Leseprobe - UVK Verlagsgesellschaft

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Nicolas Pethes
Helden, Hunde, Eigenschaften
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
Der Beitrag entfaltet die lange Tradition der Konstruktion literarischer Figuren und versteht sie als textintern generierte Instanzen,
denen Handlungen und Aussagen zugeordnet werden. Während hierbei bis ins 18. Jahrhundert statische Charaktertypen dominieren, treten vor dem Hintergrund der neuen Semantik von Individualität Figuren in den Vordergrund, die dynamischen und nicht immer zielgerichteten Entwicklungsprozessen unterworfen sind. Die damit einhergehende Entfaltung der innerpsychischen Dimension von Charakteren
ermöglicht den in der älteren Forschung so genannten Übergang von
›flachen‹ zu ›runden‹ Charakteren. Dieser Übergang betrifft aber
nicht nur anthropologische Aspekte, sondern verweist auf die Relevanz verschiedener Erzählperspektiven bei der Gestaltung literarischer Figuren: Neben auktorialen Beschreibungen sowie Aussagen
literarischer Figuren übereinander betrifft das in der modernen Literatur zunehmend implizite Selbstcharakterisierungen von Figuren
durch Techniken der internen Fokalisierung. Für alle diese Fälle lässt
sich zeigen, dass das Bild einer literarischen Figur, indem es sich aus
Fremd- und Selbstaussagen strukturiert, auf die gleiche Weise entsteht, wie Vorstellungen über reale Personen, so dass die vieldiskutierte (ggfs. auch historische) ›Realität‹ literarischer Figuren eher in
dieser strukturellen Analogie ihrer jeweiligen Konstitution als in mimetischen Referenzen auf die außertextuelle Wirklichkeit zu sehen
ist.
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Struktur und Funktion
Wie viele Mediengeschichten hat auch diejenige der ›Figur‹1 eine
Vorgeschichte, die erst nach dem Aufkommen so genannter ›neuer‹
Medien im 19. und 20. Jahrhundert überhaupt in ihrer Medialität
erkannt und reflektiert wurde: die Geschichte der Literatur. Die literarische Tradition des Abendlands ist so eng mit der Vorstellung personaler Figuren verbunden, dass die semiotische und mediale Konstruiertheit dieser Form kaum wahrgenommen wurde. Grund dafür ist
die Intuition, dass die Literatur im Unterschied zu den anderen beiden
traditionell unterschiedenen Künsten auf menschliche Akteure angewiesen scheint – zumindest solange literarische Texte auf Handlungszusammenhänge referieren.2 Während die Musik grundsätzlich nicht
bzw. nur sehr randständig zu mimetischer Darstellung geeignet ist,
steht der bildenden Kunst neben menschlichen ›Figuren‹ eine ganze
Reihe von diesen unabhängigen Sujets zur Verfügung. Dichtung, die
dramatische und erzählende zumal, aber auch die Lyrik, ist ohne
menschliche oder zumindest anthropomorphisierte Figuren kaum
denkbar, und man wird noch das kontemplativste Naturgedicht hinsichtlich der Instanz seiner Artikulation auf eine, in diesem Fall implizite, Figurenrede zurückführen müssen.
Im Vergleich zu den übrigen Künsten (vielleicht auch: zu akustischen und visuellen Medien) ist die Literatur mithin im Besonderen
auf Figuren angewiesen. Diese Angewiesenheit ist allerdings nicht
auf die Literatur im engeren belletristischen Sinne beschränkt. Vielmehr ist die Figur eine Form, die sich in allen mündlichen, schriftlichen und gedruckten Texten findet, soweit diese Texte Handlungen,
Gedanken und Aussagen (und nicht lediglich Sachinformationen oder
philosophische Reflexionen) zum Gegenstand haben. In diesem Sinne
wird hier im Folgenden von Narration die Rede sein, und zwar zunächst unabhängig von ihrer konkreten Kunst-, Medien- oder Gattungsform. Unter Narration ist vielmehr eine Struktur zu verstehen,
innerhalb derer für alle berichteten oder vollzogenen Handlungen,
Gedanken und Aussagen Instanzen erzeugt werden. Für die struktu1
Ich setze für die folgende Argumentation die Bedeutung des Begriffs ›Figur‹ als personaler Handlungsträger voraus, ohne ihn eigens von seiner mathematischen und rhetorischen
Gebrauchsweise abzugrenzen.
