Rolf J. Pöhler Welche Vision bewegt uns? Ein modernes Kirchenlied vergleicht die Gemeinde Jesu mit einem Schiff, das durch das „Meer der Zeit“ fährt. Unter der Leitung ihres Kapitäns wagt sich die Mannschaft hinaus auf die sturmbedrohte See. Man fährt von Hafen zu Hafen, sonnt sich gern „im alten Glanz vergangner Herrlichkeit“ und vergisst dabei zuweilen, warum man eigentlich unterwegs ist. Ein nachdenklich stimmendes Bild. Geht es uns auch so? Welche Vorstellung von der „christlichen Seefahrt“ – das heißt, vom Weg und Ziel der Gemeinde Jesu – prägt unser Denken und Handeln? Gleichen wir einem Ozeanliner, der die Weltmeere durchpflügt und seine Passagiere zu neuen Ufern und Kontinenten führt? Sind wir wie ein Containerschiff, das seine Ladung durch Sturm und Wellen unversehrt ans Ziel bringen will? Ähneln wir einem Kreuzfahrtschiff, das erlebnishungrige Touristen mit einem abwechslungsreichen Programm bei Laune zu halten versucht? Befinden wir uns vielleicht auf einer Art Segelregatta und versuchen, auf einen der vorderen Plätze zu kommen? Oder sind wir einfach nur daran interessiert, Wind und Wellen zu genießen und die Kunst des Segelns zu beherrschen? Welche Vorstellung haben wir von dem „Schiff, das sich Gemeinde nennt“? Als die Adventgemeinde noch in den Kinderschuhen steckte, hatten die Gläubigen erstaunlich weit reichende Ziele. Die ganze Welt sollte in kürzester Zeit die Botschaft vom wiederkommenden Christus erfahren. Was an Mitteln und Mitarbeitern fehlte – und es fehlte an fast allem –, machte man durch unermüdlichen Eifer und Zielstrebigkeit wieder wett. Es war, als wollte man mit einer Segeljolle den Ozean überqueren. Inzwischen ist aus dem schwankenden Kahn längst ein stattliches Schiff geworden, das den Passagieren beachtlichen Komfort bietet. Einladende Versammlungsräume, vielfältige Angebote, eindrucksvolle Institutionen, hohes Finanzaufkommen, erstaunliche globale Zuwachsraten ... Eigentlich könnte man ganz zufrieden sein. Eigentlich schon – doch darf und muss auch gefragt werden, ob das Unternehmen „Gemeinde“ noch seinen eigentlichen Zeck erfüllt, dem ursprünglichen Anliegen gerecht wird und seiner Berufung gemäß lebt. Mit anderen Worten: Haben wir heute noch eine klare Vision von unserer Mission? Kennen wir unseren Auftrag und setzen ihn konsequent in die Tat um? Sind wir immer noch (oder wieder) begeistert von der Idee, als adventistische Christen in dieser Welt zu leben, andere Menschen zu Jesus zu führen und seine Gemeinde zu bauen? „First things first“ [Gott anbeten] „First things first“ heißt es: das Wichtigste zuerst! In der Tat sollten wir uns durch nichts davon abbringen lassen, die wirklich wichtigen Dinge anzupacken – nicht einmal von guten und dringenden Dingen. Wie leicht passiert es, dass wir von diesem und jenem gefangen genommen werden, alle möglichen nützlichen und sinnvollen Dinge erledigen – und dabei versäumen, das Eigentliche zu tun, das uns aufgetragen ist. Aber was ist das Allerwichtigste, das unbedingt Notwendige, das auf keinen Fall übersehen oder vernachlässigt werden darf? Die Bibel ist klar und eindeutig: „Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, mit ganzem Willen und mit deinem ganzen Verstand!