer Last beladen, die ihn gänzlich erdrückt. 147 Siehe die 20 Behauptung zum „Gewissen“, Seite 90. 49 3. Behauptung: “Da der Gläubige die Kraft des Heiligen Geistes emp­ fangen hat, ist er frei vom Zwang zu sündigen. Wenn er nur will, kann er die Sünde lassen. Umso strenger wird der Gläubige bestraft, wenn er sich dann noch kleine Sünden leistet. Er kann und darf sich nicht mehr auf menschliche Schwachheit berufen.” Da steht es zweifellos geschrieben: “seine Gebote sind nicht schwer, denn alles, was von Gott geboren worden ist, überwindet die Welt” (1.Joh 5,3-4) Ist es nicht der Ausdruck tiefsten Gottvertrauens, wenn Gemeindelehrer aus dieser Verheißung ein strenges Verbot ableiten und dem Gläubigen auch über der kleinsten Unvollkommenheit ein schlechtes Gewissen machen ? Es ist doch “ganz logisch”: wenn der Heilige Geist dem Gläubigen ermöglicht, alle Gebote zu halten, weil “die Gebote nicht schwer sind“, dann kann der Gläubige nicht nur alle Gebote einhalten, sondern muss es auch. Und schon wieder taucht der eben kommentierte, so oft in fataler Weise als verbindliches Gebot missverstandene Satz auf:“Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.” (Mt 5,48), das den Gläubigen angeblich verpflichtet, alles zu tun, was irgend gut ist: “Wer etwas Gutes zu tun weiß, und tut es nicht, für den ist es Sünde…” (Jak 4,17), auch wenn es ihn die materielle Existenz oder gar das Leben kosten sollte. Natürlich weiß der Gläubige, dass ihm “gelegentlich” eine Sünde passieren kann. “Wenn wir behaupten, wir wären ohne Sünde, dann lügen wir.” (1.Jo 1,8) Doch Sünde ist nach dieser Anschauung eine sehr seltene Ausnahme, die kaum vorkommt. Sie muss sofort bereut und repariert werden, damit sie eine seltene Ausnahme bleibt. Und wenn man etwas Gutes weiß, das zu tun wäre, dann darf das Gute nicht ungetan bleiben, denn auch damit wäre die Sünde keine seltene Ausnahme mehr. Der Umkehrschluss ist fatal: wer nicht “alle Sünde lässt”, wer nicht alles “was er Gutes tun könnte”, tut, wer nicht (fast) vollkommen lebt, wer nicht all sein Hab und Gut für Notleidende opfert 148 , wer nicht allzeit bereit zu lebensgefährlicher Mission ist 149 , der nimmt Gottes Erlösungsgeschenk nicht an und ist deshalb Gottes Feind. 148 Siehe 7.Behauptung, Seite 83. 149 Siehe unter „Stichworte“ / „Buchstabentreue“ / Nr 6 (Internet). 50 Was mit den Feinden Gottes geschieht, ist klar: auf sie wartet die ewige Qual der Hölle.150 Und schon kippt die herrliche Verheißung, dass für den Heiligen Geist keine Aufgabe zu schwer ist, dass er den Gläubigen zu allem, was gut ist, ausrü­ sten und bevollmächtigen möchte, in das grauenhafte Gegenteil um: in stän­ dige Bedrohung, in seelische Erpressung und Verzweiflung. Warum erkennen manche Gläubigen nicht, dass diese Interpretation der Bibel nicht lebensfördernd (Mt 4,4), nicht konstruktiv, sondern scheinheilig und destruktiv ist ? Warum erkennen sie nicht, dass diese Interpretation im Widerspruch zur den Qualitätsmaßstäben Jesu steht ? In diesen Zusammenhang gehört auch die wahnwitzige Behauptung, mit jeder neuen Sünde “schlüge der Gläubige Christus erneut ans Kreuz“. Welch gefährlicher Unsinn! “Christus wiederum kreuzigen” (Hebr 6,6), das ist etwas, was nach dem Neuen Testament gar nicht möglich ist, und betrifft den seltenen Fall, dass ein Mensch noch einmal zum Glauben kommen will, der den Glauben bereits als befreiend erkannt und erlebt und ihn dennoch endgültig weggeworfen hat. Welcher Wahnsinn, diese Formulierung für kleine Fehler und Schwächen zu gebrauchen, doch bei gewissen perfektio­ nistischen Bibellehrern ist auch solcher Blödsinn möglich. Wenn eine dilettantische Theologie diese Worte auf den Gläubigen bezieht, so wird der Sinn des Opfers Jesu ins Gegenteil verdreht. Es wird eine stän­ dige Quelle des Schreckens und der Bedrohung – von Freude und Befreiung keine Spur. So balanciert der Gläubige mit ständig schlechtem Gewissen auf einem sch­ malen Grat: wieviel darf an der Vollkommenheit fehlen 151,damit er noch sei­ nes Heils gewiss sein darf ? Schon die Frage zeigt, dass hier etwas Wesent­ liches ganz falsch verstanden wurde. 150 Siehe unter „Stichworte“ , (Internet). 151 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das Heil ?“, (Internet). 51 Fragen wir besser: Was soll denn Gott davon haben, wenn ihm seine Gläubigen vor Angst schlotternd wie einem Diktator dienen ? Eine ähn­ liche Frage stellt Gott übrigens auch den Gläubigen im Alten Bund: “was habe ich denn davon, wenn ihr mir ständig Tiere opfert ? Doch ich nehme deine Opfer nicht an. Ich brauche keinen Stier aus deinem Stall und keinen Bock aus deinem Pferch! Denn mein ist alles Wild im Wald, die Tiere auf den tausend Bergen. .. Hätte ich Hunger, müsste ich es dir nicht sagen, denn mein ist die Welt und was sie erfüllt.” (Ps 50, 9-12) Das mosaische Gesetz gebot zweifellos viele Opfer. Wenn Gott ein Gebot verfasst, so hat der Gläubige die Aufgabe, den Zweck zu verstehen. Das Gebot soll eine Hilfe sein, die Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen herzustellen oder zu vertiefen. Wenn es mit Hilfe der Qualitätsmaßstäbe Jesu “Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit” inter­ pretiert wird, so versteht der Gläubige diese Charaktereigenschaften Gottes besser und erwirbt auch selbst mehr von diesen Eigenschaften. Er wird innerlich verändert. Das ist die “Beschneidung des Herzens” (Rö 2,28-29), auf die Gott großen Wert legt. Menschen dagegen neigen dazu, die äußerliche Beschneidung für das ent­ scheidende Merkmal zu halten. Man kann Gottes Gebote äußerlich einhal­ ten, aber ohne innerliche Überzeugung. Dieser “Gehorsam” hat bei Gott überhaupt keinen Wert. “Sie ehren mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir.” (Jes 29,13) “Gutes tun”, weil das schlechte Gewissen erpresst, ist selbst Sünde. Es ist scheinbare Heiligung, Werkgerechtigkeit und Selbsterlösung. Es ist sozusagen Falschgeld, das aus dem Verkehr gezogen werden muss. Die stärkste Willensanstrengung ändert an dieser Tatsache nichts. Der werk­ gerechte Gläubige ist leider davon überzeugt, dass die verbissene Willensan­ strengung, die “Entschiedenheit” etwas sei, dass die fromme Leistung “hei­ lig” mache. Man durchschaut diesen Wahn erst, wenn man die Qualität der Früchte prüft. Was kommt dabei heraus? Die Liebe wird dadurch nicht größer. Der Glaube wird eine Quelle ständiger Frustration. Er kann so unerträglich werden, dass man ihn am Ende aufgibt. 52 Eben das steht in der Bibel: Werkgerechtigkeit hat keine Verheißung, son­ dern steht unter einem Fluch: “Ihr habt Christus verloren, weil ihr euch selbst durch die Erfüllung der göttlichen Normen retten wollt. Ihr lebt wie­ der ohne Gnade! ” (Gal 5,4) Zweifellos ist Werkgerechtigkeit ein sehr naheliegender, allzu-mensch­ licher Gedanke: “hilf dir selbst, dann hilft dir Gott…” Echter Glaube ist immer wieder in Gefahr, durch werkgerechte Gedanken wie mit Sauerteig durchdrungen und vergiftet zu werden (Mt 16,6 / Gal 5,9). Paulus, der erst ähnlich dachte, erkannte durch die Begegnung mit Jesus, welch schlimme Selbsttäuschung die Werkgerechtigkeit ist. Er erkannte, dass selbst seine frömmsten Taten vom Eigennutz vergiftet waren. Auch der frömmste Mensch hat nichts anderes verdient als den Tod und die Hölle. Eine Zeitlang verzweifelte an dieser Erkenntnis, bis er dann erkannte, wie das neue Leben aussieht, dass Gott all seinen Kindern schenkt. Es beginnt mit dem Vertrauen, dass Gerechtigkeit nicht durch eigene Bemü­ hungen erworben wird, sondern dass sie “zugerechnet” wird. Jesus allein war ohne Sünde, und die Sündlosigkeit rechnet Gott jedem Menschen, der auf Jesus Christus vertraut, zu (Rö 4,3 ff /Phil 3,9). Wer Jesus vertraut, nimmt aber nicht nur diese Zurechnung in Anspruch, sondern er hat auch den Wunsch, Jesus immer ähnlicher und vom Eigenutz immer freier zu werden. Mehr als diesen Wunsch zu stärken durch engen Kontakt mit seinem Herrn, mit seinem heiligen Wort und mit der christlichen Gemeinde und immer im Gebet zu sein, dass ihm doch Gott die Weisheit geben und ihm zeigen möge, wie auf glaubwürdige Weise mehr von diesem Wunsch verwirklicht werden könne, kann und darf er nicht bringen. Aber weniger auch nicht! Andernfalls wäre es gar kein echtes Vertrauen, sondern wieder dreistes Anspruchsdenken, wieder Aberglaube. Es ist und bleibt wahr und für viele Gläubige schwer zu fassen: der Christ, der in der rechten Weise Jesus Christus vertraut, ist vom Gesetz und seinem Zwang befreit. 53 Allerdings kann er sein Recht innerhalb der Gemeinde nur innerhalb der Grenzen in Anspruch nehmen, die ihm das gültige Recht der Gemeinschaft 152 setzt. Dieses Recht der Gemeinde sollte sich strikt an den Qualitätsstan­ dards Jesu Christi orientieren und andernfalls baldmöglichst korrigiert wer­ den. Es ist wichtig für sein geistliches Wachstum, immer sensibler zu werden für die Qualität, die das Wirken des Heiligen Geistes kennzeichnet und sich immer mehr Urteilsvermögen anzueignen. Was der Gläubige “aus Glauben” tut, entspringt seiner Überzeugung. Er tut es freiwillig, weil ihn die Liebe dazu motiviert. Je öfter er es tut, desto stärker wird die Liebe. “Wer hat, dem wird gegeben” (Mt 13,12) Nur mit echter Heiligung 153 kann der Gläubige Gott würdig repräsentieren. Viele Gläubige versuchen Werkgerechtigkeit zu vermeiden, indem sie den Glauben zur unverbindlichen “Religiosität“ 154 verkürzen und verwässern und damit die Botschaft Jesu missbrauchen. Dies mag dazu führen, dass sie eines Tages entgegen ihren Illusionen vor verschlossenen Türen stehen. (Mt 7,21-23 / 25,1 ff) Es gibt einen bibelgemäßen Weg aus der Werkgerechtig­ keit 155, der den Glauben stärkt, anstatt ihm zu schaden. 4. Behauptung: “Sexuelle Sünden verunreinigen am stärksten” Es gibt etliche Gläubige, die meinen, dass sexueller Verzicht der Schwer­ punkt der christlichen Ethik sei. Daraus zieht mancher den Schluss, dass Gläubige, die sich besonders sexualfeindlich gebärden, besonders heilige Leute seien. Umgekehrt würde Fehlverhalten, das im Zusammenhang mit der Sexualität steht, von Gott viel negativer beurteilt und bestraft als andere Sünden. In der Bibel gibt es zu dieser Behauptung ein Gegenbeispiel: Der Priester Amazja verbot dem landesfremden Hirten Amos, im Tempel die an ihn ergangene Warnung Gottes auszusprechen. 152 Siehe unter „Stichworte“ die Abschnitte 3 und 4 des Artikel „Buchstabentreue“, (Internet). 153 Siehe Seite 160. 154 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Religiosität“, (Internet). 155 Siehe den 4. Abschnitt des Kapitels „Zu Gott gehören“, Seite 169. 54 Zur Strafe wurde Amazjas Frau später eine stadtbekannte Hure. (Amos 7,1217) Woraus wir ersehen: Der Versuch einer Gemeindeleitung, die Gläubigen gegen notwendige biblische Zurechtweisung abzuschirmen, wird von Gott als eine Sünde angesehen, die so schwer wiegt wie gewerbliche Prostitution. Es gibt noch viele andere Sünden, die schädlicher sind als viele sexuelle Verfehlungen: den guten Ruf eines Menschen zerstören, auf seiner Würde herumtrampeln, ihn mobben, ihn wegen seiner Andersartigkeit hassen und verfolgen oder ihn wirtschaftlich oder gesundheitlich ruinieren. Im Verlauf der Kirchengeschichte wurde diese Sünden oft gar nicht als sol­ che angesehen, insbesondere wenn man Menschen so behandelte, deren Gedanken und Fragen man als Bedrohung der eigenen Glaubensauffassung empfand. So bekam das Thema der sexuellen Sünde gegenüber diesen Sün­ den ein großes Gewicht. Es besteht kein Zweifel, dass sexuelle Rigorosität stark zur Stabilisierung bestehender Glaubensgemeinschaften beiträgt. Das Thema sexueller Unzu­ länglichkeiten ist gut dazu geeignet, Gläubige einzuschüchtern 156, sodass sie das, was in der Gemeinde geschieht, nicht mehr in Frage zu stellen wagen. Gläubige in der Gemeinde, die ihr Macht missbrauchen, bedienen sich des­ halb gerne dieses Themas. Die Einschüchterung ist so wirksam, weil sie an das Schamgefühl anknüpfen kann, dessen Reaktion von vielen Gläubigen ebenso wie die Reaktion des Gewissens 157 irrtümlicherweise für absolut unfehlbar gehalten wird. Die katholische Kirche hat sich deshalb nach Kräften bemüht, Schuld- und Schamgefühle weiter zu steigern. So wurde im Mittelalter z.B. gelehrt, dass der ansonsten legale Geschlechtsverkehr eines verheirateten Paares am Sonntag, dem Tag des Herrn, oder an einem der vielen anderen kirchlichen Feiertage hochgefährlich sei, da er diesen Feiertag entweihe. Diese Sünde sei so schwer, dass sie von Gott üblicherweise mit der Geburt eines behin­ derten Kindes bestraft werden würde. 156 Siehe die 24.Behauptung „Der Gläubige darf Unrecht ... nur dann beim Namen nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler zu sehen sind.”, Seite 130. 157 Siehe die 20. Behauptung, Seite 119. 55 So warnten z.B. Gregor von Tours, gest.594, und Erzbischof Thietmar von Magdeburg. 158 Wenn wir uns also mit dem Thema “Sexualität” befassen, so müssen wir ein waches Auge haben auf Beiträge von Gläubigen, deren Motive ähnlich unsauber sind. Diese Tendenz setzte sich fort in der Onanie-Literatur des 19. und 20 Jahr­ hunderts, in der Quacksalber und Ärzte eindringlich vor angeblichen medizi­ nische Folgeschäden der Masturbation warnten: sie sollte angeblich Pocken und Tuberkulose hervorrufen 159 oder zu Rückenmarksschwund, Auszehrung des Körpers, Hysterie, Geisteskrankheit, Unfruchtbarkeit und Geschwüren im Gesicht führen 160 Den Ärzten wird man schwerlich klerikale Motive unterstellen. können, doch förderte die kirchliche Sexualitätsfeindlichkeit offensichtlich eine allgemeine Bereitschaft, erfundene Schreckensmel­ dungen ungeprüft und blindgläubig weiter zu verbreiten. Nun gibt es zweifellos sehr strenge Sätze zur Sexualität in der Bibel. “Ich habe einen Bund mit meinen Augen geschlossen, dass ich nicht begehrlich blicke auf eine Jungfrau. Was gäbe mir Gott sonst als Teil von oben und was für ein Erbe der Allmächtige in der Höhe? Wird nicht der Ungerechte Unglück haben und ein Übeltäter verstoßen werden? Sieht er nicht meine Wege und zählt alle meine Gänge?” (Hiob 31,2-4). Eine schöne Frau anzublicken und das Zusammensein mit ihr zu wünschen, das ist ein Wunsch, den der von Gott dem Menschen eingepflanzte Sexual­ trieb ganz selbstverständlich mit großer Kraft hervorruft. Dieses Verlangen bleibt bei etlichen Männern bis ins hohe Alter hinein erhalten. Während der Mensch, der Hunger hat und Nahrung vor sich sieht, auch essen darf, um diesen Hunger zu stillen, ist der Gläubige verpflichtet – so sieht es Hiob – den bloßen Wunsch nach sexueller Erfüllung schon bei seiner Entstehung niederzukämpfen. 158 Peter Browe, Beiträge zur Sexualität des Mittelalters, Breslau, 1932, S. 47-48. 159 Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Masturbation: dort wird zitiert John Marten, Onania: or the Heinous Sin of Self-Pollution, 1712; von Denis Diderot unter dem Artikeltitel Mansturpration ou Manustupration übernommen in seine Encyclopé­ die, 1751-1780. 160 Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Masturbation, dort wird u.a. Denis Diderot angeführt: Dissertation sur les maladies produits par la masturbation, 1760. 56 Im mosaischen Gesetz, das NACH (!) der Zeit Hiobs gegeben wurde, spielt diese moralische Strenge seltsamerweise überhaupt keine Rolle. Es wird immer wieder behauptet, dass ein solches Gebot bei einem großen Volk undurchführbar gewesen sei. Zweifellos stimmt das, doch das ist irrelevant. Es wäre Mose ganz leicht möglich gewesen, eine Gruppe von besonderen Gläubigen zu berufen, die sich diesen harten Normen unterwarfen. Es wäre leicht gewesen, diese Leute mit besonderen Privilegien auszustatten, um allem Volk ein gutes Beispiel zu geben. Und die Segensverheißungen am Ende der Mosebücher hätte Mose in gestaffelter Form anbieten können. 100% Segen für die, die sich an das schwere Gebot sexueller Reinheit halten wollen, 50% für die, die doch hin­ gucken und sich etwas wünschen, wenn eine schöne Frau vorbeigeht und 5% für die Leute, die ihre Frau entlassen haben, weil sie ihnen zu abgenutzt und hässlich erschien. Ein nachhaltiger pädagogischer Effekt würde sicher nicht ausbleiben. Doch diese Möglichkeiten werden nicht genutzt, sodass bei einem Thema, das ganz entscheidend sein soll für die Beziehung mit Gott, ein leicht zu erzielender pädagogischer Erfolg verschenkt wird – für immerhin zwei Jahrtausende. Diesen Eindruck wird der sorgfältige Leser nicht los, auch wenn das mosaische Gesetz noch viele weitere Vorschriften enthält über Reinheit und Unreinheit bei Samenerguss Menstruation, Geburt usw. (Wich­ tige Anmerkung: durch das Verschenken des pädagogischen Erfolgs im sexuellen Bereich wird ein pädagogischer Erfolg auf einem wichtigeren Gebiet erzielt: nämlich die Erkenntnis, dass das Gesetz ganz bestimmte Illu­ sionen 161 hervorruft.) Im Neuen Testament erhebt Jesus eine ähnlich strenge Forderung: “Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: “Du sollst nicht ehebrechen.” Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Führt dich aber dein rechtes Auge in Versuchung, so steche es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Körperteile verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Führt dich deine rechte Hand in Versuchung, so haue sie ab und wirf sie von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.” (Mt 5, 27-28) 161 Siehe unter Stichworte den Artikel „Gesetzliche Illusionen“, (Internet). 57 Hier wird – wie es scheint – die Sicht des Hiob bestätigt. Warnte Hiob vor dem “Verstoßenwerden des Übeltaters“, so warnt Jesus vor der Hölle, die auf den begehrlichen Blick folgen kann. Verständlich, wenn Gläubige zu dem Schluss kommen, dass schon kleine Abweichung von sexuellen Nor­ men ein besonders schweres Vergehen ist. Entsprechend stark ist das schlechte Gewissen 162 und das Schamgefühl, das sich anlässlich des Versa­ gens bildet. Zusätzlich tauchen in bibeltreuen Gemeinden immer wieder Lehren auf, die dem Denken eine vollends verhängnisvolle Richtung geben können, z.B. die Behauptung, dass kleine Sünden bei Gott so schwer wiegen wie große. 163 Ist das wahr, dann wiegen die Wünsche und Phantasien so schwer wie fortge­ setzter Ehebruch, wie ein Leben in Hurerei. Es ist verständlich, dass manche Gläubige daraus den Schluss ziehen, “mutwillig gesündigt” (Hebr 10,27) und die Geduld Gottes überstrapaziert zu haben. Chronische und schwere Depressionen und Ängste vor der Hölle sind die Folge. Wie unmenschlich diese Zwangslage ist, ist an dem Schicksal des Kirchen­ lehrers Origines zu sehen. Um nicht in die Hölle zu kommen, sah er für sich keinen anderen Ausweg mehr, als sich selbst zu kastrieren. Wir wollen hoffen, dass er anschließend wieder zur ersehnten Glaubens­ freude durchgedrungen ist. Doch können wir seine Methode, das Problem zu lösen, nicht empfehlen. Stattdessen stellen wir die Frage: wo ist hier noch eine überzeugende Abgrenzung zur Bemühung, sich selbst zu erlösen und zu retten, sich selbst das Heil zu sichern ? Werkgerechtigkeit ist für den Glauben hochgefährlich: “Ihr habt Christus verloren, die ihr durch die Erfüllung der göttlichen Norm gerecht werden wollt.” (Gal 5,4). Deshalb muss die Abgrenzung von der Sünde der Werkgerechtigkeit sehr sorgfältig sein: “Auch ein winziges Stückchen Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig.” (Gal 5,9) 162 Siehe Seite 116. 163 Siehe in diesem Kapitel die 3. Behauptung: „Kleine Sünden sind genauso schlimm wie schwerste Verbrechen“, Seite 37. 58 Manchen Christen bereitet das Gebot rigider sexueller Disziplin kein nen­ nenswertes Problem. Am einfachsten haben es die Glücklichen, die eine Frau haben, mit der sie zusammen Sexualität genießen können. Andere Gläubige haben das Glück, dass der Sexualtrieb nicht allzustark ausgebildet ist und dass sie Glücksgefühle, ja sogar den Gefühlsrausch aus anderen Quellen schöpfen können: aus dem Erfolg im Beruf sowie aus hoher Kreati­ vität. Es wurde auch schon darauf hingewiesen, dass der Genuss von Macht und Einfluss das sexuelle Defizit ausgleichen kann – was z.B. in klerikalen Hierarchien vorkommt. Welche Lösungen bieten sich an für Gläubige, die einen starken sexuellen Drang, aber wenig Möglichkeiten haben, sich starke positive Glücksgefühle zu beschaffen ? Muss man den Gläubigen recht geben, die sehr schnell antworten, dass der Glaube ausreichend Glücksgefühle liefert (“Die Freude am Herrn ist eure Stärke“) und der Gläubige die Schuld für das Fehlen ausreichender Kompen­ sationsgefühle bei sich selbst zu suchen hat ? Hier ist einmal festzustellen, dass Paulus selbst darauf hingewiesen hat, das Eheleute sich einander nicht entziehen sollen, da andernfalls die Versuch­ lichkeit zur Hurerei zu stark werden würde. (1.Kor 7,5) Wäre der Glaube eine jederzeit bereitstehende Kompensationsquelle, die ausreichend Freude vermittelt, wäre diese Aufforderung überflüssig. Paulus weist auch darauf hin, dass er sehr gut verzichten kann und andere nicht (1.Kor 7,7). Verzicht auf sexuelle Phantasien ist für Gläubige, die schlecht mit Kompen­ sationsmöglichkeiten ausgestattet sind, eine anstrengende Verzichtsleistung – ähnlich schwer, wie der Entschluss, nur soviel zu essen, dass man ständig unter Hungergefühlen leidet und gerade am Leben bleibt. Übermäßiges Fasten hat bekanntlich wenig Erfolg: der Frust wird so groß, dass man unversehens hemmungslos frisst, um alles nachzuholen. (Jojo-Effekt) Eine ähnliche Gefahr ist bei Überforderung durch sexuellen Totalverzicht nicht auszuschließen. Wenn das Gewissen ohnehin ständig anklagt, dann lohnt es sich nicht mehr, die große Sünde, den unverbindlichen Sex, zu vermeiden. 59 Was geschieht mit den Menschen, die sich Tag für Tag die größte Mühe geben, immer wieder unter Tränen den Vorsatz fassen, ihre Phantasie zu zügeln und dennoch so oft scheitern, dass sie eines Tages selbst nicht mehr an die Ernsthaftigkeit ihrer Vorsätze glauben können ? Stattdessen fühlen sie sich durch eigenes Verschulden ständig verschmutzt und Glaubensfreude kommt gar nicht mehr auf. Damit sind noch weniger Kompensationsmög­ lichkeiten vorhanden. Ein Teufelskreis entsteht. Die seelsorgerlichen Tatsachen lassen ebenso wie das Faktum, dass keine überzeugende Abgrenzung zur Werkgerechtigkeit vorhanden ist, erhebliche Zweifel an der üblichen Auslegung der Worte Jesu in Mt 5,27-28 entstehen. Betrachten wir doch das Wort “begehren” (grie: επιθυμησαι) in Mt 5,28 ein­ mal genauer ! In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta wird dasselbe Wort im Zehngebot verwendet. Dort bezeichnet das “Begehren” den Willen, etwas in seinen Besitz zu bringen, der sich sowohl auf die Frau des Nachbarn (Septuaginta: επιθυµησεισ την γυναικα), als auch auf sein Haus oder seinen Esel richten kann (2.Mo 20,7). Nicht das “Begehren” an sich ist böse, denn es ist sehr wohl erlaubt, eine Frau für sich, ein Haus für sich und einen Esel für sich zu begehren und zu erwerben. Das Böse besteht darin, dass sich das Begehren auf etwas richtet, was einer anderen Person gehört, die ihr Eigentumsrecht geltend macht. Jesus spricht hier also über die fahrlässige Anbahnung eines konkreten Rechtsbruchs, nicht über sexuelle Phantasien, die um ihrer selbst willen genossen werden. Somit wäre Mt 5,27 besser übersetzt: “wer eine verheira­ tete Frau habgierig anblickt und sie besitzen will…” Doch leidet die bibeltreue Theologie schon seit jeher an einer starken Geringschätzung des Rechts, was darin zum Ausdruck kommt, dass es in den meisten bibeltreuen Gemeinden gar keinen schiedsgerichtlichen Dienst 164 bzw. kein seriöses Schlichtungsverfahren 165 gibt. 164 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Schiedsgerichtlicher Dienst“, (Internet). 165 Siehe die Skizze eines Schlichtungsverfahrens, Seite 156. 60 Dann ist es wenig verwunderlich, dass man die tatsächliche Bedeutung des Wortes “begehren” (grie: επιθυμησαι) übersehen hat. Das Verbot zu “begehren” ist mit anderen Geboten in einem Block zusam­ mengefasst, mit dem Verbot, den Nächsten zu beleidigen, sowie mit dem Verbot zu schwören. Das gemeinsame Konzept ist die Vorbeugung, die Verhinderung der Eskalation. Wenn man von vornherein darauf verzichtet, den Nächsten zu beleidigen, dann wird es zu Tätlichkeiten oder gar zum Mord erst gar nicht kommen. Wenn man von vornherein darauf verzichtet, alles und jedes mit einem Schwur zu bekräftigen, dann muss man nicht befürchten, dass am Ende gar nichts mehr geglaubt wird. Und wenn man den Wunsch nach der Frau des Nächsten sofort niederkämpft, dann kann es gar nicht zum Ehebruch kom­ men. Dieses Gebot wird von Jesus mit äußerster Strenge formuliert. Wenn eine Frau, gläubig und Mitglied einer Gemeinde wird und ihr Ehemann weiter ungläubig bleibt, dann wird sehr bald ihr ungläubiger Partner in Konkurrenz zu Männern in der Gemeinde treten, mit denen sie die wichtigsten und tiefsten Glaubenserfahrungen teilt. Dann ist die Versuchung groß, sich vom ungläubigen Partner zu trennen, von dem man sich nicht mehr verstanden fühlt. Jesus hat aber solche ungleichen Ehen unter seinen besonderen Schutz gestellt: Scheidung ist nicht erlaubt, und wer die Geschiedene heira­ tet, begeht Ehebruch. (Mt 5,32) Hätte Jesus hier nicht so streng formuliert, so würden Männer, die ihre Frauen in die Gemeinde gehen lassen, diese sehr bald verlieren und dann in Zukunft ihre neuen Frauen am Kontakt mit der Gemeinde hindern. Der Schutz vor diesem Unglück muss also zuverlässig funktionieren. Die Androhung der Hölle bezieht sich also gar nicht auf sexuelle Phantasiereisen, die frei vom Wunsch nach tatsächlicher Besitzergreifung sind. Über Hiob, der den begehrlichen Blick auf eine unverheirate (!) Jungfrau als schwere Sünde betrachtete, werden die Ausleger geteilter Meinung sein. Immer wieder haben einzelne Gläubige eine private Einschätzung gehabt, die über das biblisch Gebotene weit hinausgeht. 61 Die genauen Umstände, die Hiob zu seinem Entschluß bewogen haben, sind uns unbekannt. Vielleicht hat er einmal miterlebt, wie kriegsgefangene Mäd­ chen auf dem Sklavenmarkt angeboten wurden. Die Gier der Käufer und das Elend der entwürdigten Frauen mag sich tief in seine Seele eingeprägt haben – sodass er sich fortan um eine Einstellung besonders strenger sexueller Dis­ ziplin bemühte, was so gar nicht in die Zeit der Erzväter passte. In den Erzväterzeiten war Polygamie verbreitet. Warum sollte der verheira­ tete Hiob nicht den Blick auf ein weiteres Mädchen werfen, um sie zu heira­ ten ? Geld genug dafür hatte er. Die anderen Glaubensväter des Alten Testa­ ments, die das getan haben, hatten keine Furcht, deshalb Gottes Gunst zu verlieren. Der Erzvater Jakob hatte 4 Frauen (1.Mo 30,3-10), König David hatte während seiner Fluchtzeit 2 Frauen (1.Sam 25, 43), in Hebron hatte er 4 andere Frauen, wobei unklar ist, ob sie alle gleichzeitig lebten (2.Sam 3,25). König Salomo schrieb das Hohelied zu einer Zeit, als er bereits 140 (in Worten: hundertundvierzig !) Frauen besaß (Hohel.6,8) ! Dennoch sehen etliche aktuelle evangelikale Veröffentlichungen in sexuel­ len Phantasien eine Entwürdigung der Frau und eine Degradierung zum Sexual-Objekt, gar „eine Zerstörung ihrer „Gottesebenbildlichkeit“. Wie immer man das sieht: es entwürdigt die Frau unendlich viel mehr, wenn sie zum Zweck der Triebentsorgung geheiratet wird. Wie oft wer­ den Ehen übereilt - allein aufgrund des sexuellen Motivs - geschlossen zwi­ schen Menschen, die schlecht zueinander passen und sich deshalb ständig auf die Nerven gehen ? Nun sucht man verständlicherweise den wirklich geeigneten Partner, den man aber nach biblischem Recht gar nicht mehr heiraten dürfte. Wird auf diese Weise nicht ein großer Schaden in der Gemeinde und in der Familie angerichtet? Für die Ehre der Frau ist mit einem rigorosen Verbot sexueller Phantasien gar nichts gewonnen. Wenn man alleinstehende Frauen vor die Wahl stellt, ob sie mit ihrer Schön­ heit auf Männer attraktiv wirken wollen oder lieber keinen optischen Ein­ druck hinterlassen wollen, so wird es wohl – abgesehen von Frauen, die üble Erfahrungen mit Sexualität gemacht haben – wohl kaum Frauen geben, die sich auf die Zeit freuen, wenn ihre Schönheit verblüht ist und man nur noch an ihrem inneren Wert interessiert ist. 62 Das Gegenteil ist wahr. Sehr viele Frauen investieren horrende Summen in Kosmetik und Schönheitschirurgie, um den Alterungsprozess zu verlangsa­ men. Das zeigt doch in aller Deutlichkeit, dass eine Frau in der Regel “begehrenswert” erscheinen will – wenn sie sich auch tätliche Belästigung verbittet. Je begehrenswerter sie erscheint, desto mehr Respekt, Aufmerk­ samkeit und Beachtung erhält sie von Seiten der Männerwelt. Wie wird der Wunsch, „begehrenswert“ zu erscheinen, in der Bibel bewertet ? Ein ganzes Buch, das Hohelied, lobt die in erster Linie die körperlichen Merkmale der begehrten Frau in allen Details und diese Frau ist - wie gesagt – nicht die einzige, sondern eine neue Favoritin nach den 140 anderen, die schon dem König gehören. (Hohelied 8,6) Wenn jemand behauptet, dass im alten Testament andere Regeln galten, so ist es inkonsequent, wenn zugleich die Warnung des Hiob, „begehrlich eine Jungfrau anzusehen“ (Hiob 31,2-4) als verbindliches Gebot betrachtet wird. Hätte ein Hiob das Hohelied schrei­ ben können ? Auch die Braut freut sich über ihre Schönheit. Offensichtlich darf sie es. „Meine Haut ist zwar dunkel, braun wie die Zelte der Wüstenbewohner. Dennoch bin ich schön, so wie die wertvollen Zeltdecken Salomos.“ (Hohel. 1,5). Wohl jede Frau, die in den Spiegel schaut, wird froh über ein attrak­ tives Äußeres sein und weniger froh, wenn erhebliche Mängel sichtbar sind. Sollen wir annehmen, dass der Apostel Johannes diese natürliche Sicht, von der auch das Hohelied geprägt ist, kritisieren und als sündig brandmarken wollte, wenn er sagte: „Denn alles, was in der Welt ist: Augen Lust, Flei­ scheslust und hoffärtiges Leben, das stammt nicht vom Vater, sondern von der Welt“ ? (1.Joh 2,16) Hier werden drei Dinge nacheinander genannt, eine bedenklicher als die andere. Die Betonung liegt in diesem Satz auf dem dritten Begriff, dem “hoffärtigen Leben”, dem Hochmut. Leider können die guten Gaben Gottes missbraucht werden. Statt dankbar zu sein und sich über Schönheit als über ein unverdientes Geschenk zu freuen, ist sie für manche Frauen der Anlass zum Hochmut und zur Schadenfreude. Sie genießen es, Männer begehrlich zu machen, um sich dann an ihrer Fru­ stration zu erfreuen bzw. sie gar als zudringlich zu beschimpfen. 63 Es gibt Frauen, die mit Schönheit Macht ausüben und verletzen oder erpres­ sen wollen. Sie entwürdigen damit den Mann und machen ihn zum „Objekt“, zur Zielscheibe eines destruktiven Interesses. Männer können dasselbe tun. Doch ihr maßgebliches Attraktivitätsmerkmal ist die Finanzkraft, mit der sie Macht ausüben und Mitmenschen demütigen können. Beides ist Missbrauch der guten Gaben Gottes, die nicht dem Hochmut die­ nen, sondern in Dankbarkeit und zum Segen der Mitmenschen gebraucht werden sollen. Die Macht, die Schönheit oder Finanzkraft ausüben, setzt voraus, dass sie im Denken des beherrschten Menschen einen hohen Stellen­ wert haben. Wer mit wenig Einkommen zufrieden ist, wer den charakter­ lichen Vorzügen einer Frau sowie der Führung Gottes mehr Bedeutung zuer­ kennt als den Merkmalen idealer Schönheit, der kann sich dem, was in der Welt wichtig ist, entziehen. Er kann nicht beherrscht, erpresst oder verletzt werden. Die folgende Übersetzung bezieht diese Überlegungen mit ein: „Hängt euer Herz nicht an das, was in der Welt ist. Die Gier nach allem, was ins Auge fällt, das Prahlen mit Schönheit und Besitz, all das kommt nicht vom Vater, sondern gehört zur Welt. Die Welt mit ihren verlockenden Angeboten wird vergehen. Wer aber tun will, was Gott gefällt, der wird mit ihm in Ewigkeit leben.“ (1.Joh 2,16-17) Nun ist die Frage, wie erotische Phantasien zu bewerten sind, die nicht mit der Benachteiligung einer konkreten Person verbunden sind. Solche Phanta­ sien treten gewöhnlich im Zusammenhang mit Masturbation auf, über die die Bibel selbst nichts sagt. Evangelikale Autoren wie Tim Stafford sind der Meinung, dass sie als schwere Sünde einzuordnen sind. Er schreibt in seinem Aufsatz “Liebe, Sex und Du”, 166: “Wenn du wohlüberlegt und vorsätzlich eine Frau (oder einen Mann) ansiehst und sie als sexuelles Objekt betrachtest (und evt. gedanklich gebrauchst), ihn oder sie damit menschlich entwürdigst, dann bist du genauso sexueller Untreue schuldig wie jemand, der solche Vorstel­ lungen in die Tat umsetzt.” 166 3.Auflage Wetzlar Schulte und Gerth, 1982, S.118. 64 Genauso schuldig? Wie wer? Mit tatsächlich praktizierter Untreue scheint wohl der vollzogene Ehebruch oder ein Bordellbesuch gemeint zu sein. Hier taucht eine fundamentale Behauptung perfektionistischer Theologie wieder auf: “kleine Sünden wiegen so schwer wie große” 167, die wir bereits mit Hilfe der Heilgen Schrift beurteilt haben. Es ist ein alarmierendes Zeichen, wenn Gemeindelehrer immer noch nicht in der Lage sind, die Destruktivität dieser Behauptung zu erkennen. Ist einem Jugendlichen, der wiederholt masturbiert, wirklich geholfen, wenn ihm bei­ bringt, sich als Verbrecher zu fühlen, der schon mit einem Bein in der Hölle steht ? Bedarf es nur ständiger Drohung und des ständig schlechten Gewis­ sens, um aus ihm eine geheiligte und gereifte Persönlichkeit zu machen ? Ist es wirklich das, was Jesus sagen wollte? Oder beweist diese Interpretation nur einen sicheren Instinkt für die Sexualität als ständig sprudelnde Quelle von Schuldgefühlen, die sich traditionsgemäß vortrefflich nutzen lassen ? Wer spricht eigentlich von seiner Würde und seinen Rechten, wenn er zeitlebens von seinem Gewissen niedergedrückt wird ? Wenn er vielleicht deshalb sogar seine Heilgewissheit und Glaubensfreude verliert ? Varianten dieser absurden Drohung haben sich in der katholischen Kirche bis heute erhalten. So wurde Jugendlichen weisgemacht, dass sie eine “Tod­ sünde” begehen würden, wenn sie masturbiert hatten und anschließend das Abendmahl in Empfang nahmen. Im Fall eines tödlichen Unfalls würden sie sofort in die ewige Verdammnis kommen, wenn sie nicht rechtzeitig ein geweihter Priester in der Beichte von dieser Sünde losgesprochen hätte. Die Verteufelung sexueller Phantasien scheint ein bestens bewährtes Mittel zu sein, um Jugendliche einzuschüchtern und von der unerreichbaren Heilig­ keit der Gemeindeleiter zu überzeugen, die “diese Sünde” natürlich souverän im Griff haben. Dann braucht man über die Unreinheit, die mit miesen Tricks 168, mit Duldung von Unrecht 169 und mit Machtmissbrauch in der Gemeinde verbunden ist, nicht mehr zu sprechen. 167 Siehe unter Stichworte den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet). 168 siehe „Miese Tricks“ im Internet. 169 Siehe unter Stichworte den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet). 65 Das ist übrigens die Unreinheit, vor der die Bibel ganz besonders warnt. Als der Prophet Jesaja den heiligen Gott in einer Vision sah, rief er erschrocken: „Weh mir, ich bin verloren! denn ich habe unreine Lippen und wohne unter einem Volk mit unreinen Lippen; und als unreiner Mensch habe ich habe den König, den allgewaltigen Gott mit meinen Augen gesehen.“ (Jes 6,5). Seine Zunge war das Organ, das ihm seine Unreinheit und Unwürdigkeit besonders bewusst machte. Auch Jesus bezog den Begriff „Unreinheit“ in erster Linie auf die Zunge. „Er rief das Volk zu sich und sagte: Hört zu und begreift es! Was zum Munde eingeht, das verunreinigt den Menschen nicht; sondern was zum Munde ausgeht, das verunreinigt den Menschen...Was aber zum Munde herausgeht, das kommt aus dem Herzen, und das verun­ reinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken: Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung. Das alles verunreinigt den Menschen.“ (Mt 15,10+18-20) Wer Macht missbraucht, braucht dazu miese Tricks 170 – und das sind in erster Linie Zungensünden. Wie selbstverständlich werden sie in vielen Gemeinden verwendet, um Einfluss und Macht zu sichern ! Wo ist denn da das sensible Gewissen geblieben ? Miese Tricks stehen im Widerspruch zu echter Freundschaft und aufrichtiger Liebe. Niemand will selbst so behan­ delt werden. Sie schaden daher der Gemeinde unmittelbar. Stehen manipulative Tricks mit der Würde und Berufung des Gläubigen zum König- und Priestertum in Widerspruch oder nicht ? 171 Kann man jemandem, der manipulative Tricks 172 gegenüber Mitchristen anwendet, wirklich glauben, wenn er beteuert, dass ihm „Reinheit“ oder “Ehrfurcht vor Gott” 173 ein besonderes Anliegen sei ? Vielerorts verbindet die Bibel den Begriff Unreinheit mit unfairem, unge­ rechtem Handeln. "Weil wir nun solche Verheißungen haben, meine Lie­ ben, so wollen wir uns von der Verunreinigung des Leibes und Geistes rei­ nigen und in der Heiligung und Ehrfurcht vor Gott Fortschritte machen. Seht, wie wir es machen: wir haben niemand Leid getan, wir haben nie­ mand verletzt, wir haben niemand übervorteilt.“ (2.Kor 7,1-2). 170 171 172 173 siehe „Miese Tricks“ im Internet. siehe unter „Stichworte“ / „Authorisierung“, (Internet). siehe „Miese Tricks“ im Internet. siehe unter „Stichworte“ / „Ehre“ im Internet. 66 „Wascht und reinigt euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, lasst ab vom Bösen; lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft dem Unterdrückten, schafft dem Waisen Recht, führt der Witwe Sache.“ (Jes 1,16-17) „Jeder von euch wisse, wie er sein Gefäß erwerbe in Heiligung und Ehren, nicht in sexueller Gier wie die Heiden, die von Gott nichts wissen; und dass nie­ mand zu weit greife und übervorteile seinen Bruder im Handel; denn … Gott hat uns nicht berufen zur Unreinigkeit, sondern zur Heiligung.“ (1.Thes 4,4-7) Die Gemeinde wird durch Duldung von Unrecht zwischen Geschwistern auf Dauer stark verunreinigt: ein Gottesdienst ist nach biblischer Ordnung eigentlich nicht mehr zulässig. “Was zertrampelt ihr meine Vorhöfe… ihr kommt zu den Festen zusammen, aber ich verabscheue sie… betet soviel ihr wollt: ich werde nicht zuhören… lernt wieder Gutes zu tun ! Setzt euch ein für eine gerechte Rechtsprechung, helft den Rechtlosen, den Witwen und Waisen gegen ihre Bedränger!” (Jes 1,12 ff) Angesichts der Tatsache, dass die nahezu “völlige Aushöhlung des christ­ lichen Rechtsbewusstseins” (Prof Th. Schirrmacher) in evangelikalen Gemeinden weithin üblich geblieben ist, ist ein “ernsthaftes Bemühen um Reinheit” nicht glaubhaft. Der Eindruck drängt sich immer wieder auf, dass man nicht um der Reinheit oder Ehrfurcht vor Gott willen an einer rigorosen Verdammung des sexuel­ len Verlangens festhält, sondern weil sie ein erprobtes Instrument ist, um ein reformfreudiges Kirchenvolk, insbesondere Jugendliche in die Defensive zu drängen. Was die frommen Moralprediger im Privaten tun, wie ernsthaft sie tatsächlich sexuelle Askese praktizieren, bleibt unbekannt. Allen sichtbar und auch leicht zu ändern wäre die Gleichgültigkeit gegenü­ ber Unrecht und die Änderung unfairer Strukturen – nämlich per Abstim­ mung in der Gemeindeversammlung. Doch es geschieht – wie bereits gesagt – fast nichts. 67 Natürlich ist auch der Missbrauch der Sexualität Unreinheit. Wenn Paulus als Werke des Fleisches aufzählt „Hurerei (πορνεια), Unreinigkeit (ακαθαρσια), Ausschweifung (ασελγεια)“ (Gal 5,19), so sollten wir uns darum bemühen, den Missbrauch deutlich zu erkennen, auch wenn er in ganz unterschiedlichen Formen auftritt, auch wenn er vielleicht inzwischen in Gesellschaft oder sogar in der Gemeinde akzeptiert ist. Offenkundiger Missbrauch wird immer zum Nachteil einer Person sein, d.h. die Rechtssphäre berühren. Missbrauch ist schon eine triebhafte Grundein­ stellung, die den Menschen antreibt, quasi „auf die Jagd“ zu gehen, um eine ergiebige „Jagdbeute“einzufangen, Missbrauch ist, einen Partner zu suchen, um seinen Triebstau „legal“ entsorgen zu können, Missbrauch ist das Über­ trumpfen eines Konkurrenten durch Herzeigen materieller Vorteile, Miss­ brauch ist das Ausnutzen der Unerfahrenheit oder Unwissenheit einer Part­ ners, der den Entschluss zu Ehe vermutlich bald bereuen wird, Missbrauch ist das Ausnutzen des Leichtsinns oder der Abenteuerlust eines Menschen (1.Tim 3,6), Missbrauch ist die Verleitung zu sexuellen Beziehungen, die nach dem Neuen Testament unzulässig sind (Rö 1,27 / 1.Kor 5,1), Miss­ brauch ist das Anlocken und Begehrlich-machen eines Menschen , um ihn abzuweisen und sich an dessen Enttäuschung zu erfreuen, Missbrauch ist das Versagen ehelicher Hingabe, um materielle Leistungen vom Partner zu erpressen, Missbrauch ist Sexsucht in der Ehe, die den Partner überfordert, Missbrauch ist die Inanspruchnahme erotischer Dienstleistungen sowie natürlich auch Seitensprünge („Fremdgehen“) und unverbindlicher Sex („für eine Nacht“). Auch der Bruch des Treueversprechens und der Wechsel zu einem neuen Partner, der mehr materielle Vorteile bietet, gehört zum Missbrauch der Sexualität. Ob eine erotische Phantasie nun bloße Unvollkommenheit oder schlimme Sünde ist, wird immer umstritten bleiben. Tatsache ist: wenn man beginnt, auf miese Tricks in der Gemeinde zu achten, so wird man bald erstaunt fest­ stellen, wie groß die Toleranz für Unreinheit dieser Art in vielen „bibeltreuen“ Gemeinden ist. 68 Das Wort Jesu vom „Mücken aussieben, aber Kamele verschlucken.