Nicolas Pethes Helden, Hunde, Eigenschaften Figurenkonzepte in der literarischen Narration Der Beitrag entfaltet die lange Tradition der Konstruktion literarischer Figuren und versteht sie als textintern generierte Instanzen, denen Handlungen und Aussagen zugeordnet werden. Während hierbei bis ins 18. Jahrhundert statische Charaktertypen dominieren, treten vor dem Hintergrund der neuen Semantik von Individualität Figuren in den Vordergrund, die dynamischen und nicht immer zielgerichteten Entwicklungsprozessen unterworfen sind. Die damit einhergehende Entfaltung der innerpsychischen Dimension von Charakteren ermöglicht den in der älteren Forschung so genannten Übergang von ›flachen‹ zu ›runden‹ Charakteren. Dieser Übergang betrifft aber nicht nur anthropologische Aspekte, sondern verweist auf die Relevanz verschiedener Erzählperspektiven bei der Gestaltung literarischer Figuren: Neben auktorialen Beschreibungen sowie Aussagen literarischer Figuren übereinander betrifft das in der modernen Literatur zunehmend implizite Selbstcharakterisierungen von Figuren durch Techniken der internen Fokalisierung. Für alle diese Fälle lässt sich zeigen, dass das Bild einer literarischen Figur, indem es sich aus Fremd- und Selbstaussagen strukturiert, auf die gleiche Weise entsteht, wie Vorstellungen über reale Personen, so dass die vieldiskutierte (ggfs. auch historische) ›Realität‹ literarischer Figuren eher in dieser strukturellen Analogie ihrer jeweiligen Konstitution als in mimetischen Referenzen auf die außertextuelle Wirklichkeit zu sehen ist. LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 87 Nicolas Pethes Struktur und Funktion Wie viele Mediengeschichten hat auch diejenige der ›Figur‹1 eine Vorgeschichte, die erst nach dem Aufkommen so genannter ›neuer‹ Medien im 19. und 20. Jahrhundert überhaupt in ihrer Medialität erkannt und reflektiert wurde: die Geschichte der Literatur. Die literarische Tradition des Abendlands ist so eng mit der Vorstellung personaler Figuren verbunden, dass die semiotische und mediale Konstruiertheit dieser Form kaum wahrgenommen wurde. Grund dafür ist die Intuition, dass die Literatur im Unterschied zu den anderen beiden traditionell unterschiedenen Künsten auf menschliche Akteure angewiesen scheint – zumindest solange literarische Texte auf Handlungszusammenhänge referieren.2 Während die Musik grundsätzlich nicht bzw. nur sehr randständig zu mimetischer Darstellung geeignet ist, steht der bildenden Kunst neben menschlichen ›Figuren‹ eine ganze Reihe von diesen unabhängigen Sujets zur Verfügung. Dichtung, die dramatische und erzählende zumal, aber auch die Lyrik, ist ohne menschliche oder zumindest anthropomorphisierte Figuren kaum denkbar, und man wird noch das kontemplativste Naturgedicht hinsichtlich der Instanz seiner Artikulation auf eine, in diesem Fall implizite, Figurenrede zurückführen müssen. Im Vergleich zu den übrigen Künsten (vielleicht auch: zu akustischen und visuellen Medien) ist die Literatur mithin im Besonderen auf Figuren angewiesen. Diese Angewiesenheit ist allerdings nicht auf die Literatur im engeren belletristischen Sinne beschränkt. Vielmehr ist die Figur eine Form, die sich in allen mündlichen, schriftlichen und gedruckten Texten findet, soweit diese Texte Handlungen, Gedanken und Aussagen (und nicht lediglich Sachinformationen oder philosophische Reflexionen) zum Gegenstand haben. In diesem Sinne wird hier im Folgenden von Narration die Rede sein, und zwar zunächst unabhängig von ihrer konkreten Kunst-, Medien- oder Gattungsform. Unter Narration ist vielmehr eine Struktur zu verstehen, innerhalb derer für alle berichteten oder vollzogenen Handlungen, Gedanken und Aussagen Instanzen erzeugt werden. Für die struktu1 Ich setze für die folgende Argumentation die Bedeutung des Begriffs ›Figur‹ als personaler Handlungsträger voraus, ohne ihn eigens von seiner mathematischen und rhetorischen Gebrauchsweise abzugrenzen. 