2
Zur Notwendigkeit der Literatur, Menschen darzustellen, vgl. Forster 1949, 52; zur
Definition von Dichtung als Nachahmung handelnder Personen vgl. Aristoteles Poetik,
1448a (i.d. Ausg. v. 1982, 7).
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relle Position und Funktion solcher Instanzen ist es dabei zunächst
unerheblich, ob sie auf textexterne Referenzen bezogen werden oder
›erfunden‹ sind: Auch historische Berichte müssen narrativ organisiert werden und also dieselbe interne Struktur generieren wie fiktionale Texte.3
Aus der Perspektive der narrativen Organisation eines Textes sind
diese textintern erzeugten Instanzen daher keine Menschen, sondern
›Figuren‹.4 Solche Figuren werden erzeugt, indem innerhalb eines
Erzähltextes Handlungen Personen zugerechnet werden. Natürlich
sind ›Text‹, ›Erzählung‹ und ›Handlung‹ sowie das Verhältnis zwischen ihnen ihrerseits definitionsbedürftige und historisierbare Konzepte: Zwar ist schwer denkbar, wie Handlungszusammenhänge ohne
einen narrativen Rahmen vermittelt werden sollen, dieser narrative
Rahmen muss aber keineswegs in Form eines Textes im engeren
Sinne (das heißt schriftlich fixierter Zeichen) erfolgen. Andere Medien, insbesondere der Film, belegen das unmittelbar. Ebensowohl ist
es denkbar, dass im engeren Sinne literarische Texte, um die es im
Folgenden gehen wird, etwas vermitteln, was nicht zwingend als
Handlung erscheint – etwa im Fall von Gedichten, die lediglich
Wahrnehmungen und Reflexionen zum Inhalt haben. Oder aber Texte
bestehen, wie im Fall von Dramen, ausschließlich aus Aussagen und
Dialogen von Figuren, aus denen sich die – von Ausnahmen abgesehen nicht explizit ›erzählte‹ – Handlung erschließen lässt.5
Auch Wahrnehmungen und Reflexionen bzw. Aussagen und Dialoge müssen aber, wie Handlungen, mindestens einer Figur zugerechnet werden, selbst wenn diese ungenannt bleibt oder aber mit dem
Autor des Textes identisch zu sein scheint. Man kann vor diesem
Hintergrund sagen, dass eine Figur in Erzähl-, Aussage- oder Hand3
Die These, dass auch Figuren in historischen Texten textinterne (das heißt rhetorische und
narrative) Konstruktionen sind, ist von Hayden Whites Geschichtstheorie in seinem Buch
Metahistory (1991) angeregt, wird hier aber nicht weiterzuverfolgen sein. Auch die Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung (als Faktographie) und Dichtung (als Möglichkeitsentwurf) leitet sich bekanntlich bereits aus Aristoteles’ Poetik her.
4
Als Forschungsüberblick und theoretischen Entwurf vgl. Jannidis 2004a.
5
Die drei literarischen Basisgattungen erzählende Prosa, lyrische Dichtung und dramatische Interaktion werden hier weder normativ noch kategorisierend, sondern strukturierend
verstanden. Tatsächlich besteht Literatur zumeist aus Hybriden; umgekehrt sind auch
sogenannte nicht-literarische Texte von narrativen, lyrischen oder dramatischen Bauelementen durchzogen, die hier mithin nicht als stabile Genres, sondern als textgenerierende
Strukturelemente betrachtet werden. Im weiteren Verlauf der Darstellung wird hier, bedingt
durch die weitestgehend narratologisch informierte literaturwissenschaftliche Theorie der
Figur, in erster Line von Figuren in Erzähltexten die Rede sein.
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lungszusammenhängen als textstrukturinternes Korrelat zu einer etwaigen textexternen Person die Verdopplung der Beobachtungsebenen eines Textes mit sich bringt: So, wie man jeden Text als kommunikativen Akt einem (bekannten oder unbekannten) Autor zuschreiben kann, der die Struktur des Textes durch spezifische Beobachtungsunterscheidungen erzeugt, wird jeder Akt innerhalb des Textes
einer Figur zugerechnet, die in der gleichen (wenngleich nun fiktionalen, das heißt, bloß textintern referentialisierbaren) Art und Weise
zwischen Wahrnehmung und Kommunikation unterscheidet.6 Figuren
sind diesem Verständnis zufolge textgenerierte Instanzen, denen die
Beobachtung bzw. das Handeln in einer textexternen Welt zugeschrieben wird und die auf diese Weise strukturanalog zu textexternen Welten sowie den Autoren und Lesern in ihnen verfasst sind.