“ (Mt 23,24) passt hier sehr gut. Schon aus diesem Grunde wirkt der Versuch, sexuelle Perfektion durch Androhung der Höllenstrafe zu erzwingen, sehr fragwürdig – zumal über die unbedingt notwendige Abgrenzung zur Werkgerechtigkeit kaum oder gar nicht nachgedacht wird. Muss man blind gegenüber der Tatsache sein, dass vorehelicher Geschlechtsverkehr unter Jugendlichen längst zur „Norm“, zum „Selbster­ fahrungsangebot“ geworden ist und auch für die Jugendlichen in der Gemeinde eine große Verführung darstellt? Entsprechend groß ist die Bedeutung, die der Masturbation einschließlich erotischer Phantasien als Entlastungsmöglichkeit zukommt. Masturbation hat eine deutlich vorbeu­ gende Wirkung. Und Vorbeugung ist die Absicht Jesu hinter den durch die Formel „Ich aber sage euch“ eingeleiteten Verboten des Hassens, des Schwörens und des Ehebrechens (Mt 5, 21 ff) Das Denken perfektionistisch orientierter Bibelausleger ist von Angst bestimmt. Angst macht blind, blind auch für die kontraproduktive Wirkung der verschrobenen Bibelauslegung. Nur das sterile, perfektionistische Ideal interessiert, das aus dem Buchstaben der Bibel heraus konstruiert wurde und am lebensfördernden Sinn der Bibel (Mt 4,4) vorbeigeht. Für den, der sich nicht in diese Panik hineinziehen lässt, ist es nicht schwer, die Unsinnigkeit der Argumentation zu erkennen: Etliche Gläubige begrün­ den das Masturbationsverbot mit der Pflicht des Christen, „selbstlos“ zu sein. Masturbation sei schon deshalb „Sünde“, weil sie „auf die eigene Person und nicht auf den Partner gerichtet“ ist. Mit anderen Worten, der Gläubige sündigt nur deshalb nicht beim sexuellen Erlebnis, weil sein Motiv allein die Förderung der Lust des Ehepartners sei ! Wie blind, wie realitätsfremd und scheinheilig ist diese Argumentation, die auf den ersten Blick so „heilig“ aussieht und immer wieder gedankenlos nachgeplappert wird! 69 Auch der nach biblischen Maßstäben untadelige Geschlechtsverkehr nicht ohne ein deutliches sexuelles Eigeninteresse vollzogen., das sich u.a. in den lebenslangen finanziellen Verpflichtungen widerspiegelt, die mit einer Ehe verbunden sind und gewöhnlich nur für diesen Zweck investiert werden. Gibt es tatsächlich verheiratete Gläubige, die das Bedürfnis nach sexueller Vereinigung mit ihrem Partner entrüstet als sündige Versuchung von sich weisen, weil sie bei sich ein bisschen „sexuelles Eigeninteresse“ feststellen ? Gibt es tatsächlich Prediger, die vor dieser furchtbaren „Verunreinigung“ in der Ehe warnen ? Warum ist man denn hier so merkwürdig stumm, wenn sexuelles Eigeninteresse „sündig“ ist ? Dieses Eigeninteresse ist folglich nicht nur bei der Masturbation, sondern genauso innerhalb der Ehe erlaubt und neben diesem Eigeninteresse hat auch das Interesse am Partner und die Rücksichtnahme auf ihn Bedeutung. Lassen wir die Bibel zu Wort kommen. Was sagt Paulus dazu? Dein Begeh­ ren, lieber Christ, ist höchst einseitig, und deshalb gefährliche, verdammens­ werte Sünde? Im Gegenteil, er empfiehlt dem anderen Partner - wo immer es ihm emotional möglich ist - großzügig zu sein und sich nicht zu versagen. Er empfiehlt, dass sich „nicht ein [Partner] dem anderen entziehen“ soll. (in 1Kor 7,5) Das kann ja nur bedeuten, dass eben nicht beide wollen, dass nur einer will. Und das soll nun der „Selbstlose“ sein, der nur die Befriedigung seines Partners im Sinn hat? Das ist doch das genaue Gegenbeispiel! Ob es dem „Schriftgelehrten“ weiterhilft? Indem „strenggläubige“ Christen immer wieder das Märchen von der Sexua­ lität als selbstloser Glanzleistung erzählen, machen sie dem Gläubigen auch noch die Freude am erlaubten Geschlechtsverkehr kaputt. Sie kann ja nichts anderes als verwerflicher Egoismus sein. Auch die bereits zitierte Behauptung, der Gläubige würde mit sexuellen Phantasien einen Menschen „entwürdigen“ und „zum Objekt degradieren“ oder gar ihre „Gottesebenbildlichkeit“ zerstören, hat ein ähnliches Niveau. Mit ein wenig gesundem Menschenverstand kann man eigentlich erkennen, dass Phantasie und Realität zwei voneinander weitgehend unabhängige Bereiche sind und die Gesetze, die in der Realität gelten, nur sehr begrenzt für die Phantasie gültig sind. 70 Der Gläubige kann durchaus in seiner Phantasie eine Torte, die im Schau­ fenster eines Konditoreigeschäftes zu sehen ist, genussvoll verspeisen, ohne sich hinterher auf dem Polizeirevier wegen Diebstahls anzeigen zu müssen. Und wenn der Gläubige in seiner Phantasie nach Israel reist und sich ohne Pass ins Land begibt, hat er damit gegen gültige Passbestimmungen versto­ ßen? Muss er dann anschließend zum Passamt, um seinen Pass nachstempeln zu lassen? Oder wenn er sich vorstellt, als Kapitän vor der Küste von Kanada zu fischen, obwohl dort zur Zeit ein Fangverbot gilt, hat er damit gegen geltendes Seerecht verstoßen? Auch wenn er sich diese Fische, die er in seiner Phantasie dort gefangen hat, nach Farbe, Form und Geruch sehr realistisch vorstellt, kann er sie leider nicht zurückgeben und muss es auch nicht. Eine sexuelle Phantasie, die um ihrer selbst willen genossen wird, bezieht sich sowenig auf eine konkrete “Person”, wie sich die anderen Phantasien auf einen konkreten Pass oder einen konkreten Fisch beziehen. Die Phanta­ sie erschafft für die begehrte Frau eine fiktive Zwillingsschwester, die ihr bis aufs Haar genau gleicht und stellt sich schöne Szenen vor, die mit dieser nicht existierenden Zwillingsschwester zusammen erlebt werden. Wie kann man dadurch ein “Recht” einer konkreten Person verletzen ? Nicht einmal ein “Copyright” auf die äußere Erscheinung gibt es. Die Panik, man hätte irgendeine konkrete Person “erniedrigt und misshan­ delt”. wenn man sich mit einer gedanklichen Kopie romantische Szenen einer Ehe einschließlich des sexuellen Erlebnisses in der Phantasie vorstellt, ist überflüssig und absurd. Auch die Diskussion, ob nur ledige Gläubige sol­ che Phantasien haben dürfen, ist überflüssig. Einer fiktiven „Zwillings­ schwester“ kann keine Zeit bzw. jede fiktive Zeit zugeordnet werden, also auch eine Zeit vor der Eheschließung. Wichtige Ausnahme: wenn die Phantasie von Überlegungen begleitet ist, wie man eine tatsächliche (!) unerlaubte sexuelle Beziehung herstellt, dann ist die Rechtssphäre berührt. In diesem Fall darf der Gläubige nicht fahrläs­ sig sein. Um das Hineinrutschen in den Ehebruch zu verhüten, sollte er seine Phantasie sofort stoppen, denn die Folgen können verheerend sein.. 71 Für alle drei Beispiele, das Beleidigen, das Schwören und der Flirt mit der Frau, die zu jemand anderem gehört, gilt die abschließende Warnung Jesu: Fahrlässigkeit ist so gefährlich, dass mancher im Blick auf die Folgen sagen wird: hätte ich mir doch besser rechtzeitig mein Auge, die Hand herausgeris­ sen ! Sehen wir einmal genau hin ! Im ersten Beispiel warnt Jesus vor dem belei­ digenden Wort. Man nennt den anderen „Idiot“ (Mt 5,22), weil er sich nicht den eigenen Vorstellungen gemäß verhalten hat. Man ist enttäuscht und kri­ tisiert nicht das Verhalten, sodass der andere als Mensch, als Bruder im Blick bleibt. Stattdessen wird er als minderwertig „eingestuft“. Man sieht in ihm letztlich nur ein störendes „Objekt“, das zur Seite treten soll. Der Beschimpfte ist verletzt und wehrt sich. Das wiederum verletzt den Beleidi­ ger, der sich im Recht fühlt und seine Überlegenheit mit schärferen, noch beleidigenderen Worten behaupten muss. So eskaliert die Situation. Am Ende sieht man im Bruder den Gottlosen, man wünscht ihm die Hölle. Manchmal ist auf diese Weise tatsächlich eine lebenslange, unheilbare Feindschaft entstanden, in der jeder versucht, dem anderen nach Kräften zu schaden: die Hölle auf Erden. Wie heilsam ist da der Rat Jesu: schimpfe nicht fahrlässig! Ja, sei noch wachsamer und hüte dich schon vor dem Zorn über den Bruder, der sich in dir regt und die Herrschaft ergreifen will. Er hätte auch sagen können: beiße dir auf die Zunge! Oder schärfer noch: hät­ test du dir doch rechtzeitig die Zunge herausgerissen! Jakobus nennt die Zunge 174 das Organ, das „vom Feuer der Hölle entzündet ist“. (Jak 3,6) Dennoch ist Zorn nicht immer etwas Böses. Jesus wurde zornig (Mk 3,5 / Joh 3,14 ff). Auch der Apostel Paulus konnte zornig werden (Apg 17,16). In der Offenbarung bitten die Märtyrer Gott, das Unrecht, das ihnen angetan wurde zu rächen, und Gott kritisiert diesen Wunsch nicht als lieblos oder gehässig, sondern erfüllt ihn. (Offb 6,10) Jesus griff die Pharisäer an und identifizierte sie als „Heuchler“ (Mt 23,14), „Narren“ (V.19), „getünchte Gräber“ (V.27) und „blinde Blindenführer“. (Mt 15,14), um vor ihnen zu warnen. Der Apostel Paulus redete den Zaube­ rer Elymas, der die Bekehrung des Statthalters zu verhindern versuchte, als “Kind des Teufels“ an (Apg 13,10) Paulus identifizierte die Prediger der Werkgerechtigkeit als „Hunde“ und „bösartige Mitarbeiter“ (Phil 3,2), vor denen sich die Gemeinde zu hüten habe. 174 Siehe unter „Was ist Irrlehre ?“, Nr.2 (Internet). 72 Wir sehen daran, dass das perfektionistische Ideal der totalen Reinheit von Zorn und negativen Gefühlsaufwallungen bei Jesus gar keine Rolle spielt. Die Schärfe der Formulierung macht nur deutlich, wie überaus wichtig Jesus die Vorbeugung ist. Wer das nicht einsehen kann, dem müssen wir das Wort Jesu entgegenhalten: „Andererseits steht auch geschrieben…“ (Mt 4,4) Im zweiten Beispiel, in dem Jesus vor dem leichtfertigen Schwören warnt, geht es immer noch um den Missbrauch der Zunge. Auch hier stellen wir durch Vergleich mit anderen Bibelstellen fest, dass ein perfektionistisches Ideal, nämlich der gänzliche Verzicht auf das Schwören, gar keine Rolle spielt. Andernorts hat Paulus sich mit einer Eidesformel auf Gott berufen, wenn ihm die Sache wichtig genug erschien: „Gott ist mein Zeuge!“ (Rö 1,9 / 2.Kor 1,23 / Phil 1,8 / 1.Thes 2,5) Nun wird von gläubigen Christen kaum oder gar nicht mehr geschworen, sodass man auf die Idee kommen könnte, dass sich diese Warnung nur auf eine uralte Unart der Pharisäer bezieht, die heute keine Bedeutung mehr hat. Ein folgenschweres Missverständnis ! Schwören ist ja nichts anderes als der leichtfertige Gebrauch des Namens Gottes, für den schon das Zehngebot besondere Bestrafung androhte (2.Mo 20,7). Wie sehr hatten die Apostel doch gegen schlechte Hirten zu kämpfen, die die Gemeinde ausnutzten (2.Kor 11,20), sich als über den anderen stehend ansahen (10,12) oder gar ein anderes Evangelium verkündigten, das besser mit der damals gültigen mosaischen Tradition harmonierte. (11,4) ! „Die Gemeinde Jesu geht nicht an der Anfeindung von außen, sondern an der Fülle der unberufenen Predi­ ger zugrunde“. Ein wahres Wort! Was ist das für eine Verantwortung, wenn jemand mit seiner Predigt Gläubige zu einem kraftlosen und fruchtlosen Glauben verleitet (Tit 1,16 / Offb 3,16)., wenn er den schmalen Weg breit macht, um möglichst viele „Bekehrte“ vorzeigen zu können. Jesus warnt im Zusammenhang mit dem Missbrauch des göttlichen Namens nicht vor der Hölle, denn Prediger sind ohnehin einem “strengerem Urteil” unterworfen. (Jak 3,1). Wenn vor der Hölle schon anlässlich der Beschimp­ fung gewarnt wird, dann wird sie auch bei missbräuchlicher Predigt eine Rolle spielen. Von den Pharisäern und Schriftgelehrten sagt Jesus, dass sie die Menschen, die sie bekehren, „zu Anwärtern auf die Hölle machen“ (Mt 23,15) 73 Andererseits wird der Gläubige ermutigt, Gott zu bezeugen, und Menschen auf den Glauben hinzuweisen. „Die vielen Menschen den Weg zur Gerech­ tigkeit gezeigt haben, werden leuchten wie die Sterne für immer und ewig“ (Dan 12,3) Es ist wunderbar, im Himmel Menschen zu treffen, die mit Hilfe des eigenen Dienstes dorthin gekommen sind. (Hebr 2,13) Wie freute sich die Apostel über jeden, dem sie den Weg zu Jesus zu zeigen konnte. Über all diese Menschen freuten sie sich, wie sich ein Vater über seine Kinder freut (1.Kor 4,14 / 2.Joh 1,1 / 3.Joh 1,4). Da es zu den beiden vorangegangenen Maßnahmen trotz der schroffen und absolut klingenden Formulierung Ausnahmen gibt, so ist nicht einzusehen, dass nun bei dem dritten Verbot, nach der Frau des Nächsten zu streben, ein perfektionistisches Ideal hineingelesen werden muss bzw. keine Ausnahmen geben kann. Jesus selbst nennt im Zusammenhang mit dem Scheidungsver­ bot eine Ausnahme, die für eine vorbeugend wirkende “Gemeindezucht” 175 große Bedeutung hat. Auch bei dem Thema “Ehebruch” geht es wieder um Vorbeugung. Natürlich ist es denkbar, dass eine Phantasie ohne weitere Vorbereitung direkt in die Tat der Vergewaltigung umschlägt. Auch das gibt es. Doch die­ ser Spezialfall bleibt in diesem Text ganz außer Betracht. Hier geht es um das „Erwerben“, das vielleicht sogar den Schein der Ehrbarkeit haben kann. Dazu ist sind viele kleine Schritte zu gehen. Immer wieder ist eine neue Ent­ scheidung zu fällen, damit der Wunsch Realität werden kann. Man überlegt sich und versucht es herauszubekommen: was sind die Interessen der Frau? Findet sie ihren Mann noch attraktiv? Hat er irgendeine Verhaltensweise, die sie erheblich stört ? Wie kann man sich als attraktive Konkurrenz präsentie­ ren ? Wie kann man mit ihr in Kontakt kommen, ihre Aufmerksamkeit erwecken? Welche Möglichkeiten gibt es, häufig in ihrer Nähe zu erscheinen ? Wie kann man sich am besten mit dem Mann anfreunden, um in die Position eines „Hausfreundes“ zu gelangen ? So geht es weiter und weiter. Die Phan­ tasie ist längst zur Obsession geworden. Was kann am Ende stehen? Vielleicht die Zerstörung der Ehe, vielleicht sitt­ liche Verwilderung der Kinder, vielleicht unheilbare Depression, vielleicht Selbstmord, vielleicht die lebenslange Schande, mit seiner Geilheit einen Menschen ruiniert zu haben, vielleicht ein für immer verkrüppeltes Glau­ bensleben und Liebesunfähigkeit. 175 Siehe „Stichworte“, (Internet). 74 So mancher wird Jesus im nachhinein zustimmen: der Verlust eines Auges wäre besser für mich gewesen als diese Hölle. Es obliegt nun der Verantwortung des einzelnen, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein. Bringt mich die Phantasie zu diesen kleinen praktischen Über­ legungen oder ist sie eher eine Entlastung des sexuellen Triebstaus ? Im ersten Fall ist sie gefährlich und sofort abzustellen. Im zweiten Fall macht es keinen Sinn, sich perfektionistischer Selbstzerfleischung hinzugeben. Diese Selbstquälerei bringt überhaupt keine geistlichen Früchte zustande. Genau so schlimm wie die ständige Erpressung durch das schlechte Gewis­ sen ist die positive Version der Werkgerechtigkeit. Man hätte dank seiner Selbstbeherrschung Grund, “sich zu rühmen” (Eph 2,9) und würde sich über andere stellen, die weniger erfolgreich sind. “Lieber Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie…” (Lk 18,11). Gerade damit würde man sich besonders schwer versündigen und den Wahn vom eigenen Beitrag zu Erlö­ sung fördern. Alles, was nicht aus der Liebe kommt, ist Sünde. (1.Kor 13,1 ff) Damit nicht der Teufelskreis der Werkgerechtigkeit in Gang gesetzt wird, müssen wir zwischen wirklicher Sünde und dem, was unvollkommen und unter Gottes Geduld ist, unterscheiden. Fasten um des Reiches Gottes willen ist gut und mit besonderen Erfolgen gesegnet (Mt 17,21). Dennoch kann man Fasten nicht erzwingen. Auch dass der Gläubige alles verschenkt, was er hat, lässt sich nicht erzwingen, obwohl es natürlich gut wäre, möglichst vielen Menschen zu helfen. Er darf in der Freiheit 176 Gottes sich frei entscheiden und ohne Furcht unter Gottes Geduld leben. Dasselbe gilt für sexuelle Phantasien. Würde man eine sexuelle Phantasie, die um ihrer selbst willen genossen wird und nicht die Rechtssphäre berührt, als Sünde werten, so wäre damit bei vielen Gläubigen an Reinheit nichts gewonnen. Stattdessen würde wieder und wieder Werkge­ rechtigkeit die Seele verschmutzen und vergiften. Wenn wir zur Werkge­ rechtigkeit nur dann eine klare Abgrenzung ziehen können, wenn wir solche Phantasien als bloße Unvollkommenheiten unter Gottes Geduld bewerten, so müssen wir dies tun. 176 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen, (Internet). 75 Denn wir müssen “in der Freiheit, zu der Christus seine Jünger befreit hat, bestehen“. Wir dürfen uns „nicht wieder unter das knechtische Joch bege­ ben” (Gal 5,1). Ob das Joch “knechtisch” genannt werden muss, das können wir an den Früchten erkennen - an der Wirkung auf die Seele, auf den Cha­ rakter und das geistliche Leben. Werkgerechtigkeit 177 ist heilsgefährliche Unreinheit. Das ist unumstößliche Tatsache, obwohl sie stets unter der Maske bewunderswerter “Heiligkeit” auftritt. Alles, was aus diesem Motiv getan wird, ist destruktiv. Es sind „tote Werke“, über die Gottes Wort sagt: „Wie viel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst ohne allen Fehl durch den ewigen Geist Gott geopfert hat, unser Gewissen reinigen von den toten Werken, zu dienen dem lebendigen Gott!“ (Hebr 9,14) Aus all diesem kann man auch einen Umkehrschluss ziehen und damit auch dem Gebot in seiner strengsten Form, so wie es Hiob verstand, einen überge­ ordneten und lebensfördernden Sinn (Mt 4,4) verleihen: gerade weil das Verbot “nicht begehrlich auf eine junge Frau zu blicken“(Hiob 31,2-4) so sinnlos und der menschlichen Natur so zuwider ist, gerade weil es eine sol­ che unverständliche Zumutung ist, ist es trotzdem eine Gelegenheit, Gott Vertrauen zu beweisen. Paulus redet davon, dass er “seinen Leib betäubt und zähmt, um nicht den anderen zu predigen, und selbst zu versagen.” (1.Kor 9,27). Zweifellos ist freiwillige (!) sexuelle Enthaltsamkeit ein äußerst hilfreiches Mittel, um sich aus der Verstrickung durch das Materielle zu lösen. “Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist.” (Kol 3,2) Sie wird auch besonders belohnt, denn sie ist ja ein Vertrauensbe­ weis. Im Alten Testament gibt es dazu eine Parallele. Gott lobt das Verhalten der Rechabiter, die allein deshalb auf Weingenuss verzichten, weil es ihr Stammvater geboten hat und Er belohnt ihre Treue. (Jer 35) Freiwillige sexuelle Enthaltsamkeit ist zudem ein Schutz vor der Gefahr der Sexsucht, die der charakterlichen Entwicklung schadet. “Alles steht mir frei, aber nicht alles ist förderlich. Alles ist mir erlaubt, aber ich darf mich von nichts beherrschen lassen.” (1.Kor 6,12 NeÜ) 177 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen, (Internet). 76 Jesus will, dass seine Jünger freie 178 Persönlichkeiten werden. Ihre Seele soll stark und gesund und fähig zur Selbstdiziplin sein. Das freiwillige Zurückdrängen sexueller Bedürfnisse wirkt sich zweifellos sehr positiv auf das geistliche Wachstum aus – ebenso wie jede andere Ein­ schränkung, die man aus Liebe zu Jesus, seinem Meister, auf sich nimmt. Das ist eine unumstößliche Tatsache: Je mehr man in den Glauben investiert, desto kostbarer wird er. Das Kennzeichen starker Liebe ist freudige Hingabe. Dieses Ziel sollte kein Christ verpassen! Denn die Alternative ist ein verkümmernder und kranker Glaube. Gesunder Glaube lässt sich von der Frage leiten: “Womit kann ich meinem Herrn und Retter am meisten Freude machen ?” Wie freut es Jesus, wenn seine Kinder erkennen, dass das unsichtbare Reich Gottes viel mehr Aufmerksamkeit und Interesse verdient als alle materiellen Güter ! Ihm Freude machen wollen, kann aber nur der, dem der Glaube selbst Freude macht. Ein gequältes und überfordertes Gewissen kann diese Frage nicht stellen. Dieses Ziel wird auch durch eine Gemeindeleitung untergraben, die ihre Macht missbraucht, sich an der Unmündigkeit und Abhängigkeit der Gläu­ bigen nicht stört und ihnen die Rechte 179 selbstherrlich verkürzt, die sie gemäß der Bibel haben sollen. 5. Behauptung: “Je mehr du für Gott an Geld und Zeit opferst, desto mehr wirst du in diesem Leben an materiellem Wohlstand zurückbe­ kommen.” Das ist doch der wortwörtliche Sinn des folgenden Bibelwortes ! “Bringt mir den Zehnten ganz in mein Kornhaus, auf dass in meinem Hause Speise sei, und prüft mich hierin, spricht der Herr Zebaoth, ob ich euch nicht des Himmels Fenster auftun werde und Segen herabschütten die Fülle.” (Mal 3,10) Mit Segen darf der Gläubige rechnen. Daran ist nicht zu zweifeln ! Doch wie sieht dieser Segen aus ? Wird er in klingender Münze ausgezahlt ? 178 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen, (Internet). 179 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Authorisierung des Christen“, (Internet). 77 Soll man wirklich glauben, dass Gott hier an Habgier und Geldliebe appel­ liert und dem auf materiellen Wohlstand fixierten Gläubigen, der sein Geld inzwischen in Immobilien, Wertpapieren, Edelmetallen, Versicherungen usw. angelegt hat, eine weitere lukrative Anlagemöglichkeit schmackhaft machen will: die Einzahlung auf die Himmelsbank als “todsicherer Tip”, um noch mehr Geld in die Kasse zu bekommen ? Kennt man Jesus wirklich so schlecht ? Lässt er sich wirklich vor den Karren eigensüchtiger und primitiver Wünsche spannen ? Er, der seine Jünger ein­ dringlich ermahnte, sich “nicht Schätze auf Erden zu sammeln, die von Die­ ben gestohlen werden können” (Mt 6,19), und sie warnte “Hütet euch vor Habsucht, denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat” (Lk 12,15) und darauf das Gleichnis vom reichen Kornbauern erzählte ? Es ist schlecht, wenn der Gläubige Menschen Freundlichkeit erweist und das Motiv nicht Liebe sondern frommer Eigennutz ist. Soll Gott das wirklich noch belohnen? Mit dem Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner (Lk 18,10) zeigt Jesus: der Pharisäer, der mit seinem Zehntenopfer prahlt und mit Belohnung rechnet, verliert am Ende alles, selbst die Gerechtigkeit vor Gott! Welch schrecklicher Irrweg! Wie seltsam, dass so viele Gläubige es nicht erkennen können: Auch diese (optimistische) Form der Werkgerechtigkeit ist völlig wertlos, ja sogar schädlich. Diese Einstellung ist von der echten Liebe, die uneigennützig und ohne Berechnung ist (1.Ko 13,5), weit entfernt. (Lk 18,10 ff) Sie verdirbt den Charakter, macht berechnend und sicherlich niemanden froh. Werkgerechtigkeit ist Aberglaube. Der “Gläubige” ist der Überzeugung, den allmächtigen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, durch sein Ver­ halten zum eigenen Vorteil beeinflussen und lenken zu können. Genauso gut kann man sagen, der Gläubige versucht, sich den Schöpfer des Universums mit Wohlverhalten zu kaufen. Werkgerechtigkeit ist immer ein frommer Handel. Wenn man sich – wie gewünscht wird – verhält, dann – so glaubt man, erwirbt man einen Anspruch auf die Gegenleistung Gottes, die in die­ sem Leben in materiellem Glück und nach dem Tode im Erwerb der ewigen Glückseligkeit besteht. 78 Selbstgeschaffene “eigene Gerechtigkeit” wird leider von etlichen Gläu­ bigen gar nicht als Sünde erkannt – besonders wenn die Gemeindelehre an diesem Punkt blind ist. Naiv glaubt man, dass der Wille nicht vom Sündenfall vergiftet worden sei, sondern eine “neutrale Zone” geblieben sei. Manche Gläubige halten sogar die “emotionale Zone” für neutral. Nur die Verstandeskraft soll tief gefallen und verdorben worden sein, weshalb man sich auch wünscht, dass Gläubige den Verstand sparsam benutzen 180 und Theologen und der Tradi­ tion “in blindem Vertrauen folgen“ (Mt 15,14) . Eine wahrer Aberglaube des guten Willens, dessen Verstrickung in sündige Motive nicht durchschaut wird. Optimistische Werkgerechtigkeit ist auch deshalb gefährlich, weil sie – bei plötzlicher Selbsterkenntnis – in Pessimismus 181, Verzweiflung und Angst um das Heil übergehen kann. Die Kirche hat ständig hohen Geldbedarf, und da interessiert das Faktum , dass genug Geld kommt, mehr als die Frage, auf welche Weise es zusam­ mengekommen ist. Verständlicherweise wird nur sehr zurückhaltend oder gar nicht vor einer werkgerechten Motivation beim Geben gewarnt. Etwaige Bedenken lassen sich sehr leicht mit der Berufung auf die wortwörtliche Interpretation von Mal 3,10 zum Schweigen bringen. Unlängst verkündete es wieder ein Fernsehprediger: “Ich hab noch nie gese­ hen, dass jemand Gott gerne geopfert hat und nicht von Gott materiell belohnt worden ist. Geben zahlt sich immer aus, vorausgesetzt dass der Gläubige ein Leben im Gehorsam gegen Gott lebt.” Nun, das klingt sehr glaubensstark und entspricht sicher auch dem wortwörtlichen Verständnis von Mal 3,10. Doch wenn er noch nie gesehen hat, dass gebefreudige und treue Christen finanziell ärmer werden können, dann hat er wirklich noch nicht viel gese­ hen in seinem Leben. Oder er hat weggesehen, bei allem, was nicht zur eige­ nen Ansicht passte. 180 Siehe Seite 142. 181 Siehe Seite 171. 79 Treue Christen werden genauso von Erdbeben betroffen und ruiniert wie ihre nicht-christlichen Nachbarn. Viele Christen in Nigeria z.B. sind genauso von Dürrekatastrophen und Missernten betroffen wie ihre nicht-christlichen Nachbarn. Ob sie viel oder wenig geben – sie werden durch ihre Gaben nicht in den Wohlstand katapultiert. (Worin der Segen besteht, wird im Kommen­ tar zur nächsten Behauptung ausgeführt.) Natürlich steht auch hierfür eine theologische “Erklärung” bereit: wenn die Verheißung des Segens nicht erfüllt worden ist, wenn Christen leiden, hun­ gern oder verhungern – dann haben sie eben heimliche Sünde in ihrem Leben geduldet und sind zu wenig gehorsam gewesen…” Tatsächlich ? Eine “Erklärung”, die umstritten bleiben wird. Manchem erscheint sie sehr plausi­ bel, andere – die sich besser informieren – werden sie als unbarmherzig und unfair empfinden. Der Gläubige hört gerne Botschaften, die hohe Erwartungen wecken. Wenn es doch so einfach wäre, dass Gott das Opfer von Zeit und Geld schon in diesem Leben mit reichem materiellem Segen, beruflichem Erfolg und Erfül­ lung der eigenen Wünsche belohnt ! Mit diesen Erwartungen kann so manche Kirche Kasse machen, da negative Berichte über enttäuschte Hoffnungen als Beweis für die Sündhaftigkeit des Betroffenen gesehen werden und deshalb nur selten zur Sprache kommen. Und selbst wenn es viele ehrlich bekennen würden, man würde sie nicht anhören. Besonders unverfroren trieb es ein Prediger, der auf seinem Werbeprospekt einen speziellen Segen versprach, falls die genannte Spende bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auf seinem Konto eingegangen sei. Was sagt die Heilige Schrift? “Etliche Gläubige haben die Erfüllung des göttlichen Versprechens zu Lebzeiten nicht erlebt.” (Hebr.11,39) Gott lässt sich nicht manipulieren. Jesus lässt sich nicht kaufen ! Seine Ehre und Würde wäre dadurch beschmutzt. Doch mit dem Segen, darf der Gläubige, der mit dem Motiv der Liebe und Barmherzigkeit gibt, fest rechnen. 80 Jesus versicherte, dass Gott Treue belohnt. (Luk 19,12 ff). Berechenbar ist die Belohnung nicht. Sie ist wie das geistliche Leben “in Gott verborgen.” (Kol 3,3) Am Ende wird man es sehen: Gott macht einen “Unterschied zwi­ schen dem Gläubigen, der ihm treu gedient hat, und dem, der es nicht tat.” (Mal 3,18) So kann der Gläubige uneigennützig lieben um der Liebe willen, ohne dabei auf den Lohn und den eigenen Vorteil zu schielen. Ihm genügt die pauschale Verheißung, dass Gott eines Tages dafür sorgen wird, dass er am Ende nicht der Dumme ist. 6. Behauptung: Wer seiner Gemeinde nicht den Zehnten seines Einkom­ mens spendet, ist verflucht und wird mit finanziellen Einbußen rechnen müssen. Steht das nicht wörtlich in der Bibel? “Ist’s recht, daß ein Mensch Gott täuscht, wie ihr mich täuscht? Ihr entgegnet: “Womit täuschen wir dich?” Ich sage euch: Am Zehnten und Hebopfer. Darum seid ihr auch verflucht, dass euch alles unter den Händen zerrinnt; denn ihr täuscht mich allesamt. Bringt mir den Zehnten ganz in mein Kornhaus, auf dass in meinem Hause Speise sei, und prüft mich hierin, spricht der Herr Zebaoth, ob ich euch nicht des Himmels Fenster auftun werde und Segen herabschütten die Fülle.” (Mal 3,10) Und doch ist das wörtliche Verständnis kurzschlüssig und falsch. Geben, um materieller Vorteile oder Nachteile willen, das ist Werkgerechtigkeit. Es ist der Versuch, Gott zu manipulieren und für die eigenen Ziele einzuspan­ nen. Dieses Verhalten ist Sünde. Es entehrt Gott und entwürdigt den Nächsten. Das kann man gar nicht genug betonen. Nicht aus Liebe und Erbarmen hilft man dem Nächsten aus der Not: er ist nur Mittel zum Zweck. Die Wirkung der Werkgerechtigkeit auf den Glauben ist immer destruktiv, egal ob sie nun eine optimistische Form 182 oder – wie hier – eine pessimistische Form annimmt. 182 Siehe die 5.Behauptung “Je mehr du für Gott ... opferst, desto mehr wirst du in diesem Leben an materiellem Wohlstand zurückbekommen.“, Seite 77. 81 In beiden Fällen wird der Sinn des Textes verdreht. Diese falsche Auslegung richtet den Blick wiederum auf das Materielle, das zeitlich verzögert als Belohnung für das Opfer eintreffen soll. Der eigent­ liche wohltuende Sinn des Gebotes wird dadurch zerstört. Der Gläubige erhält die 10 % in der Tat am Ende zurück – aber in veredelter Form. Indem er notleidenden Menschen hilft und ihnen Erleichterung, Befreiung, Dankbarkeit und Freude verschafft, erreicht diese Freude auch ihn. Er lebt “viele Leben.” Das ist der Sinn des Gebotes im Alten Testament. Umgekehrt wird das Herz eines Menschen, der alles für sich selbst ver­ braucht, hart und gefühllos. Er hat keinen Anteil an der Freude, die der Not­ leidende empfindet, wenn ihm geholfen wird. Er lebt nur ein einziges Leben: sein eigenes. Den Mangel an Freude versucht er auszugleichen, indem er sich massenhaft Genuss verschafft. Irgendwann stellt er fest, dass dieser Ausgleich nicht funktioniert. Die Bibel nennt das “Unsegen” oder “Fluch”. Hat das Gebot des Zehnten noch eine Bedeutung für die neutestamentliche Gemeinde ? Durch den Apostelkonvent werden alle jüdischen Gebote aufge­ hoben bis auf vier Ausnahmen (Apg 15,28-29), an denen man festhielt, um den Judenchristen in der Gemeinde nicht unnötig Anstoß zu bieten. Das heißt: als Gebot spielt der Zehnte für die neutestamentliche Gemeinde keine Rolle mehr. Doch nicht wenige Christen nehmen ihn gerne als Anre­ gung, wenn sie regelmäßig Werke und Missionare unterstützen. Die Behauptung einer Gemeindeleitung, Gott würde es bestrafen, wenn nicht 10% des Einkommens an sie abgeliefert werde, entbehrt jeder biblischen Grundlage. Gläubige sollen ihre Prediger unterstützen und nicht materielle Not leiden lassen. “Der aber unterrichtet wird mit dem Wort, der teile mit allerlei Gutes dem, der ihn unterrichtet.” (Gal 6,6) Das ist nur fair. Doch von einem bestimmten Betrag oder Prozentsatz, der gezahlt werden muss, steht dort nichts. Eine alleinerziehende Mutter, die kaum Geld für ihre Kinder hat, handelt angemessen, wenn sie alles verfügbare Geld ihren Kin­ dern zukommen lässt. Geld, das die Kinder brauchen, der Gemeinde zu geben, wäre eine Korban-Sünde (Mk 7,11). 82 7. Behauptung: “Wer nicht fast alles opfert, um die Not der Menschen zu lindern, lebt in Sünde und unter dem Fluch Gottes.” “Wer etwas Gutes zu tun weiß und tut es nicht, für den ist es Sünde.” (Jak 4,17) Der Apostel ermahnt mit diesen Worten Gläubige, die sich aufs hohe Roß gesetzt haben, angemessen von sich zu denken. Doch ist dieser Satz nicht auch auf das Zurückhalten von Geld anwendbar? Zumal es soviel Not in der Welt gibt? Muss der Gläubige nicht notgedrungen fast alles abgeben, was er hat. Jesus verlangte von seinen Aposteln, alles – sowohl Besitz als auch Leben mit der Familie (Lk 9,61-62) – aufzugeben und mit ihm durchs Land zu gehen. Ein Leben in völliger Selbstlosigkeit lebte auch der Apostel Paulus. Auch der Gläubige ist einerseits zur Bemühen um Vollkommenheit aufgeru­ fen (Mt 5,58) und soll jedem helfen, der in Not ist und Hilfe braucht (Jak 4,17), andererseits wird ihm bei fortgesetztem Ungehorsam der Ausschluss aus dem Himmelreich angedroht (Mt 27). Hierdurch könnte man zu dem Fehlschluss kommen, dass die völlige Selbst­ aufgabe Bedingung des Heils ist: “Wer sein Leben zu erhalten sucht, der wird es verlieren; und wer es verlieren wird, der wird es gewinnen.” (Lk 17,33) Doch diese Auslegung ist kurzschlüssig und falsch. Es wäre absurd, wenn Jesus den Gläubigen davon befreien würde, das mosaische Gesetz zu halten, und ihm dafür das viel schwerere Gebot (!!!) des totalen Verzichts auferle­ gen würde. Niemand würde dann im Ernst davon sprechen können, dass Jesus den Gläubigen “frei vom Gesetz” (Rö 7,3-6 / vgl. Heb 3,15) gemacht habe. Dass dies ein Missverständnis ist, zeigen Bibelstellen, die vor Selbsterlö­ sungsbemühungen warnen, sehr deutlich: “Ihr habt Christus verloren, die ihr durch die Erfüllung der göttlichen Normen gerecht werden wollt, und habt damit auf die Gnade verzichtet.” (Gal 5,4). Gläubige, die sich wegen der Androhung der Verdammnis zu solcher Selbstaufgabe entschließen, gewinnen damit nichts: 83 Zum einen gibt es keinen Lohn für eine Tat, die nicht aus Liebe geschieht. “Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und würde es nicht aus Liebe tun, so würde es mir nichts nützen.” (1.Kor 13,3) Zum anderen gewinnen sie nichts für das Leben hier: sie werden es sehr wahrscheinlich in einem Zustand seelischer Überforderung und Depression verbringen, voll Neid auf die Günstlinge Gottes, die ihren Wohlstand in Fülle genießen und sich dennoch am Glauben erfreuen dürfen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass von den Jüngern so viel verlangt wurde, weil sie Anteil an einer einzigartigen geschichtlichen Wende hatten. Sie hat­ ten nie den Eindruck, dass sie mit dieser Entscheidung viel verlieren würden. Das zeigte Jesus auch mit dem Gleichnis vom “Schatz im Acker”. “Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und wieder eingrub; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker.” (Mt 13,44) Die Jünger lebten im Schauen (!), wenn auch das Reich des Messias noch nicht aufgerichtet worden war. Alle bekamen von Jesus Vollmacht, Kranke, ja selbst Tote zu erwecken (Mt 10,8). Dass dieses Reich kommen würde, war klar. Die Jünger hatten in Jesus den zukünftigen König Israels erkannt und stritten sich – etwas verfrüht – schon um die Ministerposten (Mt 20,20). Eben weil sie soviel von der Herrlichkeit Gottes gesehen hatten (Jo 1,14), schimpfte sie Jesus wiederholt wegen ihres Unglaubens aus (Mt 17,17 / Mk 16,14). Auch Paulus bekam die Vollmacht geschenkt, Tote zu erwecken und Kranke zu heilen (Apg 20, 9 ff). Er durfte sich eine zeitlang im “dritten Himmel” aufhalten (2.Ko 12,2) – eine außerordentliche Glaubensstärkung. Auch Pau­ lus lebte in der Naherwartung, unter dem Eindruck, dass das Reich Gottes unmittelbar bevorstand (1.Thes 4,15). Dass Gott ihn in seinem Dienst soviel leiden ließ, betrachtete er als fairen Ausgleich für die Verfolgung, die die Gemeinde durch ihn einst erleiden musste (Kol 1,24). Aus Gründen, die wir nicht verstehen, hat Jesus die Naherwartung seiner Gemeinde nicht erfüllt. 84 Es folgten die Jahrhunderte der Kirchengeschichte, eine lange Zeit, in der sie im Glauben und “nicht im Schauen” (2.Ko 5,7) leben musste. Für ein Total­ opfer würden sie keinen angemessenen “Vorschuss” auf den Himmel erhal­ ten, der dieses Opfer erträglich machen würde. Die großen Forderungen Jesu werden aber nicht aufgelöst. Es sind keine the­ oretischen Ideale, die man genauso gut vergessen könnte, sondern geist-liche Chancen. Es sind große Schuhe, in die der Gläubige ein gutes Stück weit hineinwachsen kann, wenn er sich vom heiligen Geist leiten und erfüllen lässt. Manche Gläubige passen sogar eines Tages ganz in diese Schuhe, wenn sie Gott an einer geschichtlichen Wende teilhaben lässt oder wenn sie in Verfol­ gungszeiten treu bei Jesus bleiben. Es ist auffällig, dass schon in der Urgemeinde, in der die Gläubigen alles gemeinsam hatten (Apg 2,44-45), in der Frage des Totalopfers kein Zwang mehr bestand. Petrus weist Ananias darauf hin, dass er seinen Acker nicht spenden müsste, sondern hätte behalten können. (Apg 5,4) Das ist etwas Neues, wenn man daran denkt, dass die Jünger für die Nach­ folge alles verlassen mussten. (Mt 19,27) Auch sagt Paulus, dass Freude am Wohlstand durchaus in Gottes Sinn ist: “Den Reichen in dieser Welt gebiete, dass sie nicht stolz seien, auch nicht sich auf den unsicheren Reichtum verlassen, sondern auf Gott, der uns alles reichlich anbietet, um es zu genießen” (1.Tim 6,17). Gleichwohl gebietet das NT, sich vor Habgier zu hüten und vor Unehrlich­ keit. Einen Bruder mit tröstlichen Worten abspeisen, dessen materielle Not man sehr gut erleichtern könnte, ist üble Heuchelei. “Wenn nun ein Bruder oder eine Schwester keine Kleidung oder nichts zu essen hätte und jemand unter euch spräche zu ihnen: Gott tröste euch, wärme und sättige euch! ihr gäbet ihnen aber nicht, was sie nötig haben: was hülfe ihnen das?” (Jak 2,16). 85 Eine noch engere Verpflichtung, einander beizustehen, besteht zwischen den Mitgliedern einer Familie: “Wenn aber jemand die Seinen, insbesondere seine Hausgenossen, nicht versorgt, der hat den Glauben verleugnet und ist böser als ein Gottloser.” (1.Tim 5,8) 8. Behauptung: “Wer seine Mitmenschen nicht missioniert – wo sich die Gelegenheit ergibt – trägt Mitschuld daran, wenn sie in die Hölle kom­ men und wird dafür angemessen von Gott bestraft.” Diese Sichtweise beruft sich auf Hes 33,8-9: “Wenn ich nun zu dem gottlos lebenden Menschen sage: Du wirst dafür mit dem Tod bestraft werden! und du sagst ihm solches nicht, sodass der Gottlose nicht gewarnt wird, so wird zwar der Gottlose für seine Gottlosigkeit mit dem Tode bestraft; aber ich werde dich dafür zur Rechenschaft ziehen. Warnst du aber den Gottlosen, damit er sich ändern kann, und er hört nicht auf dich, so wird er mit dem Tode bestraft. Du aber hast dein Leben gerettet.” Kinder und Jugendliche mit seelischer Erpressung zum Missionieren moti­ vieren: ein verheerender Irrweg! Da sitzt man zusammen in einem Eisen­ bahnabteil. Muss man jetzt bis zur Ankunft des Zuges ein Glaubensgespräch geführt haben? Muss man starke Schuldgefühle haben, wenn es zu keinem Gespräch gekommen ist? Wie schrecklich kann doch der Alltag mit diesem quälenden seelischen Dilemma belastet werden! Mancher junge Mensch ist bald gar nicht mehr in der Lage, eine harmlose Freundschaft mit jemandem, der nicht zur Gemeinde gehört, anzuknüpfen – immer steht diese Drohung im Hintergrund. Und selbst wenn ein Gespräch zustandekommt: wie nahe liegt hier doch die Gefahr, dass eine Theologie der Selbstgerechtigkeit ahnungslos weiter-gege­ ben wird, dass man “Zeugnis ablegt”, um sich selbst zu retten oder um Punkte auf der Himmelsbank zu sammeln! Das ist unaufrichtig und unfair! Der, dem Zeugnis gegeben wird, weiß nichts von dem psychischen Druck, unter dem der Zeuge zeit seines Lebens steht und soll es auch möglichst nicht erfahren. 86 Und was wird erreicht ? Vielleicht bewegt eine Illusion von Glück den mis­ sionierten Menschen, sich für Religiöses zu interessieren. Es dauert eine Weile, bis bei ihm unversehens ebenfalls die Gewissensfalle zuschnappt und er für immer in der religiösen Zwangsjacke steckt. Soll er jetzt tiefe Dank­ barkeit empfinden ? Oder wird er sich eher als “Objekt” religiöser Erfolgs­ sucht sehen ? Entsteht so echte, tiefe Freundschaft ? An den “Früchten“, an der Qualität der Ergebnisse “kann man viel erken­ nen” (Mt 7,16), sofern man bereit ist, über diese Qualität nachzudenken. Die “Pharisäer und Schriftgelehrten” waren zweifellos sehr eifrig im Missionie­ ren. Waren sie damit auch der an Hesekiel ergangenen Warnung gehorsam ? Jesus sagte von ihnen, dass sie “weit über Land und Wasser fahren, um Menschen zu Glaubensgenossen zu machen. Tatsächlich machen sie aber aus Menschen Anwärtern auf die Hölle, die es doppelt so schlimm treiben wie sie selbst.” (Mt 23,15). Offensichtlich hatten sie Erfolge vorzuweisen: rein quantitativ! Das zeigt uns: Ein ehrliches Zeugnis kann nicht erzwungen werden! Hes 33,8-9 und Apg. 20,26-28 scheinen dem zu widersprechen. Der Wider­ spruch entsteht aber nur dadurch, dass die besondere Berufung von Hesekiel und Paulus nicht angemessen wahrgenommen wird. Beide “standen mit einem Bein im Himmel”, sahen in großartigen Visionen die unsichtbare Welt (Hes 1,4 ff / 2.Kor 12,1). Damit verloren auch die irdischen Zwänge viel von ihrer Bedeutung. Paulus konnte es gar nicht erwarten, endlich zu sterben und bei seinem Herrn zu leben (Phil 1,23). Vom Auftrag des Paulus hing das Schicksal der gesamten christlichen Gemeinde ab! In seiner Hand lag es, ob die Botschaft von Jesus nach Ablehnung durch die Juden nunmehr die Nichtjuden erreichte. An diese große Verantwortung hat ihn Gott erinnert. (Apg 9,15-16) Er konnte es tun, ohne dass die Qualität der Botschaft darun­ ter litt. Zwischen beiden Verkündern gibt es eine Parallele: Paulus arbeitete in erster Linie außerhalb Palästinas. Hesekiel war der erste Prophet, der außerhalb des heiligen Landes berufen wurde und dort verkündete. Wer dieses einzigartige Programm wahllos jedem Gläubigen aufzwingt, der muss die Tatsache leugnen, dass als eindrücklichstes Erlebnis gar nichts Ein­ zigartiges, weder der Blick in Gottes Herrlichkeit, noch eine besondere Berufung und Begabung, sondern nur Primitivität und Frustration, nur stän­ dig schlechtes Gewissen und seltsame seelische Verformung zurückbleibt. 