2 Zur Notwendigkeit der Literatur, Menschen darzustellen, vgl. Forster 1949, 52; zur Definition von Dichtung als Nachahmung handelnder Personen vgl. Aristoteles Poetik, 1448a (i.d. Ausg. v. 1982, 7). 88 LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 Figurenkonzepte in der literarischen Narration relle Position und Funktion solcher Instanzen ist es dabei zunächst unerheblich, ob sie auf textexterne Referenzen bezogen werden oder ›erfunden‹ sind: Auch historische Berichte müssen narrativ organisiert werden und also dieselbe interne Struktur generieren wie fiktionale Texte.3 Aus der Perspektive der narrativen Organisation eines Textes sind diese textintern erzeugten Instanzen daher keine Menschen, sondern ›Figuren‹.4 Solche Figuren werden erzeugt, indem innerhalb eines Erzähltextes Handlungen Personen zugerechnet werden. Natürlich sind ›Text‹, ›Erzählung‹ und ›Handlung‹ sowie das Verhältnis zwischen ihnen ihrerseits definitionsbedürftige und historisierbare Konzepte: Zwar ist schwer denkbar, wie Handlungszusammenhänge ohne einen narrativen Rahmen vermittelt werden sollen, dieser narrative Rahmen muss aber keineswegs in Form eines Textes im engeren Sinne (das heißt schriftlich fixierter Zeichen) erfolgen. Andere Medien, insbesondere der Film, belegen das unmittelbar. Ebensowohl ist es denkbar, dass im engeren Sinne literarische Texte, um die es im Folgenden gehen wird, etwas vermitteln, was nicht zwingend als Handlung erscheint – etwa im Fall von Gedichten, die lediglich Wahrnehmungen und Reflexionen zum Inhalt haben. Oder aber Texte bestehen, wie im Fall von Dramen, ausschließlich aus Aussagen und Dialogen von Figuren, aus denen sich die – von Ausnahmen abgesehen nicht explizit ›erzählte‹ – Handlung erschließen lässt.5 Auch Wahrnehmungen und Reflexionen bzw. Aussagen und Dialoge müssen aber, wie Handlungen, mindestens einer Figur zugerechnet werden, selbst wenn diese ungenannt bleibt oder aber mit dem Autor des Textes identisch zu sein scheint. Man kann vor diesem Hintergrund sagen, dass eine Figur in Erzähl-, Aussage- oder Hand3 Die These, dass auch Figuren in historischen Texten textinterne (das heißt rhetorische und narrative) Konstruktionen sind, ist von Hayden Whites Geschichtstheorie in seinem Buch Metahistory (1991) angeregt, wird hier aber nicht weiterzuverfolgen sein. Auch die Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung (als Faktographie) und Dichtung (als Möglichkeitsentwurf) leitet sich bekanntlich bereits aus Aristoteles’ Poetik her. 4 Als Forschungsüberblick und theoretischen Entwurf vgl. Jannidis 2004a. 5 Die drei literarischen Basisgattungen erzählende Prosa, lyrische Dichtung und dramatische Interaktion werden hier weder normativ noch kategorisierend, sondern strukturierend verstanden. Tatsächlich besteht Literatur zumeist aus Hybriden; umgekehrt sind auch sogenannte nicht-literarische Texte von narrativen, lyrischen oder dramatischen Bauelementen durchzogen, die hier mithin nicht als stabile Genres, sondern als textgenerierende Strukturelemente betrachtet werden. Im weiteren Verlauf der Darstellung wird hier, bedingt durch die weitestgehend narratologisch informierte literaturwissenschaftliche Theorie der Figur, in erster Line von Figuren in Erzähltexten die Rede sein. LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 89 Nicolas Pethes lungszusammenhängen als textstrukturinternes Korrelat zu einer etwaigen textexternen Person die Verdopplung der Beobachtungsebenen eines Textes mit sich bringt: So, wie man jeden Text als kommunikativen Akt einem (bekannten oder unbekannten) Autor zuschreiben kann, der die Struktur des Textes durch spezifische Beobachtungsunterscheidungen erzeugt, wird jeder Akt innerhalb des Textes einer Figur zugerechnet, die in der gleichen (wenngleich nun