Dietmar von der Pfordten Vorlesung Theorie und Methoden des Rechts 4. Vorlesung: Theorien der Methode Die Darstellung und Diskussion der Theorie beginnt im 19. Jahrhundert, indem die Theoriediskussion zum erstenmal hauptsächlich von fachlich qualifizierten Juristen und nicht von Philosophen, wie Kant, Fichte oder Hegel geprägt wurde. Eine Folge ist die Ablösung vom abstrakten Naturrecht und die stärkere Hinwendung zum positiven Recht. Die herausragenden Autoren sind neben Gustav Hugo v. a. die Römischrechtler Friedrich Carl v. Savigny, Georg Friedrich Puchta und Rudolf v. Jhering. Das Römische Recht war als gemeines Recht vor Erlaß des BGB in Deutschland führend und prägend. Das Studium dieser Autoren ist außerordentlich erhellend, weil sich hier eine Alternative zu der heutigen Orthodoxie der Normtheorie von Kelsen, Hart und Dworkin zeigt. I. Friedrich Carl v. Savigny und die historische Rechtsschule Friedrich Carl v. Savigny (1779-1861) war einer der Hauptvertreter der sog. historischen Rechtsschule. Die historische Rechtsschule realisierte die am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts, etwa bei Herder, Hegel und Schelling, aufkommende besondere Berücksichtigung der Geschichte. Sie zeichnet sich entsprechend durch eine Betonung der Historizität des Rechts aus. Äußere Folge davon ist vor allem der Ausgang von den Rechtsquellen. Es gibt von Savigny drei Werke aus sehr unterschiedlichen Lebensepochen, die für die Rechtstheorie und Methodenlehre relevant sind: 2 1. Die sehr frühe Vorlesungsmitschrift „Juristische Methodenlehre“ von Jacob Grimm 1801/18021 Hier geht Savigny noch vom Staat und seiner Gesetzgebung aus. Noch ist – wie bei vielen Aufklärungstheoretikern – das staatliche Gesetz die entscheidende Rechtsquelle,2 nicht wie später das Volk bzw. der Volksgeist. Die Rechtswissenschaft ist folglich Gesetzgebungswissenschaft. In dieser Vorlesung zeigen sich noch viele Einflüsse der klassischen bzw. idealistischen deutschen Philosophie, v. a. Kants. Das Gesetz soll in Anlehnung an den Kantschen Rechtsbegriff entscheiden, wie weit die Willkür des einen von der Willkür des anderen abhängen darf.3 Savigny nennt zwei gleichberechtigte Arten der juristischen Arbeit: die historische und die philosophische = systematische. Das Gesetz soll vollständig objektiv sein. Alles Wissen von einem objektiv Gegebenen nennt man historisch. Folglich ist die Rechtswissenschaft historisch. Das bedeutet im Ergebnis: Sie ist von der reinen historischen Aufnahme abgesehen philologisch. Sie ist aber auch philosophisch, d. h. systematisch. Ihr innerer Zusammenhang muß eine Einheit produzieren. Die Jurisprudenz ist also auch philosophische Wissenschaft im Sinne einer Systemwissenschaft. Spezifische philosophische Kenntnisse, etwa des Naturrechts, sollen für den Juristen aber nicht notwendig sein.4 Bei der Interpretation des Gesetzes, d. h. der historischen bzw. philologischen Bearbeitung, muß der Interpret den im Gesetz liegenden Gedanken nachdenken, Friedrich Karl von Savigny, Juristische Methodenlehre, hg. von Gerhard Wesenberg, Stuttgart 1951, Ebenda, S. 14 3 Ebenda, S. 14. 4 Ebenda, S. 50. 1 2 3 den Inhalt des Gesetzes „nachfinden“.5 Savigny unterscheidet bereits den logischen (Verhältnis der Teile), grammatischen (Sprache) und historischen Aspekt der Auslegung.6 Alle Teile sollen im Verhältnis eines organischen Ganzen stehen. Savigny schreibt: „Alle Notwendigkeit, alle Gewißheit, die man durch Kritik erhält resultierte daraus, daß der Begriff eines organischen Ganzen angenommen wurde.“7 Der Übergang von mechanistischen zu solchen organizistischen Vorstellungen ist ein Kennzeichen der neuen historischen bzw. romantischen Richtung. Da der Gesetzgeber nur ein Ganzes ausspricht, muß die Interpretation „immer so ausfallen, daß sich das einzelne wider ans Ganze anpaßt, um so das einzelne verstehen zu können.