AUSCHWITZ Die Geschichte des Vernichtungslagers Susanne

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Susanne Willems Text Frank und Fritz Schumann Fotos
A U S C H W I T Z Die Geschichte des Vernichtungslagers
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Susanne Willems (Text): Jahrgang 1959, studierte Rechtsund Geschichtswissenschaften in Freiburg und Bochum,
war Lehrbeauftragte an der Ruhr-Universität Bochum
und Leiterin der Informations- und Beratungsstelle für
NS-Verfolgte in Köln. Sie gehörte dem Vorstand der
Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und der Stiftung für
die Internationale Jugendbegegnungsstätte Auschwitz
an und ist seit 2011 Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für
deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Republik Polen ehrte sie
2005 mit dem Kavalierskreuz.
Frank Schumann (Fotos): Jahrgang 1951, absolvierte eine
Lehre als Spezialglasfacharbeiter, fuhr drei Jahre zur See
und studierte Journalistik an der Leipziger Universität.
Danach arbeitete er bei einer überregionalen Tageszeitung in Berlin, bis er 1991 den Verlag edition ost gründete.
Seither ist er als Verleger und Publizist tätig.
Fritz Schumann (Fotos): Jahrgang 1987, studiert seit 2011
an der Hochschule Hannover Fotojournalismus & Dokumentarfotografie. Er bereiste wiederholt Japan, 2013/14
absolvierte er ein Austauschsemester in Hiroshima.
Darüber publizierte er »No more Hiroshima« (edition ost,
2010), »Fukushima? War da mal was« (edition ost, 2012)
und »Japan151«, (Conbook, 2013). Die Deutsche Presseagentur zeichnete ihn mit dem 1. Preis beim »dpa news
talent 2014« aus.
Ergänzungsfotos: Archiv Museum Auschwitz-Birkenau:
Seiten 13, 22, 56, 58, 59, 68, 69, 74, 78, 97, 128, 134, 135,
136, 137, 178, 192, 193, 194, 206, 218;
Bundesarchiv Berlin: Seite 215, 221;
Gabriele Senft: Seiten 1 – 6, 201
Danksagung: Verlag und Autorin danken für die freundliche Unterstützung insbesondere den früheren und heutigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Staatlichen
Museum Auschwitz-Birkenau, dem Militärischen Archiv
in Prag und der Internationalen Jugendbegegnungsstätte
in Oświe˛cim.
Die Stadt Reinheim hat die Forschungsarbeit der Autorin
mit dem Robert-Goldmann-Stipendium gefördert.
ISBN 978-3-360-01866-3
© 2015 edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Konzept und Gestaltung: Buchgut, Berlin
Druck und Bindung: Salzland Druck, Staßfurt
Die Bücher der edition ost erscheinen in der
Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de
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DIE INDUSTRIEANSIEDLUNG
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M A S S E N V E R N I C H T U N G I M S TA M M L AG E R
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D I E M A S S E N D E P O R TAT I O N
E U R O P Ä I S C H E R J U D E N N AC H A U S C H W I T Z
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DA S F R A U E N L AG E R
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D I E O R G A N I S AT I O N D E R V E R N I C H T U N G
DURCH ARBEIT
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SINTI UND ROMA IN AUSCHWITZ-BIRKENAU
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DIE BEFREIUNG
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DA S L AG E R D E R S OWJ E T I S C H E N
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D E R A U F B A U D E S L AG E R S I N B I R K E N A U
VERELENDUNG UND MASSENVERNICHTUNG
IN AUSCHWITZ-BIRKENAU
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M A S S E N V E R N I C H T U N G U N D S K L AV E N H A LT U N G
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KO N S P I R AT I O N U N D R E VO LT E
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Z E I TTA F E L
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ANMERKUNGEN
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Den Tag der Befreiung des Lagers Auschwitz
haben die Vereinten Nationen zum Internationalen Gedenktag erklärt und der Erinnerung an die Opfer des Holocaust gewidmet.1
An jenem 27. Januar 1945 erreichten die
sowjetischen Truppen der 1. Ukrainischen
Front das Terrain des Konzentrations- und
Vernichtungslagers Auschwitz. Mehr als
7.000 Gefangene, unter ihnen mehrere hundert Kinder, verdanken ihre Rettung der
vorgezogenen Offensive der Roten Armee,
die das oberschlesische Industrierevier
von der deutschen Kriegswirtschaft abschnitt. In den Kämpfen um die Befreiung
der Stadt Oświęcim verloren 231 Rotarmisten ihr Leben, 66 fielen auf Auschwitzer
Lagergelände.