fiktionalen, das heißt, bloß textintern referentialisierbaren) Art und Weise zwischen Wahrnehmung und Kommunikation unterscheidet.6 Figuren sind diesem Verständnis zufolge textgenerierte Instanzen, denen die Beobachtung bzw. das Handeln in einer textexternen Welt zugeschrieben wird und die auf diese Weise strukturanalog zu textexternen Welten sowie den Autoren und Lesern in ihnen verfasst sind. Diese abstrakte Bestimmung literarischer Figuren wird im Folgenden hinsichtlich der aufgeworfenen Problemstellungen systematisch, vor allem aber auch literaturhistorisch, zu differenzieren sein: zum einen mit Blick auf die Erscheinungsformen von Figuren auf der Ebene des inhaltlich Erzählten, das heißt, bezüglich der verschiedenen Charaktere, Typen und Individuen, die die Literatur bevölkern.7 Zum anderen mit Blick auf die Gestaltungsweise dieser Figuren auf der Ebene der Erzählform, das heißt, bezüglich der Erzählperspektive sowie der quantitativen und qualitativen Darstellungsmittel, die das mehr oder weniger einheitliche Bild einer literarischen Figur erzeugen. Schließlich wird an beide Untersuchungsebenen, discours und récit,8 die Frage nach der Realität literarischer Figuren zu stellen und im Spiegel der wichtigsten Entwicklungsstufen der abendländischen Literatur exemplarisch zu vertiefen sein. Für die Frage nach Form- und Funktionswandel der Figur im Medienwandel kann dieser Rückblick auf die Literaturgeschichte des Konzepts in doppelter Hinsicht instruktiv sein: Zunächst ist kaum zu bestreiten, dass die Erscheinungsweisen von Figuren in der abendländischen Literatur viele Figurenkonzepte in späteren Medienformen strukturiert und geprägt haben – und sei es im Modus des Zitats oder des Gegenentwurfs. Umgekehrt kann gerade vor dem Hintergrund einer Analyse textuell konstruierter Figuren die jeweilige Medienspe6 Zur Terminologie vgl. Luhmann 1995. Ich beschränke mich hinsichtlich der exemplarischen Veranschaulichung meiner Argumentation auf den Traditionszusammenhang der europäischen und hier besonders der deutschsprachigen Literatur. 8 Diese wie alle weiteren im Folgenden gebrauchten narratologischen Fachtermini sind Gérard Genette (1998) entnommen. 7 90 LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 Figurenkonzepte in der literarischen Narration zifik anderer Erscheinungsformen von Figuren differenzierter in den Blick rücken. Beide Aspekte sollen im Zuge dieses Beitrags integrativ entfaltet werden, das heißt, die literaturhistorischen Entwicklungsstufen und gattungspoetologischen Differenzierungen der literarischen Figur werden überblickartig und exemplarisch so zu rekonstruieren sein, dass ihre das Textmedium übersteigende strukturbildende Funktion daraus abgeleitet werden kann. Typen und Charaktere Die eingangs getroffene Festlegung, dass literarische Texte kaum ohne Figuren vorstellbar sind, kann weiter zugespitzt werden, indem man sagt, dass diese Texte sogar primär von Figuren handeln. Das belegt auf Anhieb die Vielzahl kanonischer Werke, die schlicht genau so heißen wie ihre jeweils zentrale Figur: Odyssee, Antigone, Erec, Hamlet, Don Quijote, Tristram Shandy, Faust, Anna Karenina, Nana, Molloy, Minetti, Austerlitz. In diesen Fällen – denen sich mit der Ilias, der Divina Commedia, As you like it, den Wahlverwandtschaften oder À la recherche du temps perdu ohne weiteres Gegenbeispiele an die Seite stellen ließen – sind die genannten Figuren auch Hauptfiguren, das heißt, die ›Helden‹ oder ›Protagonisten‹ der entsprechenden Werke.9 Im Sinne der Angewiesenheit literarischer Texte auf solche Figuren haben aber auch alle Werke ohne Figurentitel mehr oder weniger deutlich konturierte Protagonisten. Zudem kommen die meisten von ihnen nicht nur mit einer solchen Hauptfigur zu Rande und werfen daher die Frage nach Unterschieden und Beziehungen zwischen verschiedenen Figuren innerhalb eines