Diese abstrakte Bestimmung literarischer Figuren wird im Folgenden hinsichtlich der aufgeworfenen Problemstellungen systematisch,
vor allem aber auch literaturhistorisch, zu differenzieren sein: zum
einen mit Blick auf die Erscheinungsformen von Figuren auf der
Ebene des inhaltlich Erzählten, das heißt, bezüglich der verschiedenen Charaktere, Typen und Individuen, die die Literatur bevölkern.7
Zum anderen mit Blick auf die Gestaltungsweise dieser Figuren auf
der Ebene der Erzählform, das heißt, bezüglich der Erzählperspektive
sowie der quantitativen und qualitativen Darstellungsmittel, die das
mehr oder weniger einheitliche Bild einer literarischen Figur erzeugen. Schließlich wird an beide Untersuchungsebenen, discours und
récit,8 die Frage nach der Realität literarischer Figuren zu stellen und
im Spiegel der wichtigsten Entwicklungsstufen der abendländischen
Literatur exemplarisch zu vertiefen sein.
Für die Frage nach Form- und Funktionswandel der Figur im Medienwandel kann dieser Rückblick auf die Literaturgeschichte des
Konzepts in doppelter Hinsicht instruktiv sein: Zunächst ist kaum zu
bestreiten, dass die Erscheinungsweisen von Figuren in der abendländischen Literatur viele Figurenkonzepte in späteren Medienformen
strukturiert und geprägt haben – und sei es im Modus des Zitats oder
des Gegenentwurfs. Umgekehrt kann gerade vor dem Hintergrund
einer Analyse textuell konstruierter Figuren die jeweilige Medienspe6
Zur Terminologie vgl. Luhmann 1995.
Ich beschränke mich hinsichtlich der exemplarischen Veranschaulichung meiner
Argumentation auf den Traditionszusammenhang der europäischen und hier besonders der
deutschsprachigen Literatur.
8 Diese wie alle weiteren im Folgenden gebrauchten narratologischen Fachtermini sind
Gérard Genette (1998) entnommen.
7
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zifik anderer Erscheinungsformen von Figuren differenzierter in den
Blick rücken. Beide Aspekte sollen im Zuge dieses Beitrags integrativ entfaltet werden, das heißt, die literaturhistorischen Entwicklungsstufen und gattungspoetologischen Differenzierungen der literarischen Figur werden überblickartig und exemplarisch so zu rekonstruieren sein, dass ihre das Textmedium übersteigende strukturbildende Funktion daraus abgeleitet werden kann.
Typen und Charaktere
Die eingangs getroffene Festlegung, dass literarische Texte kaum
ohne Figuren vorstellbar sind, kann weiter zugespitzt werden, indem
man sagt, dass diese Texte sogar primär von Figuren handeln. Das
belegt auf Anhieb die Vielzahl kanonischer Werke, die schlicht genau
so heißen wie ihre jeweils zentrale Figur: Odyssee, Antigone, Erec,
Hamlet, Don Quijote, Tristram Shandy, Faust, Anna Karenina, Nana,
Molloy, Minetti, Austerlitz. In diesen Fällen – denen sich mit der
Ilias, der Divina Commedia, As you like it, den Wahlverwandtschaften oder À la recherche du temps perdu ohne weiteres Gegenbeispiele
an die Seite stellen ließen – sind die genannten Figuren auch Hauptfiguren, das heißt, die ›Helden‹ oder ›Protagonisten‹ der entsprechenden Werke.9 Im Sinne der Angewiesenheit literarischer Texte auf
solche Figuren haben aber auch alle Werke ohne Figurentitel mehr
oder weniger deutlich konturierte Protagonisten. Zudem kommen die
meisten von ihnen nicht nur mit einer solchen Hauptfigur zu Rande
und werfen daher die Frage nach Unterschieden und Beziehungen
zwischen verschiedenen Figuren innerhalb eines Textes auf.