_ Bei der Räumung der Auschwitzer Lager
hatte die SS die marschunfähigen Gefangenen zurückgelassen. Nach dem Abzug
der SS-Wachposten blieben sie von patrouillierender SS und von marodierender
Wehrmacht bedroht. Und es trafen Spezialkommandos der SS ein, die Gefangene kolonnenweise aus den Lagern zur Exekution
führten. Diesen systematischen Massakern
fielen noch 700 Menschen zum Opfer. Erst
am 25. Januar gaben die Mordkommandos
auf, um sich eilends nach Westen abzusetzen.
Nachdem die SS große Teile der Lagerakten
vernichtet und mehrere Magazinbaracken
mit der den Deportierten geraubten Habe
in Brand gesetzt hatte, sprengte sie in der
Nacht zum 26. Januar auch das letzte funktionsfähige Krematorium in Birkenau.
_ »Unseren Augen bot sich ein schreckliches Bild: eine riesige Anzahl von Baracken
[…] auf den Pritschen lagen Menschen […]
Skelette schon, mit Haut überzogen und
abwesendem Blick. Es war schwer, sie ins
Leben zurückzuholen«, erinnerte sich Jahrzehnte später Alexander Woronzow, einer
der Rotarmisten, die die Befreiung des Lagers filmisch dokumentierten.2 Etwa 600
Leichen wurden auf dem Lagergelände
geborgen; mehr als zweihundert der ausgezehrten Menschen verstarben in den
Tagen nach der Befreiung. Tage und Wochen dauerte die Verlegung der von Hunger,
Krankheit, Frost und Erschöpfung gezeichneten Menschen aus den Barackenlagern
von Birkenau und Monowitz in die im einstigen Stammlager Auschwitz hergerichteten
Krankenstationen. Wochen und Monate bedurften Überlebende der Obhut von Ärzten,
Pflegern und freiwilligen Helfern aus den
Reihen des sowjetischen Militärs, des Polnischen Roten Kreuzes und der befreiten
Mitgefangenen.
_ Etwa 58.000 Gefangene hatte die SS am
18. Januar 1945 aus den drei Auschwitzer
Lagern und deren entfernteren Außenlagern auf die Todesmärsche getrieben.
Ausschnitt aus dem Operationsplan der
1. Ukrainischen Front zur Befreiung von
Oświe˛cim. Rechts oben: Erste Bilder aus dem
Stammlager mit befreiten Häftlingskindern
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Unterwegs liquidierte sie 9.000, möglicherweise 15.000 der Geschundenen, wenn diese
das Tempo nicht halten konnten oder zu
fliehen versuchten. Etwa 40.000 Überlebende erreichten die Lager von Groß-Rosen,
Buchenwald, Mittelbau-Dora, Mauthausen,
Ravensbrück, Sachsenhausen, Dachau, Flossenbürg, Neuengamme, Bergen-Belsen und
Theresienstadt und waren dort weiterhin
dem Mordregime der SS ausgesetzt. Etwa
130.000 Auschwitzer Gefangene hatte die
SS bereits im Laufe des Jahrs 1944 aus dem
Stammlager und aus Birkenau zur Sklavenarbeit in andere Konzentrationslager und
deren Außenlager abgegeben.
_ Von Mai 1940 bis Januar 1945 deportierten deutsche Behörden und Besatzungsorgane 1,3 Millionen Menschen nach
Auschwitz. Diese Mindestzahl ließ sich erst
nach Jahrzehnten der historischen Forschung Anfang der 1990er Jahre rekonstruieren und belegen.3
_ Nach Auschwitz deportiert wurden
137.000 seit Kriegsbeginn verhaftete Polen,
300.000 polnische Juden und zuletzt 13.000
polnische Zivilisten jeden Alters, die die
SS ab August 1944 aus dem aufständischen Warschau in die Konzentrationslager
verschleppte.
