Affektive Störungen Pathogenese und Therapie PD Dr. med. R. Ch. Wolf Zentrum für Psychosoziale Medizin Klinik für Allgemeine Psychiatrie Affektive Störungen Überblick - Ätiologie und Pathogenese Genetik Neurobiologie Behaviorale Modelle - Therapie Psychopharmakotherapie Psychotherapie Affektive Störungen Lieb, Frauenknecht, Brunnhuber Urban & Fischer 2008 Entstehungsmodell Multifaktoriell: Vulnerabilitäts-Stress-Konzept, Bio-Psycho-Soziales Modell: Genetische Faktoren Neurobiologische Faktoren Persönlichkeit Psychosoziale Faktoren Genetik E. Hemingway 1899-1961 Genetische Disposition ein Elternteil krank: 10% Risiko (unipolare Depression) / 20 % (bipolare affekt. Stör.) beide Eltern krank: bis 40-50% die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen liegt - bei bipolarem Verlauf ca. 60-80% - bei unipolarem Verlauf ca. 50% für zweieiige Zwillinge bei ca. 20% ca. die Hälfte aller bipolaren Patienten haben zumindest einen erkrankten Elternteil Kandidatengene: funktionelle Polymorphismen monoaminerger Transmissionsgene Genetische Disposition (2) Struktur Funktion Pezwas et al. 2005 • funktioneller Promoterpolymorphismus des Serotonin-Transporter-Gens (s-Allel): - reduzierte transkriptionale Effizienz erhöhte trait-anxiety erhöhtes Depressionsrisiko (+ gene-environment-interaction) negatives SSRI Behandlungsoutcome Neurobiologische Faktoren • • • • Neurotransmitter: Serotonin, Noradrenalin, Dopamin… – abnorme Dichte und Sensitivität der Rezeptoren – Transmitterkonzentration ⇑ nach Gabe antidepressiv wirksamer Substanzen Neuroendokrinologie: – Störung der Regulation der HHN-Achse (50% Hypercortisolismus) – u. a. Cortison-Therapie -> „pharmakogene Depression“ Chronobiologie: – Tagesschwankungen (Morgentief, Besserung am Abend) – Änderung der Schlafarchitektur (REM-Latenz verkürzt, weniger Tiefschlaf-Phasen) – „saisonale Depression“ Funktionelle Neuroanatomie: – Abnormer Metabolismus/Durchblutung – Dysfunktion „limbischer“ Regionen und lateral präfrontaler Areale Strukturelle Veränderungen ACC Hippocampus OFC + lateraler PFC, + Striatum (Putamen, Nc. Caudatus) +/- Amygdala Koolschijn et al. 2009 Strukturelle Veränderungen (2) Vasic et al. 2008 • Patienten mit einer rezidivierenden depressiven Störung • Aufmerksamkeit, verbales/räumliches AG, Inhibition, Exekutivleistung • 3T MRI, voxel-basierte Morphometrie • Korrelation GMV-ROIs, Testleistung, Klinik Abnormer Metabolismus Depression Manie Drevets et al. 2001 Brooks et al. 2010 Abnorme Aktivierung a. b. resting state SSRI-treatment Fitzgerald et al. 2008 c. happy stimuli d. sad stimuli „Netzwerk der Depression“ Drevets et al. 2001 Psychosoziale & psychodynamische Faktoren Life-event Forschung Depressive Patienten berichten signifikant häufiger von belastenden, negativen Erfahrungen vor Ausbruch der Erkrankung. „Gelernte Hilflosigkeit“, die Konfrontation mit einem nicht veränderbaren belastenden Stimulus führt zu: ♣ Rückzugsverhalten ♣ negative Befindlichkeit ♣ Hilflosigkeit ♣ vegetative/somatische Störungen ♣ negatives Selbstbild ♣ verminderte Lernfähigkeit Psychodynamisches Modell „Prädisponierende Persönlichkeit“, Bindungsstörung, Entwicklungsphasen-Vulnerabilität a) Verminderung des Selbstwertgefühles und der Selbstsicherheit b) „Ich-Schwäche“ ( Vulnerabilität gg.