“ (Mt 22,37GNB) Das ist das größte Gebot, die wichtigste Aufgabe, unsere eigentliche Bestimmung. Gott selber beansprucht unsere volle Aufmerksamkeit; er möchte im Mittelpunkt unseres Lebens stehen und unsere kostbarste Zeit füllen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, Gott nähme sich zu wichtig, wenn er den ersten Platz in unserem Leben für sich beansprucht. Ist er vielleicht ein egoistischer Liebhaber, der eifersüchtig darüber wacht, dass der andere nicht fremdgeht? Sind seine Gebote ein unbequemer Keuschheitsgürtel, der verhindern soll, dass die Braut Jesu ihr Leben selbstbewusst und unabhängig gestaltet? Hat Satan am Ende Recht, wenn er uns einreden will, Gott sei ein liebloser Herrscher, dessen Gesetz unsere Freiheit einschränkt und unsere Entfaltung verhindert? Jesus durchschaute diese uralte Lüge des Versuchers und antwortete ihm klar und bestimmt: „Vor dem Herrn, deinem Gott, wirf dich nieder, ihn sollst du anbeten und niemand sonst.“ (Mt 4,10 GNB) Keine halben Sachen, kein geteiltes Herz, keine faulen Kompromisse, stattdessen ein eindeutiges und entschiedenes „Gott allein“. Jesus hat uns diese Haltung konsequent vorgelebt. Wir können nichts Besseres tun, als seinem Vorbild zu folgen. „In Wirklichkeit [lebe] nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“, schreibt Paulus (Gal 2,20 GNB). „Soli Deo Gloria“ – allein Gott die Ehre, war Johann Sebastian Bachs Lebensmotto. „...von dir allein sei mein Geist erfüllt“, singen wir heute im Gottesdienst. Meinen wir es auch so? In der Tat: der tiefste Sinn unseres Lebens liegt in Gott – nicht in uns selber, in anderen Menschen oder in irgendwelchen Dingen und Tätigkeiten. ER ist der wahre Mittelpunkt und Grund unseres Daseins. Echte Erfüllung, inneren Frieden und dauerhafte Zufriedenheit finden wir nur in der ungeteilten Ausrichtung auf ihn und seinen Plan für unser Leben. „First things first.“ Deshalb ist die Anbetung Gottes unsere erste und wichtigste Aufgabe. Gott zu loben und für ihn zu leben ist unsere größte Freude. Unser ganzes Leben ist Gottesdienst. Gemeinsam sind wir stark. [Gemeinde bilden] Wenn wir Gott die erste Stelle in unserem Leben einräumen, findet alles andere seinen richtigen Platz – auch wir selber. Wir wissen dann beispielsweise, zu wem wir gehören. Wer nicht weiß, wohin er gehört, ist heimatlos, haltlos, orientierungslos. Doch nun gilt: „Ihr alle seid jetzt mündige Söhne und Töchter Gottes – durch den Glauben und weil ihr in engster Gemeinschaft mit Jesus Christus verbunden seid.“ (Gal 3,26 GNB) Durch ihn gehören wir zusammen wie die Teile eines Ganzen. Als Kinder Gottes sind wir Teil seiner großen Familie. Durch die Taufe werden wir in den Körper eingegliedert, dessen Kopf Christus ist. Auch die kleinste Gemeinde oder Zellgruppe – und seien es auch nur zwei oder drei (Mt 18,20) – ist sichtbarer Ausdruck der universalen Gemeinde, die die Gläubigen aller Zeiten, Regionen und Kulturen miteinander vereint. Wir Menschen sind zur Gemeinschaft geschaffen. Nur so erleben wir Geborgenheit, erfahren Solidarität und begreifen, was Liebe ist. Und nur gemeinsam sind wir wirklich stark. Wie heißt es in dem eingangs erwähnten Lied: „Das Schiff, das sich Gemeinde nennt, muss eine Mannschaft sein, sonst ist man auf der weiten Fahrt verloren und allein.