Diesen Differenzen und Relationen widmet sich die Literaturtheorie, seit es sie gibt, und das heißt also seit Aristoteles Poetik, die sich
vornehmlich mit dramatischen Texten beschäftigt. Gemäß der rhetorischen Stillehre, die als genera die hohe, die mittlere und niedere
9 Der Begriff ›Protagonist‹ leitet sich vom griechischen Begriff für den ›ersten Handelnden‹
ab und bezeichnete die – zunächst einzelne – Rolle innerhalb der Tragödie, die dem Chor
gegenübertrat; in der weiteren Entwicklung der attischen Tragödie wurde sie durch die
zweite Rolle, den ›Antagonisten‹ (also ›Gegenhandelnden‹), ergänzt. Erst in Folge der
weiteren Zunahme des Dramenpersonals konnte sich dann die Semantik ›Hauptperson‹
etablieren, die heute unabhängig von Gattungsformen und zumeist synonym mit ›Held‹
verwendet wird, wenngleich die Geschichte dieses Begriffs auf die mythische Vorstellung
gottähnlicher Heroen verweist und nicht lediglich auf die strukturelle Position der Figur
innerhalb des Erzählzusammenhangs.
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Sprachebene kennt, unterscheidet Aristoteles Tragödie und Komödie,
indem er der ersten »bessere«, der zweiten »schlechtere« Charaktere
zuordnet (Aristoteles Poetik, 1448a; 1982, 9).10 Das hat zunächst nur
mit den jeweiligen Erfordernissen an eine tragische Fallhöhe bzw. der
Erzeugung lächerlicher Situationen zu tun, führt in der Folge aber zu
einer dichotomischen Typisierung literarischer Figuren, die von einer
angenommenen ›Mitte‹ her stets in zwei mögliche Extreme abweichen können: Figuren sind gut oder böse, klug oder dumm, schön
oder hässlich usw. Entscheidend ist, dass sie diese Eigenschaften
gemäß des antiken Dichtungsverständnisses zu Beginn zugesprochen
bekommen und dann im Verlauf der weiteren Geschichte auch nicht
mehr verlieren: So kann Odysseus stets als ›der Listenreiche‹ bezeichnet werden, Kreon als der Unerbittliche oder Sokrates (bei
Aristophanes) als seniler Schwätzer.
Die zentrale Funktion derartiger Typen ist bis heute spürbar, wenn
etwa Figurenkonstellationen in der Populärkultur mit dem good
guy/bad guy-Schema operieren. Dieses Beispiel zeigt aber zugleich,
dass die Figurentypen stets in Relation zueinander stehen: Jeder Held
braucht einen Gegenspieler, jeder Liebende eine Geliebte, jeder
Dumme einen Lehrer, jeder Herr einen Knecht. In solchen zweipoligen Gegenüberstellungen kann man dem jeweiligen Protagonisten
einen Antagonisten entgegenstellen, tatsächlich existieren aber mitunter eine Vielzahl weiterer Figuren, angesichts derer sich die möglichen Bezüge unter ihnen multiplizieren.
Der Versuch, die Figuren zu hierarchisieren, indem man etwa von
Haupt- und Nebenfiguren spricht, übersieht trotz einer zumeist schier
quantitativen Evidenz, dass auch vom Rande einer Erzählung große
Wirkungen ausgehen können und kein literarischer Text Personen
benennt und handeln lässt, ohne dass ihnen eine spezifische Funktion
zukäme. Als produktiver erscheint daher der Versuch, eben jene
Funktionen näher zu bestimmen. Das kann dadurch geschehen, dass
man diese Funktionen selbst hypostasiert und die jeweiligen Figuren,
die sie ausführen, nur noch als mehr oder weniger kontingente
Handlungsträger versteht: So unterscheidet der französische Linguist
Julien Greimas zwischen actant und acteur, um in literarischen Texten immer wiederkehrende Handlungsformen von den jeweils kon-
10 Insbesondere der Roman der Neuzeit wird dann, als Prosagattung und »bürgerliche
Epopöe« (Hegel), Anspruch auf die mittlere Stilebene und das entsprechend durchschnittliche Personal erheben.