Textes auf. Diesen Differenzen und Relationen widmet sich die Literaturtheorie, seit es sie gibt, und das heißt also seit Aristoteles Poetik, die sich vornehmlich mit dramatischen Texten beschäftigt. Gemäß der rhetorischen Stillehre, die als genera die hohe, die mittlere und niedere 9 Der Begriff ›Protagonist‹ leitet sich vom griechischen Begriff für den ›ersten Handelnden‹ ab und bezeichnete die – zunächst einzelne – Rolle innerhalb der Tragödie, die dem Chor gegenübertrat; in der weiteren Entwicklung der attischen Tragödie wurde sie durch die zweite Rolle, den ›Antagonisten‹ (also ›Gegenhandelnden‹), ergänzt. Erst in Folge der weiteren Zunahme des Dramenpersonals konnte sich dann die Semantik ›Hauptperson‹ etablieren, die heute unabhängig von Gattungsformen und zumeist synonym mit ›Held‹ verwendet wird, wenngleich die Geschichte dieses Begriffs auf die mythische Vorstellung gottähnlicher Heroen verweist und nicht lediglich auf die strukturelle Position der Figur innerhalb des Erzählzusammenhangs. LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 91 Nicolas Pethes Sprachebene kennt, unterscheidet Aristoteles Tragödie und Komödie, indem er der ersten »bessere«, der zweiten »schlechtere« Charaktere zuordnet (Aristoteles Poetik, 1448a; 1982, 9).10 Das hat zunächst nur mit den jeweiligen Erfordernissen an eine tragische Fallhöhe bzw. der Erzeugung lächerlicher Situationen zu tun, führt in der Folge aber zu einer dichotomischen Typisierung literarischer Figuren, die von einer angenommenen ›Mitte‹ her stets in zwei mögliche Extreme abweichen können: Figuren sind gut oder böse, klug oder dumm, schön oder hässlich usw. Entscheidend ist, dass sie diese Eigenschaften gemäß des antiken Dichtungsverständnisses zu Beginn zugesprochen bekommen und dann im Verlauf der weiteren Geschichte auch nicht mehr verlieren: So kann Odysseus stets als ›der Listenreiche‹ bezeichnet werden, Kreon als der Unerbittliche oder Sokrates (bei Aristophanes) als seniler Schwätzer. Die zentrale Funktion derartiger Typen ist bis heute spürbar, wenn etwa Figurenkonstellationen in der Populärkultur mit dem good guy/bad guy-Schema operieren. Dieses Beispiel zeigt aber zugleich, dass die Figurentypen stets in Relation zueinander stehen: Jeder Held braucht einen Gegenspieler, jeder Liebende eine Geliebte, jeder Dumme einen Lehrer, jeder Herr einen Knecht. In solchen zweipoligen Gegenüberstellungen kann man dem jeweiligen Protagonisten einen Antagonisten entgegenstellen, tatsächlich existieren aber mitunter eine Vielzahl weiterer Figuren, angesichts derer sich die möglichen Bezüge unter ihnen multiplizieren. Der Versuch, die Figuren zu hierarchisieren, indem man etwa von Haupt- und Nebenfiguren spricht, übersieht trotz einer zumeist schier quantitativen Evidenz, dass auch vom Rande einer Erzählung große Wirkungen ausgehen können und kein literarischer Text Personen benennt und handeln lässt, ohne dass ihnen eine spezifische Funktion zukäme. Als produktiver erscheint daher der Versuch, eben jene Funktionen näher zu bestimmen. Das kann dadurch geschehen, dass man diese Funktionen selbst hypostasiert und die jeweiligen Figuren, die sie ausführen, nur noch als mehr oder weniger kontingente Handlungsträger versteht: So unterscheidet der französische Linguist Julien Greimas zwischen actant und acteur, um in literarischen Texten immer wiederkehrende Handlungsformen von den jeweils kon- 10 Insbesondere der Roman der Neuzeit wird dann, als Prosagattung und »bürgerliche Epopöe« (Hegel), Anspruch auf die mittlere Stilebene und das entsprechend durchschnittliche Personal erheben. 