87 Um über seinen Glauben froh berichten zu können, darf der Gläubige kei­ nem Zwang ausgesetzt sein. Ein glaubwürdiges Zeugnis wird immer im Ein­ klang mit den Qualitätsstandards Jesu, d.h. im Einklang mit Barmherzigkeit, Fairness und Ehrlichkeit sein. Gott kann sogar Kinder und Jugendliche zum Zeugnis gebrauchen! Gläubige dazu zu zwingen, indem man ihnen ein schlechtes Gewissen macht, ist reli­ giöser Missbrauch! 9. Behauptung: “Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen.” Diese schreckliche Behauptung findet sich leider auch in der beliebten McArthur Studienbibel 183, die ansonsten mit Gewinn zu lesen ist. In der Anmerkung zu Mt 12,36 heißt es ausdrücklich, , dass bereits ein “Ausrut­ scher” der Zunge genügt, um mit der ewigen Höllenqual bestraft zu werden. Diese Fehleinschätzung fußt auf der fehlerhaften Lehraussage: “Je enger sich eine Auslegung an den Wortlaut der Schrift hält, desto zuverlässiger 184 ist sie.” Im biblischen Text selbst, d.h. in drei der vier Evangelien, wird vor einer schrecklichen Sünde gewarnt, die niemals vergeben werden kann: die Läste­ rung des Heiligen Geistes: “Darum sage ich euch: Alle Sünde und Läste­ rung wird den Menschen vergeben; aber wer den Geist lästert, dem wird nicht vergeben. Und wer etwas sagt gegen Jesus, den Menschensohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas sagt gegen den Heiligen Geist, dem wird’s nicht vergeben, weder auf Erden noch im kommenden himmlischen Reich.” (Mt 12,31-32) Nach Ansicht mancher Theologen kann bereits ein negatives Wort über Brü­ der, über ein Bibelwort, über etwas, was der heilige Geist will, die unvergeb­ bare Sünde sein. 183 e-Book 2013 oder 6.Auflage 2009. 184 Siehe die 17.Behauptung: “Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wort­ laut hält, ist das beste.”, Seite 111. 88 Diese Auffassung zieht große Risiken nach sich! Denn immer wieder sieht sich der Christ vor die Frage gestellt, ob etwas “geistlich” oder “fleischlich”, ob es göttlichen oder nur menschlichen Ursprungs ist. Er unterliegt einem Entscheidungs- und Urteilszwang! Wie leicht ist es da möglich, dass er falsch urteilt, dass er etwas schlecht oder falsch nennt, was der Heilige Geist will, und dass ein sündiges Motiv bei diesem Urteil eine Rolle spielt. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass sensible und sorgfältige Gläubige, die durch ein buchstabentreues Verständnis 185 der Bibel geprägt sind, hier in einen schrecklichen Zweifel und panische Angst hineingeraten können. Diese Angst kann u.U. jahrelang andauern, da die im Rahmen der traditio­ nellen bibeltreuen Theologie angebotenen Lösungen erhebliche Mängel haben 186, die selten offen diskutiert werden. Üblicherweise meiden die Betroffenen die Gemeinden, da sie dort den Verlust der Glaubensgewissheit besonders schmerzlich empfinden. Auch die Gemeindemitglieder halten sich von ihnen fern, da sie das Elend nicht mitansehen können und zudem viel­ leicht befürchten, ebenfalls mit Zweifeln infiziert zu werden. Da die angebo­ tenen Lösungen nicht bezweifelt werden, liegt der Schluss nahe, dass die Betroffenen selbst an ihrem Leid schuld sind – auch wenn man nicht weiß, warum. Tatsache ist nun, dass sich niemand an alle negativen Worte erinnern kann, die er jemals gesagt hat. So wenig wie an alle Einschätzungen und Entschei­ dungen. Somit bleibt die Frage, ob der Gläubige nun erlöst oder verdammt ist, ungeklärt und unbeantwortbar. Dieses Ergebnis erscheint logisch, ist aber absurd. (Auch der ansonsten mit Gewinn zu lesende Bibelausleger Adolf Schlatter vertritt in seinem haarsträubenden Aufsatz zur “Sünde gegen den heiligen Geist” 187 diese absurde These, dass der Gläubige in dieser Frage keine Gewissheit haben kann.) 185 Siehe 17.Behauptung, Seite 111. 186 Siehe Seite 192 ff. 187 Siehe zu Schlatters Aufsatz über die unvergebbare Sünde, Seite 199. 89 Es ist auffällig, dass das Problem bei ihm nicht zu der Frage hinführt, wel­ chen Charakter Gott hat. Wenn man den Charakter einer Person kennt, dann kann man ihre Reaktion einschätzen. Diese Frage des Charakters bleibt bei Schlatter und vielen anderen evangelikalen Theologen ausgespart. Ein grundsätzliches Defizit der traditionellen auf den Wortlaut fixierten Theolo­ gie wird hier sichtbar: ihre Schwierigkeit, eine konsistente, widerspruchs­ freie Vorstellung vom göttlichen Charakter zu vermitteln. Ist die Kenntnis des göttlichen Charakters nicht wichtig für die Frage, ob der Gläubige Gott lieben kann ? Die auf den Wortlaut fixierte Interpretation lässt Gott als unehrlichen Kauf­ mann erscheinen, der dem Kunden einen Vertrag aufschwatzt, obwohl er ganz genau weiß, dass das Kleingedruckte alles, was im Hauptvertrag steht, zunichte macht. Unendlich viel wird versprochen: vollständige Vergebung und Reinigung von aller Schuld, ewige Geborgenheit bei Gott, göttlicher Schutz in jeder Situation des Lebens, königliche Würde, Annahme an Sohnes Statt durch Gott selbst – und dann ist plötzlich alles weg. Ein versehentlicher “Ausrut­ scher” der Zunge war die Ursache – wo doch die Bibel selbst sagt, dass kein Mensch die Zunge beherrschen kann. (Jak 3,8) Wenn das so wäre, hätte man dann wirklich noch Grund zum Jubeln? Warum müsste man dann missionieren und die “frohe Botschaft” allerorten mitteilen? Das wäre doch unbeschreiblich grausam und heimtückisch. Es wäre dann wirklich besser, wenn Menschen nie etwas von dieser Religion erfahren. C.H.Spurgeon hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Gottes Ehre mit der Errettung seines Jüngers verknüpft ist. “Der Herr mag für einige Zeit versto­ ßen, aber nicht für immer. Eine Frau wird ihren Schmuck für ein paar Tage ablegen, aber sie wird ihn nicht gänzlich vergessen oder auf den Misthaufen werfen. So geht unser Herr nicht mit denen um, die er liebt, denn ‘er liebt die Seinen in der Welt und er wird sie weiter lieben bis ans Ende.’ (Jo 13,1) Manche sprechen über das Bleiben in der Gnade, als wären wir Karnickel, die in ihre Höhle hinein- und wieder herauslaufen. So ist es nun gar nicht! 90 Die Liebe unseres Herrn ist eine viel ernstere und zuverlässigere Sache. Er liebte uns schon von Ewigkeit her und er wird uns bis in alle Ewigkeit lie­ ben. Er liebte uns so, dass er für uns starb. Deshalb dürfen wir sicher sein, dass seine Liebe zu uns niemals sterben wird. Seine Ehre ist so sehr mit der Errettung des Gläubigen verbunden, dass er sie so wenig wegwerfen kann wie ein König sein Amtsgewand wegwerfen würde. Nein, nein! Der Herr Jesus, das Haupt, wird die Glieder seines Leibes nicht von sich werfen. Er, der Bräutigam, wird niemals seine Braut davonjagen. Dachtest du, du seist verstoßen ? Warum denkst du so schlimm über deinen Herrn, der sich dir verlobt hat ? Verjage diese Gedanken und gib ihnen nie wieder Raum in deiner Seele. ‘Der Herr hat sein Volk nicht verstoßen, das er sich auserse­ hen hat.’ (Rö 11,2). ‘Er hasst das Verstoßen.’” (Mal 2,16). 188 Leider wird von perfektionistischen Theologen die Ehre 189 Gottes eher mit seiner Macht zu strafen, zu zerstören und zu verdammen, in Verbindung gebracht. Hier sind wichtige Prioritäten falsch gesetzt. Natürlich sollen wir Gott viel mehr fürchten als de Menschen: “Fürchtet euch nicht vor denen, die nur den Leib töten können…” (Mt 10,28) Doch Gott hat sich nicht den Ehrentitel “Zerstörer” (Απολλυων) gegeben. Das ist der “Ehren”-Titel des Teufels. (Offb 9,11) Gott bevorzugt andere Ehrentitel, z.B. “wunderbarer Gott, weiser Ratgeber und Kämpfer, Vater der Ewigkeit, Friedensfürst.” (Jes 9,5) Der höchste Ehrentitel Gottes ist der Name Jesu, der bedeutet “Gott ret­ tet.” Barmherzigkeit ist für Gott eine Frage der Ehre. Er ist “barmherzig und gnä­ dig, geduldig und von großer Güte und Treue.” (Ps 86, 15 / 103,8 / 145, 8) Er ist der “barmherzige und gnädige Herr.” (Ps 111, 4) Wer behauptet Gott zu kennen, soll bekennen, “dass ich der HERR bin, der für Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit auf der Erde sorgt! Denn das gefällt mir” (Jer 9,24) Jesus nennt die “Barmherzigkeit” als das erste der Gebote, die Gott am wichtigsten sind. (Mt 23,23) Gott liebt Barmherzigkeit so sehr, dass manche Gläubige daran sogar Anstoß nehmen. (Jona 4) 188 übersetzt aus C.H.Spurgeon, “Gems”, for the 12th of Januar). 189 Siehe „Stichworte“, (Internet). 91 Es ist der Wille Gottes, gerade denen Menschen Liebe und Hoffnung zu geben, die aufgrund eigener Schuld schon längst von ihren Mitmenschen abgeschrieben und ausgestoßen worden sind (Luk 7,36 ff / 19,2 ff). Jesus wurde beschimpft als “Freund der Zolleintreiber und Sünder.” (Luk 7,34) Gott ist immer viel barmherziger als Menschen. Er wirbt ständig um das Vertrauen des Menschen: “Vertraut Gott!” sagte Jesus (Mk 11,22), selbst wenn es um das scheinbar Unmögliche geht, selbst wenn man Gott bitten wollte, einen Berg zu versetzen. Der Glaube eines Menschen ist Gott unendlich kostbar und genügt zur Rettung. (Jo 3,16) Deswegen kann eine unwiderrufliche Trennung nicht versehentlich oder in Übereilung geschehen. Dadurch würde die frohe Botschaft unglaubwürdig werden. Das Vertrauen würde aufs Schwerste erschüttert oder ganz unmög­ lich. Das unwiderrufliche Gericht ist die Endstation einer notorischen, unverbes­ serlichen Feindschaft gegenüber Christus, die mit der Verachtung seiner Barmherzigkeit in ihrer deutlichsten Form verbunden ist. Die Pharisäer damals hatten ja die Gelegenheit, den Sohn Gottes persönlich kennenzulernen und sich von seiner Freundlichkeit und Güte zu überzeugen. Sie waren nicht auf das Hörensagen oder auf Vermittler angewiesen. Sie wurden auch nicht abgestoßen durch die Schwächen oder Sünden dieser Vermittler. Sie standen dem Sohn Gottes und seiner Liebe persönlich gegen­ über. Sie hätten ihm alle Zweifel und Nöte sagen können. Sie hätten nur die Hand auszustrecken brauchen, um geheilt zu werden. Dennoch haben sie Christus als “Teufel” beschimpft im Bemühen, dass ihn auch die hilfesu­ chenden Menschen für einen “Teufel” halten sollten: “Das alles ist böse und bleibe mir ewig fern!” Jesus warnt eindringlich davor, trotz klarer Einsicht in seine göttliche Auto­ rität und Barmherzigkeit eine grundsätzliche Haltung der Feindschaft zu ihm einzunehmen. Es könnte sein, dass eines Tages die Möglichkeit der Umkehr nicht mehr vorhanden ist. Der Sohn Gottes hat auch mit undankbaren und boshaften Menschen sehr viel Geduld. Aber er lässt sich nicht alles gefallen. Der freche Satz von Voltaire, Jesus müsse ja vergeben, denn es sei ja “sein Job”, ist ein schrecklicher Irrtum ! 92 Allerdings ist auch die Warnung vor der unvergebbaren Sünde eine Aussage im biblischen Pauschalstil: 190 auf wichtige Ausnahmen geht die Bibel an dieser Stelle nicht ein. Das sind z.B. Glaubensgeschwister, die unter einer neurotischen, quälenden Verformung des Glaubens leiden (Werkgerechtigkeit 191) Sie schimpfen nur deswegen, weil sie die Freiheit und Herrlichkeit des Glaubens eben nicht klar erkennen und sind hier schon deshalb nicht betroffen. Lang ertragenes Leid wird sehr oft zur Not der Gottverlassenheit. Dann kann Gott als der erscheinen, dem es niemand recht machen kann, der gleichgültig und wenig mitfühlend ist, eben als Rabenvater, der seine Hausgenossen nicht versorgt, und der “sich schlimmer aufführt als ein Heide” (1.Tim 5,8). Gott erscheint “gottlos”. Hier kann es durchaus dazu kommen, dass man beginnt, auf Gott, auf Jesus, auf die Bibel, auf das angebliche Evangelium zu schimpfen. Je härter das Leid, desto exzessiver die Beschimpfung. Zweck hat das keinen: Gott wird sich nicht entschuldigen. Das weiß der Gläubige auch. Nachträglich ärgert er sich darüber. Denn eigentlich will er ja doch zu Gott gehören und schon gar nicht möchte er ihn zum Feind haben. Das Schimpfen ist ein Überdruck-Ventil. Ihm platzt der Kragen: er muss sich Luft machen. Beschimpfungen gegen einen Gott, der lieblos und ohne Mitgefühl erscheint, richten sich gegen ein Zerrbild 192 seiner Person. Wie kann die Beschimpfung eines abstoßenden Zerrbildes den wahren Gott treffen und beleidigen? Wie kann sie das Heil gefährden? Ob sie sich in der Wortwahl gegen den heiligen Geist richtet, ändert an die­ ser Tatsache nichts, weil nach der Bibel der Inhalt grundsätzlich Vorrang hat vor der Form. (Rö 2, 28.29) Der Mensch sieht nur das Äußerliche, aber Gott sieht ins Herz (1.Sam 16,7). Dies ist ein biblisches Prinzip mit höchster Priorität 193 ! Solche Gläubigen dürfen mit der Hilfe und Zustimmung Jesu rechnen, der Zerrbilder 194 ebenfalls verabscheut. 190 191 192 193 194 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Pauschalstil“, (Internet). Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet). Siehe Seite 171. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Polarität der Bibel“,(Internet). Siehe den Abschnitt „Zerrbilder“ im Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. 93 Dennoch können diese Gläubigen – dank einer dilettantischen Theologie – sehr intensive Verdammungsängste haben, deren Intensität sie als Beweis für tatsächliche Verdammnis betrachten werden. Sie sollten Mitchristen, die sich durch gutes Urteilsvermögen auszeichnen, um eine Beurteilung ihrer Läste­ rungssituation bitten. Auf der Grundlage der Maßstäbe Jesu (Mt 23,23) dürfen sie sich darauf ver­ lassen, dass es im menschlichen Verantwortungsbereich 195 keine gravie­ renden Unterschiede zwischen Gottes Gerechtigkeitssinn und dem, was im Glauben gereifte Christen nach bestem Wissen und Gewissen als gerecht und angemessen empfinden. Zwar wird Erkenntnis oft „Stückwerk“ (1.Kor 13,9) bleiben, werden Entscheidungen nicht selten mit Unsicherheit behaftet sein – niemals aber wird Gott – so wie ihn uns Jesus Christus in aller Deut­ lichkeit gezeigt hat (Jo 14,9) - etwas wollen, was treue und gewissenhafte Gläubige als pervers und als Verachtung der Menschenwürde empfinden. Wenn wir uns darauf verlassen dürfen, dann ist keine diffizile theologische Kasuistik mehr nötig, um die quälende Frage zu beantworten, ob die ausgesprochene Beschimpfung nun vergeben werden kann oder nicht. Es ist nicht danach zu fragen, ob sie laut oder leise, ob sie privat oder vor anderen ausgesprochen oder nur gedacht worden ist. Man kann sich auch die Erörte­ rung sparen, ob eine andere Wortwahl die Vergebung wahrscheinlicher machen würde. Denn was hatte Jesus nach der Anklage frommer Leute gesagt, die von ihm das Todesurteil über eine ertappte Ehebrecherin hören wollten? “Jesus aber fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.” (Joh 8,10-11) Schon im Alten Testament wird dieser Grundsatz erwähnt. Johannes der Täufer bezieht sich auf diesen Text von Jesaja in seiner Warnung vor dem Feuer des Gerichts (Mt 3,10-12) so wie auch Jesus (Joh 15,6). Jesaja erzählt das Gleichnis vom Weinstock im Acker, der mühsam gehegt und gepflegt wird, um doch noch etwas Frucht aus ihm herauszuholen. 195 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unterscheidung der Verantwortungsbe­ reiche“, (Internet). 94 Bevor ihn aber der göttliche Weingärtner aus dem Boden herausreißt und verbrennt, wendet er sich an Menschen (!) als Schiedsrichter: “Nun ent­ scheidet selbst, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Juda’s, in dem Streit zwischen mir und meinem Weinberge. Hätte irgendjemand noch mehr für meinen Weinberg tun können, das ich nicht für ihn getan hätte? Warum hat er trotzdem bloß bittere Früchte gebracht? Durfte ich nicht mit guten Trauben rechnen?” (Jes 5,3-4) Die Frage nach dem persönlichen Heil wird also von Gott selbst zurückgege­ ben an den menschlichen Verantwortungsbereich. 196 Denn der Gläubige soll ja anderen froh von seiner Errettung berichten und sie zum Glauben einla­ den. Das kann er nur, wenn seine Errettung nicht zweifelhaft bleibt. Zur Wiedergewinnung der Glaubensfreude reicht indes das geschwisterliche Urteil nicht aus. Es ermutigt aber, die Bibel mit neuem Vertrauen zu lesen. Diese reagiert in lebendiger Weise auf die innere Einstellung des Lesers. So wird sich der Gläubige auch seines eigenen geistlichen Lebens bewusst und allmählich kehrt die Glaubensfreude zurück. Wichtiger Hinweis: diese Lösung setzt voraus, dass die Rangfolge von Bibelworten in der Gemeindelehre überzeugend begründet wird. Wird gelehrt, dass alle Bibelworte gleichen Rang haben, 197 so muss der Gläubige in seinem Denken Lehrsätze nebeneinander dulden, die sich widersprechen. Diese Glaubensschizophrenie macht eine klare Vorstellung von Fairness und Gerechtigkeit weitgehend unmöglich. Gott erscheint weiter willkür­ lich, unberechenbar und bedrohlich. Dasselbe gilt, wenn in der Gemeinde Korruption und offene Missachtung der Qualitätsmaßstäbe Jesu geduldet werden. Wenn die Gemeinde dann noch gedeiht und wächst, dann entsteht der Eindruck, dass Gott willkürliche Günstlingswirtschaft betreibt und seinen “Lieblingen” alles durchgehen lässt, den anderen aber, die er schon vor Grundlegung der Welt zu “Gefäßen des Zorns” (Rö 9,22) bestimmt hat, keine großen Chancen gibt. 196 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unterscheidung der Verantwortungsbereiche“, (Internet). 197 Siehe die 18.Behauptung “Die ethischen Aussagen des Neuen Testamentes haben alle die gleiche Autorität., Seite 116. 95 Wenn Gott selbst kein Interesse an Gerechtigkeit zu haben scheint, dann ist es auch sinnlos, die Geschwister um eine Einschätzung zu bit­ ten, welche Reaktion Gottes auf beschimpfende Worte ihnen angemessen erscheint. Die deprimierende Vorstellung eines Gottes, der gerne unfair ist, lässt sich mit einer Bibel, in der jeder Satz gleichen Rang haben soll, nicht mehr widerlegen. 10. Behauptung: “Ein Versprechen, das der Gläubige Gott gegeben hat, muss auf jeden Fall eingehalten werden, auch wenn es dumm und destruktiv war. Wenn der Gläubige es nicht einhält, muss er damit rech­ nen, dass Gott sein ganzes Leben ruiniert.” Hier beruft man sich auf 5.Mo 23,21: “Wenn du dem Herrn etwas gelobst, so sollst du nicht zögern, dein Versprechen zu halten ; denn der Herr, dein Gott, wird’s von dir fordern, und es wird dir Sünde sein.” sowie auf Pred 5,3-5. “Wenn du Gott etwas versprichst, so zögere nicht, es zu halten; denn er hat kein Gefallen an den Narren. Was du gelobst, das halte. Es ist besser, du gelobst nichts, als dass du nicht hältst, was du gelobst. Erlaube deinem Mund nicht, dich zu verführen; und sprich vor dem Engel nicht: Es war ein Versehen. Gott könnte zornig über dich werden und alle Werke deiner Hände verderben.” Ein schauderhaftes Beispiel für die Pflicht, auch unbarmherzige Versprechen einhalten zu müssen, liefert die Jephta-Geschichte. Jephta verspricht zum Dank für den Sieg in der Schlacht das, was ihm bei seiner Rückkehr zuerst entgegenkommt, als Brandopfer darzubringen. (Ri 11,30-31). Leider lief ihm seine Tochter entgegen, sodass er sein leichtsinniges Ver-sprechen tief bereute. Aber er “tat an ihr, wie er dem Herrn versprochen hatte.” (Ri 11,39) Einen Menschen einem Gott zu opfern, war nach dem Gesetz verboten (5.Mo 12,31) Ersatzweise forderte Jephta von seiner Tochter den Verzicht auf Ehe und Mutterglück, was um so mehr ins Gewicht fiel, als sie sein ein­ ziges Kind war. 96 Unklar ist, warum er die Möglichkeit nicht nutzte, die das Gesetz bot, näm­ lich das Gelobte freizukaufen. Nach 3.Mo 27,4 war für eine Frau 30 Sekel zu entrichten. Diese wären aus der Kriegsbeute leicht zu bezahlen gewesen. Angesichts des überwältigenden Sieges erschien ihm dieser Ausweg wohl als Respektlosigkeit und sein Gewissen konnte sich von dem unsinnigen und zweifellos destruktiven Gelübde nicht mehr lösen. Da das Gelübde auch im Neuen Testament (Apg 18,18 / 21,24 / 1.Tim 5,1112) vorkommt, haben manche Gläubige heute noch große seelische Nöte wegen übereilter und unsinniger Gelübde auszustehen. Wenn man in Geldnot ist, dann neigt man dazu, sich mit Krediten zu helfen, die kurzfristig Erleichterung schaffen, das Problem aber langfristig verschär­ fen. Wenn man ohnehin unter einem strengen Gewissen leidet, dann ist die Versuchung sehr groß, die Gewissenslast durch Versprechungen zu erleich­ tern. In bibeltreuen Gemeinden wird ständig zur Hingabe aufgefordert und die Bereitschaft zur Hingabe nimmt nicht selten die Form eines Versprechens an. So kann es geschehen, dass junge Menschen in einer starken, aber vorü­ bergehenden religiösen Begeisterung versprechen, “alles dem Herrn zu wei­ hen”, “als Missionar hinauszugehen”, oder “ehelos zu bleiben” wie es einst Paulus war. Ist der religiöse Rausch verflogen, so erkennen sie, dass sie sich eine Last aufgelegt haben, die sie gar nicht tragen können. Sie stehen vor der Alterna­ tive, ein unsinniges Gelübde einzuhalten und damit lebenslang unglücklich zu sein, oder es zu missachten und immer in Angst vor einem Gott zu leben, der den “Kredit” erbarmungslos eintreibt und in der Wahl der Mittel ähnlich wie ein brutales Inkasso-Unternehmen kein Erbarmen kennt. Geben wir dem Wortlaut des alttestamentlichen Gesetzes die höchste Priori­ tät, so ist keine Hilfe möglich. Beachten wir aber, dass die Maßstäbe Jesu Christi die höchste Priorität haben, so ist die Lösung recht einfach. Der Gläubige darf nicht nur, sondern er MUSS barmherzig, fair und ehrlich sein. 97 Ist es barmherzig, einen Menschen, den man liebt, erbarmungslos auf ein unüberlegtes Versprechen (z.B. ehelos zu bleiben) festzunageln, das ihn sein Leben lang nur belastet und quält? Ist es fair, mit ständigen Ermahnungen so viel von einem Menschen zu for­ dern, dass er sich mit Versprechungen helfen muss? Ist es ehrlich, “als Mis­ sionar hinauszugehen” und vom göttlichen Erbarmen zu predigen, wenn man nur Missionar geworden ist, weil man Angst vor göttlicher Erbarmungslosig­ keit hatte? Durch Gelübde geht die klare Abgrenzung zur Werkgerechtigkeit verlo­ ren. Wieder ist das eigene Tun im Mittelpunkt, mit dem sich der Gläubige selber rettet. Und das ist verboten! “Ihr habt Christus verloren, die ihr euch durch die Erfüllung der göttlichen Normen selber retten wollt.” (Gal 5,4) Die Abgrenzung von der Werkgerechtigkeit muss 100% sauber und kompro­ misslos sein: “ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig” (Gal 5,9) Daraus folgt: Gelübde haben für den Christen keine Bedeutung. Er stellt sich seinem Herrn jeden Tag neu zur Verfügung und lebt ganz aus der Gnade. Wie sind dann die im Neuen Testament erwähnten Gelübde einzuordnen ? Paulus benutzte das Gelübde, das im Alten Testament und in der jüdischen Kultur eine gewisse Bedeutung hat, um das Vertrauen seiner jüdischen Landsleute zu gewinnen (Apg 18,18 / 21,24). Aus demselben Motiv beschnitt er auch Timotheus (Apg 16,3), der mit ihm zusammen die Juden missionierte. Eine inhaltliche Bedeutung hatte die Beschneidung für ihn nicht. Er warnte die Gläubigen, mit der Beschneidung irgendeine geistliche Bedeutung zu verbinden: “Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, dann wird euch Christus nichts mehr nützen.” (Gal 5,2) 1.Tim 5,11-12 erwähnt Witwen, “die Wünsche haben, die Christus wider­ sprechen und wieder heiraten wollen und haben sich damit das Urteil zuge­ zogen, dass sie die erste Treue gebrochen haben” (wörtlich übersetzt). Es gab damals eine Gruppe von verwitweten Frauen, die sich ganz dem diako­ nischen Dienst weihte und dafür offensichtlich besondere Privilegien genoss. Wer sich in diese Gruppe aufnehmen ließ und dann doch heiratete, schadete dem Ansehen dieses Amtes (das später in der Kirchengeschichte seine Bedeutung verlor). Darin bestand die Sünde. 98 Die Wortwahl des Paulus ist hier, wie an anderen Stellen auch, sehr missver­ ständlich. Die wortwörtliche Übersetzung macht ähnlich wie in Tit 1,12-1 überhaupt keinen Sinn, sondern lässt den Wahn der Werkgerechtigkeit wie­ der aufleben, von dem doch Paulus selbst sagte, man müsste sich davon kompromisslos fernhalten. Wie können wir das angemessen übersetzen? Ein Versuch: “Welche Frau kann in das Verzeichnis der Witwen aufgenom­ men werden? Sie sollte wenigstens sechzig Jahre alt sein… Jüngere Frauen, die sich bewerben, weise zurück. Eines Tages haben sie wieder den Wunsch zu heiraten und müssen sich dann den Vorwurf gefallen lassen, dass sie ihr Wort nicht halten können. Jesus aber will nicht, dass seine Jünger als unzu­ verlässige Leute gelten.” Wie C.S.Lewis einmal sagte, hat Gott offenbar dem Paulus die Gabe der anschaulichen Darstellung (Didaktik) aus gutem Grunde versagt. Er nimmt also nicht nur die Stärken, sondern auch die Schwächen des Paulus in Seinen Dienst. Eben weil vieles schwer zu verstehen ist, ist die Gemeinde gezwungen, mit dem Text zu arbeiten und immer wieder neu darüber nachzudenken. Fatal ist dann allerdings, wenn Nachdenken, Prüfen und Ergründen zur Sünde erklärt wird und man sklavisch am Buchstaben klebt. “Der Buch­ stabe tötet, der Geist aber macht lebendig” (2.Kor 3,17). Wie schon zur unvergebbaren Sünde 198 gesagt wurde: Gott macht sich und sein Wort unglaubwürdig, wenn im Kleingedruckten aufgehoben wird, was klar und deutlich im Hauptvertrag steht. Wenn der Gläubige “zur Freiheit befreit” (Gal 5,13) und “los vom bösen Gewissen” (Hebr 10,22) und “frei vom Gesetz” (Gal 7,3+4 / 1.Tim 1,9 ! ) ist, dann sind das gültige Verspre­ chen Gottes, die zuverlässig eingehalten werden und durch ein eigenes unüberlegtes Gelübde nicht nachträglich eingeschränkt werden können. 198 Siehe 9. Behauptung: “Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen.”, Seite 88. 99 Das Eheversprechen übrigens, dass vor der Gemeinde gegeben wird, ist kein echtes Gelübde. Es hat keine rechtsbegründende Wirkung, sondern ist deklaratorischer Natur. Es verkündet nur die göttliche Ordnung, dass Mann und Frau einander lebenslang treu sein sollen: “Habt ihr nicht gelesen, dass, der im Anfang den Menschen gemacht hat, sie als Mann und Frau geschaffen hat und sagte: “Darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hängen, und die beiden werden eine Person sein” ? Deshalb sind sie nicht zwei Person, sondern eine. Und was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht schei­ den.” (Mt 19, 4-5) Gültig ist diese Rechtsordnung auch, wenn kein Versprechen in der Kirche gegeben wird. Vor einer Strafe für die willkürliche Verletzung dieser Ord­ nung schützen solche Umgehungsversuche nicht. Im Ergebnis ist bibeltreuen Theologen recht zu geben, wenn sie feststellen, dass der gläubige Christ ganz und gar Eigentum seines Herrn geworden ist und deshalb nicht etwas, was seinem Herrn ohnehin gehört, noch einmal geloben kann. 11. Behauptung: “Wenn du noch nicht in Zungen redest oder noch kein wunderbares Erleuchtungserlebnis empfangen hast, steht noch irgendeine Sünde zwischen dir und Gott. Dann hast du evt. den Heiligen Geist noch nicht empfangen und bist noch gar kein Christ und noch nicht gerettet.” In der Bibel gibt es für diese Behauptung keinen Beleg. Der Behauptung, dass der Gläubige bei einer echten Bekehrung die Fähigkeit erhalten haben muss, in unverständlicher Sprache zu reden (“Zungenrede”) ist die Frage des Paulus entgegenzuhalten: “Reden sie alle in Zungen?” (1.Kor 12,30) Offensichtlich gab es auch Gläubige ohne Zungenrede. In manchen Zeiten – wie zur Zeit Jesu und der Apostel – geschahen Wunder häufig, zu anderen Zeiten eher selten (Lk 4,25-26). 100 Es ist überheblich und unbarmherzig, Gläubige als zweitklassig abzuqualifi­ zieren und zu deprimieren, bloß weil sie kein spektakuläres Wundererlebnis aufzuweisen haben. Jesus betrachtet Wunder jedenfalls nicht als entschei­ dend für das Heil: “Es werden nicht alle, die zu mir sagen: HERR, HERR! ins Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel. “Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: HERR, HERR! Haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, haben wir nicht in deinem Namen Teufel ausgetrieben, und haben wir nicht in deinem Namen viele Taten getan? Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie erkannt; weichet alle von mir, ihr Übeltäter!” (Mt 7,21-23) Auch wenn der Gläubige nichts Spektakuläres erlebt, kann er dennoch fest auf die Liebe seines Herrn vertrauen. Das Reich Gottes ist nicht “etwas genießen, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist.” (Rö 14,17). Diese Gelassenheit, dieses Vertrauen sollte der Gläubige sich nicht zerstören lassen, indem er es von spektakulären Ereignissen abhängig macht. In dieser Haltung des Vertrauens wird man auch viel Bewahrung, Hilfe und Güte Gottes im täglichen Leben erkennen, Geschenke, die der Nichtgläubige unter “noch mal Glück gehabt” einsortiert. 12. Behauptung: “Wenn dein Gebet nicht erhört wird, dann gibt es nur einen Grund dafür: eine Sünde steht zwischen dir und Gott.” “Wahrhaftig: die Hand des Herrn ist nicht kürzer geworden, dass er nicht helfen könnte, auch ist sein Ohr nicht taub geworden, dass er nicht hören könnte, sondern eure Gemeinheiten haben einen Graben zwischen euch und Gott aufgerissen. Eure Sünde ist es, die euch hindert auf Gott zu blicken. Eure Sünde ist daran schuld,dass ihr nicht mehr angehört werdet.” (Jes 59,1+2) Wer Gott und seine Weisungen verachtet, der kann nicht erwarten, dass Gott auf seine Bitten achtet. Jeder vernünftige Erzieher wird genauso handeln. Fatal wird die Bibelauslegung, wenn sie Gebetserhörung mit dem Anspruch verknüpft, dass der Gläubige seine Unvollkommenheit überwindet. 199 199 Siehe die 3. Behauptung: “Wenn wir nur wollen, können wir die Sünde lassen. , Seite 50. 101 Wenn das stimmt, dann gibt es überhaupt keine Gebetserhörung – denn das ist unmöglich: “wenn wir behaupten, wir hätten keine Sünde, dann lügen wir.” (1.Jo 1,8) Es bleibt dann nur die Verzweiflung oder religiöser Hochmut. Man kann es nur Hochmut bzw. Blindheit nennen, wenn Gläubige meinen, so untadelig zu sein, dass Gott sie “erhören müsse”. Mit Wohlverhalten lässt sich Gott nicht manipulieren. Die Bibel lädt aber die Gläubigen ein, den Vater im Himmel zu bitten: “Ihr habt nicht, weil ihr nicht bittet“. (Jak 4,2) Dazu gehört aber auch der Hin­ weis, dass die Bitte nicht egoistisch sein darf: “Manche von euch bekommen nichts, weil sie in übler, egoistischer Weise bitten. Ihr Treulosen, wisst ihr nicht dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott bedeutet?” (Jak 4,3-4). Auch Jesus betonte, dass Gott gerne Bitten erhört, die seinem Willen entsprechen: “was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, um den Vater im Himmel zu ehren.” (Joh 14,13) Um zu wissen, was man beten soll, braucht der Gläubige eine enge Beziehung zu Jesus und eine innerliche Ausrichtung auf die unsichtbare Welt: “Bemüht euch eifrig um das, was in der unsichtbaren Welt wichtig ist, und nicht um das, was die Welt irrtümlich für wichtig hält.” (Kol 3,2) Festzuhalten ist: Gott sieht es gerne, wenn seine Gläubigen ihn bitten und gibt grundsätzlich gerne und großzügig. (Luk 11,11 / Jak 1,5) Dessen ungeachtet wird Menschen manchmal schwerstes Leid zugemutet, ohne das Gott die Bitte um Hilfe erhört. Paulus flehte dreimal, dass Gott ihm eine schwer erträgliche Krankheit wegnehmen möge. “Gott antwortete: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.” (2.Kor 12,9) Diese Tatsache widerspricht einer voreiligen Pauschalisierung von Jes 53,4 (Jesus trägt die Krankheiten des Gläubigen) bzw. von Jak 5,15, wo es heißt, dass das Ältestengebet bei Krankheit helfen soll. Unerträglich war auch die lange Leidenszeit des Hiob, von dem das älteste Buch der Bibel berichtet. Gott schenkte ihm Erlösung noch in diesem Leben. 102 Hebr.11,35 ff berichtet von Gläubigen, die erst im nächsten Leben aus ihrer Not erlöst werden werden. Der Gläubige soll auch in aussichtsloser Situation am Glauben festhalten und Gott mit diesem Vertrauen ehren. Gottvertrauen ist eine grundsätzliche Entscheidung und nicht von Gebetser­ hörung abhängig. Es wird niemals soviel Gebetserhörung geben, dass sie als “Gottesbeweis” dienen könnte und das Vertrauen überflüssig macht. Der Gläubige lebt hier auf Erden “im Glauben und nicht im Schauen” (2 Kor 5,7) Die Quelle seine Vertrauens sind nicht spektakuläre Wunder (die allesamt bezweifelbar wären !), sondern die Erfahrung, dass Gott die Persönlichkeit und den Charakter 200 prägt. Diese Erfahrung ermutigt dazu, sich Gottes Füh­ rung immer mehr anzuvertrauen und Prioritäten im Leben entsprechend zu setzen. Was tut der Mensch mit wunderbaren Gebetserhörungen ? Wieviel Men­ schen haben jahrelang gebetet, dass doch die Teilung Deutschlands ein Ende haben möge. Gott hat es geschenkt, dass viele Menschen schon zu ihren Lebzeiten die Erfüllung dieser Bitte erlebten – ohne dass ein Mensch dabei zu Schaden kam. Man kann es nun von zwei Seiten sehen: “Die Gläubigen haben die DDR kaputtgebetet”. Oder: “Da die DDR finanziell am Ende war, hätte es über kurz oder lang so kommen müssen…” Tatsächlich? Wieviele Menschen bitten Gott in höchster Not und wenn sie dann das Erbe­ tene erhalten haben, ist alles vergessen. Kein Gedanke mehr an Dankbarkeit. Hinterher heißt es nur: “Glück muss der Mensch haben.” 13. Behauptung: “Krankheit ist ein starkes Indiz für mangelnden Glau­ ben oder heimliche Sünde.” Krankheit kann die Folge von Fehlverhalten sein: ein sexuell zügellos leben­ der Mensch kann sich AIDS einhandeln, ein rücksichtsloser Fahrer im Ver­ kehr kann verunglücken, ein Drogenkonsument kann abhängig und gesund­ heitlich ruiniert werden, ein “Workoholic” kann an seinem Herzinfarkt selbst schuld sein. 200 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173. 103 Doch viel häufiger ist die unverschuldete, schicksalhafte Krankheit. Sie wird auch heute noch immer wieder von gewissen frommen Leuten als Strafe Gottes gedeutet. Wie blind muss man da sein! Was lässt nur Gläubige an sol­ chen erbarmungslosen Ansichten festhalten? Der Pharisäismus hat viele Varianten. Manche führen eben nicht nur ihren Berufserfolg, sondern auch ihre Gesundheit ausschließlich und einzig auf ihre moralische Überlegenheit zurück. Gott hat sie damit gesegnet, er konnte gar nicht anders, als sie zu belohnen (vgl 5.Mo 28), sodass sie nun weniger frommen Menschen, die leiden müssen, als leuchtendes Beispiel dienen. Jesus hat in aller Deutlichkeit das Gegenteil gesagt. Leid ist nicht ein zwin­ gender Beweis für Sünde, sondern eine Gelegenheit für Gott, seine Kraft zu zeigen. (Jo 9, 1-3) Diese Kraft kann heilen, aber auch zum geduldigen Ertra­ gen der Krankheit befähigen. Wieviele Beispiele von Gläubigen gibt es, deren starker Glaube gerade durch ihre Krankheit anderen vor Augen geführt worden ist. Der Apostel Paulus selber hatte Gott gebeten, ihn von einer gesundheitlichen Belastung, “dem Pfahl im Fleisch” zu befreien. Er erhielt die Antwort: “Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.” (1.Kor 12,7-9) Seelische Krankheit, chronische Depressionen, eine ins Merkwürdige hinein verformte Persönlichkeit können ein Hinweis auf sektiererische 201 Elemente in der Gemeindelehre sein. Sie können auch ein Hinweis auf notorische Unehrlichkeit der Gemeindelei­ tung sein, falls diese den Zusammenhang erkannt hat, sich aber weigert, die Gläubigen darüber aufzuklären. 201 Siehe ausführlich das Kapitel „Was ist Irrlehre“ im Internet. 104 14. Behauptung: “Bei Krankheit den Arzt zu holen, ist ein Beweis man­ gelnden Gottvertrauens und daher Sünde.” Und Asa wurde krank an seinen Füßen … und seine Krankheit nahm sehr zu; und er suchte auch in seiner Krankheit nicht den HERRN, sondern die Ärzte.” (2.Chr 16,12). Muss sich der Gläubige entscheiden: Entweder den Herrn bitten oder die Ärzte? “Verflucht sei, der sich auf Menschen verlässt”? (Jer 17,5) In einer kleinen Gemeinde in Indiana liegen schon über 50 Opfer dieser Bibelauslegung auf dem Friedhof. 202. Hat sich nicht Gott verpflichtet zu helfen ? Hatte Jesus nicht versprochen: “alle Dinge sind möglich, dem der da glaubt?” (Mk 9,23). Gegenfrage: hat Jesus nicht gesagt: “hört auf meine Worte: selbst wenn euer Glaube nur so klein ist wie ein Senfkorn, dann könnt ihr zu diesem Berge sagen: bewege dich von hier an jenen Platz, dann wird er sich bewegen. Selbst dann wird euch nichts unmöglich sein.” (Mt 17,20) Wenn man testen möchte, ob der eigene Glaube ausreicht, Gott zur Hilfe zu zwingen, dann sollte man ihn doch erst einmal an einem Berg ausprobieren, bevor man auf den Arzt verzichtet. Gefährliches wörtliches Missverstehen! Es geht Jesus nicht um die Fähig­ keiten des Gläubigen, auch nicht darum, dass er ein Höchstmaß an mora­ lischer Vollkommenheit nachweist! Er fordert den kleinen Menschen nicht auf, seine ganze “Glaubenskraft” zusammenzuraffen, um einen unendlich großen, gleichgültigen Gott zu bewegen. Jesus sagt genau das Gegenteil: euer Glaube kann so klein sein, dass man ihn kaum sieht – wie ein Senfkorn. Gott ist aber selbst der kleinste und erbärmlichste Glauben kostbar. Er freut sich darüber, dass überhaupt Glauben vorhanden ist. Dieser ganz kleine Glaube lohnt sich und kann zu größten Erfolgen führen. Es gibt keine einzige Bitte, die Gott nicht erhören könnte – bloß weil der Glaube so klein war. 202 vgl. Philipp Yancey, Von Gott enttäuscht, Metzingen/Württ., S.16-17. 105 Deswegen sagte Jesus: “Alles ist möglich“. Die Wirksamkeit des Gebetes ist eben nicht von der Willenskraft oder Glaubenskraft der Menschen abhängig – sondern nur von der Frage, ob Glauben da ist oder nicht. Schlimm ist es nur wenn der Gläubige den Glauben ganz fahren lässt, bloß weil dieser Glaube nur klein ist. “Ein Mensch, der gar nicht glaubt, sondern zweifelt, soll nicht denken, dass er irgendetwas von Gott bekommen wird.” (Jak 1,7) Mit dem Zweifel, ob Gott ihn überhaupt beachtet und hört, darf der Gläubige nicht liebäugeln. Einst bat ein Vater Jesus, seinem Sohn zu helfen mit den Worten: “Kannst du aber was, so erbarme dich unser und hilf uns!” Hier kommt Zweifel zum Ausdruck, den Jesus zurückweist: “Wenn du doch glauben wolltest! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.” (Mk 9,23) Jesus konnte den Jungen heilen, weil der Vater den Zweifel losließ: “Ich glaube, lieber HERR, hilf mir in meinem Unglauben!” (V.24) 15. Behauptung: “Durch das Anhören weltlicher Musik kann Besessen­ heit (Dämonen) übertragen werden, die man nur sehr schwer wieder los wird.” Fromme Gruppen, die solche Sonderlehren pflegen, begründen ihre rigoro­ sen Verbote gerne mit der Angst vor dämonischen Einflüssen. Sie warnten, dass der Gläubige keine Musik hören dürfe, deren Rhythmus aus afrika­ nischen Kulten stammt, da andernfalls “Besessenheit” automatisch übertra­ gen werden könne. Verständlicherweise wird das Gewissen in der Folge jedesmal heftig Alarm schlagen, wenn „afrikanische“ Musik gespielt wird. Ja, es kann noch schlimmer kommen: die Gewissensnöte entstehen mögli­ cherweise auch bei nicht-afrikanischer Musik, da sich die Musikstile vielfäl­ tig beeinflussen und ihre Herkunft oft nicht einfach festzustellen ist. Weil von der Vollkommenheitslogik her nur der völlig bedenkenlose Gebrauch zulässig (Röm 14,23) ist, zugleich aber eine ‘Reinheitsprüfung’ niemals mit absoluter Genauigkeit durchgeführt werden kann, hat jede „Infektionstheo­ logie“ die zwangsläufige Tendenz zum Totalverbot. 106 In gewissen schmalspurig denkenden Gruppen wird die Auswahl von vorn­ herein sehr eng gefasst. Von einem Gemeindeleiter wird berichtet, dass er vor Entsetzen außer sich geriet, wenn jemand andere fromme Lieder anstimmte, als sie in dem von ihm genehmigten Kirchengesangbuch vorge­ geben waren. Keine Frage, dass auch hier die Gewissen leicht beeinfluss­ barer Mitmenschen geprägt wurden. Eine ähnliche Infektionshysterie hat das Buch von Vance Packard, “Die geheimen Verführer” ausgelöst. Er zitiert dort einen Zeitungsbericht, in dem behauptet wurde, dass eine Eiscreme-Firma Werbedias in Kinofilme ein­ fügen ließ, die vom Zuschauer nicht bewusst wahrgenommen wurden. Auf diese Weise habe sie ihren Umsatz deutlich steigern können. 203 Obwohl Packard durchblicken ließ, dass man an diesem Bericht auch seine Zweifel haben könne, waren etliche „Strenggläubige“ ihrer Sache desto sicherer und befürchteten, dass in Filmstreifen einzelne Bilder mit gottlosem Inhalt eingefügt seien, die der Betrachter nicht sehen könne, die sich aber in seinem Unterbewusstsein festsetzen würden. In der Folge wurden auch die harmlosesten Filme von den entsprechend indoktrinierten Gläubigen als gefährlich betrachtet. Jedoch war die Sensa­ tion nur ein Hirngespinst. Die Wirkungslosigkeit solcher Bildeinfügungen war schon früher auf verschiedene Weise nachgewiesen worden. 