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kreten Handelnden abzugrenzen (Greimas 1971).11 Greimas stützt
sich dabei auf den Versuch des russischen Formalisten Vladimir
Propp, Handlungsrollen in Märchen zu systematisieren und als
Strukturelemente zu verstehen, die bestimmte narrative Schlüsselfunktionen übernehmen. Auf diese Weise ordnet Propp einer Reihe
von Handlungsschemata – Bestehen einer Prüfung, Kampf gegen das
Böse, Rettung vor Gefahr – bestimmte Handlungsrollen – Held, Gegenspieler, Opfer, Helfer usw. – zu, anhand derer verschiedene
Märchentexte und -figuren auf wiederkehrende Bauelemente zurückgeführt werden können (Propp 1972). Solche strukturalistischen
oder protostrukturalistischen Figurentheorien weisen eine gewisse
Schnittmenge mit C.G. Jungs Archetypen-Lehre auf, die ja in Mythen
und Träumen ebenfalls keine konkreten Individuen am Werk sieht,
sondern Repräsentanten kollektiver Wünsche und Bedürfnisse.12
Held und Individuum
Allen diesen Ansätzen ist aber gemein, dass sie Figuren als mehr oder
weniger statische und einheitliche Instanzen konzipieren. Sie sind
Typen, das heißt, durch einige wenige Charakterisierungen klar und
zuverlässig bestimmte Handlungsträger, die sich im Lauf einer Geschichte weder ändern noch Alternativen zu ihrer Weltsicht erproben
oder gar psychologisch differenziert werden. Im Sinne der oben erwähnten dichotomischen Bestimmung solcher Typen kann man sagen, dass sie sich – wie im erwähnten Beispiel vom »listenreichen
Odysseus« – durch eine einzige Bestimmung nahezu vollständig charakterisieren lassen. Entsprechend hat der amerikanische Literaturwissenschaftler E.M. Forster von ›flachen‹ Charakteren gesprochen,
denen als ›runde‹ alle diejenigen entgegenstehen, die variabel, entwicklungsfähig und gewissermaßen nicht zuverlässig erwartungskonform konzipiert sind (Forster 1949, 74ff).
Diese Gegenüberstellung ist als ihrerseits zu statisch kritisiert worden, weil sie die vielen Zwischenstadien und Übergänge nicht berücksichtige (Rimmon-Kenan 1983, 40ff). Das zugestanden behält sie
aber möglicherweise ihre Berechtigung, wenn man sie historisiert und
fragt, ab wann denn überhaupt die ›Rundung‹ literarischer Figuren
Zur Kritik dieses Modells vgl. Jannidis 2004a, 100f.
Vgl. Campbell (1999) sowie in explizitem Anschluss an die Archetypenlehre für die
Schreibpraxis Vogler (1998, 79ff).
11
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beginnt. Forsters Metaphorik bezieht sich nicht umsonst auf den
Zugewinn einer Dimension im Sinne der Entstehung räumlicher Vorstellungen, die ja in der Kunstgeschichte auch mehr oder weniger
exakt einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung der Malerei
zugeordnet werden kann. Entsprechend ist die Ablösung der statischen Typen durch entwicklungsfähige Charaktere ihrerseits an spezifische geistes-, wissenschafts- und mentalitätsgeschichtliche Rahmenbedingungen geknüpft, die man für die Geschichte der literarischen Figur mit dem Prozess der Säkularisierung des Denkens, dem
Entstehen einer empirischen Anthropologie und der so genannten
›Entdeckung‹ des modernen Individuums in Verbindung sehen kann
(vgl. van Dülmen 1997).