92 LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 Figurenkonzepte in der literarischen Narration kreten Handelnden abzugrenzen (Greimas 1971).11 Greimas stützt sich dabei auf den Versuch des russischen Formalisten Vladimir Propp, Handlungsrollen in Märchen zu systematisieren und als Strukturelemente zu verstehen, die bestimmte narrative Schlüsselfunktionen übernehmen. Auf diese Weise ordnet Propp einer Reihe von Handlungsschemata – Bestehen einer Prüfung, Kampf gegen das Böse, Rettung vor Gefahr – bestimmte Handlungsrollen – Held, Gegenspieler, Opfer, Helfer usw. – zu, anhand derer verschiedene Märchentexte und -figuren auf wiederkehrende Bauelemente zurückgeführt werden können (Propp 1972). Solche strukturalistischen oder protostrukturalistischen Figurentheorien weisen eine gewisse Schnittmenge mit C.G. Jungs Archetypen-Lehre auf, die ja in Mythen und Träumen ebenfalls keine konkreten Individuen am Werk sieht, sondern Repräsentanten kollektiver Wünsche und Bedürfnisse.12 Held und Individuum Allen diesen Ansätzen ist aber gemein, dass sie Figuren als mehr oder weniger statische und einheitliche Instanzen konzipieren. Sie sind Typen, das heißt, durch einige wenige Charakterisierungen klar und zuverlässig bestimmte Handlungsträger, die sich im Lauf einer Geschichte weder ändern noch Alternativen zu ihrer Weltsicht erproben oder gar psychologisch differenziert werden. Im Sinne der oben erwähnten dichotomischen Bestimmung solcher Typen kann man sagen, dass sie sich – wie im erwähnten Beispiel vom »listenreichen Odysseus« – durch eine einzige Bestimmung nahezu vollständig charakterisieren lassen. Entsprechend hat der amerikanische Literaturwissenschaftler E.M. Forster von ›flachen‹ Charakteren gesprochen, denen als ›runde‹ alle diejenigen entgegenstehen, die variabel, entwicklungsfähig und gewissermaßen nicht zuverlässig erwartungskonform konzipiert sind (Forster 1949, 74ff). Diese Gegenüberstellung ist als ihrerseits zu statisch kritisiert worden, weil sie die vielen Zwischenstadien und Übergänge nicht berücksichtige (Rimmon-Kenan 1983, 40ff). Das zugestanden behält sie aber möglicherweise ihre Berechtigung, wenn man sie historisiert und fragt, ab wann denn überhaupt die ›Rundung‹ literarischer Figuren Zur Kritik dieses Modells vgl. Jannidis 2004a, 100f. Vgl. Campbell (1999) sowie in explizitem Anschluss an die Archetypenlehre für die Schreibpraxis Vogler (1998, 79ff). 11 12 LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 93 Nicolas Pethes beginnt. Forsters Metaphorik bezieht sich nicht umsonst auf den Zugewinn einer Dimension im Sinne der Entstehung räumlicher Vorstellungen, die ja in der Kunstgeschichte auch mehr oder weniger exakt einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung der Malerei zugeordnet werden kann. Entsprechend ist die Ablösung der statischen Typen durch entwicklungsfähige Charaktere ihrerseits an spezifische geistes-, wissenschafts- und mentalitätsgeschichtliche Rahmenbedingungen geknüpft, die man für die Geschichte der literarischen Figur mit dem Prozess der Säkularisierung des Denkens, dem Entstehen einer empirischen Anthropologie und der so genannten ›Entdeckung‹ des modernen Individuums in Verbindung sehen kann (vgl. van Dülmen 1997). Alle diese Tendenzen lassen sich historisch dem Umbruch von Spätmittelalter und Renaissance zur Neuzeit und Aufklärung und also, schematisch gesprochen, einem sehr ›langen‹ 17. Jahrhundert zuordnen. In dieser Zeit verliert nicht nur das heilsgeschichtliche Weltbild, demzufolge der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes vollendet und vollkommen sei, an Kredit. Auch die noch aus der Antike ererbte humoralpathologische Lehre von der Regulierung von Gesundheit und Krankheit einerseits, den (vier) verschiedenen Charaktertypen andererseits, durch das Verhältnis der (ebenfalls vier) Säfte im menschlichen Körper wird durch die Entdeckung des Blutkreislaufs, des Muskel- und Nervensystems sowie der Zentralfunktion des Gehirns zunächst relativiert und dann widerlegt.13 In Folge dieser beiden Entwicklungen wird der Mensch nicht mehr als fest gefertigter Typ, der als