204 Diese zwei Beispiele sollten genügen, um aufzuzeigen, dass das Gewissen durchaus auch mit haltlosen Behauptungen geprägt werden kann. Was nimmt man den Menschen alles weg, wenn man alle Musik als giftig verbietet, die nicht von “Strenggläubigen“ produziert wurde! Wie wohltuend kann Musik auf die Seele wirken, die von begabten “weltlichen” Kom­ ponisten komponiert wurde! 203 Packard, Vance, “Die geheimen Verführer”, Düsseldorf 1967, S.33-34. 204 R.A.Bauer, “The Limits of Persuasion”, Harvard Business Review, Sep-Okt 1958, Seiten 105-110 / J.T.Klapper,”The Effects of Mass Communication”, New York, Free Press, 1960 / Bauer, “The Initiative of the Audience”, Journal of Advertising Research, Juni 1963, Seiten 2-7. 107 Zugegeben: es gibt manches, was nicht jedem guttut. Der Seele tut es aber erst recht nicht gut, wenn man jedes Hören von Musik zu einer Angelegen­ heit von Himmel und Hölle macht! Man treibt die Menschen dadurch nur in eine ständige Ängstlichkeit hinein. Verantwortungslos! Für die seelische Gesundheit ist das schädlich! Dem Zusammenhalt einer Sekte nützt es natürlich. Sekten sind typischer­ weise bemüht, bei ihren Mitgliedern eine phobische Weltsicht zu erzeu­ gen, in der alles, was von außen kommt, als böse und bedrohlich emp­ funden wird. Um so ängstlicher drängt sich dann die Herde um den unberu­ fenen “Hirten” und frisst ihm quasi aus der Hand. Der “Hirte” mag sich selber weiden und rücksichtslos gegen seine Schäf­ chen sein – man bleibt trotzdem bei ihm, denn anderswo soll es ja angeblich noch schlimmer sein. In der Tat, der fromme Bruder, der mit der Musik angeblich so genau Bescheid wusste, herrschte in der von ihm gegründeten kleinen Glaubensgemeinschaft wie ein Diktator. 16. Behauptung: “Zwanghafte Lästergedanken sind ein Beweis, dass der Gläubige vom Satan besessen ist. Er kann nur durch Exorzismus befreit werden.” Es ist doch sonnenklar. Lästerung ist eine Entwürdigung Gottes und wer anderes als der Satan könnte dahinter stecken? Und wenn der Gläubige diese Gedanken nicht will, aber dennoch aussprechen muss, so kann doch nur eine viel stärkere Macht als er selbst in ihm wirksam sein und diese Macht ist nicht gut, sondern böse! Tatsächlich? Ein gläubiger Mensch möchte Gott loben und gut von ihm reden und findet Gedanken, die Gott beschimpfen, natürlich sehr störend. Doch woher kommen diese Gedanken? Dass man etwas denken muss, was man nicht denken will, ist ein bekanntes Phänomen. Sagen Sie jemand, dass er auf keinen Fall an eine große Frauenbrust denken soll, die durch die Landschaft rollt und er wird sofort und wiederholt daran denken. 108 Und je mehr Energie er darauf verschwendet, eben das nicht zu denken, desto mehr wird ihn diese Vorstellung beschäftigen. Es ist wie ein Sog. Die­ ser Mechanismus funktioniert mit lustigen, aber auch mit beschämenden und erschreckenden Gedanken. Die Person Gottes muss dabei gar nicht vorkom­ men. Die Neigung zu solchen Gedanken kann verstärkt werden durch dazu passende Erlebnisse. Nehmen wir an, jemand war mit einer sehr attraktiven Frau liiert, aber leider hat sie sich von ihm getrennt. Je schöner die gemein­ same Zeit war, desto mehr wird dem Betreffenden das sexuelle Defizit schmerzhaft bewusst. Man darf annehmen, dass ihn deshalb sexuelle Phanta­ sien viel mehr beschäftigen. Wenn jetzt ein Gläubige stark unter religiösen Zwängen leidet, sich durch vermeintlich biblische, aber unbarmherzige The­ ologie ständig überfordert sieht, und – so sehr er es auch wünscht – Gott gar nicht mehr als liebevollen Vater, sondern eher als Tyrann empfindet, dann wird er gegenüber negativen Gedanken über Gott immer weniger Wider­ standskraft haben. Er erkennt diesen Zusammenhang und fühlt sich schuldig, da er die Forderungen der vermeintlich biblischen Theologie nicht erfüllt. Würde er sie alle erfüllen, dann könnte er ja auch positiv über Gott denken. Er erkennt nicht, dass das Gebot, “vollkommen zu sein” (Mt 5,48) gar nicht erfüllt werden kann, und hat nie erfahren, wie Sätze dieser Art tatsächlich gemeint sind. Vollends verzweifelt wird seine Situation, wenn sich die beschimpfenden Gedanken gegen den Heiligen Geist richten, da er weiß, dass die Lästerung des Heiligen Geistes 205 eine Sünde ist, die “niemals mehr vergeben werden kann“. (Mt 12,36) Da er meint, wegen mangelnder Vollkommenheit 206 für diese Gedanken trotz allen Widerstandes teilweise verantwortlich zu sein, kreist sein Denken bald ständig um dieses Thema. Die einzige Möglichkeit, jeden Verdacht einer Mitschuld – der die Seele unheilbar belasten würde – auszuschließen, ist die sofortige Korrektur des Gedankens. 205 Siehe in diesem Kapitel die 9.Behauptung „ “Man kann durch ein einziges unüber­ legtes Wort in die Hölle kommen.”, Seite 88. 206 Siehe in diesem Kapitel die 3 Behauptung „“Wenn wir nur wollen, können wir die Sünde lassen.“, Seite 50. 109 Wenn er immer sofort das Gegenteil gedacht hat, dann hat er sich und Gott den Beweis erbracht, dass er die Lästerung nicht wollte. Nur so kann er sei­ nen Seelenfrieden retten. Seine große Angst ist, dass Gott eine einzige aus­ bleibende Korrektur als Zustimmung werten konnte. Man kann sich leicht vorstellen, wie extrem stark der Sog solcher Gedanken­ gänge und wie grausam diese ständig überfordernde Zwangslage ist. Fak­ tisch ist es aber derselbe Mechanismus, den es auch in harmloser Form bei jedem Menschen gibt. Solche Ängste sind nur möglich, wenn der Gläubige kein verlässliches, posi­ tives Gottesbild bilden konnte. Das Gottesbild wird geprägt durch die Theologie, aber auch durch die Biographie. Einem Menschen, der ein weitgehend störungsfreies Leben führen durfte, fällt es nicht schwer, an einen freundlichen und liebevollen Vater im Him­ mel zu glauben. Ein Mensch dagegen, der immer wieder von Schicksals­ schlägen verfolgt wurde, empfindet sich sehr schnell als “verflucht” und Gott als entsprechend fern und ablehnend. Umso wichtiger ist es, Abstand zu schädlicher und verzerrender Theologie zu halten. Menschen, die in dieser Situation stehen, wird ein Exorzismus nicht helfen. Besonders muss man davor warnen, einen Exorzismus gegen den Willen des Betroffenen durchzuführen, da man ihn damit aufs Äußerste entwürdigt und ihn als willenloses Stück Fleisch sieht, eine Marionette, die von bösen Gei­ stern bewegt wird. Das Neue Testament berichtet, dass Jesus den bösen Geistern gebot und sie daraufhin ausfuhren. Auch von Paulus wird Ähnliches berichtet (Apg 16,18). Doch es ist sicherlich angebracht, darauf hinzuweisen, dass Jesus als der Sohn Gottes und die von ihm bestimmten Apostel eine besondere Auto­ rität hatten. Mit dem Kopieren der Austreibungsformel ist es sicherlich nicht getan. Um den Satan auszutreiben, muss er überhaupt erst einmal in den Betreffenden hineingefahren sein. Wenn das nicht der Fall ist, sondern wenn es sich nur um eine Verklemmung der Seele handelt, dann sind solche Ver­ suche überflüssig und möglicherweise sogar schädlich. 110 17. Behauptung: “Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wortlaut hält, ist das beste.” Selbstredend ist die Grundlage des seriösen Bibelstudiums das sorgfältige Lesen des Urtextes oder von Übersetzungen, die sich eng am Urtext orientie­ ren. Doch das reicht für eine Interpretation nicht immer aus. Denn biblische Aus­ sagen sind nicht gleichwertig. Sie stehen in einer Rangfolge. Aussagen mit geringerem Rang sind im Lichte höherwertiger Aussagen zu deuten. Höchste Autorität haben die Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi: Barmherzigkeit, 207 Gerechtigkeit, 208 Ehrlichkeit 209 (Mt 23,23). Man kann keinen biblischen Satz richtig einordnen, wenn man dabei diese Maßstäbe nicht berücksichtigt. Ergänzend sollte man beachten, dass es nicht genügt, über diese Maßstäbe theoretisch nachzudenken. Wenn der Übersetzer ihren tieferen Sinn erfassen will, dann sollte er sie in seinem täglichen Verhalten, insbesondere im Umgang mit Andersdenkenden 210 respektieren. Die Funktion des Buchstabens illustriert ein schöpfungsgemäßes Inspirati­ onsmodell. Der Buchstabe enthält das Leben nicht selbst. Er selbst gibt kein Leben, sondern “tötet“. (2.Kor 3,6). Aber wenn der Gläubige sich um die Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi bemüht, die geistliches Leben aufschließen, kann der Buchstabe selbst wieder zu Leben und Wachstum beitragen. Es gibt hier eine Ähnlichkeit mit dem biologischem Leben. Die DNS selbst lebt nicht. Sie ist ein Eiweißmolekül, das für das Leben wesentliche Infor­ mationen enthält. Aber wenn die DNS eingebettet wird in eine lebendige Zelle, wenn sie mit Leben verbunden wird, dann beginnt sie zu arbeiten und ihre Informationen kommen dem Leben und dem Wachstum zugute. Kommt die DNS nicht in eine lebende Zelle, wird sie ein lebloses Eiweißmolekül bleiben. Nichts wird geschehen. 207 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet). 208 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188. 209 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 ... mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdig­ keit” übersetzt?“, Seite 190. 210 Siehe S.209. 111 Offensichtlich lehrt uns das inspirierte Wort Gottes, die Rangordnung seiner Aussagen als unveränderliche Eigenschaft zu erkennen und zu respektieren. Um die tatsächliche Bedeutung einer Aussage zu erschließen, müssen wir als erstes eine Verbindung zu den Qualitätsmaßstäben Christi herstellen. Auf diese Weise schützt das inspirierte Wort Gottes seine Autorität gegenü­ ber Auslegern, die Auslegung als pure Denksportaufgabe betrachten, die mit linguistischen und theologischen Instrumenten zu lösen ist. Viele Gläubige meinen ja, dass deshalb ein Professor oder Doktor der Theologie die Heilige Schrift am besten auslegen könne. Wenn wir der Schrift glauben, dann müssen wir entgegnen: auch wenn wir gewiss von mancherlei Detailkenntnissen der Theologie profitieren, versteht ein Professor oder Doktor der Theologie die Bibel so schlecht oder so gut wie andere Gläubige auch. Erkenntnis Gottes hängt nicht vom Wissen ab, sondern vom Geist Gottes. Deswegen sagt Jesus auch: “ihr sollt euch nicht “Lehrer” nennen lassen. Ihr seid alle Brüder” (Mt 23,8) und Paulus sagt durch den Heiligen Geist: “der geistlich gesinnte Gläubige beurteilt alles.” (1.Kor 2,15). Der Heilige Geist kann einen Laien mit besonderem Bibelver­ ständnis begaben. Wer eine intellektuelle Schulung oder Ausbildung über die Erläuterungen solcher Laienboten 211stellt, versteht von biblischer Inspi­ ration wenig bis gar nichts. Das Gegenteil ist wahr. Die Bibel hat ihre spezielle Weise, intellektuellem Hochmut zu widerstehen. Sie zeigt uns in vielen Beispielen, dass geistloser Intellektualismus immer wieder haarsträubenden Unsinn oder gefährliche Halbwahrheiten erzeugt. “Gott widersteht den Hochmütigen. Aber den Demütigen schenkt er seine Gnade.” (Jak 4,6) Eine wortwörtliche Auslegung, die allen Textteilen gleichen Rang zuer­ kennt, führt zu keinem sinnvollen und praktikablen Verständnis von 1.Kor 6,1-6. Die Ermahnung des Paulus, Rechtskonflikte durch Gläubige entschei­ den zu lassen, wird deshalb traditionsgemäß in bibeltreuen Gemeinden igno­ riert. (“Dilemma“ 212) Mit einem wortwörtlichen Verständnis von Phil 2,12 läßt sich sogar die Sünde der Werkgerechtigkeit als heilige Pflicht rechtfertigen. 211 Siehe unter Stichworte“ den Artikel „Laienbote“ (Internet) 212 Siehe den Abschnitt „Dilemma“, Seite 159. 112 Eine sklavisch am Buchstaben klebende Interpretation der Worte Jesu über die Ehescheidung kann notwendige Maßnahmen der Gemeindezucht 213 unglaubwürdig und unwirksam machen. Mit Hilfe der Qualitätsmaßstäbe Jesu erkennen wir, dass heute die Anwei­ sungen des Paulus und des Petrus zur Sklaverei (1.Tim 6,1-2 / 1.Pe 2,18) nicht mehr verbindlich sind und wir fragen nach den Gründen, warum sie damals mit diesen Maßstäben verträglich waren. Wäre das nicht so, dann müssten wir heute die Sklavenhaltung in mosle­ mischen Ländern sowie die Sklaverei der Kinder in Indien nicht nur als gott­ gegeben tolerieren, sondern sogar unterstützen. Anderes Beispiel. Paulus schrieb: “Es hat einer ihrer eigenen Propheten gesagt: “Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche.” Dieses Zeugnis ist wahr.” (Tit 1,12-13) Das ist ziemlich genau Wort für Wort übersetzt. Fahre nie nach Kreta! Dort wirst du nur betrogen und belogen! Tatsächlich ? Wie könnte man die Sätze treffender wiedergegeben? Ein Versuch: “Mancher von euch wird das Paradoxon des griechischen Denkers (Epimenides) kennen, der sagte: “ein Kreter sagte: ein Kreter lügt immer.” Seht ihr den Widerspruch? So gibt es Leute, bei denen weiß man nie, woran man ist. Sie sind nicht nur ans Lügen gewöhnt, sondern sie sind zudem gefährlich wie Raubtiere und immer zu faul, wenn es darum geht, das Richtige zu tun.” Wie man sieht, haben die Empfänger des Paulusbriefes Kenntnisse, die man für den Leser heute ergänzen muss, wenn er die Sätze richtig verstehen will. Wörtliche Auslegung hat zu dem gefährlichen Missverständnis geführt, dass der Gläubige keinen Arzt konsultieren dürfe 214und Heilung nur von Gott erwarten dürfe. 213 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Gemeindezucht“, (Internet). 214 Siehe die 14. Behauptung “Bei Krankheit den Arzt zu holen, ist ein Beweis man­ gelnden Gottvertrauens“, Seite 105. 113 Noch grotesker ist das Missverständnis, zu dem wörtliche Interpretation von Mk 16,18 geführt hat. Dort heißt es: “Die Zeichen, die denen folgen, die glauben, sind folgende: in meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Sprachen reden, Schlangen vertreiben und falls sie ein tödliches Gift trinken, wird es ihnen nicht schaden…” Rund 100 Kirchen pfingstle­ rischer Ausrichtung in Tennessee und benachbarten Bundesstaaten im Süd­ osten der USA hantieren unter Berufung auf das Markus-Evangelium im Gottesdienst mit Giftschlangen, um ihre Glaubensstärke zu demonstrieren.215 Ein neues Opfer dieser wahrlichen “giftigen Theologie” war der Prediger Jamie Coots, der in den USA durch die TV-Serie “Snake Salvation” bekannt wurde. Auch er hantierte er im Gottesdienst mit Schlangen herum und starb, nachdem er ärztliche Behandlung nach einem Biss zurückgewiesen hatte.216 Immer wieder hört man von solchen Beispielen destruktiver Schriftausle­ gung. Es gibt eine Internetseite, die für diese Philosophie werben darf. 217 Weiter ist zu beachten, dass der Wortlaut den irreführenden Eindruck ver­ mitteln kann, dass es keine einzige Ausnahme gibt (biblischer Pauschalstil 218 1). Die Gesamtaussage der Bibel muss bei der Interpretation einer Bibel­ stelle berücksichtigt werden, wobei die Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi höchste Priorität haben. Daraus folgt auch, dass die sinnvolle Verwendung eines Wortes oder Satzes von der Bedeutung abweichen kann und darf, die sich aus dem Zusammenhang ergibt. Beispiel: In 1.Tim5,17 werden die Gläubigen ermahnt, die Ältesten, die gute Arbeit leisten, "zweifacher Ehre wert zu halten". Der vorangehende und der folgende Vers spricht über die materielle Versorgung, sodass manche Ausle­ ger hieraus geschlossen haben, dass Älteste nach dem Willen Gottes dop­ peltes Gehalt zu beanspruchen hätten im Vergleich zu anderen Gemeindemi­ tarbeitern. 215 http://aktuell.evangelisch.de/artikel/91409/keine-anklage-gegen-schlangen-pastorden-usa, (eingestellt am 10.01.2014). 216 (http://www.youtube.com/watch?v=ZZUdKAYdeeU, (eingestellt am 18.02.2014). 217 http://holiness-snake-handlers.webs.com/. 218 siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Biblischer Pauschalstil“ (Internet). 114 Andererseits ermahnt Paulus ein Kapitel weiter, dass Timotheus wie auch allgemein Gläubige sich an "Nahrung und Kleidung genügen lassen sollten" (1.Tim.6,8), weil aus der Frömmigkeit "kein Gewerbe" gemacht werden darf. Was stimmt denn nun ? Man kann natürlich vermuten, dass in Ephesus die Prediger bisher sehr kläglich bezahlt wurden und durch eine Verdoppelung dieses Defizit aufholten. Von etlichen Auslegern aber wird die Mahnung des Paulus gerne verallge­ meinert: Predigern und Ältesten steht doppeltes Gehalt zu. Tatsächlich ? "Gute Arbeit" mit einem hohen Einkommensvorsprung zu belohnen, steht mit der Tatsache in Widerspruch, dass sich gute Arbeit eben besonders durch Uneigennützigkeit auszeichnet. Paulus weist genau darauf hin, damit die Gemeinde in Korinth die erbärmlichen Motive seiner Konkurrenten in Korinth erkennt. Wie sollte man auch "gute Arbeit" definieren ? Soll man Bekehrungen zäh­ len, die möglicherweise durch das Zusammenwirken von mehreren Gläu­ bigen zustandegekommen sind ? (1.Kor 3,6) Ist die harte Arbeit von Street­ workern und Diakonen z.B., die sich verstärkt um Menschen in sozialen Notlagen mühen, weniger "gute Arbeit" ? Wird der Gemeinde auferlegt, den Zehnten zu geben, so ist die Gewährung doppelten Lohnes sehr unfair. Armen Gläubige wird auferlegt, von dem, was für einfachste Bedürfnisse der Familie kaum ausreicht, 10% abzugeben, damit Gemeindeälteste über diesen Bedarf hinaus Luxuseinkommen anhäu­ fen können. Hat Paulus das in der Tat empfohlen ? Nach dem Wortlaut könnte man das meinen, doch sicherlich hat er das nicht gemeint: es wäre ein klarer Verstoß gegen den Qualitätsstandard der Fairness. Wir stellen immer wieder bedauernd fest, dass die üblichen Modelle der Schriftinspiration die überragende Bedeutung der Qualitätsmaßstäbe Jesu für die Auslegung sträflich vernachlässigen und folglich gegen wörtliches destruktives Missverstehen unzureichend abgesichert sind. 115 18. Behauptung: “Die ethischen Aussagen des Neuen Testamentes haben alle die gleiche Autorität. Der Gläubige muss sie alle einhalten, wenn er nicht ungehorsam sein will.” Unterschiedliches Gewicht von Aussagen ist im biblischen Text selbst fest­ zustellen: Paulus differenziert zwischen einem ausdrücklichen Auftrag, den ihm der Herr gegeben hat, und seiner eigenen Meinung, die er gut begründet hat (1.Kor 7,12). Während auf dem Apostelkonvent noch der Verzehr von Götzenopferfleisch ausnahmslos verboten war (Apg 15), erlaubte ihn Paulus später unter der Bedingung, dass das Gewissen des schwächeren Bruders nicht überfordert wird. (1.Ko 11,29-30) Auch in bibeltreuen Gemeinden werden manche biblischen Aussagen nicht beachtet. Also wird ihnen keine Bedeutung zugemessen. Viele Gläubige hal­ ten es für besser, sich nicht danach zu richten: z.B. nach dem Gebot, dass Frauen beim Gebet einen Schleier tragen sollen (1.Ko 11,5). Wie Paulus sagt, soll diejenige Frau, die ohne Schleier auftritt, kahl geschoren werden: “man schneide ihr das Haar ab!” Ob es jemals eine Gemeinde gab, die die­ ser rabiaten Empfehlung folgte, ist nicht bekannt. Paulus ermahnte, dem Zungenreden “nicht zu wehren“. (1.Kor 14,39) und wünschte sich, dass die ganze Gemeinde diese Gabe hätte (1.Ko 14,5). In sehr vielen bibeltreuen Gemeinden ist genau das Gegenteil der Fall. Auch dieses Gebot wird nicht so wichtig genommen wie andere Gebote des Neuen Testamentes. Es ist schlecht für die Glaubwürdigkeit der Ethik, ein Bibelwort nur deshalb nicht zu beachten, weil man durch die Tradition an die Missachtung gewöhnt ist. Wenn gute Gründe für die eigene Überzeugung entbehrlich sind, weil man alles nur so machen soll, wie es immer war, dann macht man die Ethik zu einer Geschmacksfrage. Wie will man dann junge Menschen überzeugen, dass die biblische Ethik glaubwürdig ist? Die Jugend hat noch sich noch nie nach dem Geschmack der älteren Generation gerichtet. 116 Durch die willkürliche, unbegründete Aufhebung eines biblischen Gebotes wird nicht nur die Ethik zur Geschmacksfrage herabgewürdigt, son­ dern man macht sich damit selbst zum Papst, zum Mode-Papst, der ande­ ren vorschreibt, welchen Geschmack sie haben müssen. Diese Selbstüberhebung fordert den Widerspruch aller Gläubigen heraus, die sich nicht verpflichtet fühlen, die “Papst-Allüren” eines Gläubigen zu unter­ stützen. Wenn ein einzelner meint, ein biblisches Gebot willkürlich aufheben zu kön­ nen, dann muss er dieses Recht auch allen anderen zugestehen. Dies ent­ spricht dem Grundsatz der Gerechtigkeitsliebe 219 und Fairness, den Jesus für äußerst wichtig hielt (Mt 23,23) Damit wäre aber die Ethik aufgelöst. Daraus folgt, dass eine willkürliche Aufhebung auch eines gering erschei­ nenden biblischen Gebotes nicht erlaubt ist, sondern in jedem Fall mit einem höherrangigen Gebot begründet werden muss. Da Aussagen des Neuen Testamentes unterschiedliches Gewicht haben kön­ nen, stehen sie in einer Rangfolge, and deren Spitze die Qualitätsmaßstäbe Jesu Barmherzigkeit, 220 Gerechtigkeit, 221 und Ehrlichkeit 222 stehen.” (Mt 23,23). Es darf nicht sein, dass in bibelteuen Gemeinden Gebote unter den Tisch fal­ len, die diesen höchsten Maßstäben entsprechen: z.B. das Gebot, “alles zu prüfen” (1.Thes 5,21), oder das Gebot, sich für den Schutz der Schwächsten vor Unrecht einzusetzen (Jes 1,12ff / Mt 25,45) oder das Gebot, ehrlich Rechenschaft zu geben. (2.Kor. 7,2) 219 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 9. Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188. 220 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet). 221 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 9. Abschnitt („Gerechtigkeit“), Seite 188. 222 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 10. Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 ... mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdigkeit” über-setzt?“, Seite 190. 117 Wer diese Gebote geringachtet, muss, wenn er die Einhaltung der traditionell üblichen Gebote durchsetzen will, sehr bald auf die manipulativen Methoden 223 derer zurückgreifen, die wenig geistliche Autorität haben. Das erzeugt immerfort Spannungen und Spaltungen, wohingegen sich Gläubige auf der Basis biblischer Argumente und Prioritäten verständigen und respektieren können. 19. Behauptung: Die strengere und härtere Interpretation eines Gebotes ist in jedem Fall die bessere. (siehe hierzu Gegenbeispiele: “In Ordnung bringen“ 224, “Missionsschuld“ 225 , “kleine Sünde“ 226, “Lohn“ 227, “Gelübde“228, “Prügeln“ 229) Für Jesus war eine möglichst strenge Auslegung nicht automatisch die bes­ sere Auslegung. Er legte das Alte Testament so aus, dass der lebensför­ dernde Sinn (Mt 4,4) aufgeschlossen wurde: “Der Mensch ist nicht gemacht um des Sabbats willen, sondern der Sabbat um des Menschen willen.”(Mk 3,27) Die Pharisäer und Schriftgelehrten bevorzugten eine perfektionistische Aus­ legung. Sie legten fest, was alles am Sabbat als Arbeit anzusehen ist und nicht getan werden durfte. Sie legten die Anzahl der Schritte fest, die man am Sabbat gehen durfte und entschieden die Frage, ob man ein Licht anzünden dürfe usw. Sie meinten, dass sie am besten erkennen konnten, ob ein Mensch Gott gehorsam war oder ob er gegen Gott sündigte. 223 Siehe das Kapitel „Tricks“, (Internet). 224 Siehe die 1. Behauptung “Gott erwartet vom Gläubigen, dass er jede erkannte Sünde nachträglich in Ordnung bringt“, Seite 41. 225 Siehe die 8. Behauptung „Wer seine Mitmenschen nicht missioniert...“, Seite 86. 226 Siehe die 2 Behauptung „Kleine Sünden sind genauso schlimm wie Verbrechen“ , Seite 45. 227 Siehe die Behauptung „Je mehr du für Gott an Geld und Zeit opferst“ , Seite 77. 228 Siehe Seite 96. 229 Siehe die Behauptung „Prügeln ist ein unentbehrliches Erziehungsmittel des Christen.“, Seite 123. 118 Jesus warf ihnen vor, dass sie die wichtigsten Gebote “Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Verlässlichkeit” (Mt 23,23) als nebensächlich betrachte­ ten. Dadurch wird man geistlich blind, zum “blinden Blindenleiter“, der andere zur Grube führt und mit ihm zusammen hineinfällt (Mt 15,14). Jede Auslegung, die diese Maßstäbe als nebensächlich ansieht, verbreitet diese Blindheit. 20. Behauptung: “Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes” Die These, dass das Gewissen die „Stimme Gottes“ repräsentiere und „objektiver Maßstab“ sei, geistert immer noch in etlichen Köpfen herum. Sie lässt sowohl durch die Bibel selbst als auch durch einfachste Erfahrung widerlegen. Zunächst der biblische Beweis. Gott befahl Petrus, unreines, d.h. nach dem mosischen Gesetz verbotenes Fleisch zu essen. Petrus weigerte sich, wie sich jeder fromme Jude aus Gewissensgründen geweigert hätte. Aber Gott ant­ wortete ihm: „Was Gott gereinigt hat, das nenne du nicht verboten.“ (Apg 10,15) Das Gewissen des Petrus hat also nach Gottes ausdrücklichem Befehl falsch reagiert. Ein zweites Beispiel: manchen Gläubige verbot das Gewissen, Götzenopfer­ fleisch zu essen. Paulus kommentiert: „Ich weiß und Jesus der Herr bestä­ tigt es mir, dass uns keine Nahrung von Gott trennt, weil sie unrein ist, Wer aber etwas für unrein hält, für den ist es tatsächlich unrein.“ (Röm 14,14) Das Gewissen meldet also keinen objektiven Zustand „Vorsicht! Unrein!“, sondern das Handeln gegen das Gewissen macht immer unrein, egal ob es richtig oder falsch anzeigt. Das Gewissen aber kann durchaus durch über­ zeugende Argumente „umgeprägt“, neu orientiert werden. Überzeugende Argumente liefern sowohl Gott in der Vision, die er Petrus schenkte, als auch Paulus in seinem Brief. Welche Funktionen hat das Gewissen? 119 Das Gewissen ist ein vom Schöpfer der Seele eingepflanzter Mechanismus, der gewöhnlich durch Erziehung, d.h. durch die Vermittlung der elterlichen Normen „programmiert“ wird. Diese elterlichen Normen befinden sich auch i.d.R. im Einklang mit den Normen des sozialen Umfeldes, in dem die Fami­ lie lebt. Verstoß gegen die Normen löst Unwohlsein und Stress aus und den Wunsch, das Verhalten wieder den Normen anzunähern. Solche Orientierungen brauchen oft nur den Bruchteil einer Sekunde. Indem der Mensch in moralischen Fragen instinktiv handeln kann, kann er sich zeitraubende Analysen sparen. Zu bedenken ist hier auch, dass Kinder sol­ che Analysen z.T. noch gar nicht leisten können. Das ist also die erste Funk­ tion des Gewissens: die Entlastung des Denkens. Die andere Funktion ist die der Alarmsirene. Das Gewissen macht sehr starken Druck, wenn der Mensch ein Verhalten erwägt, das für die soziale Gemeinschaft, in die er eingebunden ist, völlig inakzeptabel ist: ein Tabu­ bruch, eine Schändlichkeit oder gar ein Verbrechen. Auch hier ist zu differenzieren. Es gibt Taten, die in jeder Kultur Verbrechen sind: z.B. Mord oder Diebstahl (innerhalb der eigenen Gruppe wenigstens). Bei Schändlichkeiten sieht es schon ganz anders aus. Das, was in einer Kul­ tur schändlich ist, kann in einer anderen ganz harmlos sein. Dazu wieder ein Beispiel aus der Bibel: ein Mann in Israel, der sich weigerte, die Frau seines verstorbenen Bruders zu heiraten, handelte höchst ehrlos. Ihm durfte ins Gesicht gespuckt werden. (5.Mo 25,5-10) Zweifelsohne hat das Gewissen hier auch entsprechend reagiert. Heute ist das überhaupt keine Gewissens­ frage mehr! Warum nun ist das Handeln gegen das Gewissen schädlich? Das Gewissen wird gebildet durch einen Überzeugungsprozess, den in erster Linie die Eltern aber auch das soziale Umfeld mitverantworten zum Zwecke automa­ tischer Orientierung. Gegen das Gewissen handeln, heißt daher gegen seine Überzeugung handeln, und das ist selbstzerstörerisch. Dafür ist der Mensch nicht geschaf­ fen. Er soll ehrlich, konsequent und seiner Überzeugung treu bleiben. 120 Der frühere Überzeugungsprozess kann jedoch de facto auf schlechten Argumenten beruhen, also Irrtümer enthalten. Deswegen ist es legitim, mit besseren Argumenten eine stärkere Überzeugung zu bilden, die die frühere ablöst. Dann handelt der Mensch zwar anders, im Widerspruch zu dem, was er frü­ her glaubte, aber wieder im Einklang mit seiner Überzeugung. „Ein jeder sei seiner Meinung gewiss!“ (Röm 14,5) Beispiele sind – wie gesagt – Petrus und Paulus! Also ist das Gewissen ein von Gott geschaffenes Instrument der Seele, mehr nicht. Die Frage, wann dieses Instrument sinnvoll angewendet wird bzw. wie es bei Kindern zu „programmieren“ ist, muss jeder Mensch selber glaubwür­ dig – in Übereinstimmung mit seinem aktuellen Wissensstand – beantwor­ ten. Man braucht wirklich keine besondere Wissenschaft, um festzustellen, dass das Gewissen fast in beliebiger Weise programmiert werden kann. Wenn man über den eigenen Tellerrand hinausschaut, dann kann man die spezi­ fische Prägung des Gewissens in verschiedenen Kulturen wahrnehmen. Sol­ che Unterschiede gibt es zudem bereits innerhalb der eigenen christlichen Kultur. Einige über das biblisch Gebotene hinausgehende Vorschriften, an denen sich selbstverständlich auch das entsprechend geeichte Gewissen ori­ entiert, habe ich bereits genannt. Ein weiteres besonders skuriles Beispiel einer Fehlprägung des Gewissens ist unter dem Punkt “Kann weltliche Musik Besessenheit übertragen ?” 230 nachzulesen. Halten wir fest: das Gewissen tut nicht mehr und nicht weniger, als Gehor­ sam entsprechend dem augenblicklichen Erkenntnisstand einzufordern. Seine Aufgabe ist, für die Übereinstimmung von Denken und Handeln zu sorgen. Das durch das Gewissen erzwungene Handeln aber kann falsch sein, wenn das Denken bereits fehlerhaft war. 230 Siehe Seite 106. 121 Sehr merkwürdig: warum meldet sich das Gewissen sich nicht, obwohl die von der Bibel ausdrücklich gebotene Fürsorge für die Ausländer in etli­ chen “bibeltreuen” Gemeinden höchst mangelhaft oder gar nicht vorhanden ist? Warum meldet es sich nicht, wenn kein Gemeindeschiedsgericht – wie in Mt 18,17 befohlen – eingerichtet wird und Gläubige auf ihrem Schaden sitzen bleiben? Warum meldet es sich nicht, wenn man „evangelikalen Femi­ nismus“ anstelle der biblischen Eheordnung als Richtschnur für die Ehen anzusehen beliebt? Vom Gewissen zu unterscheiden ist das Schamgefühl. Das Schamgefühl ist ebenfalls kein Beweis für die Sündhaftigkeit des Verhaltens. Auch der nach dem Maßstab der Bibel untadelige Geschlechtsverkehr wird nicht vor aller Augen auf der Terrasse vollzogen – was das Schamgefühl verletzen würde! -, sondern braucht einen geschützten Raum. Warum haben nicht wenige Eltern Mühe, ihre Kinder aufzuklären? Weil sexuelle Aufklä­ rung überflüssig und schändlich ist? Warum stehen Porzellanklosetts nicht völlig frei in der Landschaft, sondern befinden sich stets in einem Toiletten­ häuschen? Weil die Darmentleerung etwas Sündhaftes ist? Es existierte um die Zeit der Zeitenwende eine religiöse Gruppe, die sich aus religiösen Gründen bemühte, die Darmentleerung zu unterdrücken. Flavius Josephus schreibt über die Essäer, die strengste ordensartige Judensekte, dass sie den Sabbat noch strenger als alle anderen Juden beachten und es deshalb nicht einmal wagen, an diesem Tag ihre Notdurft zu verrichten. Wenn man einen Menschen als Gast hat, der völlig ausgehungert ist und der deshalb schlingt „wie ein Scheunendrescher“, dann guckt man ebenfalls nicht allzu sehr hin. Des weiteren entsteht Schamgefühl, wenn man sich bei der Erledigung einer beruflichen Aufgabe besonders dumm angestellt hat. Taktvolle Kollegen überspielen dann die peinliche Situation. All diesen Ereignissen ist gemeinsam, dass sich der Mensch hier von seiner schwachen Seite zeigt, mit einfachen Bedürfnissen, die er mit den Tieren gemeinsam hat, oder anderen allzumenschlichen Mängeln. Ein schwacher Mensch ist verwundbar. Boshafte Menschen nutzen deshalb solche Situati­ onen. Zum Schutz vor ihnen ist dem Menschen das Schamgefühl gegeben. 122 Natürlich entsteht Schamgefühl auch anlässlich falschen Verhaltens, aber der Umkehrschluss ist falsch! Man kann sich durchaus auch für etwas schä­ men, was – sachlich gesehen – gar nicht schändlich oder falsch gewesen ist. Man kann sich sogar für seinen christlichen Glauben schämen, was man – objektiv gesehen – nicht tun sollte (Mark 8,38 / Rö 1,16). Gewissen und Schamgefühle gehören quasi zur „Exekutive“ (zur ausführen­ den Gewalt) der Seele, nicht zur „Legislative“ (zur gesetzgebenden Gewalt). Sie sind gewissermaßen die Polizei der Seele. Die Polizei setzt die Gesetze durch. Sie wendet sie an. Aber sie macht die Gesetze nicht. Das, was richtig ist und was falsch, wird von der Regierung bzw. der verfas­ sungsgebenden Volksvertretung festgelegt. Als Regierung der Seele kann man die Erkenntnis des Menschen betrachten, seine Überzeugung. Um Überzeugung zu bilden, muss man gute Argumente bringen. Stehen zwei konkurrierende Gesetze zur Auswahl, zählt nur eines: für welches Gesetz die besseren Argumente sprechen. Überzeugende Argumente aber lassen sich besser der Bibel als der diffusen Gefühlswelt entnehmen. 21. Behauptung: “Die Körperstrafe (Prügeln) ist ein unentbehrliches Erziehungsmittel des Christen.” “Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald.” (Spr 13,24). Da steht es ja! Man soll die Rute nicht “schonen“. Wer drauflos prügelt und dabei mehrere Ruten verbraucht, der hat am besten verstanden, was Gott mit “Liebe” meint? Tatsächlich? Wer die Bibel wörtlich verstehen will, der sollte auch andernorts genau lesen. Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth: “Soll ich mit der Rute zu euch kommen oder mit Liebe und Sanftmut?” (1.Ko 4,21). Es gibt wohl kei­ nen einzigen Ausleger, der die Ansicht vertritt, dass Paulus tatsächlich mit einer Rute im Gepäck nach Korinth reisen und die Gläubigen durchprügeln wollte. Die Rute ist nur ein Symbol (!) der Bestrafung, die – bei schlimmem Fehlverhalten – entsprechend streng ausfallen kann. 123 Deswegen trifft diese Übersetzung den tatsächlichen Sinn am besten: “wer seinen Sohn nicht für böses Verhalten bestraft, der hasst ihn; wer ihn aber liebhat, der weist ihn zurecht.” Die Israeliten waren damals ein Volk von Viehzüchtern und Ackerbauern. Deshalb illustriert die Bibel so manche Glaubenswahrheit mit Beispielen aus der Landwirtschaft. Gott wird mit dem Hirten verglichen, der den “Stecken” gebraucht, um seine Schafe “zum frischen Wasser zu führen“. (Ps 1) Es hat wenig Sinn, einem Schaf oder einem Rind, das von der Weide weg­ läuft, um auf dem Feld des Nachbarn zu fressen, einen belehrenden Vortrag zu halten, dass man fremdes Eigentum respektieren müsse. Der Hirte kann nur mit einem unangenehmen Zwangsmittel, einem Stecken oder einem Schäferhund, auf das Tier einwirken. Daraus muss man aber nicht schließen, dass man seine Kinder wie Tiere behandeln und ggf. prügeln müsse. Es gibt wirksamere und würdigere Zwangsmittel, um Einsicht zu erzeugen. Wie wichtig es ist, angemessen zu bestrafen, zeigt die Geschichte des Prie­ sters Eli im Alten Testament. Seine Söhne, die ebenfalls Priester waren, vergingen sich an den Frauen im Tempel und stahlen von den Opfergaben. Anstatt sie – was angemessen wäre – sofort vom Tempeldienst zu suspendie­ ren, beließ es Eli bei einem milden Tadel: “Nicht doch, meine Söhne. Was ich über euch gehört habe, das ist nicht gut. Ihr verleitet das Volk Gottes zum Ungehorsam.” (1.Sam 2,24) Auch nachdem ihn ein Prophet ermahnt hatte, konnte er sich nicht zu strengen Maßnahmen durchringen. Die Folgen waren verheerend. In unserer Zeit hat der gänzliche Verzicht auf Zurechtweisung in Form der antiautoritären Erziehung zu moralischer Haltlosigkeit geführt und die Mög­ lichkeit, sich Gott zuzuwenden, aufs Äußerste erschwert. Bei etlichen Menschen mag aber dieser Irrweg eine Reaktion auf das Erlei­ den einer primitiven Prügelpädagogik gewesen sein, deren Autorität nicht mehr auf dem Vorbild und überzeugenden Argumenten, sondern im wesent­ lichen auf brutaler Einschüchterung beruhte. 124 Erziehung braucht Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Fehlt diese, dann kann man das Defizit auch nicht durch körperliche Gewalt ausgleichen. Zweifellos werden sich Kinder dann ihren Eltern äußerlich anpassen, solange sie anwesend sind. Sobald die Kinder aber mit ihren Freunden unter sich sind, werden sie sich nicht mehr an diese Normen halten – und später im Leben auch nicht. Das ist nur konsequent. Wenn die Eltern keine Überzeu­ gungskraft haben, dann heucheln sie. Warum soll das Kind dann nicht auch heucheln dürfen? Das, was die Eltern tun, hat immer viel mehr Gewicht als das, was sie sagen. Es muss davor gewarnt werden, das Kind immer und immer wieder durch Androhung von Prügel in Angst zu versetzen. “Warte, bis Papa nach Hause kommt, dann kannst du was erleben…” Wenn die Theologie das schlechte Gewissen überstrapaziert, verknüpften sich solche Ängste zu leicht mit dem Bild eines Gottes, zu dem man kein Vertrauen mehr fassen kann, weil man ständig Angst hat. Ständige Angst macht selbstbezogen und liebes­ unfähig, auch unfähig, den Segen der göttlichen Gebote zu erkennen. Ohne Strafen geht es nicht. Ausschluss von einer schönen Unternehmung, Kürzung des Taschengeldes, Wegsperren der Musikanlage oder des Handys und dergleichen mehr sind wirksam genug, erzeugen aber keine Angst. Sol­ che Strafen sind auch nachvollziehbar. Das Kind hat kein eigenes Einkom­ men. Alles was es hat, verdankt es seinen Eltern. Das, was es zurückgeben kann, ist Respekt und Gehorsam und wenn das fehlt, dann müssen die Eltern dieses Verhalten nicht mit weiterer Großzügigkeit belohnen. Arbeitsaufträge als Strafe sind umstritten, da es ein Vorrecht ist, arbeiten zu dürfen. Das Wohl des Kindes erfordert auch, sich weitergehende Überlegungen zur Effizienz einer Strafe und zu unerwünschten Nebenwirkungen zu machen 231 Auch in der Strafe sollte immer die Liebe der Eltern zu erkennen sein. Strafe darf keine Aktion sein, in der die Eltern ihre Wut abreagieren – und insoweit selber undiszipliniert sind. 231 Vgl. Michael Dieterich, Psychologie und Seelsorge, Wuppertal und Zürich, 2000, pp. 78-83. 125 Schadenfreude, Triumph, eine “Wie du mir- so ich dir” – Mentalität sind unglaubwürdige Verhaltensweisen. Genauso wie die Freundlichkeit kommt auch die Strafe “von Herzen”. Das Motiv ist immer das Wohl des Kindes. II. (Lehrsätze, die den Gläubigen des Rechtes berauben, sich vor Machtmissbrauch zu schützen…) 22.Behauptung: “Ein Gläubiger, der den Anweisungen des Gemeinde­ leiters nicht gehorcht, lebt in Rebellion gegen Gott.” Hier beruft man sich auf Hebr 13,17: “Gehorcht euren Lehrern und folget ihnen…” Der Vers geht aber folgendermaßen weiter: “…denn sie wachen über eure Seelen im Wissen, dass sie dereinst dafür Rechenschaft geben sollen…” Gemeindeleitern und Ältesten ist das Hirtenamt anvertraut. “Gebt Acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in die euch der Heilige Geist als Aufse­ her eingesetzt hat, damit ihr treue Hirten der Gemeinde Gottes seid. … Ich weiß, dass nach meinem Abschied gefährliche Wölfe bei euch eindringen und erbarmungslos unter der Herde wüten werden. Selbst aus euren eigenen Reihen werden Männer auftreten und die Wahrheit verdrehen, um die Jün­ ger des Herrn zu ihren eigenen Nachfolgern zu machen. Seid also wach­ sam … ” (Apg 20,28-31) Zum Hirtenamt berufen ist, wer die Herde am besten vor den Wölfen schützen kann. Umgekehrt sagt die Bibel über schlechte Hirten: “Den Schwachen steht ihr nicht bei, und die Kranken heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht und das Verlorene sucht ihr nicht; sondern streng und hart herrscht ihr über sie” (Hes 34,4) ? Deshalb haben Gläubige, die Mitchristen vor giftiger Theologie schützen wollen, in dieser Sache Autorität und göttlichen Auftrag und nicht etwa Gemeindeleiter, die das nicht wollen. 126 “An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen…” (Mt 7,16) “Prüfet alles…” – ohne Ausnahme!” Jesus hatte 12 Männer zu Augenzeugen seines Wirkens und zu Aposteln berufen. Er hatte ihnen höchste Autorität gegeben: “Was ihr auf Erden bin­ den werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel ungültig sein.” (Mt 18,18). Man könnte meinen, dass diese hohe Berufung den Aposteln eine Art institutionelle Autorität verliehen hätte, der der Gläubige nicht widersprechen dürfte. Doch das entspricht nicht der Wirklichkeit. Als Jesus diese Rede hielt, gehörte auch noch Judas Ischariot zu den Zwölf. Und nicht die Zwölf erhielten größte Autorität und den größten Einfluss. Paulus gewann später größere Bedeutung als sie alle. Petrus musste sich strengste, öffentliche Zurechtweisung durch Paulus gefallen lassen (Gal 2), obwohl Jesus ihn als den “Fels, auf den die Gemeinde steht” (Mt 16,18) besonders ausgezeichnet hatte. Beichtzwang ? In der katholischen Kirche ist die unangebrachte Aufwertung von Amtträ­ gern besonders ausgeprägt. Dort wird gelehrt, dass eine schwere Sünde (“Todsünde”) nur dann vergeben werden kann, wenn sie in der Beichte einem Pfarrer oder Priester mitgeteilt worden ist und dieser die Absolution erteilt hat. “Nur ein geweihter Priester, der auch rechtlich dazu befähigt ist (Beichtjurisdiktion), hat die Vollmacht, das Beichtsakrament zu spenden (Beichtvater).” (Quelle: kathpedia) Woher katholische Theologen das wohl wissen wollen ? Die Bibel ruft alle (!) Gläubigen auf, die Beichte eines Freundes anzuhören: “Bekenne einer dem andern seine Sünden und betet füreinander, daß ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstgemeint ist. ” (Jak 5,16) Wie gut, das wir katholische Theologen haben, die klarstellen, dass das Gebet eines “gerechten Gläubigen” weitaus weniger vermag als der Apostel Jakobus glaubt. 