_ Annähernd 25.000 nichtpolnische Gefangene aus allen europäischen Ländern wurden
wegen ihres Widerstands oder wegen des
Partisanenkampfs im deutschen Machtbereich nach Auschwitz deportiert, darunter
mehr als 5.000 belorussische Männer, Frauen
und Kinder.
_ Auschwitz war eine der Stätten des Völkermords an den rassistisch verfolgten Sinti
und Roma, von denen 23.000, die meisten
aus Deutschland und Österreich, nach
Auschwitz deportiert wurden.
_ Von den 15.000 sowjetischen Kriegsgefangenen in Auschwitz, die die Wehrmacht
ab Juli 1941 der SS auslieferte, gehörten
1.500 am 2. und 16. September 1941 zu den
frühesten Opfern der Massentötung durch
das Giftgas Zyklon B.
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_ Ab März 1942 ließ die SS Juden zu
Hunderten, Tausenden, Zehntausenden
und Hunderttausenden aus dem deutschen Machtbereich nach Auschwitz deportieren, insgesamt etwa 1,1 Millionen Menschen, unter ihnen wahrscheinlich 216.000
Kinder und Jugendliche. Sie stammten aus
der Tschechoslowakei, Frankreich, Polen,
Holland, Belgien, Jugoslawien, Österreich,
Deutschland, Norwegen, Griechenland, Italien und Ungarn.
_ Diejenigen, die die Befreiung Europas
von Faschismus und Krieg im Mai 1945 erlebten, haben als Zeugen der Verbrechen
die Erinnerung an Auschwitz in aller Welt
verbreitet.
_ Oświęcim, die 1939 etwa 14.000, mehrheitlich jüdische Einwohner zählende Kleinstadt, hatten die Deutschen wie in österreichischer Zeit in Auschwitz umbenannt
und korrupten deutschen Amtskommissaren
und Bürgermeistern unterstellt. Geschäftemacher aus Deutschland und aus Osteuropa umgesiedelte Deutsche übernahmen
die großen und kleinen Unternehmen der
Bürger Oświęcims. Die deutsche Herrschaft
beendete in der Geschichte der Stadt die
Zeit gelungener religiöser Koexistenz in
Oświęcim und die in Jahrzehnten des politischen und sozialen Pluralismus gewachsene Gemeinsamkeit der katholischen und
jüdischen Bevölkerung in der kommunalen
Selbstverwaltung. In fast fünfeinhalb Jahren
der Okkupation überzogen Deutsche die
Stadt und deren dörfliche Umgebung mit
gigantischen Industrieansiedlungen und
landwirtschaftlichen Versuchsgütern. Wo
zuvor die Menschen von der Arbeit in wenigen Fabriken, dem Handel und von ihren
Landwirtschaften gelebt hatten, platzierten
sich deutsche Industriebetriebe, für deren
Bedarf deutsche Behörden die einheimischen Polen und ein Heer von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und Sklavenarbeitern aus ganz Europa herbeischafften. Die
Gesamtzahl übertraf im Sommer 1944 die
einstige städtische Bevölkerungszahl um
ein Zehnfaches.
_ Ab 1942 baute die SS das Lager Auschwitz so aus, dass Vernichtungsstätte und
Konzentrationslager kombiniert wurden.
Wie Chełmno, Bełżec, Sobibór und Treblinka
war Auschwitz einer der Orte des Völkermords an den europäischen Juden. Von den
annähernd sechs Millionen unter deutscher
Herrschaft ermordeten europäischen Juden
ist mindestens eine Million in Auschwitz
umgekommen: Fast 900.000 Deportierte
wurden als nicht zum Arbeitseinsatz tauglich sofort in den Gaskammern vernichtet.
Wer die Selektion in Auschwitz zunächst
überlebte, teilte das Los der Feinde der deutschen Okkupation, Männer, Frauen und
Jugendlichen, die die Nazis aus ganz Europa
in die Konzentrationslager verschleppten:
den Rest ihres Lebens unter unsäglichen
Bedingungen als Arbeitssklaven für die deutsche Kriegswirtschaft zu fristen.