über Frustration/Enttäuschung) c) pathologische Trauerarbeit: Das Erlebnis des Objektverlustes wird durch den Mechanismus der Introjektion abgewehrt und auf das eigene “Ich” gerichtet Wiederholung des frühkindlichen Traumas Kognitions- und lerntheoretische Konzepte Kognitive Triade (A. T. Beck): spezifischer und unspezifischer Stress führen zu negativen Wahrnehmungen der eigenen Person, der Umwelt und der Zukunft und zum Verlust von positiver Rückmeldungen von der Umwelt. 1. Störung der Selbstwahrnehmung 2. Störung der Selbstbewertung 3. Störung der Selbstverstärkung „Depressive Kognitionen“: • unangebrachte Generalisierung • selektive Wahrnehmung • Selbstattribution Therapie affektiver Störungen Bis ca. 19. Jahrhundert: mechanische/freiheiteinschränkende Maßnahmen 1854 1857 1869 1882 1903 1910 1917 Morphin Bromsalze Chloraldurat Paraldehyd Barbiturate Salvarsan (Arsenpräparat) Malaria-Infektionsth. (Wagner-Jauregg) 1922 Dauerschlaftherapie (Kläsi) 1924 systematische Arbeitstherapie (Simon) 1934 Cardiazol-Krampftherapie (Meduna) 1935 Insulin-Koma-Behandlung (Sakel) 1939 Elektro-Krampftherapie, EKT (Cerletti) 1952 Chlorpromazin Thymoleptika/Antidepressiva 1955 Meprobamat 1958 Imipriamin (Tofranil®) Amitryptilin (Saroten®) Doxepin (Aponal®) Haloperidol, NL 1964 1967 1968 1969 1972 Lithium 1. Depotpräparate Diazepam (Valium®) Lorazepam (Tavor®) Clozapin (Leponex®) 1990 „atypische“ Antipsychotika neue Antidepressiva Therapieverfahren • Psychopharmakologie und andere „biologische“ Verfahren - Psychopharmakotherapie - Schlafentzug - biologisch aktives Licht (zw. 2.500 ~ 10.000 Lux) - EKT, VNS, TMS, DBS • Psychoedukation • Psychotherapie • Entspannungsverfahren • „Co-Therapien“ – Ergotherapie – Kunsttherapie – Musiktherapie – Physio-, Sport-, Balneotherapie Psychopharmaka • Antidepressiva (AD) Unterschiedliche Wirkmechanismen • • • • • • • • • Antipsychotika • • Tri- und Tetrazyklische AD Spezifische Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Monoamino-oxidase(MAO)-Hemmer Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (NARI) „Duale“ AD (NA/SRI, NA/DARI) Dopamin-Wiederaufnahmehemmer Melatonin-Agonisten Phytopharmaka (Johanniskraut) Unterschiedliche Wirkmechanismen (atypische Neuroleptika: Olanzapin, Quetiapin, Risperidon) Sedativa/Hypnotika/Anxiolytika • • Benzodiazepine Benzodiazepin-Analoga Psychopharmakotherapie Antidepressiva: in Kombination mit einer supportiven Gesprächstherapie/Psychotherapie gedrückt-gehemmtes Bild: eher nicht-sedierende AD (SSRI, NARI, Duale AD, MAO-Hemmer) agitiert-ängstliches Bild: eher sedierende AD (tri- und tetrazyklische AD, ggf. + Antipsychotika) falls Monotherapie nicht erfolgreich: Medikamentenwechsel, ggf. Kombinationstherapie, Augmentation mit Neuroleptika / Lithium / SD-Hormone, EKT erwägen Prophylaxe: Lithium, Carbamazepin, Valproinsäure, Lamotrigin, Topiramat („mood stabilizer“) Keine (Psycho)pharmakotherapie ohne mögliche UAW! immer ausführliche Aufklärung des Patienten erforderlich! z. B. Nebenwirkungsprofil der älteren AD/TCA: - orthostatische Reaktionen - Kardiotoxizität - Obstipation (u. a. gastrointestinale Symptome) - Akkomodations- und Miktionsstörungen Akuttherapie, Erhaltung, Prophylaxe Bipolare Störung: Phasenabhängige Psychopharmakotherapie Acute Manic/Mixed Maintenance mood stabilizer and/or second-generation antipsychotic (SGA) mood stabilizer (e.g. lithium) or anticonvulsant + anticonvulsant + Depressive mood stabilizer or anticonvulsant + antidepressant SGA + SGA s d Besonderheiten