“8 Kein einzelner Teil ist ohne das Ganze zu verstehen. Das ist ganz Hegelianisch gedacht. Betont werden auch die historischen Vorkenntnisse der Jurisprudenz. Dieser historische Charakter ist unentbehrlich.9 Innerhalb der systematischen Bearbeitung der Jurisprudenz formuliert Savigny unter der Überschrift „Entwicklung der Begriffe“: Soll ein einzelner Rechtssatz erkannt werden, „so müssen die in ihm liegenden Begriffe entwickelt, oder, was dasselbe sagt, Definitionen und Distinktionen gegeben werden. Es kommt hierbei darauf an, den Weg, den die Gesetze selbst gehen, zu gehen – auf genetische Treue besonders auf Zeigen der Gegensätze “10 Im System darf kein Begriff vorgetragen werden, ohne ihn auf einen Rechtssatz anzuwenden. Jeder Begriff muß juristische Realität haben. Begriffe bestimmen das System, auf falsche Begriffe folgen falsche Interpretationen. Um eine Treue bei der Genealogie der Begriffe in der Gesetzgebung zu erlangen, ist die Etymologie ein ganz vorzügliEbenda, S. 18. 6 Ebenda, S. 19. 7 Ebenda, S. 21. 8 S. 25. 9 S. 31f. 10 S. 37. 5 4 ches Hilfsmittel. Sie ist wichtiger als die Ausführung des Begriffs in Worten, also die Nominaldefinition.11 Hier zeigt sich wieder die Betonung des Historischen. Was die Methoden im engeren Sinn anbelangt, verwirft Savigny eine den Wortlaut mit Bezug auf den Grund des Gesetzes (ratio legis) einschränkende oder ausdehnende Interpretation, also in modernen Worten die objektive bzw. teleologische Interpretation und die teleologische Reduktion.12 Die Vervollkommnung der Gesetze ist nur durch den Gesetzgeber möglich, nicht durch den Richter. Die Analogie ist aber zulässig.13 Die historische Rechtsschule schneidet also alle objektiven bzw. teleologischen Formen der Interpretation weg: die teleologische Auslegung, die Lückenfüllung durch teleologische Reduktion und die Rechtsfortbildung praeter legem. 2. Die Streitschrift gegen Thibaut von 1814: „Vom Beruf unserer Zeit für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung“: Hierbei handelt es sich um eine Streitschrift gegen Thibauts Befürwortung einer Kodifikation in Anlehnung an den Code Civil von 1805 und das ABGB von 1811. Die zentrale Veränderung besteht darin, daß das gemeinsame Bewußtsein des Volkes, d. h. der „Volksgeist“ zur zentralen Rechtsquelle wird. Das bürgerliche Recht ist nach Savigny „dem Volk eigentümlich, so wie seine Sprache, Sitte Verfassung. Ja, diese Erscheinungen haben kein abgesondertes Daseyn, es sind nur einzelne Kräfte und Thätigkeiten des einen Volkes, in der S. 38. S. 39-42. 13 S. 43. 11 12 5 Natur untrennbar verbunden, und nur unsrer Betrachtung als besondere Eigenschaften erscheinend. Was sie zu einem Ganzen verknüpft, ist die gemeinsame Überzeugung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Nothwendigkeit, welches allen Gedanken an zufällige und willkührliche Entstehung ausschließt.“14 Er spricht von einem organischen Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes. Dies führt auch zu einer Betonung der nationalen Rechtskulturen, bei den Römischrechtlern aber vor dem Hintergrund der gemeineuroäischen Gemeinsamkeit des Römischen Rechts. Bei steigender Kultur sondern sich aber die Tätigkeiten des Volkes immer mehr. Was sonst gemeinschaftlich betrieben wurde fällt nun einzelnen Ständen anheim, für das Recht dem Bewußtsein der Juristen, von welchen das Volk nunmehr in dieser Funktion repräsentiert wird. Das Recht hat nun ein doppeltes Leben, einmal als Teil des ganzen Volkslebens, was es zu sein nicht aufhört, dann aber als besondere Wissenschaft in den Händen der Juristen.15 Es gibt natürliches Recht und gelehrtes Recht. Alles Recht entsteht somit auf die Weise, welche der herrschende, aber nicht ganz passende Sprachgebrauch „Gewohnheitsrecht“ nennt, d. h. daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird.16 Beim Juristenrecht wird die Begriffsbildung zentral: Savigny formuliert folgende Dreieckecksmetapher zur Veranschaulichung der Vollständigkeit der Begriffe, wobei die Methodik noch nicht auf die Begriffsanalyse beschränkt ist: „In jedem Dreyeck nämlich giebt es gewisse Bestimmungen, aus deren Verbindung zugleich alle übrigen mit Nothwendigkeit folgen: durch diese, z.B. durch zwey Seiten und den zwischenliegenden Winkel, ist das Dreyeck gegeben. Auf Thibaut und Savigny, Ihre programmatischen Schriften, 2. Aufl., München 2002, S. 65. S. 67. 