solcher weder eigenverantwortlich noch unverwechselbar ist, angesehen, sondern als unfertiges Wesen, dem jeweils spezifische Entscheidungs- und Bestimmungskompetenzen zugeschrieben werden können – da ja die bisher gültigen externen (Gott) wie internen (Säfte) Determinanten seines Seins und Wesens ihre Alleingültigkeit verloren haben. Die Semantik der Individualität entsteht im 18. Jahrhundert mithin weniger aufgrund einer mehr oder weniger emphatisch betriebenen Aufklärung des Menschen als aufgrund der struktur- und semantikgeschichtlichen Notwendigkeit, die 13 Die antike und frühneuzeitliche Medizin definierte Gesundheit als Gleichgewicht der vier Säfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle sowie Schleim und ordnete dem jeweiligen Überwiegen eines Saftes die auch literaturhistorisch – man denke etwa an die Dramen Molières – einschlägigen Charaktertypen des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers und Phlegmatikers zu. Erst die physiologischen Forschungen von William Harvey, Albrecht von Haller sowie Franz Josef Gall im 17. und 18. Jahrhundert legten dann die Grundlage für das moderne medizinische Körperbild. 94 LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 Figurenkonzepte in der literarischen Narration leere Systemstelle der Bestimmung des Menschen zu füllen. In Ermangelung dieser Systemstelle wurde sie in den Menschen selbst verlegt, der damit im Wortsinne ›autonom‹ gedacht wurde, und in der Folge der Tatsache, dass sich der Mensch als autonomer zuerst noch bestimmen muss, entsteht die zeitliche Vorstellung einer Entwicklungsfähigkeit bzw. -notwendigkeit jedes einzelnen Menschen zu einer entsprechend unvorherbestimmbaren und unverwechselbaren Biographie. Dass an die Stelle des Konzepts gottgegebener Perfektion irdische Perfektibilität tritt, macht Menschen mithin überhaupt erst als individuelle und wandelbare Wesen kenntlich. Der jeweilige Charakter des einzelnen ist in der Folge nicht mehr über ein vorgegebenes und typisiertes Raster zu bestimmen, sondern Resultat des individuellen Selbstbestimmungsprozesses – und mithin offen für Brüche, Widersprüche und Fehler aller Art.14 Diese hier knapp referierten sozial- und begriffsgeschichtlichen Zusammenhänge schlagen sich mehr oder weniger unmittelbar literaturhistorisch nieder, und zwar in der Abnahme von flachen und der Zunahme runder Charaktere – die man in diesem modernen (das heißt nicht mehr humoralpathologischen) Sinn nun von den vormodernen ›Typen‹ abgrenzen kann: Wenn, um das vielleicht prägnanteste Beispiel für diese Umstellung aus der deutschen Literaturgeschichte anzuführen, die Titelfigur aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre sich in ihrem Versuch, am Theater Fuß zu fassen, zunächst mit der Commedia dell’arte und anschließend mit Shakespeares Dramen beschäftigt, so erscheint ihr im Fortgang des Romans weder befriedigend, noch aber, nach der anfänglichen identifikatorischen Verkörperung, eine Figur wie Hamlet, die ja noch ganz dem klassischen Typos des Melancholikers nachgebildet ist. Wilhelm Meister muss diese Figurenmuster überwinden, will er sein vorgebliches Ziel, »mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«, (Goethe 1994 [1795/96], 290) realisieren. Das heißt mit anderen Worten, dass die Figur Wilhelm Meister bereits als modernes Individuum konzipiert ist, dessen innere Entwicklung der Roman erzählt, ohne sie zu einer wie immer gearteten ›Vollendung‹, ›Einheitlichkeit‹ oder ›Vollkommenheit‹ zu führen. Diese Aspekte einer literarischen Figur sind uns derart vertraut, dass die mit ihr einhergehende literarästhetische Revolution kaum mehr spürbar oder nachvollziehbar ist: Bereits zeitgenössischen Le14 Sozial- und semantikgeschichtlich rekonstruiert finden sich diese Zusammenhänge bei Luhmann (1980 sowie 1982). LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 