der Psychopharmakotherapie • • • • • • häufig zu niedrig dosiert Kombinationen reduzieren die Einzeldosierungen nicht evtl. einschleichend dosieren (Nebenwirkungen) Interaktionen müssen beachtet werden Die Kombination von Pharmako- und Psychotherapie ist oft sinnvoll und keineswegs kontraindiziert! mit entscheidend für den Erfolg jeder Therapie ist die Akzeptanz durch den Patienten Psychopharmakologische „Mythen“: Antidepressiva … – verändern die Persönlichkeit – machen süchtig – sollten sehr kurz eingenommen werden – können alle Aspekte einer Depression heilen Psychotherapie • Therapeutische Grundhaltung: - Wertschätzung, Empathie und Akzeptanz - Echtheit, Geduld, Kompetenz - Vermittlung von Mut und Hoffnung - Entlastung und Entpflichtung • Kontraindiziert/kontraproduktiv: - auffordern, sich „zusammenzureißen“ - krude Suggestionen („Es geht Ihnen doch besser als Sie so denken“) - überwertige Ideen oder gar Wahnsymptome „ausreden“ - Suizidalität nicht ernst nehmen/überspielen/bagatellisieren - Klagen und Vorwürfe an den/die Therapeuten/In persönlich nehmen Psychotherapie (2) Beispiel: Kognitive Verhaltenstherapie und Interpersonelle Therapie Ziele • • • • Korrektur negativer Realitäts- und Selbstbewertungen Förderung von Selbstsicherheit/sozialer Kompetenz Modifikation des Beziehungsaufbaus Aufbau von Aktivitäten, Förderung der Selbstwirksamkeit Möglicher theraputischer Fokus • • • Nicht-“Nein”-sagen-können Selbstüberforderung Selbstunsicherheit • • • • • • problemorientiertes/transparentes Vorgehen Problem- und Verhaltensanalyse prädisponierende, auslösende, aufrechterhaltende Bedingungen thematisieren Vermittlung eines Krankheitsmodells ziel- und handlungsorientiertes Vorgehen „Hilfe zur Selbsthilfe“ Bei persistierenden psychosozialen Stressoren/Konflikten • - Paar-, Partner-, Familientherapie - Milieu-Therapie stationäres/teilstationäres Vorgehen, u. a. wenn die Herausnahme aus dem soz. Umfeld oder eine intensivierte Tagesstrukturierung erforderlich Neurobiologische Effekte von PP und PT DeRubeis et al. 2008 Psychoedukation Hoher Stellenwert in der Behandlung affektiver Störungen! • bedeutsam für Patienten und Angehörige • Entstigmatisieren, Enttabuisieren (bio-psycho-soziales Krankheitsmodell) • Akzeptanz der Erkrankung fördern • Wissen um die Erkrankung, Therapie, Dynamik, etc... • Grenzen der Therapie erkennen • Warnzeichen einer erneuten symptomatischen Phase erkennen • Frühbehandlung initiieren Perspektiven • Substanzen mit neuen Wirkmechanismen • Hirnstimulationsverfahren (VNS, TMS, DBS) • (neurobiologische) Methoden zur Früherkennung Endophänotypen Charakterisierung von Risikogruppen • funktionelle bildgebende Methoden (fMRT, nuklearmedizinische Verfahren) Objektivierung des Therapieoutcomes prädiktive Therapieaussagen neurobiologische Marker für Recovery/Relapse differenzialdiagnostische Wertigkeit? Rechtzeitig und effektiv behandeln! GMD-Reduktion: - DMPFC - ACC - Hippocampus (li > re) - DLPFC Frodl et al. 2008 - OFC Ätiopathogenese und Therapie affektiver Störungen: Zusammenfassung • Bio-psycho-soziales Modell - Neurobiologie • monoaminerge Suszeptibilitätsgene • Dysfunktion limbischer und lateral präfrontaler Areale - psychologische Faktoren • lern- und kognitionstheoretische Konzepte - soziale Stressoren • Therapie • Akuttherapie, Erhaltungstherapie, Prophylaxe • Psychopharmakotherapie, Psychotherapie, „Co-Therapien“