16 S. 68 14 15 6 ähnliche Weise hat jeder Theil unseres Rechts solche Stücke, wodurch die übrigen gegeben sind: wir können sie die leitenden Grundsätze nennen. Diese heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den innern Zusammenhang und die Art der Verwandtschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu erkennen, gehört eben zu den schwersten Aufgaben unserer Wissenschaft, ja es ist eigentlich dasjenige, was unsrer Arbeit den wissenschaftlichen Charakter giebt …“17 „Es ist oben gezeigt worden, dass in unsrer Wissenschaft aller Erfolg auf dem Besitz der leitenden Grundsätze beruhe, und gerade dieser Besitz ist es, der die Größe der Römischen Juristen begründet. Die Begriffe und Sätze ihrer Wissenschaft erscheinen ihnen nicht wie durch ihre Willkühr hervorgebracht, es sind wirkliche Wesen, deren Daseyn und deren Genealogie ihnen durch langen vertrauten Umgang bekannt geworden ist. Darum eben hat ihr ganzes Verfahren eine Sicherheit, wie sie sich sonst außer in der Mathematik nicht findet, und man kann ohne Uebertreibung sagen, dass sie mit ihren Begriffen rechnen. Diese Methode aber ist keineswegs das ausschließende Eigenthum eines oder weniger großen Schriftsteller, sie ist vielmehr Gemeingut Aller, und obgleich unter sie ein sehr verschiedenes Maß glücklicher Anwendung vertheilt war, so ist doch die Methode überall dieselbe.“18 (3) Das späte Hauptwerk „System des heutigen Römischen Rechts“ von 1840 in acht Bänden 17 18 S. 71 S. 73. 7 Vorrede S. XIVf: „Die geschichtliche Ansicht der Rechtswissenschaft wird völlig verkannt und entstellt, wenn sie häufig so aufgefaßt wird, als werde in ihr die aus der Vergangenheit hervorgegangene Rechtsbildung als ein Höchstes aufgestellt, welchem die unveränderte Herrschaft über Gegenwart und Zukunft erhalten werden müsse. Vielmehr besteht das Wesen derselben in der gleichmäßigen Anerkennung des Wertes und der Selbständigkeit jedes Zeitalters, und sie legt nur darauf das höchste Gewicht, daß der lebendige Zusammenhang erkannt werde, welcher die Gegenwart an die Vergangenheit knüpft, und ohne dessen Kenntnis wir von dem Rechtszustand der Gegenwart nur die äußere Erscheinung wahrnehmen, nicht das innere Wesen begreifen.“ „Ich setze das Wesen der systematischen Methode in die Erkenntnis und Darstellung des inneren Zusammenhangs oder der Verwandtschaft, wodurch die einzelnen Rechtsbegriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verbunden werden.“ (Vorrede S. XXXVI) Entscheidend für die wissenschaftliche Behandlung des Rechts sind die Rechtsinstitute (Vorrede S. XLII). Ausgangspunkt sind die Rechtsquellen und hier der Begriff des Rechtsverhältnisses (=das auf bestimmte Weise geregelte Zusammenleben mehrerer Menschen. Und dann heißt es: „Betrachten wir den Rechtszustand, so wie er uns im wirklichen Leben von allen Seiten umgibt und durchdringt, so erscheint uns darin zunächst die der einzelnen Person zustehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht, und mit unserer Einstimmung herrscht. Diese Macht nennen wir ein Recht dieser Person, gleichbedeutend mit Befugniß. Manche nennen es das Recht im subjectiven Sinn. Ein solches Recht erscheint vorzugsweise in sichtbarer Gestalt, wenn es bezweifelt oder bestritten, und nun das Daseyn oder der Umfang desselben durch ein richterliches Urteil anerkannt wird.