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_ Zwischen Juni 1940 und Januar 1945 registrierte die SS in Auschwitz 400.000 Menschen als Gefangene, fast 270.000 Männer
und seit März 1942 mehr als 130.000 Frauen.
In den Auschwitzer Lagern wurden etwa
200.000 der registrierten Gefangenen systematisch vernichtet. Mindestens 1,1 Millionen
Menschen sind in dem deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz
ermordet worden.
_ Die sowjetische Kommission, die gemeinsam mit polnischen Experten und
Überlebenden des Lagers unmittelbar
nach der Befreiung die in Auschwitz begangenen Verbrechen dokumentierte, berichtete dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, dass die Lager von
Auschwitz dazu bestimmt waren, dauernd etwa 200.000 Menschen gefangen zu
halten, um diese durch in höchstem Maße
entkräftende Zwangsarbeit auszubeuten.
»Die Menschen, die diese Arbeiten verrichten mussten, wurden in einen Zustand
völliger Erschöpfung gebracht und dann
als nutzlos umgebracht. Jede Woche trafen
deutsche Ärzte eine ›Auswahl‹, als deren
Ergebnis alle Kranken in den Gaskammern
umgebracht wurden. Diese wurden durch
solche ersetzt, die per Bahn im Lager neu
angekommen waren. Es war ein genau
ausgearbeitetes System, ein schreckliches laufendes Band des Todes. Die einen
wurden umgebracht, um durch andere ersetzt zu werden, die dann an der Reihe
waren, durch rücksichtslose Ausbeutung
zu Krankheit und Erschöpfung gebracht
zu werden und dann schickte man sie wie
die anderen in die Gaskammern.« 4
_ Die Entwicklung des Lagers Auschwitz
von einem Ort der Internierung, Folter und
Vernichtung polnischer politischer Gefangener zu einem Ort der Versklavung
und Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener, der Sinti und Roma und einer
Million Juden war bei der Errichtung des
Konzentrationslagers im Mai 1940 nicht
geplant. Die SS orientierte ihre Entscheidungen über die Funktion und den Ausbau
dieses Lager in den folgenden Jahren nicht
nur an den eigenen politischen und ökonomischen Optionen, sondern auch an den
Interessen ihrer mächtigen Partner: zuerst der I. G. Farbenindustrie AG, dann der
Wehrmacht und schließlich des Rüstungsministeriums. Die von der SS Hand in Hand
mit Interessenten aus Staat und Wirtschaft
betriebene Expansion des Lagers machte
Auschwitz nach der Zahl der deportierten,
ermordeten, gefangenen und abermals in
andere KZ transferierten Menschen zum
größten der nationalsozia listischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Das
ungeheuerliche Geschehen von Auschwitz
haben Nachgeborene immer wieder von
Neuem an dem von ihnen begehbaren Ort
und durch die an einem Menschen verübten
Verbrechen zu begreifen versucht.
Die Kamera, mit der die Aufnahmen nach der
Befreiung von Auschwitz-Birkenau gedreht
wurden. Sie ist in der russischen Länderausstellung zu sehen. Film und Fotos werden
dort ebenfalls gezeigt. Im Stammlager gibt
es acht nationale Expositionen, ein Block ist
den Sinti und Roma gewidmet
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Oświe˛ cim ist über 800 Jahre alt. Fünf Jahre deutsche Besatzung
machten Auschwiz – gleich Hiroshima oder Verdun –
zum Namen für Massenmord und Menschenvernichtung.