Alle diese Tendenzen lassen sich historisch dem Umbruch von
Spätmittelalter und Renaissance zur Neuzeit und Aufklärung und
also, schematisch gesprochen, einem sehr ›langen‹ 17. Jahrhundert
zuordnen. In dieser Zeit verliert nicht nur das heilsgeschichtliche
Weltbild, demzufolge der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes
vollendet und vollkommen sei, an Kredit. Auch die noch aus der
Antike ererbte humoralpathologische Lehre von der Regulierung von
Gesundheit und Krankheit einerseits, den (vier) verschiedenen Charaktertypen andererseits, durch das Verhältnis der (ebenfalls vier)
Säfte im menschlichen Körper wird durch die Entdeckung des Blutkreislaufs, des Muskel- und Nervensystems sowie der Zentralfunktion
des Gehirns zunächst relativiert und dann widerlegt.13
In Folge dieser beiden Entwicklungen wird der Mensch nicht mehr
als fest gefertigter Typ, der als solcher weder eigenverantwortlich
noch unverwechselbar ist, angesehen, sondern als unfertiges Wesen,
dem jeweils spezifische Entscheidungs- und Bestimmungskompetenzen zugeschrieben werden können – da ja die bisher gültigen externen
(Gott) wie internen (Säfte) Determinanten seines Seins und Wesens
ihre Alleingültigkeit verloren haben. Die Semantik der Individualität
entsteht im 18. Jahrhundert mithin weniger aufgrund einer mehr oder
weniger emphatisch betriebenen Aufklärung des Menschen als aufgrund der struktur- und semantikgeschichtlichen Notwendigkeit, die
13 Die antike und frühneuzeitliche Medizin definierte Gesundheit als Gleichgewicht der vier
Säfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle sowie Schleim und ordnete dem jeweiligen Überwiegen eines Saftes die auch literaturhistorisch – man denke etwa an die Dramen Molières
– einschlägigen Charaktertypen des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers und Phlegmatikers zu. Erst die physiologischen Forschungen von William Harvey, Albrecht von
Haller sowie Franz Josef Gall im 17. und 18. Jahrhundert legten dann die Grundlage für das
moderne medizinische Körperbild.
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leere Systemstelle der Bestimmung des Menschen zu füllen. In Ermangelung dieser Systemstelle wurde sie in den Menschen selbst
verlegt, der damit im Wortsinne ›autonom‹ gedacht wurde, und in der
Folge der Tatsache, dass sich der Mensch als autonomer zuerst noch
bestimmen muss, entsteht die zeitliche Vorstellung einer Entwicklungsfähigkeit bzw. -notwendigkeit jedes einzelnen Menschen zu
einer entsprechend unvorherbestimmbaren und unverwechselbaren
Biographie. Dass an die Stelle des Konzepts gottgegebener Perfektion
irdische Perfektibilität tritt, macht Menschen mithin überhaupt erst
als individuelle und wandelbare Wesen kenntlich. Der jeweilige Charakter des einzelnen ist in der Folge nicht mehr über ein vorgegebenes und typisiertes Raster zu bestimmen, sondern Resultat des individuellen Selbstbestimmungsprozesses – und mithin offen für Brüche,
Widersprüche und Fehler aller Art.14
Diese hier knapp referierten sozial- und begriffsgeschichtlichen
Zusammenhänge schlagen sich mehr oder weniger unmittelbar literaturhistorisch nieder, und zwar in der Abnahme von flachen und der
Zunahme runder Charaktere – die man in diesem modernen (das heißt
nicht mehr humoralpathologischen) Sinn nun von den vormodernen
›Typen‹ abgrenzen kann: Wenn, um das vielleicht prägnanteste Beispiel für diese Umstellung aus der deutschen Literaturgeschichte
anzuführen, die Titelfigur aus Goethes Roman Wilhelm Meisters
Lehrjahre sich in ihrem Versuch, am Theater Fuß zu fassen, zunächst
mit der Commedia dell’arte und anschließend mit Shakespeares Dramen beschäftigt, so erscheint ihr im Fortgang des Romans weder
befriedigend, noch aber, nach der anfänglichen identifikatorischen
Verkörperung, eine Figur wie Hamlet, die ja noch ganz dem klassischen Typos des Melancholikers nachgebildet ist. Wilhelm Meister
muss diese Figurenmuster überwinden, will er sein vorgebliches Ziel,
»mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«, (Goethe 1994
[1795/96], 290) realisieren. Das heißt mit anderen Worten, dass die
Figur Wilhelm Meister bereits als modernes Individuum konzipiert
ist, dessen innere Entwicklung der Roman erzählt, ohne sie zu einer
wie immer gearteten ›Vollendung‹, ›Einheitlichkeit‹ oder ›Vollkommenheit‹ zu führen.
Diese Aspekte einer literarischen Figur sind uns derart vertraut,
dass die mit ihr einhergehende literarästhetische Revolution kaum
mehr spürbar oder nachvollziehbar ist: Bereits zeitgenössischen Le14 Sozial- und semantikgeschichtlich rekonstruiert finden sich diese Zusammenhänge bei
Luhmann (1980 sowie 1982).