“ (S. 7) 8 Das Urteil bedarf selbst einer tieferen Form: des Rechtsverhältnisses, „von welchem jedes einzelne Recht nur eine besondere, durch Abstraktion ausgeschiedene Seite darstellt, so daß selbst das Urteil über das einzelne Recht nur insofern wahr und überzeugend sein kann, als es von der Gesamtanschauung des Rechtsverhältnisses ausgeht. Das Rechtsverhältnis aber hat eine organische Natur, und diese offenbart sich theils in dem Zusammenhang seiner sich gegenseitig tragenden und bedingenden Bestandteile, theils in der fortschreitenden Entwicklung, die wir in demselben wahrnehmen, in der Art seines Entstehens und Vergehens (S. 7). „Das Urtheil über das einzelne Recht ist nur möglich durch Beziehung der besonderen Thatsachen auf eine allgemeine Regel, von welcher die einzelnen Rechte beherrscht werden: das Recht im objektiven Sinn. Sie erscheint in sichtbarer Gestalt besonders in dem Gesetz, welches ein Ausspruch der höchsten Gewalt im Staate über die Rechtsregel ist. (S. 9) Aber auch die „Rechtsregel, so wie deren Ausprägung im Gesetz, hat ihre tiefere Grundlage in der Anschauung des Rechtsinstituts, und auch dessen organische Natur zeigt sich sowohl in dem lebendigen Zusammenhang der Bestandtheile, als in seiner fortschreitenden Entwicklung.“ (S. 9) Jedes Rechtsverhältnis steht unter einem entsprechenden Rechtsinstitut als seinem Typus und wird von diesem auf gleiche Weise beherrscht, wie das einzelne Rechtsurteil von der Rechtsregel (S. 9). Alle Rechtsinstitute sind zu einem System verbunden und können nur in dem großen Zusammenhang dieses Systems, in welchem wieder dieselbe organische Natur erscheint, vollständig begriffen werden (S. 10). Die Verschiedenheit zwischen einem einzelnen Rechtsverhältnis und dem positiven Recht einer einzelnen Nation ist ungeheuer. Aber sie liegt nach Savigny nur in den Dimensionen. Dem Wesen nach sind sie nicht verschieden. Savigny definiert Rechtsquellen 9 als Entstehungsgründe des allgemeinen Rechts (S. 11). Nicht darunter fallen also die Entstehungsgründe einzelner Rechtsverhältnisse, etwa Verträge. Das Recht lebt nach Savigny im gemeinsamen Bewußtsein des Volkes. Deshalb nennt er es „Volksrecht“. Es ist der in allen Einzelnen lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt, das also für das Bewußtsein jedes einzelnen nicht zufällig, sondern notwendig Recht ist (S. 14). Savigny geht also von einer „unsichtbaren Entstehung“ des positiven Rechts aus: „Die Gestalt aber, in welcher das Recht in dem gemeinsamen Bewußtsein des Volkes lebt, ist nicht die der abstrakten Regel, sondern die lebendiger Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang, so daß, wo das Bedürfnis entsteht, sich der Regel in ihrer logischen Form bewußt zu werden, diese erst durch einen künstlichen Prozeß aus jener Totalanschauung gebildet werden muß.“ (S. 16) Wie bei der Sprache steht die Fortbildung unter dem Gesetz der Erzeugung aus innerer Kraft und Notwendigkeit, unabhängig von Zufall und individueller Willkür, wie die ursprüngliche Entstehung. In der Jugendzeit der Völker ist die Rechtsbildung am freiesten und kräftigsten. „Organe“ des Volksrechts sind die Gesetzgebung und die Rechtswissenschaft (S. 18). Die Theorie Savignys ist im übrigen nicht völkisch, denn was in dem einzelnen Volk wirkt, ist nur der allgemeine Menschengeist, der sich in ihm auf individuelle Weise offenbart (S. 21). Die leibliche Gestalt der geistigen Volksgemeinschaft ist der Staat (S. 22). Das Gesetz ist ein äußerlich erkennbares Dasein des Rechts. Es ist Organ des Volksrechts (S. 39). Dabei ist der Gesetzgeber Vertreter des Volksgeistes. Es ist in dieser Hinsicht ganz gleichgültig, ob es sich dabei um den Fürsten, den Senat oder das Parlament handelt. Der Zweck des Gesetzes besteht in der ergänzenden Nachhilfe für das positive Recht und in der Unterstützung seines allmählichen Fortschreitens. Gesetzliches Recht und Gewohnheitsrecht haben eine gleichrangige Stellung. 