“ Und: „Viel Freunde sind mit unterwegs auf gleichen Kurs gestellt. Das gibt uns wieder neuen Mut, wir sind nicht mehr allein.“ Wir brauchen Gemeinde, damit unser Glaube wachsen und reifen kann. Wir brauchen Gemeinde, weil unsere innere Verbundenheit mit Christus nur im liebevollen Miteinander seiner Jünger sichtbar wird, wie Dietrich Bonhoeffer betonte. „Folge mir!“ [Jesus nachfolgen] Was Christsein im Kern bedeutet, lässt sich in zwei Worten kurz, aber treffend zum Ausdruck bringen:. „Folge mir!“ sagte Jesus und stellte die Menschen damit vor die Entscheidung, ihm zu vertrauen oder sich von ihm abzuwenden. Wer ihm folgte, gehörte fortan zum Kreis seiner „Jünger“ – zum engsten Kreis der Zwölf, zur Schar der Siebzig oder zu den vielen Namenlosen, die ihn für den verheißenen Messias-König hielten. Bis heute hat sich daran nichts Wesentliches geändert. Christ wird man, indem man sich öffentlich zu Christus bekennt und sich einreiht in die Gemeinde seiner Jünger, die ihm nachfolgen. Das verlangt Mut und Ausdauer. „Nur wer das Wagnis auf sich nimmt, erreicht das große Ziel.“ Zugegeben, das Wort „Jünger“ oder „Nachfolger“ mag nicht mehr zeitgemäß klingen. Heute redet man eher von Fans oder einer Fan-Gemeinde, die sich durch Begeisterungsfähigkeit und Loyalität auszeichnet. Doch Jünger sind mehr als begeisterte Anhänger, die ihrem Star im Stadion (in der Kirche?) zujubeln und lautstark anspornen. Als Jünger bzw. Nachfolger von Jesus folgen wir selber seinem Vorbild. Wir orientieren uns an seinem Leben: an seiner totalen Hingabe an Gott, seinem liebevollen Umgang mit Menschen, seiner engen Bindung an Gottes Wort. Wir lassen unseren eigenen Charakter nach seinem Bild formen, um zur geistlichen Reife zu gelangen. Unser persönlicher Lebensstil wird durch lebens- und wachstumsfördernde Gewohnheiten geprägt. Weitersagen! [Glauben bekennen] Wenn Jesus uns in seine Nachfolge ruft, hat er mehr im Auge als unser eigenes Wohlergehen. Er denkt immer auch an die anderen, die ihn noch nicht kennen. Gott will, dass alle Menschen aus der Verlorenheit ihres fehlgeleiteten Lebens gerettet werden. Sie sollen die Einladung erhalten, mit Gott neu zu beginnen. Deshalb sendet er seine Jünger/Nachfolger in die ganze Welt, um das Evangelium – die gute Nachricht von der Liebe Gottes und vom Heil in Christus – in allen Sprachen und Kulturen zu bezeugen. Sein heiliger Geist erfüllt die Gläubigen und macht sie frei, ihren Glauben und ihre Hoffnung mutig zu bekennen. Jünger sind Zeugen. Berufen – begabt – beauftragt [Gabenorientiert dienen] Gott anbeten, Gemeinde bilden, Jesus nachfolgen, Glauben bekennen – das macht unser Christsein im Kern aus. Dabei gibt es viele Wege, wie dies geschehen kann. Wir dienen Gott und unseren Mitmenschen mit den Gaben und Fähigkeiten, die er uns gegeben hat und geben will. Sie sind so unterschiedlich wie die Bedürfnisse der Menschen, so verschieden wie die Kulturen, so individuell wie unsere Persönlichkeiten. Ob innerhalb der Gemeinde oder mitten in der Welt – unser gabenorientierter Dienst in der Gesellschaft ist Ausdruck unserer Hingabe an Gott und den Nächsten. Im Dienen wird Glaube glaubwürdig, Hoffnung sichtbar, Liebe erlebbar. Kennst du deine Mission, deinen Auftrag, deine Bestimmung? Literaturempfehlung: Rick Warren, Kirche mit Vision, und ders., Leben mit Vision.