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sern gilt ›der Meister‹ (der eben keiner mehr ist) nicht als prototypischer Bildungsroman, weil Goethe hier sein während seiner italienischen Reise gefasstes humanistisches Bildungsideal auf den Roman
projiziert habe. Vielmehr meint ›Bildung‹, wie sie dann zeitgleich
auch von Wilhelm von Humboldt im pädagogischen, didaktischen
und institutionellen Sinne gedacht wird, die erwähnte Prozessualisierung jeder einzelnen individuellen Biographie, die nun nicht mehr
über typisierte Wendepunkte (man denke etwa an das Motiv von
Schuld und Strafe in der tragischen oder Verfehlung und Bekehrung
in der biographischen Tradition) sondern über einen vielschichtigen
und offenen Vorgang der Selbstbestimmung durch Fremdbegegnung
gedacht wird.
Zu dieser Selbstbestimmung gehört auch, dass literarische Figuren
seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ihr ›Inneres‹ entdecken, das heißt
im Anschluss an pietistische Programme der Selbstbeobachtung, aber
auch der Betonung der Inkommensurabilität von Gefühlen, deutlich
vom Personal frühneuzeitlicher und barocker Dichtungen abgesetzt
werden, die Affekte ja stets im Einklang mit rhetorischen Ausdruckslehren und also geprägt durch generalisierbare Codes und nicht
durch individuelles Empfinden kommuniziert hatten. Empfindsamkeit
und Sturm und Drang, um bei der Phaseneinteilung der deutschen
Literaturgeschichte zu bleiben (die darin aber intensiv von der französischen Anthropologie in der Nachfolge Rousseaus sowie der englischen Genieästhetik und ihren sentimental journeys und epistolary
novels beeinflusst ist), setzen auf diese Weise die sozialgeschichtliche
Umstellung auf eine Semantik der Individualität in Gestalt neuer,
autonom und entwicklungsfähig gedachter Figuren um – und befördern sie natürlich im Gegenzug auch, insofern literarische Figuren die
mit ihnen korrespondierenden anthropologischen Semantiken stets
auch postulieren oder vorwegnehmen können.
In dieser Weise ist bis in die aktuelle Forschungsdiskussion von
der „textinterne[n] Anthropologie“ (Jannidis 2005, 24; vgl. auch ders.
2004b) literarischer Figuren die Rede, der Tatsache also, dass ›Menschen‹ in fiktionalen Texten nach bestimmten Vorstellungen über
Körper und Geist, Charakter und Moral, Freiheit und Notwendigkeit,
Männlichkeit und Weiblichkeit etc. geformt werden. Im Sinne dieses
anthropologischen Referenzdiskurses sind Figuren in Texten zwar
nicht tatsächlich Menschen, sie sind aber wie Menschen konzipiert,
und dokumentieren auf diese Weise die verschiedenen Möglichkeiten
anthropologischer Beschreibung. Wenn etwa Johann Karl Wezel
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1776 im Belphegor ein Romanpersonal entwirft, das er in der Einleitung noch einmal deutlich (und das heißt hier bereits: überdeutlich)
anhand der typologischen Charakterlehre einteilt, diese Einteilung im
Fortgang jedoch ad absurdum führt, indem seine Figuren in immer
extremeren und groteskeren Szenarien gezwungen werden, ihre Weltsicht zu ändern, dann reflektiert ein solcher Roman den skizzierten
Wandel der Aufklärungsanthropologie ausdrücklich.
Subjekt und Welt
Die weitere Geschichte der Erforschung des Menschen, die nach der
idealistischen Phase zwischen Aufklärung und Romantik im 19. Jahrhundert in der empirischen Physiologie und Psychologie weitergetrieben wird, aber auch die ›anthropologischen Kränkungen‹ durch
Evolutionstheorie und Psychoanalyse umfasst, beeinflusst die Erscheinungsform literarischer Figuren in Realismus, Naturalismus und
Moderne in der gleichen Weise. Dennoch erfasst ein anthropologiehistorischer Blick auf die Entwicklungsgeschichte der literarischen
Figur nicht alle Dimensionen ihres Wandels in der Moderne.