10 Dem Gesetzgeber muß „die vollständige Anschauung des organischen Rechtsinstituts“ vorschweben, wenn das Gesetz seinem Zweck entsprechen soll, und er muß durch einen künstlichen Prozeß aus dieser Totalanschauung die abstracte Vorschrift des Gesetzes bilden: ebenso muß derjenige, der das Gesetz anwenden soll, durch einen umgekehrten Prozeß den organischen Zusammenhang hinzufügen, aus welchem das Gesetz gleichsam einen einzelnen Durchschnitt darstellt. Neben dem Gewohnheitsrecht und dem Gesetz kennt Savigny als dritte Rechtsquelle das wissenschaftliche Recht. Hier handelt es sich um die Rechtsauffassung des Standes der Rechtskundigen, also nicht nur um diejenige der Richter. Ein gesunder Zustand des Rechts ist nur dort vorhanden, wo die rechtsbildenden Kräfte harmonisch zusammenwirken, also keine derselben von den anderen sich isoliert. Beim Inhalt des Volksrechts unterscheidet Savigny: - individuelles, jedem Volke besonders angehörendes - allgemeines, gegründet auf das Gemeinsame der menschlichen Natur. Allgemeine Aufgabe des Rechts ist die sittliche Bestimmung der menschlichen Natur. Die sittliche Natur des Rechts besteht in der Anerkennung der überall gleichen sittlichen Würde und Freiheit des Menschen (S. 55). Im römischen Recht besteht nach der Rezeption als gemeines Recht eine Identität des Gewohnheitsrechts mit dem wissenschaftlichen Recht. II. Georg Friedrich Puchta (1798-1846) und die sog. „Begriffsjurisprundenz“ Der zweite bedeutende Vertreter der historischen Rechtsschule war Georg Friedrich Puchta. Der zentrale rechtstheoretische Text ist bei ihm das erste Buch des sog. Cursus der Institutionen“ (1. Aufl 1841/1842), 10. Aufl. 1893, aus die- 11 ser Aufl. wird zitiert). Die „Institutionen“ waren als eine Art Einführungslehrbuch Teil des Corpus Juris Civilis gewesen. Das Buch Puchtas beginnt im „ersten Buch“ als „Encyclopädie“. Den Anfang macht eine „philosophische Grundlage“, die in der Tradition von Kant und Hegel die menschliche Freiheit als Grundlage allen Rechts bezeichnet. Der abstrakte Begriff der Freiheit lautet: „Möglichkeit sich zu etwas zu bestimmen“ (S. 5). Puchta sieht das subjektive Recht als obersten Begriff des Rechts an. Im übrigen ist die Auffassung derjenigen Savignys sehr ähnlich. Historische und systematische Behandlung sind gleichberechtigt: „So hat die Wissenschaft des Rechts zwey Seiten, eine systematische und eine historische, in deren gleichmäßiger Auffassung die wahre Rechtswissenschaft besteht. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß eine wissenschaftliche Forschung und Darstellung in einem besonderen Fall vorzugsweise auf die eine oder andere sich richte. Nicht die Hervorhebung einer Seite des Ganzen ist ein einseitiges Verfahren, nur der ist einseitig zu nennen, welcher eine Seite als Ganzes behandelt.“ (S. 56). Das Recht ist ein lebendiger Organismus (S. 56). Das Volk und der Volksgeist (S. 18) sind wie bei Savigny die letzte Grundlage des Rechts (S. 13). Der Staat ist anders als das Volk keine natürliche Verbindung. Das Recht entsteht nicht durch den Staat. Dieser setzt vielmehr ein rechtliches Bewußtsein, ein Recht schon voraus, welches zu schützen seine Hauptaufgabe ist (S. 17). Als die drei Rechtsquellen – nach Puchta „Organe, welche dem Recht diese seine sichtbare Gestalt geben“ – werden wie bei Savigny genannt: das Gewohnheitsrecht, das Gesetzesrecht und das wissenschaftliche Recht (S. 18). Das Recht besteht aus Rechtssätzen, die zu Rechtsinstituten zusammengefaßt werden (S. 8). Hier liegt der zentrale Unterschied zu Savigny darin, daß diese Institute nicht durch unmittelbare Anschauung erkannt werden. Das eröffnet einen größeren Spielraum für die begriffliche Konstruktion. 