95 Nicolas Pethes sern gilt ›der Meister‹ (der eben keiner mehr ist) nicht als prototypischer Bildungsroman, weil Goethe hier sein während seiner italienischen Reise gefasstes humanistisches Bildungsideal auf den Roman projiziert habe. Vielmehr meint ›Bildung‹, wie sie dann zeitgleich auch von Wilhelm von Humboldt im pädagogischen, didaktischen und institutionellen Sinne gedacht wird, die erwähnte Prozessualisierung jeder einzelnen individuellen Biographie, die nun nicht mehr über typisierte Wendepunkte (man denke etwa an das Motiv von Schuld und Strafe in der tragischen oder Verfehlung und Bekehrung in der biographischen Tradition) sondern über einen vielschichtigen und offenen Vorgang der Selbstbestimmung durch Fremdbegegnung gedacht wird. Zu dieser Selbstbestimmung gehört auch, dass literarische Figuren seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ihr ›Inneres‹ entdecken, das heißt im Anschluss an pietistische Programme der Selbstbeobachtung, aber auch der Betonung der Inkommensurabilität von Gefühlen, deutlich vom Personal frühneuzeitlicher und barocker Dichtungen abgesetzt werden, die Affekte ja stets im Einklang mit rhetorischen Ausdruckslehren und also geprägt durch generalisierbare Codes und nicht durch individuelles Empfinden kommuniziert hatten. Empfindsamkeit und Sturm und Drang, um bei der Phaseneinteilung der deutschen Literaturgeschichte zu bleiben (die darin aber intensiv von der französischen Anthropologie in der Nachfolge Rousseaus sowie der englischen Genieästhetik und ihren sentimental journeys und epistolary novels beeinflusst ist), setzen auf diese Weise die sozialgeschichtliche Umstellung auf eine Semantik der Individualität in Gestalt neuer, autonom und entwicklungsfähig gedachter Figuren um – und befördern sie natürlich im Gegenzug auch, insofern literarische Figuren die mit ihnen korrespondierenden anthropologischen Semantiken stets auch postulieren oder vorwegnehmen können. In dieser Weise ist bis in die aktuelle Forschungsdiskussion von der „textinterne[n] Anthropologie“ (Jannidis 2005, 24; vgl. auch ders. 2004b) literarischer Figuren die Rede, der Tatsache also, dass ›Menschen‹ in fiktionalen Texten nach bestimmten Vorstellungen über Körper und Geist, Charakter und Moral, Freiheit und Notwendigkeit, Männlichkeit und Weiblichkeit etc. geformt werden. Im Sinne dieses anthropologischen Referenzdiskurses sind Figuren in Texten zwar nicht tatsächlich Menschen, sie sind aber wie Menschen konzipiert, und dokumentieren auf diese Weise die verschiedenen Möglichkeiten anthropologischer Beschreibung. Wenn etwa Johann Karl Wezel 96 LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 Figurenkonzepte in der literarischen Narration 1776 im Belphegor ein Romanpersonal entwirft, das er in der Einleitung noch einmal deutlich (und das heißt hier bereits: überdeutlich) anhand der typologischen Charakterlehre einteilt, diese Einteilung im Fortgang jedoch ad absurdum führt, indem seine Figuren in immer extremeren und groteskeren Szenarien gezwungen werden, ihre Weltsicht zu ändern, dann reflektiert ein solcher Roman den skizzierten Wandel der Aufklärungsanthropologie ausdrücklich. Subjekt und Welt Die weitere Geschichte der Erforschung des Menschen, die nach der idealistischen Phase zwischen Aufklärung und Romantik im 19. Jahrhundert in der empirischen Physiologie und Psychologie weitergetrieben wird, aber auch die ›anthropologischen Kränkungen‹ durch Evolutionstheorie und Psychoanalyse umfasst, beeinflusst die Erscheinungsform literarischer Figuren in Realismus, Naturalismus und Moderne in der gleichen Weise. Dennoch erfasst ein anthropologiehistorischer Blick auf die Entwicklungsgeschichte der literarischen Figur nicht alle Dimensionen ihres Wandels in der Moderne. Neben den mehr oder weniger expliziten Attributionen von Eigenschaften und Charakterzügen sind