127 Die Behauptung des Jakobus muss man – wenn man der katholischen Sicht folgt – sogar verantwortungslos nennen (!), da hier Gläubige hier den falschen Eindruck vermittelt bekommen, dass sie auf diese Weise “gesund werden” können, während sie doch – mangels der Lossprechung durch den geweihten Priester – ewige Verdammnis erwartet. Was für eine schreckliche Falle! Soll man das wirklich glauben ? Wenn Gläubige sich an derartig absurden Aussagen nicht stören, dann ist Zweifel angebracht, ob sie auf diese Weise im Glauben jemals “gesund wer­ den” können. Wieso soll die Weihe, d.h. Rituale, vollzogen durch den Oberzeremonien­ meister, einen Vertreter der Institution Kirche exklusiv authorisieren, schwere Sünden zu vergeben ? Niemand weiß, welch unreifer Glaube, wel­ che fragwürdigen Motive hinter zur Schau getragener Frömmigkeit stehen. Ist der Genuß von Macht über geängstete Gewissen und Selbstüberhebung etwa keine schwere Sünde ? Zusätzlich erfährt man bei Gelegenheit Pein­ liches, das mit sexueller Frustration und Verklemmtheit zusammenhängt. Immer wieder wird sexueller Missbrauch an Schutzbefohlenen von Bischö­ fen unter den Teppich gekehrt. Die grundsätzliche Einstellung, das große Leid der Betroffenen zu ignorieren und bei Bedarf zu heucheln, ändert sich nicht. Wieso sollen solche Leute exklusive Autorität haben, schwere Sünden zu vergeben ? In Kirche und Gemeinde präsentiert sich eine bunte Mischung von guten und schlechten Hirten, wobei die guten Hirten in der Überzahl zu sein schei­ nen. Dieser Eindruck ist nicht verlässlich, da die schlechten Hirten getarnt sind. Sie kommen als Wölfe in Schafskleidern in die Gemeinde. Sie ahmen gute Hirten täuschend ähnlich nach, aber machen Menschen nicht zu Nach­ folgern Jesu, sondern zu Anhängern der eigenen Person. (Apg 20,29 ff) Viele Gläubige fallen auf sie herein. Was werden solche Leute mit Informationen machen, die sie in der Beichte erfahren ? Man kann nicht ausschließen, dass sie in irgendeiner Weise zum Nachteil des Beichtenden missbraucht werden. Schon deshalb kann es einen Beichtzwang nicht geben. 128 Der richtige Adressat für das Sündenbekenntnis ist Gott allein. Fällt es schwer, sich von einer bestimmten Sünde zu lösen, so kann man gemeinsam mit einem Freund Gott darum bitten, wie es der Apostel Jakobus empfohlen hat: “Bekenne einer dem andern seine Sünden und betet füreinander, daß ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstgemeint ist. ” (Jak 5,16) So einen Freund, dem man alles sagen kann, wünscht der Apo­ stel jedem Gläubigen in der Gemeinde. 23. Behauptung: “Es ist Hochmut, die theologische Tradition der Gemeinde mit der Bibel zu prüfen.” Wenn das Überprüfen und Nachdenken Hochmut wäre, könnte der Apostel dann wohl sagen: “Prüfet ALLES” ? (2.Thess 5,21) An wen richtet sich diese Aufforderung, wenn nicht an alle Gläubigen? Wenn alles richtig ist, so wie es immer schon war, warum soll man dann prüfen? Keine Gemeinde ist gegen sektiererische Tendenzen 232 und gefährlichen Irrtum automatisch immun! Viele Dinge des Glaubens sind unsichtbar. Man sieht auch die schädliche Folgen für die Seele selten sofort. Das führt zweifellos leicht zu Fehleinschätzungen. Zum Prüfen braucht man Urteilsvermögen und Verstand! Er ist – wie das Beispiel Salomos zeigt (1.Kö 3, 5 ff) – eine der wichtigsten Gottesgaben. Paulus hielt überhaupt nichts davon, dass man sich leichtgläubig wie ein Kind auf das Denken der “Erwachsenen” verlässt. Der Verstand, den Gott gegeben hat, soll angemessen gebraucht werden: “Denkt nicht wie Kinder, liebe Brüder! Im Tun sollt ihr unschuldig wie Kinder sein, aber denken müsst ihr wie erwachsene Menschen!” (1.Kor 14,20) Verständig sein muss geübt werden! 232 Siehe das Kapitel „Was ist Irrlehre?“ im Internet. 129 24.Behauptung: Der Gläubige darf Unrecht in der Gemeinde nur dann beim Namen nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler zu sehen sind. Diese Behauptung ist bei Gemeindeleitungen mit gewissenloser Amtsfüh­ rung sehr beliebt. So kann man sich ganz selbstverständlich Korruption, Lüge, Übervorteilung und Verleumdung leisten und braucht keine Angst zu haben, dass irgendjemand das Thema anspricht. Falls es jemand doch ver­ sucht, richtet man das Vergrößerungsglas auf ihn und sein Verhalten, ob da nicht doch etwas Unvollkommenheit zu sehen ist. Was für ein Glück, wenn man etwas findet: da war etwas Sorge um den Arbeitsplatz zu spüren, man hat von einem Streit in der Familie gehört, und dergleichen mehr. Und wenn man nichts findet, dann war da ein liebloser Ton in der Stimme, die vom Unrecht gesprochen hat, über den man sich entrüstet. Und jemandem, der lieblos ist, dem braucht man doch erst recht nicht zuzu­ hören. “Wer Sünde tut, der ist vom Teufel” (1.Jo 3,8). Der soll erst mal vor seiner eigenen Tür kehren. Und schon ist das Thema erledigt. Diese Behauptung fußt auf dem bereits genannten (falschen!) Lehrsatz, dass kleine Sünden oder Unvollkommenheiten so schlimm seien wie schwere Verbrechen. 233 So etwas kann man nur denken, wenn man sich über die tatsächlichen Aus­ wirkungen einer Tat überhaupt keine Gedanken macht. Welche negativen Folgen hat ein liebloser oder stressiger Ton in der Stimme ? Überhaupt keine Folgen als diejenigen, die der, der dieses Argument gebraucht, selbst mut­ willig herbeiführt! Dagegen haben Korruption, Lüge, Übervorteilung und Verleumdung möglicherweise erheblichen Schaden für die Betroffenen zur Folge. Deshalb ist jeder Versuch, die Gemeinde auf diese Vorgänge auf­ merksam zu machen, vollauf gerechtfertigt und geschieht im Gehorsam gegen das Gebot: “Helft das Böse in der Gemeinde aufzudecken.” (Eph.5,11 ff) 233 Siehe Seite 45. 130 25. Behauptung: “Mit der Forderung, Schäden und Beschwerden in der Gemeinde zu dokumentieren, schadet man dem “Zeugnis” der Gemeinde.” Hätten Jesus oder Paulus tatsächlich so geredet ? Was soll denn ein “Zeug­ nis” wert sein, wenn es ohne das übliche Vertuschen und Beschönigen kein “Zeugnis” mehr ist ? Man müsste es ehrlicherweise “Propaganda” nennen, einen von oben verordneten Jubel, wie ihn sich Diktatoren bestellen. Jeder weiß, dass es nicht stimmt, aber alle müssen mitmachen. Wenn “Lügen für Gott” keine schwere Sünde mehr ist, sondern etwas, was man in der Gemeinde für notwendig hält, dann vergiftet der Krebsschaden der Unglaubwürdigkeit am Ende auch all das, was dort noch heilig, gut und richtig ist. Die Grenzen zwischen dem Aufruf zum Glauben und der Auffor­ derung, sich und anderen etwas vorzuschwindeln, werden immer unklarer. Wahrhaftigkeit (πιστις) ist eines der drei wichtigsten Qualitätsstandards Jesu. Die ganze Botschaft des Neuen Testamentes beruht darauf, dass es zwölf Männer aus dem Volk gab, die Jesus zu Jüngern erwählte, und die berichteten, „was sie mit eigenen Augen gesehen, was sie mit ihren Händen betastet haben“ (1.Jo 1,1). Diese Männer waren Handwerker, Fischer, Zoll­ beamter, kurz: einfache Leute, die ehrlich Zeugnis gaben von dem, was jeder gesehen hat, der damals dabei war. Auf diesem schlichten, unverfälschten Zeugnis beruht der ganze christ­ liche Glaube. Wenn sich die Gemeinde als “Gemeinschaft der Heiligen” bekennt, dann muss sie sich auch von dem distanzieren, was unheilig, falsch und schädlich ist. Wenn sie andere belehren will, darf sie nicht selbst unbelehrbar sein. Wenn sie die Offenbarung des Heils bezeugen will, darf sie selbst nicht blind gegenüber dem Unheil in ihrer Mitte sein. 131 26. Behauptung: “Ein Christ darf sich nicht wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern. Er muss Unrecht, das ihm zugefügt wird, hinnehmen, muss vergeben und vergessen. Andernfalls ist er ein “Schalksknecht” (Mt 18,32 ff) und wird von Gott mit der Hölle bestraft!” Sich alles gefallen lassen müssen, um nicht von Gott bestraft zu werden… ? Was wird bei dieser deprimierenden Einstellung anderes herauskommen als erlernte Hilflosigkeit und Anfälligkeit für Depression ? Der Geschädigte wird ja doppelt geschlagen und erniedrigt, einmal durch den Übeltater, dann aber auch durch Gott selbst, der sich durch Missachtung des Rechtes auf die Seite des Täters stellen und dem Starken gegen den Schwachen bei­ stehen würde. Wer das Gleichnis Jesu vom “Schalksknecht” (Mt 18, 23 ff) so versteht, der verfälscht den Inhalt. Man muss genau lesen. Die Pflicht, eine ver-gleichs­ weise kleine Schuld zu bezahlen, wird nicht in Frage gestellt. Der Klein­ schuldner will ja zahlen. Das Furchtbare ist, dass der Schalksknecht, dem selbst eine Riesenschuld erlassen wurde, nicht bereit ist, geduldig zu warten. Ohne jedes Mitgefühl fordert er brutal das Unmögliche, die sofortige Bezah­ lung, um den Kleinschuldner ins Gefängnis zu bringen, wo er die Schuld vielleicht gar nicht mehr abarbeiten kann. Diese Hartherzigkeit empört den König aufs Äußerste, sodass er den Erlass der großen Schuld widerruft. Das Bezahlen einer vergleichsweise kleinen Schuld ist nichts Anrüchiges, sondern eine Selbstverständlichkeit. Auch im Kleinen soll der Gläubige treu sein (Lk 16,10) bzw. niemandem etwas schuldig bleiben (Rö 13,8). Umgekehrt darf er faires Verhalten auch von anderen, insbesondere von Mitchristen erwarten. “Behandelt die Menschen so, wie ihr von ihnen behandelt werden wollt.” (Mt 7,12) Wäre es anders, dürfte der Gläubige von anderen nichts zurückfordern, weil ihm ja Christus alle Schuld vergeben hätte, so wäre der Gläubige sehr bald wirtschaftlich ruiniert. Es wäre geradezu dumm von ihm, sich als Christ zu erkennen zu geben, wenn er sich an solche Regeln halten müsste. Daran glaubt im Ernst niemand! 132 Und doch wird man in etlichen Gemeinden immer noch mit destruktiven Behauptungen, die dem Gläubigen das Recht auf faire Behandlung abspre­ chen, konfrontiert. Worum geht es Jesus wirklich ? Jesus sagte in der Tat: “Wenn dich einer auf die eine Backe schlägt, dann biete ihm die andere auch dar.” (Mt 5,39) Der Gläubige soll nicht Böses mit Böses vergelten! Vielleicht ist der andere nur deshalb böse, weil er auch ver­ letzt wurde und unglücklich ist. Wenn man nicht mit gleicher Münze heim­ zahlt, sondern großzügig reagiert, dann wird der Konflikt nicht verschlim­ mert, sondern kann einschlafen. Jünger hat seine Jünger aufgerufen, für ihre Feinde zu beten (Mt 5,44) – ein Gebot, das den christlichen Glauben deutlich vor den Religionen der Welt auszeichnet. Der Gläubige darf beten, dass sie auch Christus finden und durch ihn mit einem neuen Leben beschenkt werden. Wenn Christen sich böse verhalten, dann sollte er für sie bitten, dass sie zu Christus zurückfin­ den. “Lass nicht das Böse über dich siegen, sondern überwinde das Böse mit Gutem“. (Rö 12,21) Das ist ein Versprechen! Das Böse kann überwunden werden. Ein Feind kann zum Freund werden! Das alles ist möglich bei Gott! Durch diese Haltung nähert sich der Jünger der Haltung Jesu, der aus Liebe zu Menschen, die es nicht verdienten, viel Leid auf sich nahm. Und so wie Jesus später dafür vom Vater geehrt und belohnt wurde, so wird auch der Gläubige, der sich wie Jesus verhält, am Ende wiederhergestellt. “Welche Waffe auch immer gegen dich gerichtet wurde – sie wird nicht über dich sie­ gen. Was immer auch Menschen gegen dich sagen – du wirst sie im Gericht dafür verurteilen. Dieses Recht gehört zum Erbe der Menschen, die mir die­ nen. Ich, Gott, habe es gesagt, und das gilt. (Jes 54,17) Es ist ein wunderbares Geschenk, dass der Gläubige nicht dem Hass unterworfen ist, der nach einer bösen Tat aufsteigt und alles weitere bestim­ men will. 133 Der Verzicht auf Vergeltung annulliert nicht das Recht, sich vor weiteren Übergriffen mit erlaubten Mitteln zu schützen. Notorisch schädlich han­ delnde Menschen müssen zurechtgewiesen werden, damit sie vorsichtiger werden und damit der Respekt vor dem Recht in der Gemeinschaft gestärkt wird . Natürlich immer mit erlaubten Mitteln. Paulus bestand auf einer öffentlichen Entschuldigung der Stadtobersten, nachdem man ihn zu Unrecht ausgepeitscht hatte. (Apg 16,35-39) Jesus wies den Mann zurecht, der ihm grundlos geohrfeigt hatte. (Jo 18,22+23) Jeder Pädagoge oder Lehrer weiß, dass es sinnlos ist, eine Regel aufzu-stel­ len, ohne ihre Missachtung zu bestrafen. Wer die Missachtung einer Abma­ chung stillschweigend toleriert, wird nicht mehr ernstgenommen. Seine Autorität ist erheblich geschrumpft. Je wichtiger eine Regel, desto nach­ drücklicher muss auf ihre Missachtung reagiert werden. Der Gläubige dient “dem Besten der Stadt“, (Jer 29,7) seinen Mitmenschen und sich selbst, wenn er für den Respekt vor dem Recht eintritt. Keine Gemeinschaft kann ohne Regeln der Fairness gedeihen. Deshalb kann der Gläubige guten Gewissens in einem Betriebsrat mitarbeiten und auf diese Weise dazu beitragen, dass Mitarbeiter vor willkürlichen Übergriffen und Machtmissbrauch geschützt werden. Er darf erfahren: Gott ist der “Freund des Rechts“. (Ps 37,28) Sein Wort hat Macht und das Recht, das sein Wort beachtet und den Nächsten schützt, sollte die Macht haben, die ihm zusteht. (Jes 32,1 ff) In der “Gemeinschaft der Heiligen” gilt das noch viel mehr. Es darf dort nicht geduldet werden, dass ein Christ den anderen mit bösem Verhalten schädigt. Denn eine Gemeinde untersteht der Autorität Jesu, des “guten Hirten” (Jo 10,12), der um den Schutz der schwachen Mitglieder beson­ ders besorgt ist. Würde man das Böse hinnehmen, so würden sich andere daran ein schlechtes Beispiel nehmen, die Predigt über “Heiligung”234 oder die “Pflichten eines Hirten” würde unglaubwürdig. “Weh den Hirten, die sich selbst weiden! … Auf den Schwachen passt ihr nicht auf, den Kranken versorgt ihr nicht, den Verwundeten verbindet ihr nicht, den Verirrten holt ihr nicht und den Verlorenen sucht ihr nicht.” (Hes 34,2-4) 234 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. 134 Deshalb ist die Sache zu klären. Zunächst soll der Betroffene mit dem Übel­ täter reden, um ihn zu gewinnen. Gegebenenfalls soll er Zeugen hinzuziehen und – falls das erfolglos bleibt – das Sache vor die Gemeinde bringen. 235 (Mt 18,15-18) Die letzte Konsequenz der Unverbesserlichkeit ist der Hinauswurf: “Trennt euch von dem, der böse ist“. (1.Kor 5,13) Diese Tren­ nung gilt grundsätzlich immer für alle Gemeinden. Eine Gemeindeleitung, die den reuelosen Täter aufnimmt, versündigt sich. Gemeinden, die Übeltäter dulden, rechtfertigen dies gerne mit dem Wort Jesu, dass man “Unkraut und Weizen zusammen bis zur Ernte aufwachsen lassen” soll. (Mt 13,29-30) Dieser Hinweis Jesu kann sich aber nicht auf einen Rechtsstreit beziehen, da für diesen Fall klare Anweisungen gegeben sind. Hier geht es ihm darum, dass man über die geistliche Einstellung anderer Mitglieder der Gemeinde nicht vorschnell urteilen soll. Wie schnell ist ein pharisäisches Urteil in vermeintlicher Erkenntnis gefällt, bloß weil man die eigene geistliche Unreife nicht erkennt. Wie schnell geschieht es, dass die Liebe erkaltet, weil man sich in theologischen Nebensächlichkeiten nicht mehr einig ist. Mit Unfreundlichkeit und Distanz wird man den andersden­ kenden Bruder erst recht nicht überzeugen und bringt damit für ewige Zeiten den Geist der Spaltung in die Gemeinde. Obwohl so häufig betrieben, ist das in der Tat eine Sünde, die vom Himmel ausschließen kann (Gal 5,21). Auf diese Weise kann es dazu kommen, dass jemand Unkraut herausreißen will und am Ende vom Herrn selbst als Unkraut betrachtet wird! Deswegen der treue Rat Jesu: Überlasse das Urteil dem Herrn! Lass es deine Liebe nicht trüben, dass der andere dir manchmal nicht fromm genug erscheint. Du kannst in das Herz eines Menschen nicht hineinsehen. Die Gefahr ist zu groß, dass du ungerecht urteilst und nur sinnlos verletzt. Gott wird das Leben des Bruders am Ende gerecht beurteilen so wie dein Leben auch. Jeder wird ganz allein vor Gottes Richterstuhl stehen und ob er sich selbst in positivem Licht gesehen hat, das fällt nicht ins Gewicht: “Mir ist es nicht so wichtig, wie ihr oder andere über mich urteilen. Wie ich über mich urteile, spielt auch keine Rolle. 235 Siehe die Skizze eines schiedsgerichtlichen Verfahrens, Seite 156. 135 Zwar bin ich mir keiner Schuld bewusst, aber damit bin ich noch nicht frei­ gesprochen. Entscheidend ist allein Gottes Urteil! Deshalb urteilt nicht vor­ eilig über mich. Wenn Christus kommt, wird er alles ans Licht bringen, auch unsere geheimsten Gedanken. Dann wird Gott jeden so loben, wie er es ver­ dient hat.” (2.Kor 10,18) 27. Behauptung: “Ein Christ darf nicht vor Gericht gehen, wenn ihm ein anderer Gläubiger geschadet hat. Andernfalls sündigt er und wird dafür von Gott bestraft.” In der Tat sagte Paulus: „Wenn jemand von euch mit einem Gläubigen Streit hat, wie bringt er es dann fertig, vor das Gericht der Ungläubigen zu gehen, anstatt sich von den Heiligen Recht sprechen zu lassen?“ (1.Kor 1,6 / NeÜ) Dennoch ist obige Behauptung ein grober Fehlschluss, der durch oberfläch­ liche am Buchstaben festhängende Interpretation zustandekommt. Achten wir darauf, das das ganze Thema mit der Aufforderung beginnt, dass sich die Gemeinde mit einer fairen Entscheidung bewähren soll. Zugleich scheint Paulus die Inanspruchnahme der staatlichen Justiz zu ver­ bieten: “Wie könnt ihr nur bei diesen alltäglichen Dingen solche Menschen über euch Recht sprechen lassen, die in der Gemeinde nichts gelten? Ihr solltet euch schämen!” (1.Kor 6,4 / NeÜ) Diese Aussage ist nach dem Glau­ bensbekenntnis bibeltreuer Gemeinden wie alle anderen Aussagen der Bibel “völlig zuverlässig!” 236 Und viele Gläubige ziehen aus diesem Satz den Schluß, dass die Inanspruchnahme des Staates Sünde ist. Doch inwieweit kann die Gemeinde staatliche Rechtsprechung ersetzen? Hat Paulus das wirklich gemeint? Gerade bei schweren Schäden ist eine schnelle, möglichst objektive Beweissicherung notwendig, auf die die Inte­ ressen des Schädigers keinen verfälschenden Einfluss nehmen dürfen. Ein entsprechend hoher angemessener Schadenersatz führt evt. zu einem erheb­ lichen Verlust an materieller Lebensqualität bei dem Schädiger und kann deshalb nur mit Hilfe des Justizapparates erzwungen werden. 236 http://www.ead.de/die-allianz/basis-des-glaubens.html 136 Die Gemeinde verfügt über derartige Zwangsmittel nicht. Sie kann sich nur aufs Bitten und allenfalls auf die Androhung des Ausschlusses beschränken. Die Unwirksamkeit dieser Mittel bei hohen Schadenersatzforderungen ist vorhersehbar. Wenn dem Gläubigen verwehrt wird, sein Recht vor Ablauf der Verjährungsfrist wahrzunehmen, wird es sehr wahrscheinlich unterge­ hen. Und dennoch werden sich Gläubige in ihrem Gewissen an die fragwürdige Interpretation gebunden fühlen. Das Dilemma hat in vielen bibeltreuen Gemeinden dazu geführt, dass man sich so verhält, als ob Paulus gar nichts gesagt hätte. Die ersten 6 Verse des Kapitels werden ein “unerforschlicher” weißer Fleck, über den der Gläubige möglichst nicht nachdenken soll. Wenn man über 1.Kor 6 predigt, dann pflegt man man automatisch bei dem Vers 7 zu beginnen: “Warum lasst ihr euch nicht lieber Unrecht tun? Warum lasst ihr euch nicht lieber benachtei­ ligen?” Infolgedessen wird ein geschädigter Bruder, der sein Recht vor Gericht sucht, manchmal mehr als der Schädiger kritisiert, vielleicht sogar als “Schalksknecht”, der die geschenkte Vergebung mit Undank vergelten würde (Mt 18,23 ff), beschimpft. Man lässt dem Geschädigten nicht nur auf seinem Schaden sitzen, sondern sorgt auch noch dafür, dass er sich für sei­ nen Wunsch nach fairem Ausgleich schuldig fühlt, anstatt an das Gewissen des Täters zu appellieren. Wenn der Apostel Paulus in der Bibel klar und deutlich ermahnt, Streitfälle fair zu schlichten und der Gläubige darauf reagiert, indem er den Kopf in den Sand steckt und behauptet, gerade diese Ermahnung wäre unerforschlich und man dürfe darüber nicht nachdenken, so ist das ein intellektuell unred­ liches, inakzeptables und peinliches Verhalten! Von der Schädigung des Bruders und der lieblosen Gleichgültigkeit gegenüber seinem Leid ganz zu schweigen! Die halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge! Der Fehler liegt keinesfalls in der Ermahnung des Paulus, sondern vielmehr in der Starrheit der Interpretation, die klare Aussagen von Jesus und Paulus zur staatlichen Autorität unzureichend berücksichtigt. 137 Sollte Paulus nicht wissen, dass der Staat das Recht des einzelnen auf effizi­ ente Weise zu schützen vermag ? Andernorts betont er nämlich sehr wohl die Aufgabe des Staates, im Auftrag Gottes vor Unrecht zu schützen! “Jede Regierung … steht ja zu deinem Besten im Dienst Gottes. Tust du aber Böses, hast du allen Grund, sie zu fürchten, schließlich ist sie nicht umsonst die Trägerin von Polizei- und Strafgewalt. Auch darin ist sie Gottes Diene­ rin. Sie zieht den Schuldigen zur Verantwortung und vollstreckt damit Gottes Urteil an denen, die Böses tun.” (Rö 13,4) Wenn die Regierung das im Strafrecht so vortrefflich tun kann, warum nicht auch in zivilrechtlichen Konflikten ? Wollte Paulus das sagen ? Nein ! Wie sooft, auch hier: man muss wirklich genau lesen! Der Schwerpunkt des Abschnitts liegt in Vers 2: “… warum betrachtet ihr euch als unzuständig für solche Bagatellen ?” Das griechische Wort “ελαχιστων” bezeichnet Klei­ nigkeiten! Sogar wegen Kleinigkeiten, die man mit ein bischen Weisheit vernünftig regeln könnte, rennen die Gläubigen zum Zivilgericht. Und dann beschimpfen sie sich womöglich noch vor den weltlichen Richtern als unwürdig, zur “Gemeinschaft der Heiligen” zu gehören. Welchen Schluß können die Richter und das Publikum im Gerichtssaal daraus wohl ziehen? Sie können daraus doch nur schließen, dass das ethische Niveau in der “Gemeinschaft der Heiligen” sehr gering sein muss. Was für ein erbärm­ liches Zeugnis! Diese “Schande” will Paulus der Gemeinde ersparen. Jesus argumentiert ähnlich: “Wenn du jemand eine Schuld zu bezahlen hast, einige dich schnell mit deinem Gegner, solange du noch mit ihm auf dem Weg zum Gericht bist. Sonst wird er dich dem Richter ausliefern, und der wird dich dem Gerichtsdiener übergeben, und du kommst ins Gefängnis. Ich versichere dir, du kommst dann wieder heraus, wenn du den letzten Cent bezahlt hast.“ (Mt 5,25-26) Auch Jesus war die Effizienz der weltlichen Justiz gut bekannt und er bewertete diese Effizienz nicht negativ. Vielmehr empfiehlt er: “Einige dich schnell mit deinem Gegner!” Ja, für Jesus hat die Einigung mit dem Geschädigten sogar Vorrang vor einem Opfer, das man ins Gotteshaus bringt: “Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst und es fällt dir dort ein, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder! Dann komm und bring Gott dein Opfer.” (Mt 5,24) 138 Paulus will die Gemeinde nicht nur davor bewahren, sich vor weltlichen Richtern lächerlich zu machen. Er will sie auch herausfordern. Jawohl, göttliche Weisheit kann auch in schlimmen Fällen die Not erheblich lindern. Es ist gar nicht einzusehen, dass schweres Unrecht, das zwischen Geschwi­ stern steht, unbearbeitet und unkommentiert stehen bleibt. Die Gemeinde kann durchaus ein seriöses Schlichtungsverfahren einrichten, in dem sich geistliche Weisheit als wichtige Ergänzung zur weltlichen Rechtsprechung bewähren kann und in dem Maßnahmen gegen Befangenheit und Willkür getroffen werden – so wie es man es von einem weltlichen Verfahren ganz selbstverständlich erwarten darf. Deshalb tritt gerade auch in Fällen, in denen es nicht um Kleinigkeiten geht, neben die weltliche Rechtsprechung die seelsorgerliche Klärung in der Gemeinde. Die Konfliktgegner müssen die Möglichkeit erhalten, sich zu versöhnen und den Groll gegeneinander zu überwinden. Die Gemeinde ist in der Pflicht, Gottes Weisheit für diese Aufgabe in Anspruch zu nehmen. (Spr 4,5 / Kol 2,3) Denn sie darf sich hier nicht entziehen – auch wenn der Erfolg manchmal hinter den Hoffnungen und Erwartungen zurückbleibt. Dieses nicht zu tun, hieße Unrecht zu dulden – und das widerspricht einer durch beide Testamente gehenden grundsätzlichen und wichtigen Aussage der Schrift. Schon im Alten Testament wird wieder und wieder betont, dass die Gleichgültigkeit gegenüber Unrecht in der Gemeinschaft ein Kennzei­ chen gottloser Gesinnung ist. “Was zertrampelt ihr meine Vorhöfe… ihr kommt zu den Festen zusammen, aber ich verabscheue sie… betet soviel ihr wollt: ich werde nicht zuhören… lernt wieder Gutes zu tun ! Setzt euch ein für eine gerechte Rechtsprechung, helft den Rechtlosen, den Witwen und Waisen gegen ihre Bedränger!” (Jes 1,12 ff) “Hört auf mit dem Geplärr eurer Lieder, ich mag eure Musik nicht hören! Bemüht euch endlich um ein faires Miteinander! Die Liebe zum Recht soll das ganze Land durchströmen wie ein mächtiger Fluss!“ (Amos 5,23-24) Dem enspricht die abschließende Warnung des Apostels, dass “ungerechte Menschen” gar nicht zur Gemeinde gehören, auch wenn sie das meinen, auch wenn andere in der Gemeinde das meinen: “Wisst ihr denn nicht, dass ungerechte Menschen keinen Platz im Reich Gottes haben werden? Täuscht euch nicht!” (1.Kor 6,9) 139 Der Vers “Warum lasst ihr euch nicht lieber Unrecht tun? Warum lasst ihr euch nicht lieber benachteiligen?” (V.7) hat deshalb das vergleichsweise geringste (!) Gewicht im Text. Paulus richtet ihn auch nicht an die Geschä­ digten, sondern an die Täter, denn er fährt fort: “Stattdessen tut ihr selbst Unrecht und benachteiligt andere – und das unter Brüdern!” (V.8) Die übliche Theologie unterstellt dem Vers 7 beharrlich das größte Gewicht im Absatz. Dadurch wird der ganze Text so unsinnig, dass er zum weißen, unerforschlichen Fleck geworden ist. Gegenüber Unrecht und Schädigung gleichgültig zu sein, zerstört die Einheit des Leibes Christi: “wenn ein Kör­ perteil leidet, so leiden alle anderen Teile mit“. (1.Kor 12,26) Was bleibt denn davon noch wahr? Es wird übelste Propaganda! 237 ! Somit existiert das Dilemma des “Entweder – Oder” gar nicht. Wenn wir uns den lebensfördernden Sinn (Mt 4,4) von 1.Kor 6 bemühen wollen, dann wer­ den wir erkennen, dass in vielen Fällen beide Alternativen notwendig sind: sowohl die Justiz – als auch die seelsorgerliche Klärung. 28. Behauptung: “Ein Christ darf in Notwehr niemand töten. Er ist ver­ pflichtet, sich töten zu lassen, damit der Täter nicht in die Hölle kommt.” Was kann man mit einer solchen Lehre, die man Jugendlichen vorsetzt, her­ vorrufen ? Eine wahrhaft ausweglose Situation: die junge Seele eingesperrt zwischen derAussicht der physischen Selbstauslöschung und der grauen­ haften Aussicht, für den Rest des Lebens mit einem aufs Äußerste beschwerten Gewissen leben zu müssen. Was soll die Frucht einer solchen Belehrung sein? Tiefere Liebe für die Mitmenschen? Ist es nicht viel wahr­ scheinlicher, dass hier Hilflosigkeit und Depression gründlich eingeübt wird seelische Defekte, mit denen man Familie und Mitmenschen später zur Last fällt ? Die stabile Seele braucht den gesunden Selbsterhaltungstrieb – er ist nichts Böses oder Verwerfliches. Doch solche skurrilen Blüten gedeihen auf dem Sumpf einer allgemeinen Geringschätzung des Rechts. 237 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Propaganda“, (Internet). 140 Auch wenn man solche grotesken Behauptungen selten offen und in aller Deutlichkeit hören wird, so ergeben sie sich dennoch aus einem konsequent mechanistisch-wörtlichen Bibelverständnis. Jesus gab sein Leben für die, die ihn hassten, der Jünger ist verpflichtet, dem Vorbild des Meisters in “voll­ kommener” Weise (Mt 5,48) zu folgen. Dabei soll er die Bereitschaft haben, „sein eigenes Leben zu verlieren” (Mt 10,39). Wer seinen Nächsten nicht missioniert hat, obwohl er Gelegenheit dazu hatte, ist schuld an dessen Bestrafung mit vorzeitigem Untergang und wird dafür angemessen von Gott bestraft (8.Behauptung). Wer einen Menschen tötet – auch aus Notwehr -, der nimmt ihm endgültig die Gelegenheit, missioniert zu werden und sich zu bekehren, denn “nach dem Tode folgt nur noch das Gericht” (Hebr 9,27). Diese Tat ist wesentlich schlimmer, als nicht missioniert zu haben. Was würde dafür die angemessene Strafe sein? Müsste sie nicht um ein Viel­ faches schlimmer sein ? “Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die Seele nicht können töten; fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.” (Mt 10, 28). Wird Gott nicht grenzenlos brutal reagieren ? Alles scheint ganz logisch – oder ? Der Denkfehler liegt in einer Verwechslung von göttlichem und mensch­ lichem Verantwortungsbereich. 238 Es ist Gott, der das Unglück zulässt (Amos 3,6 b), mithin auch die lebensbedrohliche Situation. Es ist Gott, der entscheidet, ob er jemandem nach dem Tod noch das Heil verkündigt (1Pe 3,19) oder nicht. Es ist Zweifel angebracht 239, dass der Gläubige gezwungen wird, diese Entscheidungen Gottes durch Opfern des eigenen Lebens zu ver­ bessern oder zu kompensieren. Das Opfer Jesu erfolgte völlig freiwillig (Jo 10,17-18). Das gerade macht seinen Wert aus. (Eph 2,6 ff) Es ist absurd anzunehmen, dass Gott ein solches Opfer von Gläubigen durch Androhung schlimmster Strafe erpressen würde. Hinter der Behauptung erblicken wir wieder den bekannten “Pferdefuß” des Bösen: der ganze Wahn ist nichts anderes als Werkgerechtigkeit 240 und Scheinheiligkeit. 238 Siehe „Stichworte“ / „Unterscheidung der Verantwortungsbereiche“ im Internet. 239 Siehe Seite 7. 240 Siehe „Stichworte“, (Internet). 141 9. Persönlichkeit ? Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde prägt Deine Persönlichkeit. Welchen der beiden gegensätzlichen Charaktertypen wird dort der Vorzug gegeben ? 142 Im Zusammenhang mit dem Idealbild Typ A taucht immer wieder eine merk­ würdige, destruktive Verformung des Charakters 241 auf. Der nach Mündigkeit strebende Gläubige (Typ B) dagegen macht sich die Mühe, über die Bildung von Charakter 242 und Persönlichkeit selbstkritisch nachzudenken. Beide Typen reagieren ganz unterschiedlich auf: - riskante bzw. giftige Theologie 243 - offenbares Unrecht 244 , das Gläubige anderen Gläubigen zufügen. - Manipulation 245 und Machtmissbrauch in der Gemeinde. 10. Die negative Verformung der Persönlichkeit durch giftige Theologie Die Arbeit mit der Bibel, das Lehren und das Lernen soll – wie die Bibel selbst es deutlich sagt – zur Wertschätzung der Gerechtigkeit 246 führen. Zitat: “Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nützlich zur Lehre, zur Beurteilung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), damit ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt.” (2.Tim 3,16) Man erlebt es leider gar nicht so selten, dass die Bemühung, einer “bibeltreuen” Gemeinde das Nachdenken über die Wertschätzung von Fair­ ness und Gerechtigkeit zu ermöglichen, auf Desinteresse, ja Widerstand stößt. Dennoch fühlen sich auch solche Gemeinden berufen, den Mann auf der Strasse zur “Bekehrung” und zur “Umkehr” aufzurufen. 241 242 243 244 245 246 Siehe nächstes Kapitel. Siehe Seite 171. Siehe Seite 85. Siehe Seite 178. Siehe Seite 211. Siehe unter „Häufige Fragen“ die Frage 9, Seite 188. 143 Das wirft die Frage auf: was wird dort mit der Seele der Menschen gemacht? Was für eine seltsame Art von “Charakterbildung” findet dort statt? Auch in solchen Gemeinden arbeiten ja bekanntermaßen viele treue und lie­ benswerte Christen gutgläubig mit. Wir wünschen uns, dass sie es bemerken können, wenn ihre Persönlichkeit in einer scheinbar christlichen und verdrehten Weise geprägt und ihre Widerstandskraft gegen giftige Theolo­ gie 247 geschwächt wird. Insbesondere den jungen, leicht lenkbaren Menschen in der Gemeinde wünschen wir, dass sie ein Gespür für diese Gefahr entwickeln und sich gegen unredliche Manipulationen rechtzeitig wehren können. Um zu sehen, wohin die Entwicklung gehen kann, beschreiben wir ein Extrembeispiel einer negativen charakterlichen Entwicklung eines Gläu­ bigen. (Dabei sollte ein vergleichender Blick auf die vorbildliche Persönlichkeit eines im Glauben gereiften Gläubigen nicht fehlen… ) 248 Ein Zerrbild des “bibeltreuen” Gläubigen (im schlimmsten Fall) Eine Bibelstunde oder ein Gottesdienst hat für ihn nur eine Funktion: binnen 45 Minuten schöne religiöse Gefühle hervorzurufen. Die Stärke seines Glau­ bens beruht darauf, dass möglichst viele Leute um ihn herum dasselbe glau­ ben. Er plappert immer nach, was die Mehrheit meint, um “dazu zu gehören”. Falls der Verdacht aufsteigt, dass ihm eine Halbwahrheit vermittelt wurde, geht er diesem Gedanken lieber nicht nach. Wenn jemand über die prak­ tische Anwendung der Qualitätsmaßstäbe Christi sprechen möchte, fühlt er sich emotional überanstrengt und hält er es für seine heilige Pflicht, das Den­ ken sofort abzuschalten. 247 Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 35 ff. 248 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173. 144 Den Glaubensbrüdern und -schwestern, die daran erinnert haben, ist er ernst­ lich böse. Sie kommen für eine freundschaftliche Beziehung nicht mehr in Frage. Er redet nicht mehr mit ihnen, sondern nur noch über sie. Nur Gläu­ bige, die wie er allergisch reagieren, wenn auf eine Verletzung dieser Maß­ stäbe hingewiesen wird, haben Anspruch auf seine Herzlichkeit. Falls ihn eine tiefer gehende Frage beunruhigt, wendet er sich an den Herrn Gemeindeleiter. Wenn ihm dieser versichert, dass alles in bester Ordnung sei, dann denkt er nicht mehr darüber nach, sondern wendet sich erleichtert anderen Dingen zu. Der Gemeindeleiter ist ja in besonderer Weise mit dem heiligen Geist ausgestattet und muss es schließlich wissen. Weisheit und gründliches Nachdenken empfindet er von vornherein als stö­ rend, verdächtig und negativ. Nach seiner Meinung kann nur der Herr Gemeindeleiter damit richtig umgehen. Um nicht durch Neues und Unbe­ kanntes verunsichert zu werden, wünscht dieser Gläubige, dass ihm in der Bibelstunde möglichst dünne “Milchsuppe” serviert wird, d.h. etwas Bekanntes, was in erster Linie Emotionen erzeugt. Ein Häppchen Neues, eine Anekdote oder ein Scherz sollte aber auch dabei sein, damit es nicht allzu langweilig wird. Wenn ein Mitchrist in der Gemeinde durch ungerechtes Verhalten eines Gläubigen geschädigt worden ist, so fühlt er sich aufgefordert, tröstende Bibelworte zu zitieren. Damit hat er nach seiner Ansicht mehr als genug geleistet. Die Bitte, den Betroffenen durch Teilnahme an einem Klärungsge­ spräch ( Mt 18, 16) zu unterstützen, weist er zurück. Auch darf man nicht auf seine Hilfe rechnen, wenn die Sache vor die Gemeinde zu bringen ist. (Mt 18,17) Er ist der Ansicht, dass der Betroffene sich mit seinen Worten des Mitgefühls zufriedenzugeben hat. Falls dieser sich nun auf die Anwei­ sungen Jesu beruft, versucht er dem Geschädigten klarzumachen, dass er ein liebloser Störenfried ist, der die Bibel missbraucht und vermeidbaren Unfrie­ den in die Gemeinde hineinbringt. Diese Art Gläubiger hat es eilig Mitge­ fühl zu bekunden, da er sich selbst mit dieser Aktion beweisen will, dass er nicht ohne Mitgefühl ist. Tatsächlich aber ist ihm das Leid des Geschädigten gleichgültig. 145 Falls nun gar jemand von außen kommen und sich über das böse Verhalten eines Mitgliedes beschweren sollte, ist er sofort der Ansicht, es sei seine hei­ lige Pflicht, sich ohne Prüfung solidarisch mit diesem Mitglied zu erklären. Gewissensbedenken kommen ihm dabei nicht. Falls Hinweise kommen, dass sich ein Gemeindeleiter falsch verhält oder in einem bestimmten Bereich inkompetent ist, dann hält er sich die Ohren zu, weil er eine Korrektur für unzumutbar hält. Jegliche Korrektur – selbst im Falle offenbarer Korruption - wird von ihm grundsätzlich als “Vatermord” empfunden. Glaubensgeschwister, die für böses Verhalten Beweise liefern, hält er für Schurken, den Gemeindeleiter aber in jedem Fall für das Opfer, da er nun einmal der “Gesalbte des Herrn” ist. Er ist der Ansicht, dass man auch einem Gemeindeleiter, der böses Verhalten nicht korrigiert, die Aufgabe anvertrauen kann, die Gläubigen der Gemeinde in der Heiligung und Gottes­ furcht weiterzubringen und dass die Austeilung des Heiligen Abendmahls sein selbstverständliches Recht ist, dass nicht bezweifelt werden darf. Obwohl ein Gläubiger dieser Art tiefer gehende Fragen eigentlich nie an sich heranlässt und das Denken bei allem, was ihn beunruhigt, sofort abschaltet, hält er sich nach einigen Jahren für einen theologischen Experten, für einen “alten Hasen”, dem man in Sachen Bibelkunde nichts vormachen kann. Diese Einstellung ist später kaum noch korrigierbar, sodass die Bezeichnung „Verstockung“ den Sachverhalt recht gut trifft. Der christliche Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827): formulierte es so Wenn bei einem Menschen das Herz einmal hart geworden ist, dann ist es aus. Was er auch sonst Gutes hat, man kann nicht mehr auf ihn zählen. 146 11. Der Semmelweis-Reflex Der Semmelweis-Reflex bezeichnet die automatische, nicht auf besseren Argumenten beruhende Ablehnung einer nützlichen Information, eines Ver­ besserungsvorschlags oder wissenschaftlichen Entdeckung, weil sie mit eta­ blierten Denkmustern und Verhaltensweisen schwer oder gar nicht vereinbar ist. Die Ablehnung erfolgt aus rein emotionalen Gründen, zur Vermeidung von Prestigeverlust oder Schuldgefühlen oder weil die Verbesserung Reformen notwendig macht, die als unbequeme Zumutung empfunden wer­ den. (Vgl. “Das Gesetz der 50-Jährigen“ 249). Der Unterschied der Sichtwei­ sen kann nicht auf der argumentativen Ebene ausgetragen und entschärft werden: er entwickelt sich schnell zu einem Interessen- und Machtkonflikt, in dem die Bemühungen um Verbesserung von den etablierten Meinungsma­ chern nicht honoriert, sondern bestraft werden. Benannt ist dieser Mechanismus nach dem ungarischen Arzt Ignaz Semmel­ weis, der als Ursache für Erkrankungen an Kindbettfieber unzureichende Hygiene vermutete und vom Klinikpersonal die Beachtung strenger Desin­ fektionsregeln forderte (sorgfältige Desinfektion mit Chlorkalklösung zusätzlich zum Händewaschen). Obwohl seine Vorschläge zu einem deut­ lichen Rückgang der Todesfälle führte, wurden sie von Vorgesetzten und Kollegen (von einigen Ausnahmen abgesehen) abgelehnt. Semmelweis erkrankte infolge der Anfeindungen psychisch und wurde von Kollegen in eine Irrenanstalt eingeliefert, wo er zwei Wochen später starb. (Quelle: wiki­ pedia) Die von uns genannten schädlichen Lehrsätze der “giftigen Theologie” 250 entwickeln sich fast zwangsläufig auf dem Boden eines gedankenlos-mecha­ nisch-wörtlichen Verständnisses der Bibel, das in bibelgläubigen Gemeinden und Gemeinschaften immer wieder Fuß fasst. Dieses Verständnis spiegelt Unsicherheit sowie ein unreifes Urteilsvermögen 251 wider: Je ängstlicher Gläubige sind, desto mehr flüchten sie sich unter die Macht des Buchsta­ bens, in der Meinung, dort Schutz gegen verunsichernde Veränderung zu finden. 249 Siehe „Stichworte“, (Internet). 250 Siehe Seite 188. 251 Siehe „Stichworte“ / „Urteilsvermögen“ (Internet). 147 Zu spät erkennen manche, dass sich diese Macht irgendwann sehr destruktiv gegen sie selbst, gegen ihre Glaubensfreude, gegen ihre seelische Gesund­ heit und auch gegen ihre Heilsgewissheit 252 richten kann. “Der Buchstabe tötet.” (2.Kor 3,6). Aber “der Geist macht lebendig” ! (V.7) Doch wie versteht man die betref­ fenden Bibelstellen richtig, in einer lebendigen, lebensfördernden Weise (Mt 4,4) ? Dazu bedarf es natürlich guter Argumente, die die Macht des Buchsta­ bens im Gewissen entkräften können, insbesondere eines übergeordneten Prinzips (“Schlüssel“ 253 ), um den Rang eines Bibelwortes einschätzen zu können. Das Gewissen 254 lässt sich nur durch gute Argumente überzeugen. Wird der Buchstabe nicht entkräftet und widerlegt, bleibt das Gewissen wund. Obwohl die Schädlichkeit der genannten Lehrsätze für jeden Laien unmittelbar nachvollziehbar ist, und auch offensichtlich ist, dass eine offene Diskussion über die Beweiskraft möglicher Argumente unentbehrlich ist, und obwohl die Würdigung der Beweiskraft solcher Argumente im deut­ schen Internet (nach unseren Recherchen) kaum präsent ist, haben Mit­ glieder unseres Arbeitskreises so gut wie keine Anerkennung, Beachtung oder gar Förderung (durch Bekanntmachung) gefunden. Wie würden sie sich freuen, wenn man sie wenigstens einmal einladen und ihnen ein Podium zur Diskussion geben würde ! Unermüdlich haben sie seit Jahren viele bibelgläubige Gemeinden (siehe “Beispielbrief“ 255), Ethik-Lehrer und theologische Institute angeschrieben. Es kam bisher kaum Antwort. Man hielt in der Regel nicht einmal eine Emp­ fangsbestätigung für nötig. Gibt es das Problem wirklich nicht? Gelegentlich kam eine beleidigte Reaktion: man fühlte sich “verletzt” oder “belästigt” oder “zu Unrecht verunsichert”. Andere, die sich “rechtgläubige Christen” nennen, reagierten gar mit Feindschaft und übler Nachrede. 252 253 254 255 Siehe „Stichworte“ / „Heilsgewissheit“ (Internet). Siehe Seite 6. Siehe Seite 119. Siehe Internet. 