12 Die Historizität der Theorie Puchtas zeigt sich z. B. in der Tatsache, daß sofort nach der „Philosophischen Grundlage“ von der „Entstehung“ des Rechts gehandelt wird. Das Puchtabild war bis vor kurzem v. a. durch Larenz’ Charakterisierung Puchtas als Hauptvertreter der „Begriffsjurisprudenz“ geprägt worden.19 Puchta soll nach Larenz die Rechtswissenschaft „auf den Weg des logischen Systems im Sinne einer ‚Begriffspyramide’ verwiesen und damit ihre Entwicklung zur ‚formalen Begriffsjurisprudenz’ entschieden haben“. Puchta soll nach Larenz der Auffassung gewesen sein, daß sich Begriffe zerlegen und definieren lassen und die Methode des Rechts darin bestehe, Begriffe und damit dann auch Rechtssätze im Wege einer „Genealogie der Begriffe“ aus höchsten Begriffen abzuleiten.20 Nun war Larenz selbst Hegelianer und man muß immer Hegels Kritik an einer bloßen Begriffsanalyse der Philosophie berücksichtigen. Die Begriffe sind nach Hegel bloße „abstrakte Verstandesbestimmungen“. In § 1 von Hegels „Rechtsphilosophie“ heißt es: „Die Philosophie hat es mit Ideen und darum nicht mit dem, was man bloße Begriffe zu heißen pflegt, zu tun, sie zeigt vielmehr deren Einseitigkeit und Unwahrheit auf, sowie daß der Begriff (nicht das, was man oft so nennen hört, aber nur eine abstrakte Verstandsbestimmung ist) allein es ist, was Wirklichkeit hat und zwar so, daß er sich diese selbst gibt. Alles was nicht diese durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf. Die Gestaltung welche sich der Begriff in seiner Verwirklichung gibt, ist zur Erkenntnis des Begriffes selbst das andere, von der Form nur 19 20 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 29-24. Larenz, S. 22. 13 als Begriff zu sein, unterschiedene wesentliche Moment der Idee.“ (S. 29 der Suhrkamp Werkausgabe Band 7). Das ist der Ursprung der später bei vielen – etwa Stammler und Radbruch – wirkungsmächtig gewordenen Vorstellung vom Bezug des Rechts auf die Rechtsidee.21 Larenz’ Verständnis von Puchta ist also wesentlich von dieser Kritik an einer bloß formalen Begriffsjurisprudenz geprägt. In Wahrheit spielt die Begriffsanalyse bei Puchte eine geringere Rolle als Larenz sie zeichnet. Sie war viel organizistischer und historischer und nicht strikt logisch deduktiv. Puchta beginnt in seinem Werk auch gar nicht mit den Begriffen, sondern mit den „Rechtssätzen“: „Die einzelnen Rechtssätze, die das Recht eines Volkes bilden, stehen in einem organischen Zusammenhang unter einander, der sich zuvörderst durch ihr Hervorgehen aus dem Geist des Volkes erklärt, indem sie Einheit dieser Quelle sich auf das durch sie Hervorgebrachte erstreckt. …. Wie nun die Sprache eines Volkes aus demselben Grund auf gewissen Prinzipien und Regeln beruht, die in ihr selbst unausgesprochen liegen, von der Wissenschaft aber ans Licht und zum Bewußtsein gebracht werden, so auch das Recht. Jene Eigenschaft des Rechts, daß seine Sätze sich zu einem organischen Ganzen als Glieder desselben zusammenschließen, ist aber auch durch seine Natur, durch die Vernunftmäßigkeit, die ihm zukommt, gegeben. … So wird das Recht, obwohl aus der Freiheit stammend, durch die natürliche Notwendigkeit seiner Gegenstände bedingt, es ist etwas Vernünftiges. Dadurch erhalten seine Sätze den systematischen Zusammenhang, daß sie sich gegenseitig bedingen und voraussetzen, daß von der Existenz des einen auf die des anderen ein Schluß möglich ist. Die Rechtssätze z. B., erstens, daß der Eigentümer eine mittelbare Herrschaft über 21 Dietmar von der Pfordten, Die Rechtsidee bei ….. 14 die Sache hat, wodurch er sich von dem unterscheidet, welchem ein Anderer die Sache erst zu geben schuldig, dem also nur diese Handlung des Andern, noch nicht die Sache unterworfen ist, und zweitens, daß der Eigentümer von jedem, der sie ihm vorenthält, die Sache vindiciren kann, – diese Sätze sind nicht gleichgültig gegen einander, so daß der eine, ohne den anderen zu berühren, anders sein könnte, sondern sie hängen notwendig zusammen, setzen einander voraus, sie lassen sich auseinander folgern.