Die über 40.000 Einwohner zählende Stadt trägt ein modernes
europäisches Gewand; doch die Mensch leben auch außerhalb
der Museumsstätten mit den Spuren der Naziherrschaft
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Die Villa von Lagerkommandant Rudolf Höß an der Mauer zum
Stammlager, heute wieder privates Wohnhaus
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Hier, am Damm der Soła, standen Baracken, in denen das Leder
aus dem Lager – Schuhe, Koffer, Mäntel – verwertet wurde
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Barackenreste auf Stadtbrachen und in Gärten
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Die Errichtung des KZ Auschwitz war eine
Folge des im April 1939 beschlossenen Angriffskriegs gegen Polen. Dessen Entfesselung, urteilten die Richter im Nürnberger
Prozess, sei das schwerste internationale
Verbrechen, das im Unterschied zu den anderen Kriegsverbrechen das akkumulierte
Übel all jener in sich trägt.5 Als Kriegsanlass dienten angeblich von Polen ausgehende,
tatsächlich von deutscher Seite inszenierte
Anschläge auf deutsche Personen und Einrichtungen im Grenzbereich. Am 22. August
1939 hatte Hitler den Oberbefehlshabern
der Wehrmacht angekündigt, er werde »den
propagandistischen Anlass zur Auslösung
des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach
gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder
nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges
kommt es nicht auf das Recht an, sondern
auf den Sieg.« 6
_ Am 1. September 1939, es sollte in Polen
der erste Schultag sein, flog die deutsche
Luftwaffe Bombenangriffe gegen 64 polnische Städte und Ortschaften, in wenigen
Tagen waren weite Teile des Landes von der
Wehrmacht erobert. In Oświęcim waren am
ersten und zweiten Tag des Kriegs die Kaserne in Zasole, der Bahnhof, die Altstadt mit
einer Schule und dem Gymnasium Ziele des
Bombardements und des Gewehrfeuers aus
der Luft; mehrere Soldaten, ein Eisenbahner,
zwei ältere Frauen und ein Junge wurden
getötet, ein Mädchen wurde schwer verletzt.
In Panik machten sich die Bewohner auf die
Flucht; die Evakuierung der Stadt begann.
Am 3. September verteidigten Einheiten der
polnischen Armee die Stadt westlich der
Soła bei Rajsko, auf dem Rückzug sprengten
sie die Brücke zur Altstadt, etwa hundert
Polen waren gefallen. Die Wehrmacht etablierte sich in Oświęcim, trieb alle Juden
auf dem Marktplatz zusammen, ermordete
acht Bürger, und nahm Geistliche und katholische Stadträte in Geiselhaft. Bis Monatsende verteidigten die polnische Armee
und die Warschauer Bevölkerung ihre vom
4. bis 6. bombardierte und seit dem 9. September belagerte Hauptstadt.
_ Die Kampfhandlungen beendete das
polnische Militär durch die jeweilige Übergabe seiner in militärisch aussichtsloser Lage
stehenden Truppen. Die polnische Armee
kapitulierte nicht gegenüber den deutschen
Invasoren. Allein deshalb war die Errichtung des deutschen Okkupationsregimes
einschließlich der Annexion von Teilen des
polnischen Staatsgebiets – wie per se der Angriffskrieg – völkerrechtswidrig. Entgegen
der damaligen Behauptung des Auswärtigen Amts existierte der polnische Staat
fort, seine Regierung handelte im Exil, wo
sich auch die polnische Armee neu formierte,
und im Widerstand gegen die Besatzungsmacht nahmen Menschen aus allen Kreisen
der polnischen Bevölkerung den Kampf um
die Befreiung ihres Landes auf. Der Krieg,
den Deutschland seit dem 1. September 1939
gegen Polen führte, endete erst mit der bedingungslosen Kapitulation des deutschen
Militärs am 8. Mai 1945.