148 Dass Gläubige durch “giftige Theologie” 256 zeitlebens seelischen Schaden davongetragen haben oder gar ganz am Glauben verzweifelt sind, interes­ sierte nicht. (“Blinder Fleck“257). Kann man das mit dem Gebaren einer mafiosen Baufirma vergleichen, die in einem armen Land mit mangelhafter Rechtsprechung tätig ist ? Sie errichtet beeindruckende Bauwerke, die der Allgemeinheit dienen - Kran­ kenhäuser, Schulen und Kirchen -, womit sie sich viel Unterstützung und Sympathie der Bevölkerung sichert. Ein kleiner Schönheitsfehler: um Geld zu sparen, werden Sicherheitsmaßnahmen vernachlässigt. Gelegentlich stürzt ein Bauarbeiter vom Gerüst in die Baugrube hinab, wo ihn niemand mehr sieht. Da es nur selten passiert und alle gut entlohnt werden, stört sich kaum jemand daran. Die Bauleitung ist der Ansicht, wer stürzt, sei unaufmerksam gewesen und habe sich das selbst zuzuschreiben. Die Belegschaft darf über Unfälle nicht informiert werden. Die Belegschaft vermeidet selbst, über dieses Thema zu sprechen, da niemand das “gute Betriebsklima” gefährden will. Niemand “will in die Hand beißen, die ihn füttert.” Doch wenn eine Kirche sich mit sozialen Projekten profiliert (wobei der Löwenanteil durch ehrenamtliche Arbeit ehrlich gesinnter Gläubiger beige­ steuert wird), aber gleichzeitig hinnimmt, dass einzelne Menschen durch destruktive und dilettantische Theologie schwer geschädigt werden, kann dann das Motiv 258 der leitenden Personen tatsächlich aufrichtige Liebe sein ? Können sie für sich beanspruchen, dass sie die wichtigsten Qualitäts­ standards Jesu 259 – Barmherzigkeit, Fairness, Ehrlichkeit – respektieren ? Oder muss man sie eher den “Schriftgelehrten und Pharisäern” zuordnen, die sich über diese Maßstäbe hartnäckig hinweggesetzt haben ? (Mt 23,23) Haben sich das Recht, sich für ihr Tun auf Jesus Christus zu berufen ? Wie wird wohl später einmal die Nachwelt – viel wichtiger: wie wird Jesus – über diese Leute urteilen, die sich jetzt noch selbstbewusst für “gute Hirten” und “Verteidiger der Wahrheit” halten ? Wird er sagen: “O ihr treuen und frommen Diener, was habt ihr doch für beeindruckende Erfolge vorzuwei­ sen, insbesondere ein volles Gotteshaus!” 256 257 258 259 Siehe Seite 85. Siehe „Stichworte“ / „Blinder Fleck“, (Internet). Siehe „Stichworte“ / „Destruktive Motive“, (Internet). Siehe „Stichworte“ / „Qualitätsmaßstäbe“, (Internet). 149 Wird er sagen: “Oh ihr treuen Diener, wie seid ihr doch fromm, das ihr die meisten Besucher zufriedengestellt habt ? ” Oder wird er sagen: “Was ihr dem Geringsten unter meinen Brüdern angetan habt, das habt ihr mir ange­ tan” ? (Mt 25,40) 12. Prüfe Dein Urteilsvermögen Urteilsvermögen wird durch Übung gestärkt. Wenig Urteilsvermögen hat, wer alles gedankenlos hinnimmt. “Macht euch nicht mitschuldig an finsteren Machenschaften. Helft vielmehr das Böse in der Gemeinde aufzudecken.” (Eph.5,11 ff) In evangelikalen und pietistischen Gemeinden ist dieses wichtige Gebot weithin vergessen. 1. Ist das wirklich wahr ? 2. Naheliegende Fragen ... 260 3. Eine einfache Lösung, die immer möglich ist ! 261 4. Skizze eines bibelgemäßen Schlichtungsverfahrens 262 5. Das Dilemma der wortwörtlichen Interpretation 263 Wir wollen uns einmal einen typischen Fall anschauen, um Urteilsvermögen zu üben … (weitere Fälle sind in Vorbereitung…) 12.1 Ist das wirklich wahr ? Es war einmal ein Mensch. Er bekehrte sich und wurde gläubig. In einer bibeltreuen Gemeinde. In allen bibeltreuen Gemeinden, die er kannte, ver­ sicherte man ihm, dass die Bibel Gottes Wort und „völlig zuverlässig“ sei. Nun geschah es, dass ihm ein Mitchrist aus einer anderen Gemeinde einen schlimmen Schaden zufügte und sich nicht weiter darum kümmerte. Norma­ lerweise bringt man den Streitfall vor Gericht. 260 261 262 263 Siehe Seite 153. Siehe Seite 154. Siehe Seite 156. Siehe Seite 159. 150 Er aber konnte das nicht tun, denn in der Bibel hatte er gelesen, dass das eine „schändliche Sünde“ sei. (1.Ko 6,5) Die Bibel sagte ihm, er sollte einen Rechtsstreit vor „die Weisen“ der Gemeinde bringen. Sehen wir uns die betreffende Bibelstelle einmal genau an! „Wie kann jemand von euch wagen, dass ihr als Christen euren Rechtsstreit vor ungläubigen Richtern austragt, anstatt vor Menschen, die zur Gemeinschaft der Heiligen gehören? Wisst ihr nicht, dass die Heiligen einmal über die Welt richten werden? Müsstet ihr dann nicht erst recht eure Rechtsstreitigkeiten unter euch regeln können? Habt ihr vergessen, dass wir sogar über Engel richten werden? Wie viel mehr über Dinge des täglichen Lebens. Müsstet ihr dann nicht erst recht eure alltäglichen Streitigkeiten schlichten können? Ihr aber lauft damit zu Richtern, die noch nicht einmal Christen sind. Euch zur Schande muss ich das sagen. Gibt es denn gar keinen weisen Menschen bei euch, nicht einmal einen einzigen, der in einem Rechtsstreit zwischen Gläu­ bigen fair entscheiden könnte?“ (1.Kor 6,1-5). Leider wusste der Gläubige nicht, wer der „Weise“ sein sollte, der hier in Frage kam. Denn über faire Schlichtung wurde in den Gemeinden weder gesprochen noch nachgedacht. Das tat nun der Geschädigte und schrieb einiges dazu auf. Wie konnte man einen geeigneten Schiedsrichter finden ? Wie wird Befangenheit nach Möglichkeit vermieden ? Was muss getan wer­ den, damit der Täter seine Verantwortung erkennt ? Darauf bat er den Pastor der bibeltreuen Gemeinde, zu der der Täter gehörte, zu diesen Gedanken Stellung zu nehmen. De Pastor teilte ihm mit, dass er dafür „keine Zeit“ hätte. Er wollte nur den Namen des Täters wissen und dann den Fall entscheiden. Der Geschädigten aber konnte nicht mehr glauben, dass Pastor „der Weise“ war, da dieser weder Zeit noch Lust hatte, über völlig selbstverständliche Fragen nachzu­ denken. Als er ihn nun bat, ihn bei der Suche nach geeigneten Gläubigen zu unterstützen, weigerte sich der Pastor. Ebenso weigerte er sich, als der Gläubige fragte, ob er die Angelegenheit nach dem Scheitern des Vermittlungsgesprächs „vor die Gemeinde bringen“ könnte – wie es die Bibel fordert. (Mt 18,17). Der Pastor sagte, dass er das nicht zulassen würde, da der Geschädigte „nicht Mitglied seiner Gemeinde“ sei. Die Angelegenheit sei damit für ihn erledigt. Und so blieb der gläubige Bruder auf seinem beträchtlichen Schaden sitzen – bis zum heutigen Tag. 151 Kaum zu glauben: Dieses skandalöse Ergebnis ist in evangelikalen Gemein­ den keine Ausnahme! Schon vor eineinhalb Jahrzehnten (!) hat Prof. Dr. Dr.Thomas Schirrmacher in seiner „Ethik zum Selbststudium“ die „völlige Aushöhlung des christlichen Rechtsbewusstseins“ in evangelikalen Gemein­ den beklagt. 264 Geändert hat sich bisher so gut wie nichts! Wie kann man da behaupten, dass sich das übliche Verfahren, dass der Herr Pastor mit beiden Konfliktparteien spricht und dann “nach seinem Ermes­ sen” entscheidet, bewährt habe ? Immer wieder passiert es: Immer wieder passiert es: gläubige Christen erleiden einen Schaden durch einen Mitchristen. Aber in der Gemeinde wird an der gemeinsamen Lösung des Konflikts nicht gearbeitet. Vielmehr stellt man sich dort auf die Seite des Täters, der den Fall unter den Teppich kehren möchte und so tut, als ob nichts geschehen wäre. Die Mitglieder werden nicht einmal darüber informiert, dass sie ihren Fall vor das weltliche Gericht bringen dürfen, sondern sogar noch kritisiert, wenn sie es tun – unter Beru­ fung auf eine wörtliche – und falsche ! – Auslegung von 1.Kor 6. 265 Kommt der geschädigte Bruder oder die Schwester gar noch aus einer ande­ ren Gemeinde, so sind die Chancen auf eine faire Konfliktschlichtung noch viel geringer. 264 Band 2, Neuhausen-Stuttgart, 1994, Seiten 593 – 594. 265 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 26. Behauptung: “Ein Christ darf sich nicht wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern“, Seite 132. 152 Die Tatsache, dass der heilige Geist alle Gläubigen über Grenzen und Spren­ gel hinweg zu einem Leib zusammenfügt, und dass diese Einheit heilig ist und viel höher steht als der Zusammenhalt eines religiösen Vereins oder einer Kirchgemeinde macht leider auf manchen Pastoren, der sich als „bibeltreu“ betrachtet, keinen nennenswerten Eindruck. Was sagt das Neue Testament, die “Verfassung” aller gläubigen Gemein­ schaften? “Nun seid ihr also nicht mehr Fremde und Leute ohne Bürger­ recht, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und gehört zur Familie Gottes. Die Familie Gottes, die Gemeinde, ist ein ständig wachsender Bau, der auf dem Fundament der Apostel und Propheten steht. In ihm ist Jesus Christus der wichtigste Stein, der das ganze Haus zusammenhält, ein Haus, das sich der heilige Gott selbst zur Wohnung erwählt hat.” (Eph 2,19-21) Das ist gültiges biblisches Recht! 12.2. Naheliegende Fragen … a) Welche Folgen hat das Verhalten des Pastors für die Seele des Geschä­ digten ? Ist es nicht wahrscheinlich, dass er zusätzlich zu den Folgen der Tat auch noch die quälende Erkenntnis aufgeladen bekommt, dass seine Mit­ christen de facto Partei für den Schädiger ergreifen und ihn im Stich lassen ? b) Ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er bald an den tröstenden Worten Jesu zu zweifeln beginnt, weil seine Geschwister ihm beweisen, dass die Anweisungen Jesu zur Konfliktschlichtung nur bedeutungsloses Geschwätz sind ? c) Ist es nicht wahrscheinlich, dass der Geschädigte sehr bald seinen Geschwistern nicht mehr glauben kann, die ihre “Liebe” zu ihm beteuern ? Gibt es Liebe ohne Fairness ? d) Ist es nicht möglich, dass ihn sogar noch einzelne Geschwister anfeinden und als “Schalksknecht” beschimpfen, und ihm es als Sünde vorwerfen, dass er eine faire Lösung erwartet ? 153 e) Kann der Pastor noch glaubwürdig über die Einheit des Leibes Christi (1.Kor 12,12) und über die Aufgabe des Gläubigen “mitzuleiden” (1.Kor 12,26) und “die Last des anderen zu tragen” (Gal 6,2), predigen oder ist das als unredliche Propaganda anzusehen? f) Ist die Einheit des Leibes Christi ein nebensächliches oder ein ganz zen­ trales Thema ? g) Welche Folgen hat das Verhalten des Pastors für die Seele des Täters ? Ist es möglich, dass sie zu einer Haltung der Verstocktheit und der Schaden­ freude beiträgt ? Wie sind dann die Aussichten des Täters auf Errettung, wenn die Bibel sagt, dass “ein unbarmherziges Gericht ergeht” (Jak 2,13) über den, der nicht barmherzig sein wollte ? h) Welche Motive mag wohl der Pastor haben, wenn er dazu aufruft, eifrig zu missionieren und zu evangelisieren, um “Seelen zu retten”, wenn ihm das Schicksal des Täters gleichgültig ist ? i) Jeder Betrieb hat seinen Betriebsrat, mit dessen Hilfe sich auch der unbe­ deutendste Mitarbeiter gegen Willkür, Übervorteilung und Gemeinheit weh­ ren kann. Doch was hat die christliche Gemeinde? Wie könnte eine bibelge­ mäße Lösung des Problems aussehen? 12.3. Eine einfache Lösung, die immer möglich ist … Wenn der Pastor merkt, dass der geschädigte Bruder nicht das Vertrauen in eine unparteiische Anhörung seitens des Vorstandes aufbringt, so kann er dennoch dafür sorgen, dass eine solche Anhörung durch Älteste einer anderen Gemeinde, die nicht zu seinem Einflussbereich gehört, stattfindet. Der Pastor kann den Beschuldigten auffordern, an dieser Anhörung teilzu­ nehmen. Die beauftragten Ältesten hören beide Parteien zur Sache und berichten dann darüber in den Mitgliederversammlungen beider Gemeinden, der des Geschädigten und der des Beschuldigten. 154 Diese entscheiden dann – nunmehr vollständig informiert – unabhängig über Wiedergutmachung und Disziplinierung. Verweigert der Beschuldigte die Teilnahme an der Anhörung, so hören die Ältesten nur den Geschädigten und formulieren Fragen an den Beschuldig­ ten. Die Mitgliederversammlung stellt diese Fragen dann dem Beschuldigten und entscheidet dann über Vorschläge zur Wiedergutmachung und Disziplinie­ rung. Diese kleine Lösung hätte der Pastor im oben genannten Fall vorschlagen können. Es entsteht kaum Aufwand, da die Entscheidungen durch andere getroffen werden. Es ist nur Offenheit und Ehrlichkeit nötig. Mit der Bemü­ hung um Transparenz ist bereits sehr viel erreicht. Wenn die untersuchenden Ältesten aus zwei verschiedenen Gemeinden stammen, dann werden beide noch mehr um eine glaubwürdige Leitung der Untersuchung bemüht sein. Die Qualität der Entscheidungen, die die Mit­ gliederversammlung trifft, lässt sich noch weiter verbessern, wenn man das ganze Verfahren enger an der Bibel ausrichtet (siehe folgender Abschnitt). Ein Pastor, der die kleine Lösung unterstützt, sollte natürlich auch selbst bereit sein, sich bei einer Beschwerde gegen ihn selbst einer unparteiischen Anhörung zu stellen. Für jemand, der sein Amt redlich versieht, ist das kein Problem. 155 12.4. Skizze eines bibelgemäßen Schlichtungsverfahrens: a) Die Gemeinde muss auf den Ernstfall einer Straftat, die von einem Mit­ glied begangen worden ist, vorbereitet sein. Ohne Vorbereitung ist es sehr wahrscheinlich, dass bei Rechtsbruch und Schädigung weggesehen und ver­ drängt wird, anstatt die Wunden im Geiste Jesu zu verbinden. Die Bemü­ hung um gegenseitige Versöhnung bleibt unerläßlich, auch wenn die welt­ liche Justiz für Bestrafung und Schadensausgleich gesorgt hat. Wichtig: das Schlichtungsverfahren ist eine Notordnung für Straftaten und regelt des­ halb keine Erbschaftsstreitigkeiten. (Luk 12,14) b) Wenn die Gemeinschaft der Gläubigen in die Konfliktschlichtung nicht in sinnvoller Weise einbezogen werden kann (Mt 18, 17; 1.Kor 11,13b), bleibt nicht selten die Vorstufe, das Mediations- oder Vermittlungsgespräch (Mt 18,16), ergebnislos oder findet erst gar nicht statt. c) Am wirksamsten und sinnvollsten wird die Gemeinde einbezogen, indem sie mindestens zwei oder drei “weise” (1.Kor 6,5), d.h. geeignete Gläubige zu Schiedsrichtern (4.Mo 11,16-17) wählt, hinter deren Entscheidung sie sich stellen kann. Dies ist der effizienteste Weg, um den guten Ruf des Scha­ densverursachers zu schützen und um eine Beeinträchtigung des Gemeinde­ lebens zu vermeiden. Geeignet sind Gläubige, die sich durch Wertschätzung der Fairness (Ps 37, 28 / 94, 15 / Jes 1, 17), Liebe zu den schwachen Geschwistern (Mt 25,40 / 1.Kor 12, 22 -24) und durch Fähigkeit zur Selbstkritik (Rö 2,21a / 2.Kor 10,12-13+18 / 15,5) auszeichnen. Diese Eigenschaften kann man lei­ der nicht bei allen Mitgliedern voraussetzen. d) Wenn die Gemeinde sich hinter ihr Urteil stellen soll, müssen diese Gläu­ bigen mit entsprechender Autorität ausgestattet werden. Sie legen deshalb so wie hauptamtliche Mitarbeiter einen Amtseid ab, indem sie sich verpflich­ ten, unparteiisch zu urteilen (Jes 50, 20-24a / Jak 2,9) und das Gewissen nicht fahrlässig zu erleichtern. (Jer 6,14) 156 e) Die Konfliktpartner bekräftigen ihre Aussagen in der Untersuchung, indem sie Gott zum Zeugen ihrer Wahrhaftigkeit anrufen, so wie auch Paulus Gott zum Zeugen anrief, wenn ihm die Sache wichtig genug erschien. (Rö 1,9 / 2.Kor 1,18 / Phil 1,8) Die Anrufung Gottes ist angemessen, da ungelöste oder lange schwelende Konflikte die Gemeinschaft erheblich bela­ sten können. f) Das vorrangige Ziel der Konfliktschlichtung ist die Förderung des Ver­ antwortungsgefühls (1.Mo. 4,9 / 1.Kor 12, 26) und nicht die materielle Wiederherstellung. Der Täter soll erkennen, dass sein Gottesdienst jetzt darin besteht, die Wunden des geschädigten Mitchristen zu verbinden. (Mt 5, 23-24) Bibelgemäße Konfliktschlichtung versucht, eine Brücke zwischen den Konfliktgegnern herzustellen. g) Die Predigt muss diesen Prozess der Gewissensbildung unterstützen und Wertschätzung der Fairness lehren, zumal die ganze Gemeinde ja geeig­ nete Schiedsrichter wählen soll. Sie tut das am wirksamsten, indem sie deut­ lich darauf hinweist, dass sie Spenden und Mitarbeit eines Gläubigen zurückweisen muss, der gegenüber dem geschädigten Mitchristen gleichgültig bleibt („Korban“ – Predigt: Mk 7, 11-13). Wertschätzung der Fair­ ness ist die unverzichtbare Grundlage „ungeheuchelter Bruderliebe“ (Rö 12,9 / 2Kor 6,6 / 1Pe 1,22). Gegebenenfalls müssen zusätzlich geeignete Prediger für diese Aufgabe bestellt werden. h) Das Ziel der Konfliktschlichtung ist nicht der vorschnelle Ausschluss des Täters. Es wäre unfair und scheinheilig, das Problem auf diese Weise einer anderen Gemeinde aufzubürden. Der Gläubige, der den Mitchristen geschä­ digt hat, kann sich seiner Verantwortung ebenfalls leicht durch Wechsel der Gemeinde entziehen. Deshalb müssen die Schiedsrichter verschiedener Gemeinden zusammenarbeiten (vgl Ri 19-20) und die Beurteilung des Täters sollte in der Gemeinde geschehen, in der man ihn und sein Verhalten gut kennt. 157 i) Wer andere prüft oder zum Gehorsam aufruft, muss auch selbst bereit sein, sich prüfen zu lassen. Deshalb sollte es selbstverständlich sein, dass jeder, der eine Funktion oder ein Amt in der Gemeinde hat, sich und sein Verhalten an der Bibel prüfen lässt. (2.Kor 4, 2 / 6,7 / 7,2) Die Prüfung der charakterlichen Eignung eines Schiedsrichters (siehe Punkt c) ist schon des­ halb selbstverständlich, da der Geschädigte in der Regel nur einen einzigen Versuch (!) hat, sein Anliegen vorzubringen und es (anders als in der Welt) keine übergeordneten Instanzen gibt, die man zur Überprüfung der Ent­ scheidung anrufen könnte. j) Wer Einkommen von der Gemeinde bezieht, ist in Rechtsentscheidungen, die möglicherweise zu Parteiungen, zu Stress an der Arbeitsstelle und zu einer Einbuße von Spenden führen können, nicht unbefangen. Deshalb ist es unfair, ihn zum Schiedsrichter zu bestellen, der ja einen Amtseid abzule­ gen hat. (1.Thess 5,22) k) Auch wenn eine Gemeinde selber keinen schiedsgerichtlichen Dienst ein­ richten möchte und hier lieber die Hilfe einer anderen Gemeinde in Anspruch nimmt, sollte dort die Charakterbildung 266 mit Hilfe der 3 Maß­ stäbe Jesu 267 „Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit“ “ (Mt 23,23) ein wichtiges Thema sein. l) Falls sich ein Gemeindeleiter bösartig und ungerecht verhält, dann darf die Gemeinde nicht gezwungen sein, dazu zu schweigen, weil ja “über dem Leiter niemand mehr steht”. Wie soll ein solcher Leiter dann das Abendmahl austeilen, mit welchem Recht kann er noch Mitglieder ermahnen, sich selbst zu prüfen und ihre Sünde zu bereuen ? Dies ist dann ja unmöglich, ohne zu heucheln. Es muss daher möglich sein, eine Beschwerde gegen einen böse handelnden Gemeineleiter an geeigneter Stelle vorzubringen, wo unparteiisch und ohne Ansehen der Person darüber geurteilt werden kann. Der beste Ort dazu sind Älteste einer anderen bibeltreuen Gemeinde, die keine persön­ lichen Beziehungen oder Kooperationen mit der Gemeinde des Beschul­ digten haben. 266 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173. 267 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe“, (Internet). 158 Diese hören beide Seiten an, bilden sich ein Urteil nach biblischen Maßstä­ ben und berichten auch in den Mitarbeiterversammlungen beider Gemein­ den, der Gemeinde des Klägers und der Gemeinde des Beschuldigten. Diese entscheiden dann – nunmehr vollinformiert – selbständig über Schadensaus­ gleich bzw. Disziplinierung. Bevor man sich an Älteste einer dritten Gemeinde wendet, sollte man immer einen Vermittlungsversuch mit einem Freund oder Fürsprecher machen, die auch als Zeugen dienen. (Mt 18,16) Wenn dieser scheitert, bleibt nur der beschriebene Weg. (Mt 18,17) Die Gemeinde hat damit eine echte Chance, auf der Basis ungeschönter Information zu entscheiden. Diese Chance hat sie heute häufig nicht. Sie sollte sie auf jeden Fall haben, weil eine faire Ent­ scheidung für ihre geistlichen Gesundheit wichtig ist. Wenn Du Details wissen willst, steht Dir kostenlos die Broschüre „Liebe ohne Fairness ?“ unter “Downloads” (Kurzversion und Vollversion) zur Verfügung. Bitte mache Deine Mitchristen auf die Notwendigkeit eines seriösen (!) Verfahrens aufmerksam! 12.5. Das Dilemma der wortwörtlichen Auslegung Wenn der Apostel Paulus in der Bibel klar und deutlich ermahnt, Streitfälle fair zu schlichten und der Gläubige darauf reagiert, indem er den Kopf in den Sand steckt und behauptet, gerade diese Ermahnung wäre unerforschlich und man dürfe darüber nicht nachdenken, so ist das ein intellektuell unred­ liches, inakzeptables und peinliches Verhalten! Von der Schädigung des Bruders und der Gleichgültigkeit gegenüber seinem Leid ganz zu schwei­ gen! Der Fehler liegt aber nicht in der Ermahnung des Paulus, sondern vielmehr in der Starrheit der Interpretation, die andere Bibelverse unzureichend berücksichtigt.Die bibelgemäße Lösung 268 ist klar, konsistent und überzeu­ gend. 268 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 26.Behauptung: „Ein Christ darf sich nicht wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern“, Seite 132. 159 13. Zu Gott gehören 1. “Ein geheiligtes Leben führen” heißt die Freundschaft mit Gott im Lebensstil zu zeigen a) Negative Definition der Heiligung b) Positive Definition 2. Heiligung ist keine nur private Angelegenheit ! 269 3. Die Echtheit der Heiligung ist an der Qualität (!) der Früchte zu erkennen ! 270 4. Der Weg aus der Werkgerechtigkeit 271 5. Zerrbilder der Heiligung 272 13.1. “Ein geheiligtes Leben führen” heißt, die Freundschaft mit Gott im Lebensstil zu zeigen Wer die Gnade Gottes und Seine beglückende Freundschaft erlebt hat, möchte nun auch seinerseits seine Freundschaft mit Gott mit seinem Lebens­ stil zeigen. Diese Einstellung heißt “Heiligung”. Gott möchte, dass Seine Gläubigen Ihn mit ihrem Lebensstil ehren (Eph 4,1). Er möchte, dass ihr Charakter der Person Jesu ähnlicher wird (Rö 8,29, 2.Kor 3,18), sodass andere Menschen ermutigt werden, Gott ebenfalls ihr Vertrauen zu schen­ ken. Durch Heiligung wirkt der Heilige Geist im Innersten der Seele, sodass auf diese Weise beim Gläubigen selbst Glaubensgewissheit und Gotteserkennt­ nis verstärkt werden: “Gott schenke euch aus seinem unerschöpflichen Reichtum Kraft, damit ihr durch seinen Geist innerlich stark werdet, und Christus durch den Glauben in euren Herzen wohnt und ihr in der Liebe eingewurzelt und fest gegründet seid. Denn nur so könnt ihr mit allen ande­ ren Christen das ganze Ausmaß seiner Liebe erkennen, die wir doch mit unserem Verstand niemals fassen können, die aber uns selbst und unser Leben völlig ausfüllen kann. ” (Eph 3,16-19). 269 270 271 272 Siehe Seite 166. Siehe Seite 167. Siehe Seite 169. Siehe Seite 171. 160 Obwohl der Apostel Paulus die Formung der christlichen Persönlichkeit sehr positiv beschreibt, ist der Begriff “Heiligung” leider bei vielen Gläubigen eher mit negativen Emotionen verbunden. a) Negative Definition der Heiligung: Nicht wenige verbinden mit dem Begriff “Heiligung” eher negativ empfun­ dene Verhaltensweisen: überzogene Bravheit, Unselbständigkeit im Denken, moralinsaure Überheblichkeit und servilen, selbstquälerischen Perfektionis­ mus. Auch wenn man immer wieder einmal unter Gläubigen auf solche “Vorbilder” trifft – hat Jesus wirklich das mit “Heiligung” gemeint ? Zerrbilder der Heiligung entstehen durch eine falsche oder unklare Bezie­ hung des Gläubigen zum Gesetz. Echte Heiligung wird unabhängig vom Gesetz geschenkt, denn der gläubige Christ ist “tot für das Gesetz“. (Gal 2,19) Wäre er noch dem Gesetz unterworfen, so müsste er es komplett ein­ halten, um Gottes Wohlgefallen zu erhalten. “ Die sich von der Beachtung des Gesetzes Gottes Segen versprechen, sind verflucht. Denn so steht es im Gesetz: Verflucht ist jeder, der nicht alles ausnahmslos einhält, was im Gesetz gefordert wird.” (Gal 3,10). Deswegen kann echte Heiligung nicht darin bestehen, möglichst viele Gebote einzuhalten, d.h. moralische Leistung quantitativ nachzuweisen, um sich des göttlichen Segens zu versichern. Paulus weist deutlich darauf hin: auch der Gläubige, der ganz viele Gebote einhält, ist kein bisschen besser dran als der, der nur wenige einhält. Die Tatsache, dass ein einziges Gebot nicht eingehalten werden kann, genügt, um verflucht zu sein. (Gal 3,10) Wer kann alle Gebote einhalten ? Nur Jesus konnte das. (Jo 8,46) Selbst Paulus, der sich aufopferte wie selten jemand, sagte, dass er sich lieber nicht auf seine Gerechtigkeit verlassen wolle. (Phil 3,9) 161 Wieviel Gläubige sonst schaffen es denn, vollkommen selbstlos zu leben 273, täglich ihr Leben zu riskieren und alles zu einzusetzen, was sie haben, um Menschen zu retten ? Auch wenn es vereinzelt solche Gläubige gibt – wenn sie es tun, ist es ganz und gar freiwillig. Sie sind nicht gezwungen, es zu tun. 274 Der Segen Gottes, seine Liebe, die Erlösung wird ganz und gar aus Gnaden geschenkt und ist nicht von der moralischen Leistung des Gläubigen abhän­ gig.”Ganz aus Gnaden seid ihr gerettet worden – nicht etwa aufgrund treuer Gesetzeserfüllung, deren sich irgendjemand rühmen könnte.” (Eph 2,9-10) Echte Heiligung ist ein durch Freundschaft und Liebe motiviertes Ver­ halten und hat nichts mit quantitativer Leistung zu tun. Die innere Befreiung und Heilung ist dabei die Grundlage des äußerlichen Tuns. Der Apostel bezeichnet Heiligung als ein Geschehen in der Seele des Gläubigen (“innerlich stark werden“). Das ist das Entscheidende. Bei der unechten, vermeintlichen Heiligung, der Gesetzesknechtschaft ist es umgekehrt. In der Seele wird die größte Fäulnis und Unfreiheit geduldet, denn es kommt nur auf die äußerliche moralische Fassade an. (Mt 23,27-28) D.h. es genügt dann, eifrig die Bibel zu lesen, zum Gottesdienst zu gehen, nicht die Ehe zu brechen, nicht zu stehlen, nicht zu betrügen, eifrig zu spenden, neben der beruflichen Arbeit in der Gemeinde Dienste zu übernehmen. Schwieriger wird es dann schon bei den Wortsünden: nicht schlecht über andere reden, nicht beleidigen, verhöhnen und verspotten, nicht täuschen oder lügen. Etliche Gesetzesknechte bewerten diese Verhaltensweisen eher als Bagatelle, die ihnen sogar entschuldbar scheinen, wenn sie dazu dienen, die eigene Rechtgläubigkeit anderen aufzuzwingen. Von den Gedankensün­ den ganz zu schweigen. 273 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Hundertprozentige Buchstabentreue ist eine Illusion“. (Internet). 274 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 7. Behauptung: “Wer nicht fast alles opfert, ... lebt in Sünde und unter dem Fluch Gottes.”, Seite 83. 162 Doch selbst, wenn man sich bei den Wort- und Gedankensünden zurückhal­ ten würde: Falsche Heiligung, die nur mit der eigenen Willenskraft (vgl Joh 1,13) zustande gebracht wird und nicht aus Liebe und Freundschaft entstan­ den ist, bleibt ein Fremdkörper in der Seele. Sie ist Heuchelei, weil sie sich als Freiheit ausgibt (“Propaganda“ 275), und dabei doch mit ständiger Über­ forderung, Einschüchterung und Bedrohung verbunden ist. Wer unter Heiligung hauptsächlich äußerliche Verhaltensweisen versteht und das innerliche Geschehen als zweitrangig betrachtet, der verfällt sehr leicht in den Wahn, dass er Gott mit seiner äußerlichen Leistung zufrieden­ gestellt habe. Dann sieht er auf andere, die seiner Meinung nach weniger “leisten”, von oben herab: “Der Pharisäer betete : Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner da.” (Luk 18,11) Durch moralischen Hochmut wird Gott nicht würdig repräsentiert. Ein fataler Irrtum und Mangel an Selbsterkenntnis ! Der Pharisäer gab sich selbst die Ehre, dagegen ist echte Heiligung ein Werk des Heiligen Geistes, das allein Gott ehren soll. “Kann man da noch selbst auf etwas stolz sein? Das ist ausgeschlossen.” (Rö 3,27 / Eph 2,9) Moralischer Hochmut und die Lust, Mitmenschen mit dem moralischen Knüppel auf den Kopf zu hauen, ist eine leider weit verbreitete und sehr traurige und schäbige Sache. Wie blind muss man sein, um dieses Verhalten mit der Heiligung, dem Werk des Heiligen Geistes, zu verwechseln! Wie blind muss man sein, um zu glauben, dass man mit diesem trostlosen Verhalten Gott würdig repräsentiert ! 275 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Propaganda“, (Internet). 163 b) Positive Definition der Heiligung: Heiligung ist eine frohmachende Lebensweise, die den Gläubigen selbst, seine Mitchristen und Gott erfreut. Paradoxerweise ist die Voraussetzung dieser Freude ehrliche Selbstprüfung 276 und Selbsterkenntnis 277. Wenn der fromme Moralist sich eines Tages zu dieser Haltung entschließt, dann steht auch ihm der Weg zu dieser Freude offen. “Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meiner menschliche Natur, nichts Gutes wohnt. Es fehlt mir nicht am Wollen, aber das wirklich Gute bringe ich nicht zustande.” (Rö 7,18) Realistische Einsicht in die Verdorbenheit der alten menschlichen Natur ist das erste Werk des Heiligen Geistes, der die Menschen von ihrer Sündhaftigkeit überzeugt (Jo 16,8), die “nicht durch die Willenskraft eines Menschen” (Jo 1,13) überwunden werden kann. Mit Selbsthaß oder Selbstverachtung hat diese Einsicht nichts zu tun. Denn Gott bietet dem Menschen, der seine Sünde bereut, eine neue Natur als Geschenk an, die sein eigentliches Wesen wird. Im Himmel angekommen, wird er nur noch diese Natur haben. Vor dem physischen Tod hängt ihm zugleich noch die alte Natur wie ein Klotz am Bein. Weil er das erkennt, bleibt er vor moralischem Hochmut bewahrt. Selbsterkenntnis 278 wird er immer positiv als Chance sehen. Sie macht ihn nicht mehr depressiv, weil die alte Natur ja nur etwas Vorläufiges ist. Um den Einfluss der alten bösen Natur zurückzudrängen, bleibt der Gläu­ bige bis zu seinem Lebensende auf die Hilfe des Heiligen Geistes angewie­ sen: “Wenn ihr aber durch den Geist die Interessen des alten Menschen tötet, werdet ihr leben.” (Rö 8,15) Der Heilige Geist hat im Gläubigen neuartige Interessen geschaffen. Die Qualität des Glaubens und seiner freundschaftlichen Beziehung zu Gott ist ihm nun wichtig. 276 Siehe das Kapitel „Prüfe dich selbst“, Seite 178. 277 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Selbsterkenntnis“, (Internet). 278 Ebd. 164 Weil es um Qualität geht, kann alles, was er für diese Beziehung tut, nur freiwillig sein. Die Maßstäbe Jesu Barmherzigkeit, 279 Gerechtigkeit, 280 Ehrlichkeit 281 ermöglichen es ihm, das eigene Tun “von außen” mit den Augen Jesu zu sehen. So kann er die Qualität seiner Entscheidungen verbessern und seinem Tun “Ewigkeitswert” verleihen. Alles, was ein Mensch mit dem Motiv der Liebe getan hat, wird von Jesus Christus gewürdigt und belohnt. (Mt 24,4547 / Lk 12,37 / 19,17-19) Nichts davon wird vergessen. (Mt 11,42) Auf diesem Weg kommt Qualität in das Glaubensleben, Liebe, Vertrauen, Gewissheit, Freude an Gottes heilsamen Ordnungen, Vorfreude auf die Ewigkeit. Der Glaube wird kostbar! 282 Der Gläubige wünscht sich von Her­ zen, Gott zu ehren, ihn zu lieben und zu loben, über ihn und sein Wort nach­ zudenken, ihm für alle Hilfe, Bewahrung und Führung dankbar zu sein. Auf diese Weise bildet sich Charakter 283, eine Beständigkeit der Seele, die nicht mehr von Verführungen oder Provokationen hin- und hergeworfen oder gar aus der Bahn geworfen wird. “es ist eine gute Sache, wenn das Herz zuverlässig wird durch die Gnade Gottes.” (Hebr 13,9). Durch solche Gläubigen wird Gott am würdigsten repräsentiert. 279 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet). 280 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188. 281 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 ... mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdig­ keit” übersetzt?“, Seite 190. 282 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Wert des Glaubens“, (Internet). 283 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173. 165 13.2. Heiligung ist keine nur private Angelegenheit ! Nicht nur der Gläubige selbst soll “geheiligt” werden, sondern auch die Gemeinde, die „Gemeinschaft der Heiligen“: “So wie Christus die Gemeinde geliebt und sein Leben für sie gegeben hat, um sie zu heiligen und zu reinigen im Wasserbad des Wortes. Wie eine Braut soll seine Gemeinde sein: wunderschön und frei von jeglichem häßlichen Merkmal, weil sie zu Jesus Christus gehört.” (Eph 5,25-27). Da die Gemeinde Jesus Christus repräsentiert, muss sie sich reinhalten vom Bösen, und „das Böse in ihr aufdecken“ und überwinden (Eph 5, 11). “Heiligung” ist also nie eine rein private Angelegenheit, sondern beinhal­ tet zugleich immer die Sorge für die Gemeinschaft, für die jeder Gläubige mitverantwortlich ist. Leider ist die Gleichgültigkeit gegenüber offenbarem Unrecht in der Gemeinde weitverbreitet. Wenn Gläubige Konflikte unbearbeitet lassen und Böses in der Gemeinde dulden, dann missachten sie wichtige Gebote Gottes und leben keinesfalls in der Heiligung, wie sie vielleicht meinen. Die Weigerung, sich für den geistlichen Zustand seiner Gemeinde mitverant­ wortlich zu sehen, wird gerne als “geistliche Einstellung” getarnt: als “Fried­ fertigkeit”. Umgekehrt wird der Versuch, Unrecht nach Mt 18,17 “vor die Gemeinde zu bringen“, als “fleischliche Unversöhnlichkeit”, als “Schalks­ knecht-Gesinnung” 284 diffamiert. Dass der Geschädigte weiter unter dem Unrecht leidet und sich von der Gemeinschaft im Stich gelassen fühlt, inte­ ressiert nicht. Kain, der Sohn Adams war gottgläubig und religiös. Und doch leuchtete ihm diese Tatsache nicht ein: “Soll ich meines Bruders Hüter sein” (1.Mose 4,9). Dank mangelhafter “Erziehung 285 in der Gerechtigkeit” (2.Tim 3,16) zeigen die Gewissen vieler Gläubiger bei diesem falschen Ver­ halten gar nichts an. 284 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 26.Behauptung: „Ein Christ darf sich nicht wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern“, Seite 130. 285 Siehe Seite 141 ff. 166 13.3. Die Echtheit der Heiligung ist an der Qualität (!) der Früchte zu erkennen ! Da Heiligung eine Wirkung des Heiligen Geistes ist, hat sie auch entspre­ chende Qualität. Der Gläubige, der durch Gottes Geist motiviert wird, handelt völlig freiwil­ lig, weil er vom Wert seines Tuns restlos überzeugt ist. Sowie Jesus völlig freiwillig handelte – selbst beim Opfern seines Leibes (Jo 10,18). Nur posi­ tive Motive können auch andere überzeugen, schlechte nicht. Das Gewissen 286 ist uns als “treuer Wachhund” gegeben, der uns ohne großen gedanklichen Aufwand warnen soll, wenn wir uns gegen Gott und gegen Mitmenschen versündigen. Das Gewissen muss aber an der Heiligen Schrift “geeicht” werden, denn es wird durch die Erziehung geformt, womit menschliche Fehleinschätzungen Einfluss nehmen können. Manche Gewis­ sen zeigen unangemessen eng, andere wieder viel zu oberflächlich an. Letzteres ist häufig dann gegeben, wenn Gemeindelehrer ihrer Gemeinde eine Botschaft vermitteln, die fleischlichen Bedürfnissen entgegenkommt. (2.Tim 4,3) 286 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 20. Behauptung: “Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes”, Seite 119. 167 Umgekehrt gibt es auch Prediger, die die biblischen Forderungen stark über­ treiben (Mt 23, 4) um das Gewissen aufs Äußerste zu beschweren und mit einer möglichst großen Zahl an Neubekehrten auftrumpfen zu können. Diese Prediger binden Menschen an die eigene Person, sodass sie nur ihm selbst, der ihnen das schlechte Gewissen auflud, zutrauen, sie ” in Vollmacht” wie­ der davon zu befreien. Wenn das schlechte Gewissen die zentrale Rolle im Glaubensleben spielt, so ist das Bibelverständnis gründlich krank und zeugt von einem Mangel an Gotteserkenntnis. Gutes tun – um die Pein des schlechten Gewissens zu ver­ meiden – ist ein übles Motiv, das mit dem Geist der Liebe unvereinbar ist. Nicht der andere und seine Freude ist im Blick, sondern man ist hauptsäch­ lich um das eigene seelische Wohl besorgt. Auch wenn man dieses Motiv nach außen hin verbirgt, so bleibt doch das Tun deshalb wertlos. Werkgerechtigkeit 287 ist nur eine scheinbare Heiligung. Sie ist nicht die Frucht tatsächlicher innerer Erneuerung, sondern kommt nur durch eigene Willenskraft zustande. Sie lässt keine Glaubensfreude entstehen, sondern entmutigt und schädigt den Gläubigen. Sie ist auf keinen Fall eine notwendige Vorstufe zu wirklicher Heiligung. Von diesem Wahn können sich leider etliche betroffene Christen nur sehr schwer verabschieden! Diese Theologie ist lebensgefährlich 288 und kann den ganzen Glauben zerstören. Paulus warnte: “Ihr habt Christus verloren, die ihr euch durch die Erfüllung göttlicher Normen retten wollt.” (Gal 5,4) Er spricht von einem Entweder – Oder. Entweder „Sohn der Sklavin“ oder „Sohn der Verheißung“. (Gal 4,22 ff) Es gibt keine Vermischung und keinen allmählichen Übergang. Werkgerechtigkeit ehrt Gott nicht, da sie ihn als jemanden hinstellt, der Menschen mit seelischer Erpressung Leistungen auf­ zwingt, die sie ohne diese Drohungen niemals geben würden. 287 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit”, (Internet). 288 Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 85. 168 13.4. Der Weg aus der Werkgerechtigkeit: 1. Entschärfe das überstrenge Gewissen, indem du seine Funktionsweise erkennst: es ist nicht die Stimme Gottes, sondern ein notwendiger Mechanis­ mus der Seele (siehe: Details 289). 2. Unterscheide zwischen frommen Menschengeboten (Giftige Theologie 290) und dem, was Gott wirklich will, indem du die Wirkung des Gebotes auf den Charakter 291 beurteilst. 3. Denke viel über die Gebote nach, die Jesus Christus für die wichtigsten hielt: “Barmherzigkeit, 292 Gerechtigkeit, 293 Ehrlichkeit 294” (Mt 23,23) und interpretiere jedes Gebot so, dass diese Maßstäbe respektiert werden. 4. Halte fest, dass Jünger Jesu freie Menschen 295 sind und dass du dich nicht bestechen oder erpressen lassen darfst. Werkgerechtigkeit 296 zerstört den Glauben gründlich ! Tue dann lieber nichts, sondern bete um die richtige Einstellung. 5. Glaube daran, dass Jesus grundsätzlich große Geduld mit dir hat, auch wenn du nicht perfekt bist. Geduld mit dem, der schwach ist, ist ein Kenn­ zeichen echter Liebe. (1.Kor 13, 4-7) Wenn es heißt, dass Jünger Jesu “vollkommen sein sollen” (Mt 5,48), so ist dies ein großer Wunsch Jesu, aber nicht ein Gesetz, das die Nichterfüllung unter Strafe stellt. 289 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 20. Behauptung: “Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes”, Seite 119. 290 Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 85 ff. 291 Siehe das Kapitel „Charakter“, Seite 173. 292 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet). 293 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 9. Abschnitt „Gerechtigkeit”, Seite 188. 294 Siehe unter „Häufige Fragen“ den 10. Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 ... mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftigkeit” oder “Glaubwürdig­ keit” übersetzt?“, Seite 190. 295 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet). 296 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit, (Internet). 169 Man kann nicht befehlen, vollkommen zu sein, man kann es nur wünschen, weil das wesentliche Element der Vollkommenheit die Freiwilligkeit ist. Der Vollkommene tut das Gute um seiner selbst willen, weil er davon restlos überzeugt ist und nicht weil er Belohnung erhofft oder Strafe fürchtet. Halte also fest, dass du unvollkommen sein darfst. 297 Nicht nur für den Gläubigen des alten Testaments, sondern auch für den Christen heute können äußerliche Regeln, die er dem Neuen oder Alten Testament entnimmt, eine Glaubenshilfe sein und ihm ermöglichen, sich an die Notwendigkeiten der unsichtbaren Wirklichkeit zu erinnern. Es gibt Gemeinden, die mehr äußerliche Regeln beachten als andere, wobei dieser äußerliche Unterschied nicht zu Qualitätsunterschieden in der Liebe und Treue führen muss. Für manche Gläubigen sind viele äußerliche Regeln eher störend, für andere eher hilfreich. Genauso wie es einst bei den mosaischen Schriftgelehrten geschah, können auch in der christlichen Gemeinde äußerliche Regeln und Traditionen mehr Bedeutung als die Qualitätsmaßstäbe Christi 298 “Barmherzigkeit, Gerechtig­ keit, Verlässlichkeit” (Mt 23,23) erlangen. Infolge der Missachtung der biblischen Priorität wird die Persönlichkeit Gottes nur noch verzerrt wahrge­ nommen. 297 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das Heil ?“, (Internet). 298 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe Jesu“, (Internet). 170 13.5. Die Zerrbilder der Heiligung Parallel entstehen die typischen Zerrbilder der Heiligung: a) Man befolgt den Wortlaut der Gebote in sklavischer Weise wenn man damit einem anderen Menschen Schaden zufügt, 299 , auch b) Man glaubt, Gott durch sklavischen Gehorsam gegenüber dem Wortlaut der Bibel in Dienst nehmen, verpflichten, manipulieren zu können (Werkge­ rechtigkeit 300), c) Das ständig schlechte Gewissen 301 ist der Motor des Handelns, der Gläu­ bige fühlt sich erniedrigt und terrorisiert, d) Die biblischen Begriffe der Freiheit 302 und Mündigkeit des Gläubigen sind nur noch inhaltsleere Propaganda 303, e) Die Leitung erwartet von Gläubigen kritiklosen Gehorsam wo sie selbst sich nicht an biblisches Recht hält, 304 auch dort, f) Weisheit und Urteilen 305 nach bestem Wissen und Gewissen werden als sündige Anmaßung, als gottlose Autonomie diffamiert, g) Gebote werden missbraucht, um über den Glauben anderer zu herrschen, statt zur Freude zu helfen (2.Kor 1,24), 299 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 17. Behauptung: “Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wortlaut hält, ist das beste.”, Seite 111.. 