“ (S. 21f.) Und dann heißt es: „Es ist nun Aufgabe der Wissenschaft, die Rechtssätze in ihrem systema-tischen Zusammenhang, als einander bedingende und von einander abstammende, zu erkennen, um die Genealogie der einzelnen bis zu ihrem Princip hinauf zu verfolgen, und eben so von den Principien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können. Bei diesem Geschäft werden Rechtssätze zum Bewußtsein gebracht und zu Tage gefördert werden, die in dem Geist des nationellen Rechts verborgen, weder in der unmittelbaren Überzeugung der Volksglieder und ihren Handlungen, noch in den Aussprüchen des Gesetzgebers zur Erscheinung gekommen sind, die also erst als Product einer wissenschaftlichen Deduction sichtbar entstehen. So tritt die Wissenschaft als dritte Rechtsquelle zu den ersten beiden; das Recht, welches durch sie entsteht, ist Recht der Wissenschaft, oder da es durch die Thätigkeit der Juristen ans Licht gebracht wird, Juristenrecht.“ (S. 22) Larenz spricht mit Verweis auf diese Stellen von einem „logischen Zusammenhang der Begriffe“ und einer „Genealogie der Begriffe“, obwohl der Ausdruck „Begriff“ hier überhaupt nicht vorkommt. Er unterscheidet nicht klar zwischen Rechtssatz und Begriff. Das ist interpretatorisch nicht überzeugend. 15 Erst fast vierzig Seiten später bei der Frage der systematischen bzw. philosophischen Erkenntnis des Rechts kommen bei Puchta dann wirklich die Begriffe ins Spiel, aber eben nicht als logische Deduktion: „Nur die systematische Kenntnis des Rechts ist eine vollständige. Vor allem äußerlich, indem sie allein die Sicherheit gewährt, alle Teile des Rechts zu umfassen. Würden wir das Recht als ein bloßes Aggregat von Rechtssätzen betrachten, so wären wir nie gewiß, den ganzen Umfang desselben uns zu eigen gemacht zu haben; wie von einem Steinhaufen ein Theil fehlen kann, ohne daß der Beschauer den Mangel inne wird, während wenn sie zu einem Kunstwerk verbunden sind, jeder fehlende Stein sich sogleich als Lücke offenbart, und umgekehrt die Grenze des ganzen genau zu bestimmen ist. Aber auch innerlich ist jene Kenntnis allein die vollständige, weil das Recht selbst ein System ist, so daß nur, wer es als solches erkennt, seine Natur vollkommen erfaßt. Der nun besitzt diese systematische Kenntnis, welcher des Zusammenhangs der Rechtssätze sich bemächtigt, ihre Verwandtschaft untereinander erforscht hat, so daß er die Abstammung eines jeden Begriffs durch alle Mittelglieder, die an seiner Bildung Anteil haben, auf- und abwärts zu verfolgen vermag. Wenn wir z. B. das einzelne Recht, über ein Grundstück zu gehen, welches der Eigenthümer dieses Grundstücks dem Eigenthümer eines benachbarten bestellt hat, betrachten, so muß dem Juristen teils seine Stellung im System der Rechtsverhältnisse, teils der Rechte, also seine Herkunft bis zu dem Begriff des Rechts hinauf zum Bewußtsein kommen, und er muß ebenso von diesem herab zu jenem einzelnen Recht gelangen können, dessen Natur erst dadurch vollkommen bestimmt wird … Ich nenne dies eine Genealogie der Begriffe, darin liegt, daß man diese Leiter nicht als ein bloßes Schema von Definitionen betrachten darf. Jeder dieser Begriffe ist ein lebendiges Wesen, nicht ein todtes Werkzeug, das bloß das Empfangene weiter befördert. Jeder ist eine Individualität, unterschieden von 16 der Inidvidualität seines Erzeugers, wie sich auch bei seinem Erzeugten wieder das Unerzeugte mit einem neuen Element, welches man, um in dem Gleichnis zu bleiben, das mütterliche nennen kann, zu einer eigenen Lebenskraft verbindet. Der Vater der Rechtsinstitute ist das Prinzip des Rechts, die Mutter der Stoff, die Mannigfaltigkeit der Menschen und Dinge; in diesem letzteren Moment liegt die Seite der Notwendigkeit in den Rechtsbildungen, ihre Vernunft, die Eigenschaft des Rechts als eines Systems. Aber nicht bloß die einzelnen Rechte läßt das System in ihrer wahren Natur und Bedeutung erkennen; auch über die Verbindung mehrerer Rechte zu einem Rechtsverhältnis, über den Einfluß, den sie aufeinander üben, die Modification, die sie durch eine solche Wechselwirkung erleiden, giebt nur die systematische Auffassung einen vollständigen zuverlässigen Aufschluß.