Neben den mehr oder weniger expliziten Attributionen von Eigenschaften und Charakterzügen sind literarische Figuren auch durch
ihre Position und Relation innerhalb des gesamten Erzählkosmos
bestimmt. Darauf hat der ungarische Literaturtheoretiker Georg
Lukács bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht,
als er in seiner Theorie des Romans auf die dramatische Umgewichtung, wenn nicht gar völlige Verkehrung, des Verhältnisses zwischen
erzählter Figur und erzählter Welt in der Literaturgeschichte von der
Antike bis zur Moderne hinwies: Denn die Statik und ›Flachheit‹
literarischer Figuren bis zum 18. Jahrhundert impliziert ja auch, dass
die entsprechenden Texte – selbst wenn sie Aeneis, Parzival oder Der
abentheuerliche Simplicissimus Teutsch heißen – noch nicht von
Subjekten im modernen Sinne handeln. Vielmehr überwiegt in diesen
Texten das Gewicht der Welt, in der sich diese Figuren bewegen. Erst
die erwähnte Entdeckung des ›Inneren‹ von Menschen eröffnet eine
Alternative zur Dominanz der Außenwelt in antiken, mittelalterlichen
und frühneuzeitlichen Erzählungen. Indem die Sphäre der Emotionen,
Erinnerungen und Assoziationen zunehmend mehr Gewicht innerhalb
literarischer Texte beansprucht, gewinnen die Figuren diejenige
›Rundheit‹ – aber auch Tiefe, Komplexität und Wandlungsfähigkeit –
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die sie bereits seit der Wende zum 19. Jahrhundert prägt bzw. prägen
(Lukács 1994).
Zugleich aber, auch darauf weist Lukács hin, verlieren die Figuren im
Zuge dieser Wendung zum Inneren denjenigen Halt, den die vormoderne Welt ihren Bewohnern noch gegeben hatte. Figuren der modernen Literatur spiegeln diejenige »transzendentale Obdachlosigkeit«
(ebd., 32), in die der Prozess der Säkularisierung im 20. Jahrhundert
mündet. Hinzu kommt, dass der Blick nach innen ja nicht nur Positives zeitigt, sondern auch – die Psychoanalyse wurde bereits erwähnt
– Abgründe zutage fördert: Obsessionen, Wahnsinn, und, ironischerweise, den Verlust einer stabilen Ich-Instanz.
Die Figuren der Literatur des 20. Jahrhunderts legen ein beredtes
Zeugnis dafür ab: Die Protagonisten bei Proust und Breton, Kafka
und Döblin, Woolf und Joyce, bei Schnitzler, Rilke, Beckett, Borges,
Mann, Camus, Frisch oder Bernhard, sind zwar noch namentlich
benennbar, haben aber den festen Boden der Subjektidentität verloren, was entweder krisenhaft erfahren oder, im Rahmen postmoderner
Erzählexperimente, etwa bei Paul Auster, als Entlastung vom semantischen Ballast der Aufklärung gefeiert wird – auch hier wieder im
Spiegel zeitgenössischer Debatten über den Tod, zumindest aber das
Ende des Subjekts (vgl. Fokkema 1991).
Allerdings sind diese Phänomene keineswegs eine Erfindung des
20. Jahrhunderts, sondern suchen die Literatur heim, seitdem sie von
der Welt auf das Subjekt umfokussiert hat. Um eben die genannte
Epochenschwelle um 1800 bevölkern Doppelgänger die Literatur –
z.B. bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allen Poe – und
stellen damit das eben erst gewonnene Verständnis von der Individualität literarischer Figuren in Frage. Auch anhand weiterer Beispiele kann man beobachten, wie diese Figuren gerade im Zuge ihrer
Differenzierung diejenige Qualität verlieren, die ihnen zumindest im
Fall von Protagonisten fraglos zugekommen war: Helden im engeren
Sinne zu sein. Zwar relativiert auch die vormoderne Literatur im
Register des Komödiantischen den Zentralstatus ihrer Protagonisten
durch seine Verstrickungen in selbstgesponnene Verwicklungen. Und
auch im Drama bedeutet Held zu sein nicht etwa, am Ende zu obsiegen – im Gegenteil. Die Charaktertypologie hatte den Protagonisten
aber mit positiven Eigenschaften wie Mut, Kraft und Gerechtigkeitsempfinden, oder, in der Komödie, immerhin mit Witz und Schlagfertigkeit versehen.
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