300 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet).. 301 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 20. Behauptung: “Das Gewissen ist die 302 303 304 305 unfehlbare Stimme Gottes”, Seite 119. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit“, (Internet). Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Propaganda“, (Internet). Siehe unter „Giftige Theologie“ die 22.Behauptung: “Ein Gläubiger, der den Anweisungen des Gemeindeleiters nicht gehorcht, lebt in Rebellion gegen Gott.”, Seite 126. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet). 171 h) man ist hochmütig (Lk 18,9 ff) und lieblos gegenüber allen Gläubigen, die sich an die eigene Glaubenstradition nicht anpassen, sogar dann, wenn sie es aus Gewissensgründen gar nicht können, i) Gläubige verletzen und verdächtigen 306 einander unnötig (Gal 5,15), Feindschaften, Rivalitäten, Spaltungen und Parteiungen entstehen (Gal 5,20), der Umgangston und das Klima in der Gemeinde ist durch Unfreund­ lichkeit geprägt. Die Zerrbilder der Heiligung führen bei Nichtgläubigen zum Fehl­ schluss, dass der ganze Glaube unglaubwürdig ist. Sie sind für ihn ein objektives Glaubenshindernis, ein Fallstrick. “Denn »euretwegen wird Gottes Name gelästert von den Heiden«, wie geschrieben steht” (Jesaja 52,5). Gotteserkenntnis ist nicht durch philosophische “Gottesbeweise” 307 herzu­ stellen. Der einzige Weg dorthin ist echte Heiligung. Heiligung ist der “sechste Sinn”, mit dem jeder, der will, die unsichtbare Wirklichkeit wahrnehmen kann. Deswegen sind Glaubensvorbilder so wichtig. Die Bibel warnt uns: Wenn Gott Menschen gläubig werden lässt und sie herausruft aus der Masse in seine Gemeinde, so besteht das Privileg in der Chance, das Geschenk echter Heiligung zu erhalten. Ein Privileg, weniger streng von Gott beurteilt zu werden, wird damit nicht erworben. Weil eben diese Chance so groß ist, hat ihre Ablehnung strengere Bestrafung (!) zur Folge. “Ihr seid das einzige Volk, dass ich mir zum Eigentum erwählt habe. Und deshalb werde ich euch für all eure Untreue zur Rechenschaft ziehen” (Amos 3,2). “Weigert euch nicht, auf den zu hören, der jetzt zu euch redet. Die Israeliten wollten damals nicht hören und sind ihrer Strafe nicht ent­ gangen. Uns wird die Strafe noch viel härter treffen, wenn wir den zurück­ weisen, der jetzt vom Himmel her zu uns spricht.” (Hebr 12,25). 306 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Selbsterkenntnis“, (Internet). 307 Siehe „Stichworte“ / „Gottesbeweis“, (Internet). 172 Manche Gemeindelehrer lehren das leider überhaupt nicht, bestreiten es u.U. sogar. Dabei ist es sehr wichtig, dass der Gläubige, der echte Heiligung überhaupt ablehnt oder das Zerrbild der Heiligung bevorzugt, über die mit seinem Verhalten verbundene Gefahr klar und deutlich informiert wird. “Ohne Heiligung wird niemand den Herrn sehen.” 308 (Hebr 12,14) 14. Kleine Charakter-Skizze des im Glauben gereiften Christen Der im Glauben gereifte Christ erkennt, dass 2.Tim 3,16 wesentliche Bedeu­ tung für das Schriftverständnis hat und dass dieser zentrale Vers die Not­ wendigkeit einer “Erziehung in der Gerechtigkeit” (προξ παιδείαν τήν εν δικαιοσύνη) besonders hervorhebt und dass Gerechtigkeitsliebe zu den wichtigsten Maßstäben (βαρυτερα του νομον) des Neuen Testamentes gehört (Mt 23,23). Entsprechend ist er daran interessiert zu verstehen, was das Neue Testament mit “Erziehung in der Gerechtigkeit” 309 meint. Dabei wird er sich nach bestem Wissen und Gewissen der Frage stellen, was denn als unbefrie­ digende oder gar missglückte Erziehung bzw. Charakterbildung 310anzusehen ist. Die Maßstäbe für diesen pädagogischen Vergleich entnimmt er dem Vorbild Jesu und der Apostel. Ihr Vorbild zeigt, dass ein starker, gesunder Glaube sich nicht abhängig macht von dem, was andere Gläubige glauben. (Jo 6,67) Lebendige Fische schwimmen GEGEN den Strom … tote oder halbtote Fische treiben mit ihm … Jeder muss seine Überzeugung selber bilden nach bestem Wissen und Gewissen (Rö 14,5) – allein auf der Grundlage der Heiligen Schrift. 308 Siehe weiter unter „Stichworte“ den Artikel „Heilsgewissheit ohne Heiligung ?“, (Internet). 309 Siehe im Kapitel „Häufige Fragen“ die 9.Frage „Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188. 310 Siehe das Kapitel „Die negative Verformung der Persönlichkeit durch giftige The­ ologie“, Seite 143. 173 Dass viele Leute dasselbe glauben, ist überhaupt keine Garantie für die Richtigkeit dessen, was geglaubt wird. Keine Gemeinde ist gegen sektiere­ rische Tendenzen 311 automatisch immun. (Mt 24,24 / Apg 20,29) Weiter ist er sich der Tatsache bewusst, dass theologische Rechthaberei und Bevormundung bestenfalls vor prüfendem Nachdenken schützt, aber keine echte Glaubensgewissheit erzeugt. Deshalb wird sich der gereifte Gläubige auch Versuchen selbstherrlicher Lehrer widersetzen, Christen auf die eigene Person zu fixieren und ihre Glaubensgewissheit von der eigenen abhängig zu machen. (2.Kor 4,5) Wenn der Gläubige über seinen Glauben nur mit geliehenen Worten spre­ chen kann, ist dies ein starkes Indiz dafür, dass er noch sehr unselbständig im Glauben ist und Anschauungen seiner Lehrer ungeprüft übernimmt. Wenn echte Glaubensgewissheit fehlt, dann wird sie durch Leichtgläubigkeit ersetzt, die den notwendigen Seelenfrieden liefert. In der Regel werden ein­ fach die religiösen Vorstellungen der Eltern oder der Gemeinde, in der man sich bekehrt hat, ungeprüft übernommen, weil sie mit einer eindrücklichen Nestwärmeerfahrung verbunden sind. “Wer sich nach dem Willen dessen richtet, der mich gesandt hat, der wird feststellen, ob meine Lehre von Gott kommt…” (Jo 7,17). Keine Glaubens­ gewissheit ohne Respekt vor dem heilsamen Willen Gottes ! Deswegen wird ein Christ, der statt Illusionen Gewissheit haben und im Glauben “auf eige­ nen Füßen stehen” möchte, sich für die biblische Sicht echter Heiligung 312 interessieren, die der Freiheit 313 und Würde des Gläubigen 314 entspricht. 311 312 313 314 Siehe das Kapitel „Was ist Irrlehre“ im Internet. Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Freiheit des Christen“, (Internet). Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Authorisierung und Berufung des Gläu­ bigen“, (Internet). 174 Der gereifte Gläubige weiß, dass man nicht andere Menschen zur Umkehr auffordern sollte, wenn man selbst klare Anweisungen, die allen Jüngern Jesu gegeben sind, ignoriert. (Rö 2) Eine Gemeinde, die evangelisieren will, muss sich um die praktische Anwendung der Qualitätsmaßstäbe Jesu Barm­ herzigkeit, 315 Gerechtigkeit, 316 Ehrlichkeit 317 (Mt 23,23) bemühen. Der im Glauben gereifte Gläubige wünscht sehnlich, dass sein Leben durch diese Maßstäbe bestimmt wird und “erfüllt ist mit den Früchten der Gerech­ tigkeit“. (Phil 1,11) Deswegen ist er gewöhnt, zuerst sich selbst zu prüfen 318 , ob er barmherzig, fair und ehrlich mit seinen Mitmenschen umgeht. Nie­ mand soll durch ihn verletzt oder geschädigt werden. So wie Jesus als gutem Hirten die Sorge für ein einziges verlorengegan­ genes Schaf am Herzen lag (Mt 18,12), so ist es auch für den gereiften Gläu­ bigen ein wichtiges Anliegen, sich für verletzte und vergessene Menschen in seiner Nähe verantwortlich zu fühlen. Wie ein guter Hirte hat er für Men­ schen, denen es schlimm ergangen ist, tiefes Mitgefühl. Er wird es unerträg­ lich finden, wenn solchen Menschen in der Gemeinde durch gedankenlose, hochmütige oder rücksichtlose Menschen noch mehr Schaden zugefügt wird. Ihm wird deshalb ihr Schutz nicht gleichgültig sein. Der gereifte Gläubige weiß, dass jeder Christ das gleiche Recht hat, eine glaubwürdige und tragfähige Antwort auf die Fragen zu suchen, die sich aus persönlich erlebten Nöten notwendigerweise ergeben. Er weiß, dass jeder das gleiche Recht hat, eine Antwort abzulehnen, die unglaubwürdig ist, weil sie der Heiligen Schrift oder offenkundigen, beobachtbaren Tatsachen widerspricht. Er weiß, dass niemand das Recht hat, solche Fragen zu verbieten, bloss weil die damit verbundenen Nöte im eigenen Lebenslauf nicht vorgekommen sind. Er hütet sich auch vor der Sünde, über den Glauben anderer Christen “herrschen” (2.Kor 1,24) zu wollen, sie erbarmungslos in das Schema der eigenen Biographie zu pressen und sie mundtot zu machen. 315 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet). 316 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188. 317 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 mit “Ehrlichkeit” übersetzt?“, Seite 190. 318 Siehe das Kapitel „Prüfe dich selbst“, Seite 178. 175 Die unabdingbare Voraussetzung der Wahrhaftigkeit ist die Möglichkeit, über divergierende Ansichten in einer fairen und liebevollen Weise zu spre­ chen so wie es Jesus und die Apostel getan haben. Die unabdingbare Basis dieser Gespräche ist das Festhalten an den in der Heiligen Schrift deutlich genannten Heilstatsachen. 319 Wenn ein geistlich gereifter Christ feststellt, dass der andersdenkende Gesprächspartner bessere Argumente hat, wird er diesem das Recht, so zu denken, zugestehen und sich niemals unfairer und übler Methoden bedie­ nen, die “unter die Gürtellinie zielen” – wie z.B. Verachtung, Verleumdung oder üble Nachrede. Ein geistlich gereifter Christ wird sich immer um eine Kultur der Fairness 320 in seiner Gemeinde bemühen, um ein freundliches Klima, in dem ein offener Austausch möglich ist und hier auch eine wichtige pädagogische Aufgabe an Gläubigen sehen, die die Notwendigkeit dieses Niveaus nicht erkennen. Es ist ein alarmierendes Zeichen, wenn Gläubige nur dann freundschaftlich mit Geschwistern umgehen können, solange die eigene religiöse Meinung bestätigt wird. Der gereifte Gläubige weigert sich, von dem Qualitätsstandard der Glaub­ würdigkeit 321 und Zuverlässigkeit (πιστις) Abstriche zu machen, auch wenn ihn Gläubige dazu mit bösen Blicken und Unfreundlichkeit zwingen wollen. Er hält es für feige und würdelos und erinnert sich daran, dass andere Christen um des Glaubens willen weitaus Schlimmeres ertragen müssen. Ebenso weigert er sich, von dem Qualitätsstandard der Gerechtigkeit und Fairness 322 Abstriche zu machen und bei Unrecht in der Gemeinde wegzuse­ hen, bloss weil die Mehrheit der Mitglieder ihre oberflächlichen Harmonie­ bedürfnisse für wichtiger als die Not des Betroffenen hält und vor dem aus­ drücklichen Gebot, sich für den Schutz des Schwachen einzusetzen (Jes 1,12 ff / Amos 5,23-24) und sich um die “Erziehung zur Gerechtigkeit” zu küm­ mern (2.Tim 3,16), wenig Respekt hat. 319 320 321 322 Siehe im Kapitel „Was ist Irrlehre ?“, Nr. 8 und 9 im Internet. Siehe im Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211. Siehe unter „Häufige Fragen“, Seite 190. Siehe unter „Häufige Fragen“, Seite 188. 176 Der gereifte Gläubige erkennt, dass es unbarmherzig ist, wenn Gläubige auf ihrem Schaden sitzen bleiben, bloß weil sie mangels einer glaubwür­ digen Interpretation 323 die Anweisung des Apostels Paulus (1.Kor 6,1 ff) wörtlich verstehen und sich deshalb bei einer Schädigung nicht an das Gericht gewandt haben. Er erkennt, dass diese Situation eine der wichtigsten Qualitätsmaßstäbe Jesu, das Gebot der “Barmherzigkeit” (Mt 23,23) eklatant verletzt. Ebenfalls steht diese Situation in krassem Widerspruch zum Gebot “mitzuleiden” (1.Kor 12,26) und “mitzutragen” (Gal 6,2). Die Geschwister legen nicht etwa Geld zusammen, um den Schaden auszugleichen, sondern der Betroffene muss für alles selbst aufkommen. Der gereifte Gläubige erkennt, wie scheinheilig und verletzend unter diesen Umständen die üblichen Floskeln des Bedauerns sind. Deswegen wird er ein seriöses Schlichtungsverfahren 324 in seiner Gemeinde befürworten. Der gereifte Gläubige glaubt dem Apostel, wenn er sagt, dass die Gemeinde “eine wunderschöne Braut Christi” sein soll, “ohne ein hässliches Merkmal” (Eph 5,15) und er gehorcht deshalb der Aufforderung des Apostels, “das Böse in der Gemeinde aufzudecken“ (Eph.5,11 ff), damit sie Christus vor der Welt glaubwürdiger repräsentieren kann. Deshalb ist es für den gereiften Gläubigen nicht schwer zu erkennen, dass die Gemeinde nur von geistlich gereiften Persönlichkeiten geleitet werden kann, die sich den wichtigsten Qualitätsmaßstäben Jesu Barmherzigkeit, 325 Gerechtigkeit, 326 Ehrlichkeit 327 (Mt 23,23) verpflichtet sehen. Er kann erkennen, dass Gläubige, die selber unrecht tun, ungerecht oder unfair handeln und dieses Verhalten nicht korrigieren, nicht andere Gläubige in der “Heiligung” 328 anleiten und auch nicht das Heilige Abendmahl austei­ len können – wenn man nicht will, dass “Gottes Ehre beleidigt” wird. (Rö 2,24) 323 Siehe unter „Giftige Theologie“ die 26. Behauptung: “Ein Christ darf sich nicht 324 325 326 327 328 wehren, darf auch nicht Ersatz des Schadens fordern.“, Seite 132. Siehe im Kapitel „Urteilsvermögen ?“, Seite 150. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet). Siehe unter „Häufige Fragen“, Seite 188. Siehe Seite 200. Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. 177 Ist man hier gleichgültig, dann wird die Gemeindelehre entsprechend dieser Defizite verbogen. Manipulation und Desinformation 329 werden unentbehr­ lich, um die fromme Fassade zu wahren. Deshalb muss es möglich sein, jeden Gläubigen in der Gemeinde ohne Aus­ nahme auf Fehlverhalten hin anzusprechen, ihn zur Umkehr aufzufordern und bei Starrsinnigkeit geeignete Maßnahmen zu treffen, unabhängig davon, welche Funktion oder welchen Rang oder welche früheren Verdienste er hat. Für den geistlich reifen Gläubigen ist es nicht schwer zu sehen: niemand in der Gemeinde, auch der hauptamtliche Mitarbeiter nicht, steht über dem Recht, sondern alle Gemeindeglieder müssen bereit sein, sich nach dem Scheitern eines Vermittlungsgesprächs einer Untersuchung durch ein unpar­ teiisches Schiedsgericht zu stellen, das im Auftrag der Gemeinde entscheidet – wenn sie denn die Gültigkeit des biblischen Maßstabs “Gerechtigkeit” respektieren und Wert auf eine Kultur der Fairness 330 legen. 15. Prüfe Dich selbst …, bevor Du andere prüfst! Erlaube anderen, Dich auf Fehlverhalten hinzuweisen! Bleibe selbst korrigierbar! Die Fähigkeit der Selbsterkenntnis 331 ist eine wertvolle Eigenschaft – unver­ zichtbar für tiefe Freundschaft und echte Brüderlichkeit. Barmherzigkeit, 332 Gerechtigkeit, 333 Ehrlichkeit 334 sind notwendig , damit Liebe und gegenseitige Achtung das Klima in der christlichen Gemeinde prägen. 329 Siehe das Kapitel „Tricks“, (Internet). 330 Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211. 331 Siehe das Kapitel „Widerstandskraft“, Seite 211. 332 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Barmherzigkeit, echte“, (Internet). 333 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt?“, Seite 188. 334 Siehe unter „Häufige Fragen“ den Abschnitt „Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 mit “Ehrlichkeit” übersetzt?“, Seite 190. 178 Glaubst Du Jesus Christus, wenn Er sagt, dass dies die wichtigsten Maß­ stäbe (Mt 23,23) sind ? Ist es Dir wichtig, dass sie in Deinem Leben prak­ tische Bedeutung erlangen ? 1. Barmherzigkeit - prüfst Du Dich, weil Du Dir wünscht, der Persönlichkeit Jesu Christi ähnlicher zu werden und „Deines Bruders Hüter“ zu sein ? - prüfst du Dich und andere, weil Du die schlimmen Folgen des frommen Selbstbetrugs kennst und Menschen davor bewahren willst ? - zeigst Du Geduld mit Geschwistern, die im Irrtum befangen sind und hilfst ihnen “mit sanftmütigem Geist” (Gal 6,1) zurecht ? (Siehe dazu die Hilfe zum richtigen Umgang… 335 ) - Achtest du den anderen trotz seines Irrtums höher als dich selbst ? (Phil 2,3) oder … - prüfst Du in erster Linie jemand anderen, weil du rechthaberisch, scha denfroh und streitsüchtig bist, weil Du deinerseits gerne Macht ausübst, weil Du über den anderen triumphieren willst, weil Du Antipathie gegen ihn empfindest ? 2. Gerechtigkeit, Fairness - wendest Du deine Maßstäbe auf Dich selbst an? - möchtest Du grundsätzlich fair mit deinen Mitmenschen umgehen, selbst wenn Du dadurch vielleicht Nachteile hast? - gibst Du dem, den du korrigierst, ausreichend Gelegenheit, entlastende Argumente vorzubringen ? - bist Du bereit, einen Menschen, den Du mutwillig geschädigt hast und der unter Deinem Verhalten leidet, wieder aufzuhelfen und ihm das Ver geben zu erleichtern? oder ... 335 Siehe unter „Was ist Irrlehre ?“, Nr. 12 im Internet. 179 - verlangst Du von anderen mehr als von Dir selbst? - bist Du nur fair, solange es nichts kostet? - weist Du nur Menschen auf Fehlverhalten hin, die schwächer sind als Du selbst ? - redest Du negativ über jemanden und trägst weiter, was andere über ihn sagen, bevor Du mit ihm selbst gesprochen hast ? - hältst Du an einer einmal gefassten Meinung über jemanden fest, sodass man Dich nicht mehr auf Fehleinschätzungen hinweisen kann? - gibt es jemanden, dem Du das Vergeben erleichtern solltest ? 3. Ehrlichkeit - stehst Du selbst ehrlich Rede und Antwort für das, was Du vertrittst und glaubst? - bemühst Du Dich um klares, nachvollziehbares und widerspruchsfreies Denken? - kannst Du Dir vorstellen, dass in dem, was Dir ein unsympathischer Gesprächsgegner sagen will, eine Wahrheit enthalten könnte, die Du unbe dingt anhören und beachten solltest, - bist Du bereit, die Wahrheit auch dann anzuerkennen, wenn sie Dir von einem unbedeutenden, wenig attraktiven, ja unwürdigen Menschen gesagt wird? oder - lässt Du den anderen nicht ausreden, weil Du fürchtest, mit einer wahren Aussage konfrontiert zu werden, - beschönigst, verharmlost, übertreibst, manipulierst oder lügst Du im Gespräch, um deine Interessen zu wahren? - stört es Dich nicht, wenn Du Dir selbst widersprichst? - stört es Dich nicht, wenn Du freundlich mit jemand redest, aber lieblos gegen ihn handelst? – lässt Du wahre Aussagen nicht gelten, weil Du die Person, die sie mit teilte, nicht respektierst? – 180 Das Entscheidende ist das Motiv 336 , das der Gläubige immer wieder mit Gebet überprüfen sollte. Das Recht des Gläubigen zu prüfen, wird gerne bestritten. Falsch ist z.B. die Behauptung: Wer andere prüft, muss nahezu perfekt sein 337 oder ein “besonderes moralisches Niveau” erreicht haben. (Wie sollte man das auch messen und beurteilen?) Jeder kann und musss im Rahmen seiner Möglichkeiten prüfen und tut es auch ganz selbstverständlich im täglichen Leben, um sich vor Schaden zu schützen. 336 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Destruktive Motive“, (Internet). 337 Siehe unter „Giftige Theologie die 24.Behauptung: „Der Gläubige darf Unrecht in der Gemeinde nur dann beim Namen nennen, wenn bei ihm selbst keine Fehler zu sehen sind.“ , Seite 130. 181 Und ausgerechnet dann, wenn es um Dinge von ewiger Bedeutung geht, soll Prüfung überflüssig oder anstößig sein? Das soll man glauben? Die Wahrheit hat eine innewohnende, natürliche Autorität. Was wahr ist, bleibt wahr, selbst wenn es von einem Kind, einem geistig Behinderten oder einem wenig attraktiven Menschen gesagt wird. Deswegen sagt die Bibel auch ganz lapidar ALLEN Gläubigen: (1.Thes 5,21) Prüfet alles ! 16. Chancen warten ... Liebe Schwester, lieber Bruder im Glauben, Eine Gemeinde kann nur dann geistlich gesund bleiben, wenn sie die Maß­ stäbe, die unserem Herrn und König Jesus Christus so wichtig waren, ange­ messen beachtet. Vielleicht ist Dir schon aufgefallen, wie groß hier die Defizite in manchen Gemeinden sind. Doch wo liegen jetzt die Chancen, die Du nutzen kannst ? Manche Gläubige denken, dass es besser ist, ihre Gemeinde zu verlassen 338 , wenn sie dort Machtmissbrauch und sektiererische Tendenzen 339 feststellen. Doch das ist nicht unbedingt die beste Reaktion. Viele wertvolle Beziehungen sind dort entstanden und auch etliche Freunde sind dort zu Hause. Wenn Du ihnen hilfst, die Verhältnisse angemessen zu beurteilen, so können sie sich vor Manipulationsversuchen 340 und fatalen Irrtümern schützen. 338 Siehe unter „Häufige Fragen“ im Internet. 339 Siehe das Kapitel „Was ist Irrlehre ?“ im Internet. 340 Siehe das Kapitel „Tricks“, (Internet). 182 Mache die Qualitätsmaßstäbe Jesu 341 und die dadurch geprägten charakter­ lichen Eigenschaften 342 in Deiner Gemeinde immer wieder zum Thema. Spreche darüber – wenn sich dazu eine gute Gelegenheit ergibt. Je mehr Gläubige durch Deine Hilfe klarer sehen, desto schwieriger wird es die Maß­ stäbe Jesu als nebensächlich abzutun. Dadurch wird auch schädliche und gif­ tige Theologie 343 entlarvt, und einzelne Menschen in der Gemeinde wer­ den durch Dich möglicherweise vor schwerem Schaden bewahrt. Die christliche Gemeinde soll ein Ort sein, an dem es schön ist (Eph 5,15) und an dem die Liebe regiert. Ohne Fairness gibt es keine Liebe. Eine Kul­ tur der Fairness 344 aber entsteht, indem sich Gleichgesinnte verbünden und dem Recht “ihre Stimme geben”. Du kannst mit Freunden eine kleine Aktionsgruppe gründen, die sich für die Förderung einer Kultur der Fairness in deiner Gemeinde einsetzt, indem sie “Augensalbe” 345 (Offb. 3,18) verteilt. Dabei wirst du feststellen, dass dieses Vorhaben Missionsarbeit ist und du immer wieder mit starkem Widerstand konfrontiert sein wirst. Sei niemals böse auf Menschen, die anderer Meinung sind oder dich nicht verstehen. Damit du deine Kräfte schonst und die Arbeit Freude macht, sprich mög­ lichst nur mit Menschen, die dir gerne zuhören. Gott wird die richtigen Türen auftun. Besonders unter jungen Menschen gibt es viele, die ein natürliches starkes Interesse für Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit haben und noch nicht an ein Missbrauchssystem angepasst sind. Gott hat ihnen den Wunsch einge­ pflanzt, es in ihrer Generation besser zu machen. Ganz wichtig ist, dass Dich das Motiv der Liebe antreibt und nicht etwa das Motiv der Rechthaberei oder des Hochmuts. Mögen andere unfair kämpfen. 341 342 343 344 345 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Qualitätsmaßstäbe“, (Internet). Siehe das Kapitel „Charakter“ , Seite 173. Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“ , Seite 85. Siehe das Kapitel “Widerstandskraft“ , Seite 211. Siehe unter „http://www.matth2323.de/augensalbe/“ 183 Ein Anliegen gewinnt erheblich an Überzeugungskraft, wenn der, der es ver­ tritt, in der Auseinandersetzung Charakter zeigt 346 und fair kämpft. 347 Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich selbst korrigieren zu lassen. 348 Wir wollen überzeugen und gewinnen, nicht taktieren oder austricksen. Überzeugen kann man nur, wenn die Freiheit des anderen geachtet wird. Bedenke immer eines: ein Feind, den man mit Liebe und seriösen Argu­ menten eines Tages überzeugt, kann zum wertvollen Partner werden - ein Saulus kann durch Gottes Gnade zum Paulus werden! Wenn du das 18.Lebensjahr erreicht hast, dann stehen dir noch ganz andere Möglichkeiten zu Verfügung. Dann kannst du Mitglied im Gemeindekon­ vent werden und hast dort Stimmrecht. Eure Aktionsgruppe kann dort weitere Mitglieder überzeugen, wirksame Maßnahmen gegen Machtmissbrauch zu beschließen. Wenn sich viele beteiligen, kann man sogar die Verfassung zum Guten verändern. Unserer Kapitel “Stichworte” 349 macht dazu eine ganze Reihe von Vorschlägen. “Was immer ihr tut, lasst es immer in der Liebe geschehen …” (1.Kor 16,14) 346 347 348 349 Siehe das Kapitel “Charakter“ , Seite 173. Siehe unter “Was ist Irrlehre ?“ im Internet. Siehe das Kapitel “Prüfe Dich selbst“ , Seite 178. Siehe das Kapitel “Stichworte“ , (Internet). 184 Anhang 185 A 1. Häufige Fragen (Die Fragen 1-7 sind im Internet zu finden.) Frage 8: 350 Wie kann man NICHT erkennen, ob die Forderung der „Barmherzigkeit“ (ελεος), die Jesus als erste der wichtigsten Gebote in Mt 23,23 nennt, tatsächlich den höchsten Rang im Denken der Gemeindeleitung einnimmt ? Frage 9: 351 Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt? Ist “Gerechtigkeit” im Umgang mit dem Nächsten nicht eine typisch alttestamentliche Forderung, die für die Gemeinde heute nicht mehr relevant ist? Wird sie nicht im Neuen Testament durch die Aufforderung ersetzt, sich zu Jesus zu bekehren, der unsere “Gerechtigkeit” ist ? Frage 10: 352Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 nicht wie bei Luther mit dem Begriff “Treue” sondern mit “Ehrlichkeit”, “Wahrhaftig­ keit” oder “Verlässlichkeit” übersetzt? Antworten (Die Antworten auf die Fragen 1-7 sind im Internet zu finden.) Frage 8. Wie kann man NICHT erkennen, ob die Forderung der Barm­ herzigkeit (ελεος), die Jesus als erste der wichtigsten Gebote in Mt 23,23 nennt, tatsächlich den höchsten Rang im Denken eines Gemeindemitar­ beiters einnimmt ? Gläubige beteiligen sich an vielfältigen missionarischen und sozialen Pro­ grammen, die in der Gemeinde organisiert werden und einen unverzicht­ baren gesellschaftlichen Beitrag darstellen. Vielen Menschen erfahren auf diesem Wege Segen und Hilfe. 350 Siehe unten. 351 Siehe die Antwort, Seite 188. 352 Siehe die Antwort, Seite 190. 186 Andererseits dienen die Aktivitäten der Gemeindeleitung und der -mitarbei­ ter dazu, sich selbst zu präsentieren und die eigene Position zu legitimieren, was dem eigenen Einkommen und Einfluss sowie der Arbeitsplatzsicherung zugute kommt. So segensreich die Aktivitäten sein können, so wenig aussa­ gekräftig sind sie mitunter, was die tatsächlichen Motive betrifft. Deswegen kann es zu der paradoxen Situation kommen, dass ein Gemeinde­ mitarbeiter, der sich vielfältig engagiert, dennoch mit einzelnen Menschen in der Gemeinde hartherzig und unbarmherzig umgeht. Das kann die Verwei­ gerung von Hilfe sein, die leicht zu leisten wäre, oder das willkürliche Ver­ bot, die Gemeindemitglieder über Gefahren zu informieren, oder auch die unfaire und bösartige Behandlung eines Hilfesuchenden in der Seelsorge. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehen Levit und Priester am Ver­ letzten vorbei und die Auslegung hat immer wieder den Gedanken aufgegrif­ fen, dass sich beide sehr wohl auf dem Weg zum Gottesdienst befunden haben können. Sie handeln nur innerhalb eines frommen Programms gottge­ mäß. Abseits dieses Programms reagieren sie aber unbarmherzig, sodass man die Frage nach ihren wirklichen Beweggründen 353 stellen muss. Es liegt im Interesse der Gemeinde, solche Vorfälle nicht als überflüssige Störung des Betriebs zu sehen und zu ignorieren, sondern sie als Chance zu sehen, das geistliche Urteilsvermögen zu üben. Die Gemeinde wird daran erinnert, dass “Liebe ohne Heuchelei sein” (Rö 12,9) soll und dass diese Liebe etwas Heiliges ist im Unterschied zur Freundlichkeit im eigenen Inte­ resse. Geht eine Gemeindeleitung mit einem einzelnen Menschen unbarmherzig um, so sollte die Gemeinde diesem das Recht zugestehen, die Angelegenheit nach Mt 18,17 vorzubringen. Sie sollte ihm außerdem das Recht zugestehen, eine miserable Seelsorge zu protokollieren und der Gemeinde zur Beurtei­ lung zu geben. Das Beichtgeheimnis 354 schützt nämlich nur den Ratsuchen­ den. Wenn nach der Ermahnung des Gemeindemitarbeiters wenig Einsicht zu sehen ist, sollten die Mitglieder nicht zögern, die Aufgabe einem geeig­ neteren Mitarbeiter zu übertragen. 353 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Destruktive Motive“, (Internet). 354 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Beichtgeheimnis“, (Internet). 187 Sehr nachteilig ist es, wenn die Verfassung der Gemeinde eine Betrauung mit geringeren Aufgaben nicht zulässt, sondern die Gemeinde zu einer “Alles oder nichts” – Lösung zwingt. Da erfolgreiche Gemeindemitarbeiter rar sind, kann es äußerst schwierig sein, ihn in die zweite Reihe zu versetzen oder ihm gar zu kündigen. Leider ist es auch in vielen evangelikalen Gemeinden so wie in der Welt: letztlich zählt nur der Erfolg – auch wenn er nur mit Heuchelei zustandekommt. Als Alternative zu einer undurchführbaren Alles-oder-Nichts-Lösung könnte ein ehrenamtlich besetztes Schiedsgericht nachdrückliche materielle Sankti­ onen verhängen oder sie von vornherein in einem geänderten Arbeitsvertrag unterschreiben lassen, um eine Wiederholung üblen Verhaltens unwahr­ scheinlicher zu machen. In manchen Fällen wird aber auch das nicht durchführbar sein: es besteht die Möglichkeit, dass der erfolgreiche Mitarbeiter nun seinerseits mit Kündi­ gung droht, falls die Gemeinde sein übles Verhalten nicht ignoriert. So man­ che Gemeinde wird sich tatsächlich erpressen lassen und den damit verbun­ denen Dauerzustand der Heuchelei in Kauf nehmen. Frage 9. Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Fairness” übersetzt? Ist “Gerechtigkeit” im Umgang mit dem Nächsten nicht eine typisch alttestamentliche Forderung, die für die Gemeinde heute nicht mehr relevant ist? Wird sie nicht im Neuen Testament durch die Auf­ forderung ersetzt, sich zu Jesus zu bekehren, der unsere “Gerechtigkeit” ist ? Jesus warf den Pharisäern vor, dass sie nur religiös waren und “die Vorbe­ reitung auf das Gericht (κρισις) für zweitrangig hielten.” (Mt 23,23) Die richtige Vorbereitung auf das Gericht ist ein geheiligtes Leben, wozu immer faires, “gerechtes” Verhalten gegenüber dem Nächsten gehört: “Hieran sind die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels zu erkennen. Jeder, der nicht Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) übt, gehört nicht zu Gott, und wer nicht seinen Bruder liebt.” (1.Jo 3,10) Jesus forderte von seinen Jüngern, dass sie “in erster Linie nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) streben” sollten. (Mt 6,33) 188 Damit hat er sicherlich nicht das Vertrauen auf seinen stellvertretenden Opfertod gemeint. Den hat er den Jüngern zwar einschließlich seiner Aufer­ stehung angekündigt, aber sie verstanden es nicht. Deswegen waren sie ja auch nach seiner Hinrichtung völlig verzweifelt und hielten Jesus tatsächlich für gescheitert. Das Gespräch Jesu mit den Jüngern, die auf dem Weg nach Emmaus waren, zeigt dieses Nicht-Verstehen in aller Klarheit. (Luk 24,13 ff) Wenn nicht einmal die gutwilligen Jünger die Notwendigkeit des Sühne­ todes begriffen haben, bevor Jesus von den Toten auferstanden war, wie sollten es da die Schriftgelehrten verstehen ? “Gerechtigkeit” und “Ungerechtigkeit” bezog sich also auf etwas anderes, nämlich das, was ALLE Gläubigen des alten Bundes darunter verstanden: auf das faire Verhalten im Alltag. “Gerechtigkeit” ist also kein philoso­ phisches Ideal, mit dem sich in erster Linie theologische Fachleute befassen, sondern etwas, das jeden angeht. Denn niemand möchte selbst ungerecht behandelt werden. Jesus warf den Schriftgelehrten genau das vor, dass sie das Gebot der Fair­ ness nicht respektierten, dass sie Kollekten einnahmen, durch die anderen das Nötige vorenthalten wurde (Mk 7,11: „Korban“) oder dass sie “der Wit­ wen Häuser fraßen” (Mt 23,14). Das Neue Testament warnt die Gläubigen genauso wie das alte vor unge­ rechten Verhaltensweisen, die das Verständnis für die Wahrheit ver­ dunkeln können. (Rö 1,18 / 2.Thess 2,10-12). Es fordert sie auf, Unrecht zu lassen und Recht zu tun. (Apg 10,35 / Kol 3,25 / 1.Jo 2,29 / 3,10) Ohne diese Einstellung ist eine Bekehrung Selbsttäuschung. (Jak 2,17) Durch unbeirrbares, boshaftes Festhalten am Unrecht schließt man sich selbst vom Reich Gottes aus: “Wisset ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Macht euch bitte nichts vor! ” (1.Kor 6,9) Es gibt keine Liebe ohne Fairness. Dass, was der unfair Handelnde als “Liebe” missversteht, sind bestenfalls gute Manieren bzw. Umgangsformen. Sie lassen jemanden “lieb” erscheinen, der in Wahrheit hart, lieblos und unbarmherzig ist. 189 Viele Gläubige werden hier zustimmen. Doch weit weniger Gläubige erken­ nen, dass sie auch dafür Verantwortung tragen, dass die von ihnen gewählte Gemeindeleitung diese unumstößliche Regel auch nach der Wahl weiter respektiert. Ist das nicht der Fall, wird also damit das gegebene Wahlversprechen, die Gemeinde im Sinne Jesu zu leiten, nachträglich gebrochen, dann kann die Gemeinde – um der Ehre Gottes willen – nicht dabei tatenlos zusehen. Viel­ mehr sollte dann baldmöglichst ein weiterer Wahltermin angesetzt werden mit einem ernstzunehmenden Kandidaten. Leider betrachten immer mehr Gläubige die geistliche Einstellung des Bewerbers als zweitrangig. Viel wichtiger ist ihnen die Frage, ob er ein Zug­ pferd ist und viele Leute in die Gemeinde bringt. Herrscht diese Meinung in der Gemeinde vor, so ist sie bereit geistlich sehr krank und wird durch die Wahl noch kränker. Wenn eine Gemeinde wächst auf Kosten von Wahrheit und Gerechtigkeit, dann ist es das Beste, wenn möglichst viele Gläubige abwandern und eine Gemeinde aufsuchen, wo sie lernen können, wie man ehrlicher und fairer mit dem Nächsten umgeht. Die Weigerung der Gemeinde, eine Gemeindeleitung, die Unrecht tut, zurechtzuweisen, bloß weil sie beliebt und erfolgreich ist, wertet Gott als Verachtung seiner Person. (1.Sam 2,30 b) Deshalb traf den Prieser Eli am Ende eine ähnlich schwere Strafe wie seine Söhne, deren Fehlverhalten im Amt er nicht bestrafte. Frage 10. Warum wird das Wort “pistis” (πιστις) in Mt 23,23 nicht wie bei Luther mit dem Begriff “Treue” sondern mit “Ehrlichkeit”, “Wahr­ haftigkeit” oder “Glaubwürdigkeit” übersetzt? Viele verstehen unter dem Begriff “Treue” einfach das Festhalten an der Tradition, an dem, was schon da ist, oder eine blindgläubige Unterwürfigkeit gegenüber der Gemeindeleitung (“Nibelungentreue”), auch wenn sie Unrecht tut. Was das Festhalten an der Tradition betrifft: Jesus und die Urgemeinde haben gezeigt, dass selbst eine jahrtausendealte ehrwürdige Tradition wie die mosaische Gesetzesfrömmigkeit zum Fallstrick und Glau­ benshindernis werden kann. 190 Daher darf man bezweifeln, dass Jesus mit dem Begriff “Treue” ein bloßes Festhalten an dem, was schon da war, gemeint hat. Man konnte den Pharisä­ ern nicht vorwerfen, dass sie nicht konservativ genug waren. Über die Phari­ säer und Schriftgelehrten fällte Jesus das Urteil: “getünchte Gräber – äußer­ lich schön anzusehen, innerlich mit Fäulnis erfüllt.” (Mt 23,27) Die im NT beschriebenen Pharisäer waren geistlich blind (Mt 15,14) Sie bemühten sich wenig um Selbsterkenntnis 355 und verkündeten deshalb eine gefährliche Heilspropaganda 356 (Phil 3,2-7). Dieser Propaganda blieben sie treu, doch Jesus warnte seine Jünger, sich auf ihre durch “Sauerteig” verunreinigte Lehre zu verlassen. (Mt 16,6) Allezeit treu sein kann man nur Inhalten, die wahr und deshalb verlässlich sind. Nur, was wahr ist, wird immer zuverlässig sein. Wer nach dieser Wahr­ heit strebt und dem Halbwahren widersteht, der liebt Ehrlichkeit. Deswe­ gen gehören Verlässlichkeit und Treue immer mit der Bemühung um Ehr­ lichkeit zusammen. Jesus ging es um Echtheit und Glaubwürdigkeit. Der Apostel Johannes sprach in seinen Briefen von der Notwendigkeit “in der Wahrheit zu sein” (Jo 17,19 / 1.Jo 1,6 / 2.Jo 1,4 / 3.Jo 1,3). Dieses Grund­ motiv durchzieht alle Evangelien und Briefe, und schließt das Festhalten an dem, was als wahr erkannt worden ist, natürlich ein. Eph 5,9 bringt den Sinn des dreifachen Gebotes in Mt 23,23 besser zum Ausdruck: “die Frucht des Lichtes ist … Güte (αγαθωσυνη), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) und Wahrheit ( αληθεια).” A 2. Die Angst vor der unvergebbaren Sünde und seelsorgerliche Hilfsangebote Die Angst, den Heiligen Geist gelästert zu haben und unwiderruflich der ewigen Verdamnis verfallen zu sein, ist wahrscheinlich eine der grausamsten menschlichen Angsterfahrungen – nicht nur wegen ihrer kaum noch zu stei­ gendernden Intensität, sondern auch wegen ihrer möglicherweise jahrzehnte­ langen Dauer – sofern sie nicht zu einem gesundheitlichen Zusammenbruch und frühem Tod führt wie z.B. bei Francesco Spira. 357 355 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Selbsterkenntnis“, Seite (Internet). 356 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Heilspropaganda“, (Internet). 357 Karl Roenneke, Francesquo Spiera – eine Geschichte aus der Zeit der Reformation in Italien, Hamburg 1874. 191 Für die gesundheitlichen Folgen ist die Frage sehr wichtig, inwieweit die permanente Angstbelastung zu Schlaflosigkeit führt. Der totale Verlust der Fähigkeit zu schlafen (Asomnie) wird nach etlichen Monaten lebensbedroh­ lich. Die extreme Schädlichkeit der seelischen Erkrankung steht in auffälligem Missverhältnis zu den oft halbherzigen Bemühungen, die Ursache der see­ lischen “Verriegelung” aufzuspüren. Eine Lösung mit höchster Autorität und Glaubwürdigkeit muss auf die Qua­ litätsmaßstäbe Jesu gegründet sein. Siehe dazu die Lösung im Detail unter Behauptung Nr.8 der “giftigen Theo­ logie” 358 sowie im folgenden verschiedene (unzureichende) Lösungsansätze in der Seelsorge. 1. Oberflächliche seelsorgerliche Antworten 1.1. Aufforderung zur Auswahl und Verdrängung 1.2. Luthers Kunstgriff: formale Zustimmung zum Verdammtwerden 1.3. Visualisierungen des Leidens Christi 2. Antworten der “nouthetischen” Seelsorge (Jay Adams) 3. Definition der unvergebbaren Sünde als “nationale Sünde” (Arnold Fruch tenbaum) 4. Am Buchstaben klebende “Lösung” als verheerender “Kunstfehler” (Adolf Schlatter) 1. Oberflächliche seelsorgerliche Antworten „Gott-ist-tot“ – Theologen machen es sich hier sehr einfach, indem sie die biblische Warnung vor der Lästerungssünde als allzumenschliche Übertrei­ bung abtun. Diese Sicht kann ein Mensch, der von der Autorität und Zuver­ lässigkeit der heiligen Schrift überzeugt ist, nicht übernehmen, ohne seinen ganzen Glauben in Frage zu stellen. Er müsste damit etwas tun, was er für zutiefst gottlos hält: sein eigenes Urteil willkürlich über das göttliche Wort stellen. 358 Siehe die Widerlegung der 9.Behauptung, Seite 88. 192 Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass sich dadurch bei ihm die Gewissheit, nunmehr endgültig auf die gottlose Seite zu gehören, und damit die Verdammungsangst noch verstärkt. Eine schnell wirksame Lösung erscheint deshalb nur „systemimmanent“ möglich. Das heißt: man muss sie mit Hilfe der Bibel und biblisch gut begründeter Interpretationsmethoden finden. Man erweist dem Ratsuchen­ den keinen guten Dienst, wenn man ihn nicht ernstnimmt und seine Not von vornherein und ausschließlich als irrationale Wahnerkrankung einstuft. Damit ist der Weg zu einer sachlichen Analyse versperrt. Auch wenn Gott unsichtbar ist, ist er dennoch eine reale Person und auch die Ankündigung seiner Strafe ist – selbst wenn sie lange auf sich warten lässt – eine reale Bedrohung. Auf reale Bedrohungen reagiert der Mensch normalerweise mit Angst. Eine unendlich hohe Bestrafung ist nach Aussage der Bibel die Folge einer bestimmten Tat. Der Gläubige hat etwas getan, was dieser Tat sehr ähnlich ist und bezieht deshalb die furchtbaren Drohungen auf seine Person. Der Seelsorger geht davon aus, dass eben dieser Bezug ein Missverständnis ist. Das muss er beweisen. Weil das Thema schwierig ist, sind Lösungsversuche mit geringstem gedanklichen Aufwand beliebt. Nicht wenige Seelsorger behelfen sich mit dem Zitieren einiger ermutigender Bibelstellen, verbunden mit der Aufforde­ rung, sich ihrer optimistischen Sicht anzuschließen. Wenn der Verzweifelte es nicht kann, dann ist er eben krank oder verrückt, der arme Kerl und kann sich seine Situation nur noch mit Medikamenten erleichtern. Eine Reflexion, warum die Seelsorge scheiterte, unterbleibt häufig. 1.1. Aufforderung zur Auswahl und Verdrängung So wird manchmal behauptet, wer Jesus seinen Herrn nennt, könne die unvergebbare Sünde nicht begangen haben, denn “Niemand kann Jesus einen Herrn nennen, es sei denn durch den Heiligen Geist.” (1.Kor 12,3) Tatsächlich ? Dabei heißt es andernorts: “es werden nicht alle, die Herr zu mir sagen, ins Himmelreich kommen, sondern nur die, die den Willen meines Vaters im Himmel tun…” (Mt 7,21) 193 Offenbar war das Phänomen des biblischen Pauschalstils 359 unbekannt. Oder hat der Seelsorger die entgegengesetzte Aussage in Mt 7,21 gekannt und sie einfach ignoriert 360 ? Eine seriöse Antwort wird immer auch entgegengesetzte Aussagen einbezie­ hen. Wird der zweite Vers berücksichtigt, dann ist klar, dass für eine saubere Trennung zwischen Heiligung und Werkgerechtigkeit zu sorgen ist. Denn die Erfüllung des Willens Gottes, die Heiligung 361,ist Voraussetzung, um das Heilsversprechen Gottes in Anspruch zu nehmen. 1.2. Luthers Kunstgriff: formale Zustimmung zum Verdammtwerden Luther hatte sich eine besonders originelle Methode ausgedacht: wer Angst hat, in die Hölle zu kommen, der braucht bloß damit einverstanden zu sein. Ein Mensch, der in jeder Hinsicht wünscht, dass Gottes Wille geschehe und sei es die eigene Bestrafung mit der Hölle, kann dies nur durch den Geist Gottes und hat damit den Beweis erlangt, dass er gerettet ist: “Diejenigen, welche Gott in Wahrheit und Freundschaft lieben,… fügen sich aus freien Stücken in jeglichen Willen Gottes, auch in die Hölle und den ewigen Tod, wenn es so Gottes Wille sein sollte, nur damit sein Willen ganz geschehe; so wenig suchen sie das Ihre. Doch ebenso, wie sie sich dem Willen Gottes ohne Vorbehalt gleichförmig machen, ist es auch unmöglich, dass sie in der Hölle bleiben. Denn es ist ausgeschlossen, dass der außerhalb Gottes bleibt, der sich mit Leib und Seele in seinen Willen hineinwirft. Er will ja was Gott will – also findet er Gottes Gefallen. Findet er sein Gefallen, so ist er geliebt; ist er geliebt, so ist er gerettet.” 