518 21 Klinisch-toxikologische Analytik ! Der richtungsweisende Geruch nach bitteren Mandeln wird von ca. 20 – 50 % der Bevölkerung aufgrund eines genetischen Merkmals nicht wahrgenommen. Der klinische Vergiftungsablauf lässt sich in 4 charakteristische Stadien einteilen: 1. Initialstadium: Schleimhautirritation, rosige Hautfarbe 2. Dyspnoestadium: quälende Atemnot, pectanginöse Beschwerden 3. spastisches Stadium: Bewusstlosigkeit, klonisch-tonische Krämpfe 4. paralytisches Stadium: Apnoe, Areflexie, Kreislaufstillstand 7 7 7 7 7 Zur Behandlung stehen folgende spezifischen Antidote zur Verfügung: 4-DMAP (4-Dimethylaminophenol) bildet Methämoglobin, das effektiv Cyanidionen bindet. Es kann bei Überdosierung lebensbedrohliche Methämoglobinämien mit Hämolyse verursachen. Natriumthiosulfat bildet mit Cyanid das untoxische Thiocyanat (Rhodanid). Es ist weitgehend untoxisch, wirkt aber langsam. Co2-EDTA: Cobalt bildet einen Cyan-Cobalt-Komplex, ist aber mit erheblichen Nebenwirkungen belastet. Hydroxocobalamin: Cyanid wird im Austausch gegen die Hydroxylgruppe am Cobalt angelagert und es entsteht Vitamin B12 (Cyanocobalamin) welches renal ausgeschieden werden kann. In der EU unter dem Namen Cyanokit zugelassen. Kaliumpermanganat: Bei oraler Cyanidaufnahme in relevanter Dosis werden 300 ml Kaliumpermanganatlösung (1 : 5000) zur Oxidation des restlichen Cyanids verabreicht. 21.5 21 Giftige Gase, Reizgase, Kohlenmonoxid Toxische Wirkung. Das Einatmen giftiger Gase kann zu direkten Schädigungen der Lunge führen, z. B. verursachen Chlor und nitrose Gase durch ihre Ätzwirkung eine Schädigung der oberen Atemwege und auch der Lunge. Es kann sich, meist mit zeitlicher Verzögerung (bis zu 24 Stunden!), ein toxisches Lungenödem entwickeln. Darum müssen Patienten, die giftige Gase eingeatmet haben, auch dann beobachtet werden, wenn noch keine Anzeichen für eine Vergiftung erkennbar sind. Das gemeinsame Vergiftungsbild aller Reizgase zeigt sich in Form einer Schleimhautreizung an den Augen, im Nasen-Rachen-Raum und in den oberen und unteren Atemwegen mit Brennen und Hustenreiz. In schwerwiegenderen Fällen kann eine Bronchokonstriktion mit Spastik bis hin zu ausgeprägter Dyspnoe mit begleitendem toxischem Lungenödem auftreten. Therapie. Die erste Maßnahme besteht in der Entfernung aus der reizgashaltigen Umgebung. Als symptomatische Akutmaßnahmen sind die Gabe von Sauerstoff, die Verabreichung eines topischen Corticoids und das Herz-Kreislauf-Monitoring zu nennen. Weitere differenzierte Maßnahmen sind abhängig von der Zusammensetzung des Gases und sollten nur nach Rücksprache mit einer Giftinformationszentrale (s. S. 508) durchgeführt werden. Bei Vergiftungserscheinungen mit Atemnot sind die Patienten, wenn möglich, halb sitzend zu transportieren. Vorkommen. Chlorgas kann bei unsachgemäßer Handhabung im Zusammenhang mit der Schwimmbadreinigung oder in der chemischen Industrie freigesetzt werden. Reizgase werden auch häufig in der galvanischen Industrie und bei Gefahrgutunfällen freigesetzt. Zu den Reizgasen gehören z. B.: 7 Reizgase vom Soforttyp mit hoher Wasserlöslichkeit: – Ammoniak: Verbrennung von Wolle, Seide und Kunstharz – Chlorwasserstoff: Verbrennung von Isolationsmaterial, PVC Aus Dörner, K.: Taschenlehrbuch Klinische Chemie und Hämatologie (ISBN 9783131287174) © Georg Thieme Verlag KG 2009 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Antidot 21.5 Giftige Gase, Reizgase, Kohlenmonoxid 7 7 519 Reizgase vom Soforttyp mit mittlerer Wasserlöslichkeit: Chlorgas, Schwefelwasserstoff, Bromgas Reizgase vom Latenztyp mit geringer Wasserlöslichkeit und hoher Lipidlöslichkeit: – nitrose Gase: Verbrennung von Textilien und Düngemitteln – Phosgen: Verbrennung von chlorierten Kohlenwasserstoffen 21.5.1 Kohlenmonoxid (CO) Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Toxische Wirkung. Kohlenmonoxid (CO) ist ein farb- und geruchloses Gas, das durch