“ (S. 57) Hier ist nun zwar von Begriffen als Grundlage einer vollständigen und systematischen Rechtserkenntnis die Rede. Und man soll auch die verschiedenen Stufen der Begriffspyramide ausfindig machen. Aber die „Genealogie der Begriffe“ soll gerade kein bloßes Schema von Definitionen sein. „Genealogie“ ist ein historistischer Begriff und kein logisch-deduktiver. Bei jeder Begriffsbildung spielt überdies der „Stoff“ der äußeren kontingenten Lebensverhältnisse eine wesentliche Rolle. Es wird also keine streng logische Deduktion behauptet.22 Das bedeutet aber, daß die Begriffsbildung nicht notwendig von systemexternen moralischen, ethischen oder politischen Faktoren abgeschnitten wird. Im übrigen behauptet Puchta nicht, daß dies die einzige Form der Rechtserkenntnis ist. Puchta schließt etwa sofort an die erwähnte Stelle der systematischen Erkenntnis die historische Erkenntnis des Rechts an. Dies ist auch das Ergebnis der Studie von Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt a. M. 2004, S. 451. 22 17 Bei Puchta läßt sich also gegenüber Savigny eine leichte Erhöhung der begriffsanalytischen Teile der Rechtsfindung konstatieren, v. a. wegen des Wegfalls der Anschauung der Rechtsinstitute. Aber diese Erhöhung ist so sehr in organische und historische Verfahren eingebettet, daß die These von einem grundlegenden Wandel von der historischen Schule zur Begriffsjurisprudenz kaum überzeugen kann. Savigny war viel philosophischer und Puchta viel historischer als diese simple Schematisierung vermuten läßt. III. Der frühe Rudolf v. Jhering (1818-1892) Auch in Jherings frühem Hauptwerk „Geist des Römischen Rechts“ wird das Recht als „objektiver Organismus der menschlichen Freiheit“ angesehen (S. 25). Die Rechtssätze sind dabei nur die äußersten praktischen Spitzen des Rechts, aber erschöpfen weder extensiv noch intensiv den realen Gehalt desselben (S. 34). Die Rechtssätze schließen sich zu Rechtsinstituten zusammen. Die systematische Tätigkeit führt dazu, daß die Rechtssätze ihre Form als Gebote und Verbote abstreifen und sich zu Elementen und Qualitäten der Rechtsinstitute gestalten. Die Begriffsbildung als Methode wird also gegenüber Puchta verschärft: „So bilden sich aus ihnen z. B. die Begriffe der Institute, der Tatbestand der Rechtsgeschäfte, die Eigenschaften der Personen, Sachen, Rechte, Einteilungen aller Art usw. Ein Laie, der gewohnt ist, sich einen Rechtssatz in imperativischer Form zu denken, würde es kaum für möglich halten. Welch bedeutender Teil des Rechtssystems sich ganz dieser Form entledigen und ebensowenig, wie bei den Rechtsbegriffen, Einteilungen usw. kurz der dogmatischen Logik eine intensivere praktische Bedeutung innewohnen kann als den Rechtssätzen. Diese 18 Logik des Rechts ist gewissermaßen die Blüte, das Präzipitat der Rechtssätze; in einem einzigen richtig gefaßten Begriff ist vielleicht der praktische Inhalt von zehn früheren Rechtssätzen aufgenommen.“ (S. 37) „Der Nutzen beschränkt sich aber nicht bloß auf diese Vereinfachung, die gewonnenen Begriffe sind nicht bloße Auflösungen der gegebenen Rechtssätze, aus denen immer nur letztere selbst sich wieder herstellen ließen, sondern ein noch höherer Vorteil liegt in der hierdurch bewerkstelligten Möglichkeit einer Vermehrung des Rechts aus sich selbst, eines Wachstums von innen heraus. Durch Kombination der verschiedenen Elemente kann die Wissenschaft neue Begriffe und Rechtsätze bilden; die Begriffe produktiv, sie paaren sich und zeugen neue. Die Rechtssätze als solche haben nicht diese befruchtende Kraft, sie sind und bleiben nur sie selbst, bis sie auf ihre einfachen Bestandteile reduziert werden und dadurch sowohl in aufsteigender als absteigender Linie zu anderen in Verwandtschaftsverhältnisse treten, d. h. ihre Abstammung von anderen Begriffen offenbaren und selbst wieder andere aus sich hervorgehen lassen. (S. 39f.)