362 Eine Lösung, die nicht überzeugt. Wie soll ein Christ, der vor der Hölle zit­ tert, Gott lieben können? Er kann formal seiner Verdamnis zustimmen, zwei­ fellos – aber nur mit dem Hintergedanken, sie eben dadurch zu vermeiden. Die Zustimmung geschieht also aus Berechnung – und keinesfalls freiwillig. 359 360 361 362 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Pauschalstil“, (Internet). Siehe im Kapitel „Alternativen“ den Abschnitt Nr 3, Seite 22. Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. Aus der Römerbriefvorlesung (1515/16) Scholie zu Rö 9,3 nach Ficker I,2, Seite 217,26ff. 194 Sich mit einem Kunstgriff, einer beispiellosen psychologischen Verrenkung der Liebe Gottes Gottes versichern müssen – wie soll dabei Liebe entstehen ? Und welcher Gläubige “fügt sich in jeglichen Willen Gottes” und überwindet alles in seinem Leben, was unvollkommen ist, um sein Heil zu sichern ? Eben das wäre ja wieder äußerste Verknechtung der Seele, da Gläubige eben nicht vollkommen sind 363, auch wenn ihr Herr wünscht, dass sie es sich wünschen. (Mt 5,48) 1.3. Visualisierungen des Leidens Christi Visualisierungen oder Veranschaulichungen des Leidens Christi können äußerst kontraproduktiv sein: mit einem spitzen Nagel in die Handfläche pieken, einen Stamm als “Kreuzesholz” anrühren, eine brutale Kreuzigungs­ szene im Film anschauen. Die gezeigte Brutalität vergrößert nur die Angst, wenn das Sühneopfer Jesu nicht als Beweis der Liebe Gottes gesehen werden kann. 364 2. Antworten der “nouthetischen” Seelsorge (Jay Adams)” Adams geht davon aus, dass die unvergebbare Sünde nur von einem Men­ schen begangen werden kann, der so “verhärtet” und gegen den heiligen Geist abgestumpft ist, dass er auch keine Angst mehr vor dem Gericht Gottes empfindet. Gerade die Besorgnis ist ein Indikator für das Heil. 365 Das ist in der Tat der Eindruck, den das Verhalten der religiösen Führer Isra­ els im weiteren Verlauf der Geschichte vermittelt. Sie bringen nicht nur Jesus ans Kreuz, sondern versuchen auch später die Gemeinde auszurotten. Nirgends wird etwas von Reue und Bedenklichkeit berichtet. 363 Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Unvollkommenheit – gefährdet sie das Heil ?“, (Internet). 364 Siehe ausführlich unter „Stichworte“ den Artikel „Beweis der Liebe nach­ vollziehbar?“, (Internet). 365 Jay Adams, Handbuch für Seelsorge, Wuppertal 1976, S.311. 195 Dieser Punkt wird von etlichen Ratsuchenden zu wenig beachtet. Da Gott jeden Menschen aufrichtig liebt, wird er nichts unversucht lassen, um ihn zu retten. Diese Absicht lässt er sich sogar von Menschen bestätigen (Jes 5,4-5 ). 366 Man darf deshalb davon ausgehen, dass der “point of no return” den Abschluss einer beispiellos gottlosen Lebenszeit bildet, bei dem eine Umkehr nach menschlichem (!) und göttlichen Ermessen nicht mehr zu erwarten ist. Leider betrachten sehr oft die falschen Leute, die sensibel, schwach und ängstlich sind und deren Sünden sich in vergleichsweise kleinem Rahmen halten, die Warnung Jesu vor der unvergebbaren Sünde wie auch andere Warnungen, die an verhärtete und an Bosheit gewöhnte Menschen gerichtet sind, als an sich gerichtet. (Sorgfaltsparadox 367) Der an sich richtige Hinweis von Adams greift indes zu kurz, wenn das Gewissen des Ratsuchenden durch perfektionistische Theologie geprägt ist. (“Giftige Theologie“ 368) Auch kleine Schwächen und Unzulänglichkeiten erzeugen dann den Ein­ druck, ein “beispiellos gottloses Leben” geführt zu haben, an dessen Ende nun das unvermeidliche Verdammungsurteil stehen muss. Adams erwähnt eine perfektionistische Sicht der Sexualität, die darin gipfelt, dass bereits der unreine Gedanke als unvergebbare Sünde betrachtet wird. 369 (Vgl. den Arti­ kel “sexuelle Sünden verunreinigen am stärksten.” 370 ) Deshalb muss als erster Schritt die seelische Fesselung durch perfektio­ nistische Theologie aufgelöst werden, was nur mit “systemimmanenter” Argumentation geschehen kann, d.h. mit einer Methode, die die fundamenta­ listisch-perfektionistische Sicht “mit ihren eigenen Waffen” widerlegt. 366 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 9. Behauptung: “Man kann 367 368 369 370 durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen.”, Seite 88. Siehe unter „Stichworte“ den Artikel „Sorgfaltsparadox“, (Internet).. Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 85 ff. Jay Adams, Handbuch für Seelsorge, Wuppertal 1976, S.311. Siehe unter „Giftige Theologie“ die 16.Behauptung, Seite 85. 196 Gleichzeitig ist es wichtig, den positiven Charakter bibelgemäßer Heiligung 371 umfassend und glaubwürdig zu vermitteln. Richtig ist der Hinweis von Adams, dass die Angst vor der unvergebbaren Sünde nicht die Frage nach anderen Fehlverhaltensweisen überflüssig machen darf. Wird an groben Sünden (Ehebruch, Unversöhnlichkeit, Neid) festgehalten, dann kann beim Bibellesen das lebendige Reden, Wirken und Bevollmächtigen nicht entstehen, die Interaktion zwischen Bibel und Gläu­ bigen, die für geistliches Leben typisch ist. Dann ist es auch um die Gewiss­ heit des Heils schlecht bestellt. Kontraproduktiv ist dieser Ansatz, wenn der Seelsorger ohne konkretes Wis­ sen von vornherein unterstellt, dass der Ratsuchende die Angst vortäuscht, weil er “von anderen Sünden ablenken will”. Ohne es zu wollen, können Seelsorger sehr grausam reagieren. Das zeigt auch die am Buchstaben kle­ bende Antwort von Adolf Schlatter. 372 3. Definition der unvergebbaren Sünde als “nationale Sünde” (Arnold Fruchtenbaum) Nach Fruchtenbaum bildet der Hinweis auf “dieses böse Geschlecht” (Mt 12,41+42+45) den Schlüssel für das Verständnis der unvergebbaren Sünde. Nur eine einzige Generation hatte die Möglichkeit, dem Messias direkt zu begegnen und sich von seinem sündlosen Charakter und seiner göttlichen Vollmacht zu überzeugen. Jesus vollbrachte zudem die Wunder, die in der jüdischen Tradition nur der Messias tun konnte: die Heilung von Aus­ sätzigen, das Austreiben eines stummen Dämons und die Heilung eines Blindgeborenen. Bessere Beweise für die Vollmacht des Messias konnte es nicht geben. Auch ging Jesus auf die Menschen mit vollkommener Liebe zu. Niemals war es leichter, mit der Liebe Gottes, seiner Hilfe und seiner heilenden Kraft in Berührung zu kommen. 371 Siehe das Kapitel „Zu Gott gehören“, Seite 160. 372 Siehe Abschnitt 4 in diesem Kapitel, Seite 199. 197 In dieser einzigartigen Situation gab es Menschen, die Jesus als Verkörpe­ rung des Bösen bezeichneten, als Boten Satans. Wieder werden als Schieds­ richter im Endgericht Menschen bemüht, die Leute von Ninive und die Königin von Saba (VV.41-42), die das verdammende Urteil aussprechen. Das Verdammungsurteil ist also keine überlogische, unverständliche Grau­ samkeit Gottes: die Einstellung der Pharisäer ist so boshaft, dass auch Men­ schen um der Fairness willen darüber ähnlich urteilen würden. Wer Jesus unter diesen Bedingungen und in dieser Weise ablehnt, der hat den endgül­ tigen Bruch mit dem Messias vollzogen. Am Ende des Kapitels 12 wird der Bruch mit Israel und der Übergang des Heils zu den Heiden angedeutet. Jesus wertete seine verwandtschaftlichen Beziehungen ab, und bezeichnete nur noch die als zugehörig zum Gottes­ volk, die den Willen Gottes respektieren. (Mt 12,47-50). Der endgültige Bruch wurde bald offenkundig, als der Tempel samt Jerusalem zerstört und das jüdische Volk in alle Welt vertrieben wurde. “Wahrlich, all dieses wird über dieses Geschlecht kommen.” (Mt 23,36) Dieses Gericht war unvermeid­ lich, da Gott die Verwerfung des Messias nicht vergeben konnte. Sehr wertvoll an der Lösung von Fruchtenbaum ist die Tatsache, dass sie die geistliche Katastrophe mit der Verwerfung des Messias verknüpft und nicht mit einer falschen Bezeichnung von Wundern. In pfingstlerischen und charismatischen Gruppen wird manchmal behauptet, dass jemand, der die dort gezeigten Wunder in Frage stelle, eine unvergeb­ bare Sünde begangen hätte. Wie verantwortungslos ist diese Behauptung ! Wunder, die Menschen vorzeigen, sind nicht eindeutig. Wie viel Betrug hat es da schon gegeben – auch in christlichen Gruppen. Wenn ein Christ so leicht verloren gehen könnte, weil er ein Wunder für unecht hält, was wären dann die Verheißungen Jesu und seine Kraft zu bewahren, wert ? Ebenso positiv ist zu sehen, dass das menschliche Fairnessurteil eine wichtige Rolle spielt, sodass die endgültige Tennung von Jesus nicht wie ein willkürliches Verhängnis über den Menschen hereinbricht. 198 Positiv an der Lösung von Fruchtenbaum ist auch zu sehen, dass er auf die einzigartige privilegierte Stellung der Generation Jesu hinwies. Auch die Zeit der Apostel, die Zeichen und Wunder im Namen des Messias voll­ brachten, die göttliche Liebe beispielhaft vorlebten und Anschluss an die göttliche Inspiration hatten (Apostelbriefe!), ist noch als eine privilegierte Situation der Urgemeinde zu sehen. Dieses Faktum mildert den Satz des Hebräerbriefes, dass Gläubige “das Blut des Bundes, durch das sie geheiligt sind, für unrein achten und den Geist beleidigen” können. (Hebr. 10,29) Man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass diese Hebräerstelle bei manchem Gläubigen dennoch wieder Ängste aufsteigen lässt und dass deshalb zusätzlich Überlegungen zur Fairness 373 notwendig sein können. 4. Am Buchstaben klebende “Lösung” als verheerender “Kunstfehler” (Adolf Schlatter) Seelsorge, die sklavisch am Buchstaben klebt Hoffnung zerstören. 374 ,kann den Rest jeglicher Dies soll anhand der Ausführungen des Theologieprofessors Adolf Schlatter (1852-1938), der für eine ganze Reihe ähnlich denkender Theologen steht, veranschaulicht werden. Auch er hat sich mit der Frage befasst, wie man Menschen helfen könnte, die Angst haben, die unvergebbare Sünde begangen zu haben. Es tut uns leid, ihn hier kritisieren zu müssen, denn er hat in seinen Werken der Gemeinde viele wertvolle Erkenntnisse hinterlassen. Viele haben ihn mit großem Gewinn gelesen. Doch in der Frage der unvergebbaren Sünde hat er leider schwerwiegende Fehler begangen, die angesprochen werden müssen. Seine Antwort lautet, dass in diesem Fall Hilfe unmöglich ist. Niemand könne wissen, ob jemand diese Sünde begangen habe. Der Mensch, der von dieser Angst gequält wird, natürlich auch nicht. 373 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 9. Behauptung: “Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen.”, Seite 88. 374 Siehe dazu unter “Giftige Theologie” die 17. Behauptung: “Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wortlaut hält, ist das beste.”, Seite 111. 199 Nach Schlatters Ansicht ist selbst das Glaubensleben kein Beweis: der Fei­ genbaum, den Jesus verflucht hatte (Mt 21,19), trüge ja auch noch Blätter und wäre doch längst tot. 375 Diese Argumentation zeigt, dass eine orthodoxe Auslegungsregel (“Schrift erklärt die Schrift” = “Sola Scriptura!”) bei Schlatter die entscheidende Beurteilungsgrundlage bildet. Zweifellos macht die Anwendung der Ausle­ gungsregel “Schrift erklärt die Schrift” in einer dem Heiligen Geist gemäßen (!) Weise Sinn: die Bibel erklärt sich selbst, wenn Jesus das Alte Testament auslegt (Mt 5,21ff / Mt 22,42-46) oder wenn im Hebräerbrief Zusammen­ hänge zwischen Altem und Neuem Testament erläutert werden. Doch ein gedankenlos mechanischer “Schriftbeweis” auf der Basis des nurwörtlichen Verständnisses kann – wie man hier sieht – auch zu haarsträu­ benden Ergebnissen führen. Es ist fürwahr eine schaurige Vorstellung, dass vielleicht viele Brüder und Schwestern, die sich ihres Glaubens freuen, gerne in der Gemeinde mithel­ fen, den Herrn freudig bekennen und anderen den Weg zu Christus zeigen, gar nicht wissen, dass sie selber nichts anderes als leichenkalte Untote sind, weil sie mal irgendwann ein unüberlegtes Wort gegen geistliche Dinge gesagt haben. Der Denkfehler liegt bereit darin, dass das Problem als eine Art Denksport­ aufgabe gesehen wird und ein Lösungsansatz ausschließlich mit “neutraler”, dogmatischer Logik versucht wird. Das funktioniert schon deshalb nicht, weil es keine allgemeine Auskunfts­ pflicht Gottes dem Bibelleser gegenüber gibt. Die Bibel ist kein Prospekt für die Reise ins Jenseits, der jedem Kunden “unpersönliche” Informationen anbietet, für deren Richtigkeit der Veranstalter der Reise (Gott) haftet. Die Bibel erkennt vielmehr den inneren Zustand und Lebensstil des Lesers und reagiert darauf. (Selbstverstärkung 376) Sie schenkt keinesfalls automatisch Klarheit. Soweit der Leser Wahrheitsliebe vermissen lässt, för­ dert sie Irrtum und Missverständnis. 375 Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 55. 376 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Selbstverstärkung“, (Internet). 200 „Deshalb schickt Gott ihnen wirksame Täuschung, sodass sie der Lüge Glauben schenken. So wird jeder gerichtet, der die Wahrheit nicht glauben will, sondern das Unrecht liebt“ (2Thes 2,11-12). „Euch lässt Gott die Geheimnisse seiner neuen Welt verstehen, anderen sind sie verborgen. Denn wer viel hat, der bekommt noch mehr dazu, ja, er wird mehr als genug haben. Wer aber nichts hat, dem wird auch noch das Wenige, das er hat, genommen” (Mt 13,10 ff.). Auch enthält der Buchstabe der Bibel nicht alle Informationen, die zum Glaubenswachstum notwendig sind. Damit Glaubenswachstum stattfinden kann, müssen weitere Informationen hinzukommen, die nicht in der Bibel enthalten sind und diese Informationen werden nur durch die geistliche Lebenspraxis, durch die Interaktion zwischen göttlichem Wort und dem Gläubigen, der darauf hört, geliefert. (Das wäre etwa so, als würde jemand behaupten, dass nur der DNS-Code das Leben enthalten würde, während doch die Interaktion zwischen DNS und lebendiger Zelle für das Leben typisch ist. Die isolierte DNS ist aber nur totes Eiweiß. (s.a. schöpfungsgemäßes Inspirationsmodell. 377) Wie kann Schlatter der Ansicht sein, dass das, was die Bibel direkt zur unvergebbaren Sünde sagt, völlig ausreicht? Gerade in der alles entschei­ denden Frage, ob man bei Gott nun noch eine Chance hat oder keine mehr, sind diese Informationen so dürftig und sparsam, dass es mehr als auffällig ist. Warum werden Merkmale eines geistlichen Lebens, die der Betroffene zeigt, von Schlatter von vornherein als bedeutungslos abgetan? Muss man hier nicht fragen: wenn geistliches Leben nicht einmal für den Gläubigen sel­ ber einen Zeugniswert hat, welchen Zeugniswert kann es dann für andere haben? Welchen Wert hat dann das christliche Zeugnis überhaupt? Wenn es genau­ sogut Einbildung sein kann, warum muss man denn unbedingt seine Mit­ menschen mit diesem brutalen Glauben belästigen? 377 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Inspirationsmodell“, (Internet). 201 Dürftig und trostlos muss man nennen, was Schlatter als Ratschlag anzubie­ ten hat. Der Gläubige soll am Glauben festhalten, dass Jesu Opfer für wirk­ lich alle Sünden ausreicht, und soll sich dann durch die Warnung vor der unvergebbaren Sünde „erschrecken lassen“. 378 Schlatter hat sich offenbar mit der Lebensgeschichte von Christen, die diese Ängste haben, niemals sorgfältig befasst. Hätte er das getan, so würde er auch wohl kaum diesen praxisfernen „Rat“ gegeben haben. Welchen Nutzen soll es haben, wenn “man sich erschrecken lässt”? Die Angst vor der unvergebbaren Sünde rückt die Hölle 379 in unmittelbare Nähe, sie lässt sie bereits in diesem Leben beginnen. Es ist gar keine Frage, dass dieses unmenschliche Grauen bei ängstlichen Gläubigen ein Höchstmaß an serviler Unterwerfung erzwingt, mit dem sie sich gegen ein mögliches Widersprechen gegen den heiligen Geist abzusi­ chern versuchen. 380 Doch das ist – wie gesagt – eine Illusion. Wie sollte der Gläubige aus Liebe die Gebote beachten können, wenn alles Tun vom Motiv begleitet ist, es sich auf keinen Fall mit einem derartig grausamen Herrn zu verderben? Kein Mensch kann das! Hier haben wir die klassische Situation, die Paulus in Römer 7 schildert – und zwar bei bekehrten Christen! Um sich abzusichern, flüchten sie in freudlose Werkgerechtigkeit. 381 Um einen Widerspruch zu Gottes Willen gar nicht erst aufkommen zu lassen, der in ein Widersprechen gegen den heiligen Geist ausufern könnte, schinden sie sich nach Kräften, um den Forderungen Gottes möglichst vollständig zu ent­ sprechen. Da das Neue Testament “Vollkommenheit” verlangt (Mt 5,48), kann man sich das Ausmaß der Belastung vorstellen. 378 379 380 381 Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 44. Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Hölle“, (Internet). Vgl. Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seiten 44+53. Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet). 202 Dass ihr Verhalten der allsonntäglich verkündeten “Erlösung aus Gnaden” (Eph 2,8) widerspricht, nehmen sie kaum noch wahr. Die falsche theolo­ gische Grundlage zwingt sie konsequent auf diesen fatalen Kurs. Dabei wer­ den Zusagen Gottes wie z.B. Hebr 2,15 (“Gott hat die erlöst, die durch Furcht vor dem Tod ihr ganzes Leben lang Sklaven sein mussten”) weder vergessen noch bestritten. Sie sind aber etwas, was nur in der Theorie exi­ stiert und nie existenziell erfahren wurde. Sie sind im Grunde genommen reine Propaganda. 382 Gott hat nun einmal befohlen, „die frohe Botschaft weiter zu sagen“. Und weil der Gläubige, der sich dieser Pflicht entzieht, Gott ungehorsam ist und Strafe zu erwarten hätte, muss auch mit durch Theologie zerrütteten Nerven gejubelt und gelobt werden. Kritik an Gott ist ohnehin hochgefährlich und unvorstellbar. Deswegen ist es auch zwecklos, sich über die Tatsache, dass man selber das genaue Gegen­ teil erlebt, den Kopf zu zerbrechen. Für aufkeimende Zweifel steht immer das erlernte Totschlagargument der “göttlichen Unerforschlichkeit” bereit. Oder das Totschlagargument der geforderten “Demut”, mit dem man Gläu­ bige an die Geringschätzung des Urteilsvermögens 383 und des geheiligten Verstandes gewöhnt hat. In der Meinung, dass Gott wie weltliche Diktatoren bestellten und erpressten Jubel liebt, zeigt sich die erlernte Unfähigkeit zu einer realistischen Ein­ schätzung des göttlichen Charakters. Ohne theologisch verbildet worden zu sein, würde kein Mensch so krumm denken. Eben diese erlernte Unfähigkeit kann zu abstrusen Absicherungshandlungen führen. Es ist wahrscheinlich, dass gerade die eifrig zum Zwecke der Absi­ cherung betriebene Werkgerechtigkeit 384 zu guter Letzt genau das bewirkt, was man unter allen Umständen vermeiden wollte: nämlich den verbalen Exzess in der Lästerung. Ständig wehrlos der Angst vor der Ungnade Gottes ausgesetzt zu sein, und keine andere Hilfe zu haben als eine unehrliche Theologie – das erzeugt schließlich Hass. 382 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Propaganda“, (Internet). 383 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Urteilsvermögen“, (Internet). 384 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Werkgerechtigkeit“, (Internet). 203 Auch Luther hasste vor seinem Turmerlebnis Gott schließlich aus tiefster Seele 385 , was ihn aber in noch tiefere Ängste stürzte, da ihm dieser Hass ein Beweis dafür zu sein schien, dass er zur Verdammnis bestimmt war. Wird in der Gemeinde gar noch gelehrt, dass der Gläubige mit der Bekeh­ rung eine allumfassende Begabung erhalten hat, die ihm ermöglicht, alle Gebote leicht zu erfüllen (“Totalbegabungswahn” 386 ), so bedarf es noch nicht einmal einer exzessiven Lästerung, um in panische Angst zu geraten. Die erkannte Unfähigkeit, vollkommen zu leben, kann bereits zu ähnlich grausamen Ängsten Anlass geben, nämlich zur Angst, den heiligen Geist möglicherweise verloren zu haben (Hebr 6,4-6). Zwar fällt dem Gläubigen keine konkrete unvergebbare Lästerung ein, aber er kann das Ereignis ja schlicht vergessen haben, zumal er sich der Bedeutung dieses Vorgang mög­ licherweise gar nicht bewusst war. Ist eine despektierliche Bemerkung über den heiligen Geist und seine Absichten nicht ohnehin sehr wahrscheinlich? Dem Gläubigen ist doch geboten, zwischen „geistlich“ (im Interesse des hei­ ligen Geistes) und „fleischlich“ (im Interesse des Menschen, dessen „Fleisch“ konkurrierende Ansprüche stellt) zu unterscheiden. “Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene” (Rö 12,2). Er unterliegt also einem Ent­ scheidungs und Urteilszwang! Dann ist es doch leicht möglich, dass er irgendwann einmal – weil er sich durch geistliche Dinge überfordert sieht – Geistliches zu Alibizwecken als fleischlich deklarieren könnte (z.B. Diffamierung des schiedsgerichtlichen Dienstes 387 gemäß 1.Kor 6,1ff als „ungeistliches Richten“ usw.) Wer sehr eng denkt, könnte darunter bereits „ein Wort gegen den heiligen Geist“ verstehen. 385 TR 2,2654a, Sep 1532. 386 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 3. Behauptung: “Wenn wir nur wollen, können wir die Sünde lassen. , Seite 50. 387 Siehe unter “Stichworte” den Artikel „Schiedsgerichtlicher Dienst“, (Internet). 204 An solchen Punkten spitzt sich der Widerspruch zwischen pauschalen Heils­ zusagen und dem heilsrelativierendem „Kleingedruckten“ 388 in nicht mehr zu übersehender Deutlichkeit zu! Wie bewertet Gott lästernde Gedanken 389 die von einem schwachen Willen­ simpuls begleitet waren? Wertet er diesen Willensimpuls als Genehmigung und Zustimmung? Bestraft er sie möglicherweise, als ob sie gesprochen wor­ den wären? Warum soll der Gebrauch der Stimmbänder das entscheidende Instrument sein, das die Weiche zur endgültigen Vernichtung stellt? Wie soll der Gläubige auf diese Gedanken reagieren? Wie soll er den Wil­ lensimpuls bewerten, wenn seine Seele längst vom Abscheu gegenüber einem Gott erfüllt ist, der tyrannisiert und erpresst und dabei ständig von Liebe redet? Je mehr er sich vor diesen Gedanken fürchtet, desto häufiger kommen sie, dutzendemal, hundertemal am Tag, oder noch häufiger. Und jedesmal muss er sich rechtzeitig davon distanzieren. Das wenigstens muss er tun, denn die negativen Gefühle gegenüber Gott wird er nicht los, so sehr er es wünscht. Deswegen wird der Willensimpuls, der lästernde Gedanken begleitet, auch immer stärker. Bald kann er sich nicht mehr erinnern, ob er rechtzeitig etwas gegen den lästernden Gedanken gedacht hat. Jetzt muss er laut formulieren, dass er sich distanziert, denn an das laut Gesprochene erinnert er sich besser. Bald ist er im Zweifel, ob er eine Lästerung gedacht hat. Um sich zu ver­ gewissern, spricht er die lästernden Gedanken nach. Bald ist er im Zweifel, ob er einen lästernden Gedanken gewollt hat oder nicht. Er versucht nun den Willensimpuls zu rekonstruieren, um sich besser zu erinnern. Dieser Prozess geht weiter und weiter und eines Tages genügt ein relativ kleiner Anlass, um die Lästerung in aller Deutlichkeit hinauszubrüllen, sie minutenlang richtig und gut zu finden, um dann das tonnenschwere Gewicht einer grenzenlosen Angst auf sich herabstürzen zu sehen. 388 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 9. Behauptung: “Man kann durch ein einziges unüberlegtes Wort in die Hölle kommen.”, Seite 88. 389 Siehe ausführlich dazu unter “Giftige Theologie” die 16. Behauptung: “Zwang­ hafte Lästergedanken sind ein Beweis, dass der Gläubige vom Satan besessen ist.”, Seite 108. 205 Es erfordert wenig Phantasie, sich das Ausmaß der Traumatisierung vorzu­ stellen. Es ist dem Leben in der Todeszelle vergleichbar. Der Gläubige sieht sich an ein Starkstromkabel gekettet. Er vegetiert dahin in der ständigen Erwartung des tödlichen Stromschlages. Wann die Katastrophe eintritt, ist nur eine Frage der Zeit. Solche Prozesse, die die Persönlichkeit des Menschen quasi auslöschen, seine Würde und seelische Gesundheit bis auf den Grund ruinieren, markie­ ren die Endstation, die gutwillige und ahnungslose Gläubige auf der Schiene der traditionellen Überbewertung des Buchstabens auf Kosten des Ver­ standes erreichen können. Wie sinnlos ist das alles! Wie leicht vermeidbar! Wie würde sich der wahre Gott dazu äußern, der keine zweideutige Persönlichkeit hat? Dessen Ethik nicht willkürlich und widersprüchlich ist? Bei dem die Begriffe “Barmher­ zigkeit, Gerechtigkeit, Glaubwürdigkeit” (Mt 23,23) nicht umgedeutet und ausgehöhlt werden, sondern das beinhalten, was sie aussagen? Die Möglichkeit, solche Gedankenprozesse durch ein christusgemäßes Schriftverständnis zu stoppen, ist der handgreifliche Beweis, dass es sich bei solchen tragischen Entwicklungen nicht um eine Geisteskrankheit handelt, wie von gewissen Theologen vorschnell behauptet wird. Eine Geisteskrankheit, die auf schwer erforschbare Ursachen wie hirn­ organische Schädigung, charakterliche Fehlprägung, geistige Minder­ begabung usw. zurückzuführen ist, wäre in der Regel als unabänderliches Schicksal hinzunehmen. Natürlich können solche Ursachen im Einzelfall vorhanden sein. Doch in jedem Fall muss doch die naheliegendste Ursache erst einmal ausge­ schlossen werden, zumal sie zuverlässig beseitigt werden kann! Das ist die Zweideutigkeit im Gottesbild, in der Ethik und in der Heils­ zusage! Wenn alles zweideutig ist, dann können Gläubige mit sensiblem Gewissen und gedanklicher Sorgfalt sehr leicht in den mörderischen Sog frommer Absicherungsbemühungen hineingeraten. 206 Ein paar Interviews mit solchen Gläubigen hätten eigentlich Schlatter die Einsicht vermitteln können, dass wenigstens in solchen Fällen seine große Ahnungslosigkeit, was denn nun aus solchen Leuten wird, unangebracht ist. Es scheint ihn wenig zu stören, dass harmlose Christen jahrzehntelang eine völlig sinnlose seelische Folter erleiden, bis sie dann endlich wieder Mut zum Glauben fassen und auch Erfahrungen mit der Hilfe Gottes machen. Ein hilfreiches, die Panik lösendes Wort ist nach seiner Einschätzung überflüs­ sig. Ist das der langen kirchengeschichtlichen Schulung zu verdanken, in der man gründlich gelernt hat, auf entsetzliches Leid von Gläubigen zu blicken und nur gleichgültig mit den Achseln zu zucken? Keiner bezweifelt, dass Schlatter selbst keine Angst hatte, als er seinen Text schrieb. Sein Seelenfrieden beruht jedoch nicht auf nachvollziehbaren Grün­ den, sondern auf dem ihm zur Verfügung stehenden Optimismus bzw. der Stärke seiner Einbildungskraft, es werde schon bei ihm selber nicht so schlimm sein. Nach seinen eigenen Worten kann bereits ein negatives Wort über Brüder, über ein Bibelwort, über etwas, was der heilige Geist will, die unvergebbare Sünde sein.390 Tatsache ist aber, dass sich niemand an alle negativen Worte erinnern kann, die er jemals gesagt hat. Somit bleibt die Frage, ob der Gläubige nun erlöst oder verdammt ist, nach Schlatter ungeklärt und unbeantwortbar. Schlatter erklärt, dass man „ganz fest“ (Einbildungskraft! Optimismus! 391) daran glauben soll, dass die Gnade Jesus „ausreicht“, „alle“ Sünden außer der unvergebbaren zu bedecken. In dem Wort „alle“ sieht er angeblich „den ganzen Reichtum göttlichen Vergebens vor uns ausgebreitet“. 392 390 Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 52-53.) 391 Siehe im Kapitel „Alternativen?“ den Abschnitt 1 „Eine optimistische Einstellung ist Pflicht“, Seite 18. 392 Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 44. 207 Was hier vor den Lesern “ausgebreitet” wird, ist etwas ganz anderes. Man nennt das wohl “Frohe Botschaft”. Aber so richtig froh will dem Gläubigen dabei nicht werden. Auch wenn etliche Schriftgelehrte mit ihrem abge­ brühtem, frommem Stoizismus und Optimismus bei unsicheren Gläubigen mächtig Eindruck schinden werden. Absurd ist Schlatters “Rat”, der verzweifelnde Gläubige müsse in dieser wichtigen Frage auf Klarheit verzichten, dürfe aber außerdem noch den Lob­ preis der „Wohlgefälligkeit“ (Mt 11, 26!) anstimmen. (Schlatter benutzt in diesem Zusammenhang tatsächlich dieses Zitat! 393 Das ist wirklich der Gip­ fel der Gefühlsabstumpfung! Vielleicht will er ja gerne barmherzig sein. Aber er kann es nicht. Sein theo­ logisches Denksystem zwingt ihn, unmenschlich zu denken. Und weil das Unmenschliche dem Menschen widerlich ist, erscheint ihm möglicherweise gerade das “treue” Festhalten an der Unmenschlichkeit als ein Kennzeichen besonders konsequenter Frömmigkeit. Dann ist es nur folgerichtig, wenn sich der Gläubige über Mitchristen, die in der Psychiatrie möglicherweise bis zum Lebensende in grausamstem Seelen­ leid dahinvegetieren, keine weitergehenden Gedanken macht. Retten braucht man daraus auch niemand. Man kann ja in Ruhe warten, bis die „Blätter“ von selber abfallen! Das ist auch das weitverbreitete Verhalten von bibeltreuen Gläubigen gegen­ über Mitchristen, die befürchten, gegen den heiligen Geist gelästert zu haben. Man lässt sie einfach im Stich! Mögen sie sang- und klanglos aus den Gemeinden verschwinden. Dann muss man das Elend wenigstens nicht mit­ ansehen! Ist die Verkündung des “geschenkten Heils” dann noch glaubwürdig ? Sagt nicht die Bibel, dass es Gott verabscheut, wenn fromm vom Frieden geredet wird, „obwohl kein Friede da ist“ (Hes 13,9-10), dass er es hasst, wenn aus schwarz weiß und „aus sauer süß gemacht“ wird (Jes 5,20) ? 393 Adolf Schlatter, Jesus – der Christus, Gießen 1978, Seite 55. 208 Dass das so ist, ist nicht schwer nachzuvollziehen. Wie sehr wird seine Ehre durch Heilspropaganda und verlogenen Jubel verletzt! Wie sehr leidet der Respekt, wenn Gott zur Sicherung seines Einflusses der frommen Lüge und des bestellten Beifalls bedarf! Dabei hat er es doch mit der Erlösung so ernst gemeint, dass ihm dafür kein Opfer zu teuer war, nicht einmal das Opfer sei­ nes lieben Sohnes. Wie lächerlich muss sein Bemühen nun jedermann erscheinen. Ist es nicht besser, wir respektieren konsequent, was die Bibel über sich selbst sagt: es ist die Absicht JEDES Bibelwortes, Leben zu geben ? “Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von ALLEM, was aus dem Mund des HERRN geht” (5.Mo 8,3) Somit kann es nur ein lebensförderndes, ermutigendes Verständnis dieser problematischen Textstelle geben oder gar keines! Ein lebensförderndes Verständnis (!) 394, das einen klaren pädago­ gischen Nutzen hat (2.Tim 3,16). Nützlich ist es sicher, zu erkennen, dass die wichtigste Frage (!) nicht mit einem “Schriftbeweis” auf der Basis des nur-wörtlichen Verständnisses 395 zu beantworten ist, nämlich die Frage, ob man selbst auf den Himmel hoffen darf oder nicht. Das Sola-Scriptura-Prinzip versagt an dieser entscheidenden Stelle. Die Frage nach dem persönlichen Heil ist und bleibt aber die wich­ tigste Frage, weil ihre negative Beantwortung alle weiteren Fragen überflüs­ sig macht. A 3. Wie gehe ich angemessen mit ideologisch denkenden Gläu­ bigen um? 1. Bleibe nach Möglichkeit immer freundlich und betrachte sie nicht als deine Feinde, sondern als Menschen, die im Gefängnis ihrer eigenen Bedürfnisse sitzen und so denken müssen. Sei dir immer bewusst, dass Gott auch sie liebt und möchte, dass sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Bete deshalb viel für sie. 394 Wie es unter “Giftige Theologie” bei der Widerlegung der 9. Behauptung: beschrieben wird, Seite 88. 395 Siehe dazu unter “Giftige Theologie” die 17. Behauptung: “Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wortlaut hält, ist das beste.”, Seite 111. 209 2. Bedenke stets, dass Gott eines Tages auch alle deine innersten Gedanken und Motive offenbar machen wird. Prüfe deine eigenen Motive 396 an der Bibel, damit du weißt, warum du anders denkst. Aggression entsteht oft aus Hilflosigkeit heraus. Wenn du über Gegenargumente wütend wirst, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass deine eigenen Argumente schwächer und schlechter sind. Dann solltest du erst einmal dir selber ehrlich Rechenschaft geben. Hüte dich, das Denken der Menschen nach deinen eigenen fleisch­ lichen Bedürfnissen formen zu wollen. Du schadest deinem Anliegen, wenn du von dir selber groß denkst. Verweigere deshalb niemandem eine Antwort, der an dich eine kritische Frage stellt. 3. Achte die Würde deiner Gesprächspartner, diffamiere und beleidige sie nicht! Hilf ihnen, ihr Gesicht zu wahren, damit sie nicht ihre Person mit ihren Irrtümern identifizieren. Nenne ihren Namen nur, wo es unumgänglich ist (Quellenangaben). Meide alle niederträchtigen und manipulativen Metho­ den! Arbeite viel mit Fragen, statt mit Behauptungen und Anschuldigungen! Wenn Gott der gerechten Sache den Sieg geben sollte, dann triumphiere nie­ mals über den, der unterlegen ist, und sei niemals schadenfroh! 4. Wenn du die Wahrheit erkennen darfst, die viele ablehnen, dann ist Gottes Auftrag an dich ergangen, für sie einzutreten. Die Wahrheit hat viel Geduld. 397 Sie wird auf jeden Fall gewinnen und alle, die ihr widerstanden haben, werden sich eines Tages dafür schämen müssen. Versuche nicht, ein Ergebnis vor der Zeit zu erzwingen, die Gott bestimmt hat. Dass erzeugt Fru­ stration, die viel von der Kraft aufzehren kann, die du brauchst, um durchzu­ halten. Ehre Gott und seine Wahrheit durch Gelassenheit und durch Ver­ trauen auf den Sieg. Lasse deine Gesprächspartner aber auch erkennen, dass du niemals aufgeben oder resignieren wirst, sondern dass du jede Möglich­ keit nutzt, die Gott dir schenkt. 5. Wenn du einmal zornig geworden bist, weil du das Leid siehst, das Men­ schen mit Ideologie sinnlos zugefügt wird, dann habe nicht so viel Schuldge­ fühle. Es ist nicht so schlimm, einmal böse zu werden 398 als unverbesserlich böse zu sein. Bedenke, dass unser Herr Jesus Christus auch manchmal ganz ähnlich gefühlt hat. 396 Siehe das Kapitel „Prüfe dich selbst“, Seite 178. 397 Siehe „Was ist Irrlehre ?“, Nr 1, (Internet) 398 Siehe unter Stichworte den Artikel „Böses tun...“, (Internet). 210 Bedenke aber immer: ein Feind, den man mit Liebe und seriösen Argu­ menten eines Tages überzeugt, kann zum wertvollen Partner werden – ein Saulus kann durch Gottes Gnade zum Paulus werden! A.4. Anzeichen für die Widerstandskraft einer Gemeinde gegen Machtmissbrauch und Korruption Zwischen Theologie und persönlichen Machtinteressen besteht ein Zusam­ menhang. Dem Einfluss giftiger Theologie 399 kann besser vorgebeugt wer­ den, wenn Gläubige lernen, den Manipulationsspielraum, den gewisse Struk­ turen bieten, realistisch einzuschätzen. Die Widerstandskraft ist umso größer, je besser die Gemeinde Verhaltens­ weisen überwinden kann, die zwar verbreiteter Tradition entsprechen, aber nach biblischer Sicht ungeistlich und unfair sind. Sich geistlich verhalten heißt dem Nächsten gegenüber Gerechtigkeit üben (Jes 64,4), den fairen Umgang mitander lieben und pflegen (Kultur der Fairness). Fairness ist die Voraussetzung ungeheuchelter (Rö 12,9) Liebe. (Die Details zeigt die Tabelle auf den nächsten Seiten) 399 Siehe das Kapitel „Giftige Theologie“, Seite 85 ff. 211 Starke Widerstandskraft Schwache Widerstandskraft Innige Verbundenheit mit Jesus Christus Mt 23,23 Die praktische Anwendung der Quali­ Die praktische Anwendung der Quali­ tätsmaßstäbe Jesu Christi ist ein wich­ tätsmaßstäbe Jesu interessiert kaum tiges Thema in der Gemeinde oder gar nicht. Würde des Gläubigen Apg 26,29, Die Lehre hat das Ziel, möglichst alle Die Hauptamtlichen sehen die Ge­ Eph 4,13 Mitglieder der Gemeinde zu geistlich meindemitglieder nur als zu Betreu­ ebenbürtigen Mitarbeitern zu machen. ende, deren Streben nach geistlicher Mündigkeit nicht ernstzunehmen ist. Lu 22, 28- Durch besondere Bewährung in einer 29 / 2.Kor Aufgabe kann jedes Gemeindemitglied 4,2 / 2.Ti entsprechende Autorität erwerben. 2,1 Hauptamtliche haben in allen Fragen höchste Autorität, auch in Aufgaben, in denen sie sich vergleichsweise wenig auskennen und bewährt haben. 1.Kor 12, Ehrenamtlicher Dienst hat grundsätz­ 22-25 / Phil lich den gleichen Rang wie die Arbeit 2,3 der hauptamtlichen Mitarbeiter, sofern die ehrenamtliche Arbeit an Umfang und Qualität ebenbürtig ist. Ehrenamtliche Arbeit gilt als gering­ wertiger als die Arbeit der hauptamt­ lichen Mitarbeiter, selbst wenn sie in Umfang und Qualität ebenbürtig ist. Mt 25,40 „Geringe“ Gläubige, auf die die Gesell­ „Geringe“ Gläubige schaft herabsieht, fühlen sich in der Gemeinde. Gemeinde wohl. meiden die Predigt des unverkürzten Gotteswortes Gal 1,10 Das Wort Gottes wird ohne Abstriche gepredigt: der Gemeinde wird keine Wahrheit erspart, bloß weil man sich vielleicht damit unbeliebt machen könnte. Es ist nicht erkennbar, dass der Predi­ ger die Liebe zu Wahrheit und Gerechtigkeit über den Wunsch stellt, beliebt zu sein. Mt 7, 20-23 Der Tenor der Predigt ist: Niemand / 25,1-13 betrüge sich selbst. Auch innerhalb der Gemeinde scheidet der Geist Gottes zwischen Menschen, die "drinnen" sind, und solchen, die "draußen" sind. Der Tenor der Predigt ist: Leute, ihr seid alle schon o.k. Aber es könnte etwas mehr sein... Bereits der Besuch der Gemeinde gilt als Beweis für die richtige Einstellung, sodass auf eine Bußpredigt verzichtet werden kann. Apg 7,56 / Jeder hat das Recht, von der Tradition Gal 2,5 abweichende Erkenntnisse vorzutragen, wenn sie biblisch gut begründet sind und der Qualitätssicherung dienen. Der Informationsfluss wird mutwillig behindert, oder seine Störung wird geduldet, um bibelgemäße Argumente ignorieren zu können 212 Starke Widerstandskraft Schwache Widerstandskraft Korrigierbarkeit Amos 7, 12- Die Gemeinde nimmt Korrektur von 15 / 3.Jo 10, außen an, wenn sie auf Missstände oder 11 Gefahren hingewiesen wird, die nach dem NT zu vermeiden sind. Korrektur von außen wird grundsätz­ lich als Angriff auf die Gemeinde empfunden und nicht an der Bibel geprüft. 1.Tim 5,19 Wenn zwei oder drei Gläubige auf Fehlverhalten eines Gemeindeleiters hinweisen, dann ist dieser bereit, sich an der Bibel prüfen zu lassen. Auf Beschwerden über falsches Ver­ halten des Leiters wird erst dann rea­ giert, wenn sich eine starke Fraktion gegen ihn gebildet hat. Mt 23,23 Man erkennt die Notwendigkeit, die Über biblisches Recht wird wenig Gemeinde am Maßstab des biblischen oder gar nicht nachgedacht. Die Rechtes zu messen. Gemeindemitglieder werden darüber nicht informiert. Die Tradition bestimmt, was gilt. Rechtsschutz für die Schwachen Dan 12, 2 / Jes 28, 6 / Mt 5, 6 / 2.Tim 3,16 Unter “Heiligung” wird die Formung der Persönlichkeit durch das Vorbild Jesu Christi verstanden. Das schließt das Bemühen ein, die Gemeinde Liebe zur Gerechtigkeit zu lehren, damit in der Gemeinde ein faires und gerechtes Miteinander aller Gläubigen, die zum Leib Christi gehören, möglich ist und sie in der Welt Salz und Licht sein kann. Unter “Heiligung” wird nur das eifrige Streben nach Verbesserung des ganz privaten moralischen Niveaus verstan­ den. Die Aufarbeitung von Konflikten in der Gemeinde gehört nicht zur Hei­ ligung. Mt 5,25-26 Es wird daran erinnert, dass der Gläu­ Unrecht zwischen Gläubigen ist deren bige Unrecht in Ordnung bringen und Privatangelegenheit, in die sich die sich mit Geschwistern versöhnen sollte, Gemeinde nicht einmischen sollte. um sich auf die Wiederkunft Jesu zu vorbereiten. 1.Kor 6,1ff Zu diesem Zweck wird der schieds­ Es existiert kein auf die Bibel gegrün­ gerichtliche Dienst eingerichtet. detes Konzept des schiedsgericht­ lichen Dienstes. Mt 18,15 ff Konflikte werden nach dem dreistu­ figen Verfahren bearbeitet, das Jesus vorgegeben hat: 4-Augen-Gespräch, Mediation, Entscheidung der Ge­ meinde. 213 Die Gemeindemitglieder haben keine Entscheidungsbefugnis, da sie auf die Aufgabe, in Konflikten zu entschei­ den, nicht vorbereitet worden sind. Starke Widerstandskraft Schwache Widerstandskraft 1.Thess 5,22 Der schiedsrichterliche Dienst ist die Aufgabe ehrenamtlicher Mitglieder, damit die Entscheidungen nicht in der Verdacht der Befangenheit geraten. Die schiedsrichterliche Entscheidung ist das selbstverständliche Recht von Per­ sonen, die Einkommen aus der Gemeinde beziehen. Mk 7,11 Die Gemeinde ist darüber informiert, Über das Thema "Korban" (= verbotene dass sie weder Spenden noch Mitar­ Spenden) wird sehr selten oder mög­ beit einzelner annehmen darf, die lichst gar nicht gepredigt. Angehörigen und Geschädigten ge­ schuldet werden. Ri 19-20 / Ein Außenstehender, der durch ein Spr 18,10 Mitglied der Gemeinde geschädigt worden ist, darf darauf vertrauen, dass er angehört und seine Sache gerecht entschieden wird. 214 Der Schaden von außenstehenden Gläu­ bigen, die zum Leib Christi gehören, wird nicht ernstgenommen, sondern nur die Anliegen der Gemeindemitglieder. Wenn ein Hirte hundert Schafe hat und eines davon läuft ihm weg, was wird er dann wohl tun ? Wird er bei den Hundert bleiben oder wird er sich auf die Suche machen nach dem einen Schaf, das ihm verloren gegangen ist ? (Luk 15,4) 215