_ Die deutschen Invasoren überzogen das
Land mit beispiellosem Terror: Die Luftwaffe
zerbombte insgesamt 159 Städte und Ortschaften, sie bombardierte Flüchtlingstrecks,
und das Heer setzte 55 Städte und 476 Dörfer
in Brand. Die Zahl der durch diese Kriegführung im September 1939 umgekommenen
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Zivilisten scheint nie ermittelt worden zu
sein. Die Verluste des polnischen Militärs
werden mit 70.000 toten und 133.000 verwundeten Soldaten beziffert. Zur polnischen
Erfahrung terroristischer deutscher Herrschaft gehören neben willkürlichen Verhaftungen und Geiselmorden auch die vom
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zum propagandistischen Nachweis angeblich polnischen Terrors gegen Deutsche gesteuerte
Diversantentätigkeit und die Morde des im
September von einheimischen Deutschen
gebildeten Selbstschutzes. Insgesamt massakrierten Deutsche zu Beginn des Kriegs
etwa 50.000 Polen.7
_ Die deutsche Regierung führte den Krieg
gegen Polen mit dem Ziel, den polnischen
Staat zu vernichten, um sich den wirtschaftlichen Reichtum des Landes und die Arbeitskraft der polnischen Bevölkerung dauerhaft
anzueignen. Deshalb plante sie die Ausrottung der politischen, intellektuellen und
geistlichen Führungsschicht des polnischen
Volks. Bei Verhaftungsaktionen griffen die
deutschen Polizeiorgane auf vorgefertigte
Listen zurück, darunter ein vor Kriegsbeginn in Berlin erstelltes Sonderfahndungsbuch mit den Namen von 61.000 Polen. Zu
den Gesuchten zählten auch die früheren
Aktivisten der schlesischen Aufstände, des
Kampfes um die Zugehörigkeit des oberschlesischen Industriereviers zu der am 11. November 1918 aus der Fremdherrschaft der
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deutschen, russischen und österreichischen
Monarchien befreiten polnischen Republik.
Den Kommandeuren seiner Einsatzgruppen
sagte RSHA-Chef Reinhard Heydrich im September 1939 die Übernahme von 20.000 zu
Verhaftenden in die Konzentrationslager im
Reichsgebiet zu, und zwar der politisch führenden Vertreter des polnischen Volks aus
den zur Annexion vorgesehenen Gebieten
Polens. Andere Träger und einflussreiche
Vermittler polnischer Kultur und nationalen
Bewusstseins – namentlich Lehrer, Geistliche, Gutsbesitzer und Offiziere – waren zunächst in provisorischen Lagern im künftigen
Grenzgebiet zu konzentrieren, um dann in
das übrige Okkupationsgebiet abgeschoben
zu werden.
_ Die Entscheidung für die Errichtung des
KZ Auschwitz fiel erst, nachdem am 26. Oktober 1939 die deutschen Verwaltungen etabliert waren, welche das besetzte polnische
Staatsgebiet den wirtschaftlichen deutschen
Kriegszielen entsprechend zergliederten: Die
als neue Reichsgaue Danzig-Westpreußen
und Wartheland und als Erweiterungen der
Provinzen Ostpreußen und Schlesien annektierten Gebiete waren die landwirtschaftlich
und industriell höchstentwickelten Gebiete
Polens und sollten germanisiert werden. Die
Reichsgrenze wurde nach Osten verschoben,
die polnische Währung außer Kraft gesetzt
und im dadurch erweiterten deutschen Binnenmarkt Zollfreiheit hergestellt. Deutsches
Recht galt in den annektierten Gebieten
allerdings nur, soweit dieses ausdrücklich
eingeführt wurde. Und die zunächst nur
Danzig und das polnische Oberschlesien einbeziehende, ansonsten weiterhin entlang der
bisherigen Reichsgrenze beibehaltene Polizeigrenze verhinderte, dass Deutsche sich
unkontrolliert in die annektierten Gebiete
begaben und Polen sich illegal im Gebiet des
sogenannten Altreichs aufhielten. Geschlossene Grenzen hatte auch das übrige, nicht
in das Deutsche Reich eingegliederte Okkupationsgebiet, das als sogenanntes Generalgouvernement deutscher Verwaltung unterstand. Eingeteilt in die Distrikte Krakau,
Radom, Lublin und Warschau, hatte es die
Funktion eines Polen-Reservats, in dem die
ansässige und die aus den annektierten Gebieten abzuschiebende polnische und jüdische Bevölkerung verelenden sollte.
Die Brücke über die Soła. Zwischen Schloss
und Kirche Mariä Himmelfahrt befindet sich
die Chevra Lomdei Mischnayot Synagoge,
die einzige, die die Nazibesatzung überstand.
Links: Auf dem Markt in der Altstadt erinnern
Fotos an die Zeit vor dem Krieg
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