literarische Figuren auch durch ihre Position und Relation innerhalb des gesamten Erzählkosmos bestimmt. Darauf hat der ungarische Literaturtheoretiker Georg Lukács bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht, als er in seiner Theorie des Romans auf die dramatische Umgewichtung, wenn nicht gar völlige Verkehrung, des Verhältnisses zwischen erzählter Figur und erzählter Welt in der Literaturgeschichte von der Antike bis zur Moderne hinwies: Denn die Statik und ›Flachheit‹ literarischer Figuren bis zum 18. Jahrhundert impliziert ja auch, dass die entsprechenden Texte – selbst wenn sie Aeneis, Parzival oder Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch heißen – noch nicht von Subjekten im modernen Sinne handeln. Vielmehr überwiegt in diesen Texten das Gewicht der Welt, in der sich diese Figuren bewegen. Erst die erwähnte Entdeckung des ›Inneren‹ von Menschen eröffnet eine Alternative zur Dominanz der Außenwelt in antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählungen. Indem die Sphäre der Emotionen, Erinnerungen und Assoziationen zunehmend mehr Gewicht innerhalb literarischer Texte beansprucht, gewinnen die Figuren diejenige ›Rundheit‹ – aber auch Tiefe, Komplexität und Wandlungsfähigkeit – LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 97 Nicolas Pethes die sie bereits seit der Wende zum 19. Jahrhundert prägt bzw. prägen (Lukács 1994). Zugleich aber, auch darauf weist Lukács hin, verlieren die Figuren im Zuge dieser Wendung zum Inneren denjenigen Halt, den die vormoderne Welt ihren Bewohnern noch gegeben hatte. Figuren der modernen Literatur spiegeln diejenige »transzendentale Obdachlosigkeit« (ebd., 32), in die der Prozess der Säkularisierung im 20. Jahrhundert mündet. Hinzu kommt, dass der Blick nach innen ja nicht nur Positives zeitigt, sondern auch – die Psychoanalyse wurde bereits erwähnt – Abgründe zutage fördert: Obsessionen, Wahnsinn, und, ironischerweise, den Verlust einer stabilen Ich-Instanz. Die Figuren der Literatur des 20. Jahrhunderts legen ein beredtes Zeugnis dafür ab: Die Protagonisten bei Proust und Breton, Kafka und Döblin, Woolf und Joyce, bei Schnitzler, Rilke, Beckett, Borges, Mann, Camus, Frisch oder Bernhard, sind zwar noch namentlich benennbar, haben aber den festen Boden der Subjektidentität verloren, was entweder krisenhaft erfahren oder, im Rahmen postmoderner Erzählexperimente, etwa bei Paul Auster, als Entlastung vom semantischen Ballast der Aufklärung gefeiert wird – auch hier wieder im Spiegel zeitgenössischer Debatten über den Tod, zumindest aber das Ende des Subjekts (vgl. Fokkema 1991). Allerdings sind diese Phänomene keineswegs eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern suchen die Literatur heim, seitdem sie von der Welt auf das Subjekt umfokussiert hat. Um eben die genannte Epochenschwelle um 1800 bevölkern Doppelgänger die Literatur – z.B. bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allen Poe – und stellen damit das eben erst gewonnene Verständnis von der Individualität literarischer Figuren in Frage. Auch anhand weiterer Beispiele kann man beobachten, wie diese Figuren gerade im Zuge ihrer Differenzierung diejenige Qualität verlieren, die ihnen zumindest im Fall von Protagonisten fraglos zugekommen war: Helden im engeren Sinne zu sein. Zwar relativiert auch die vormoderne Literatur im Register des Komödiantischen den Zentralstatus ihrer Protagonisten durch seine Verstrickungen in selbstgesponnene Verwicklungen. Und auch im Drama bedeutet Held zu sein nicht etwa, am Ende zu obsiegen – im Gegenteil. Die Charaktertypologie hatte den Protagonisten aber mit positiven Eigenschaften wie Mut, Kraft und Gerechtigkeitsempfinden, oder, in der Komödie, immerhin mit Witz und Schlagfertigkeit versehen. 98 LESCHKE, Formen der Figur. ISBN 978-3-86764-086-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010