seine hohe Affinität und Bindungsfähigkeit an das Hämoglobin den Sauerstofftransport im Organismus und die Abgabe von Sauerstoff in der Peripherie behindert. Es resultiert somit das klinische Bild einer Hypoxie und Acidose. Zusätzlich bewirkt eine CO-Vergiftung eine elektromechanische Entkoppelung am Reizleitungssystem des Herzens durch Erschöpfung energiereicher Phosphate und führt so zu schwerwiegenden hämodynamischen Komplikationen. Neben der akuten CO-Vergiftung unterscheidet man eine subakute und eine chronische Form, wobei bei Letzterer die chronische Hypoxie und deren Folgen im Vordergrund stehen. Patienten mit einer Intoxikation klagen über Kopfschmerzen und Schwindel. Bei hohen Gaskonzentrationen können sich schnell lebensbedrohliche Situationen entwickeln. Therapie. Die frühzeitige Gabe von Sauerstoff in hohen Konzentrationen oder, wenn nötig, die kontrollierte Beatmung mit einem FiO2 von 1,0 sind die entscheidenden Therapiemaßnahmen. Vorkommen. CO entsteht bei unvollständiger Verbrennung organischer Verbindungen unter Sauerstoffmangel. Unter bestimmten Umständen tritt es bei Gär- und Zersetzungsprozessen auf. Da CO schwerer als Luft ist, verdrängt es in tief liegenden, geschlossenen Räumen (Gärkeller, Futtersilos, Gruben) den Sauerstoff, sodass rasch ein Erstickungstod eintreten kann. Auch Stadtund Erdgas enthalten einen, wenn auch in den letzten Jahren deutlich reduzierten, Anteil an CO. Undichte Rohrleitungen stellen kaum mehr eine Gefahr dar, da die Gaswerke Geruchsstoffe wie Merkaptan zusetzen. Bei tiefer gelegenen Rohrbrüchen kann es jedoch durch Filtration des Gases durch das Erdreich zur Ausbreitung von geruchlosem Gas kommen. Hauptgefahrenquellen sind Abgase von laufenden Motoren, z. B. Dieselaggregate an Baustellen oder Kraftfahrzeuge in geschlossenen Räumen/Garagen (auch in suizidaler Handlungsabsicht). Von forensisch enormer Bedeutung sind Vergiftungen durch defekte Gasdurchlauferhitzer in Wohnungen oder defekte Belüftungsklappen in Wohn- und Baderäumen, in denen zur Heißwasseraufbereitung Gasthermen montiert sind. In geschlossenen Räumen kann Kohlenmonoxid explosive Konzentrationen erreichen. ! In geschlossenen Räumen oder Behältern oder Anlagen sollten keine eigenmächtigen Rettungsversuche ohne spezielle Atemschutzgeräte und entsprechende Eigensicherung unternommen werden. Indikation 7 Jeder Verdacht auf eine relevante Intoxikation. Untersuchungsmaterial und Präanalytik 7 EDTA-Vollblut; im Kühlschrank mindestens 1 Woche haltbar Bestimmungsmethode 7 spektralphotometrische Bestimmung bei 546 nm und 578 nm (s. S. 51) Aus Dörner, K.: Taschenlehrbuch Klinische Chemie und Hämatologie (ISBN 9783131287174) © Georg Thieme Verlag KG 2009 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! 21 21 Klinisch-toxikologische Analytik Referenzwerte und diagnostische Bedeutung COHb-Konzentration im Vollblut Symptome 7 X 30 % Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit 7 30 – 40 % Müdigkeit, Verwirrtheit 7 40 – 60 % Bewusstlosigkeit, Hypotonie 7 G 60 % rascher Tod durch Hypoxie CO-Konzentration in der Luft COHb% Symptome 7 X 35 ppm (Raucher) 5 leichte Kopfschmerzen 7 0,005 % (50 ppm) 10 Kopfschmerzen, Atemnot 7 0,01 % (100 ppm) 20 Kopfschmerzen, Unruhe 7 0,02 % (200 ppm) 30 Verwirrtheit, Sehstörungen, Schwäche 7 0,03 – 0,05 % 40 – 50 Tachykardie, Stupor, Kollaps 7 0,08 – 0,12 % 60 – 70 Koma, Krampfanfälle, rascher Tod durch Hypoxie 7 0,19 % (1900 ppm) 80 sofort tödlich Klinische Interpretation und toxikologische Bedeutung Obwohl ein Sauerstoffmangel besteht, ist die Hautfarbe rosig. Bei hohen Gaskonzentrationen können sich schnell lebensbedrohliche Situationen entwickeln. Bei der Pulsoxymetrie wird fälschlicherweise eine zu hohe Sauerstoffsättigung angezeigt, da der COHb-Anteil mit in die HbO2-Messung eingeht. Bei starken Rauchern ist die COHb-Konzentration bei der Bestimmung im Blut nicht unwesentlich erhöht. Antidot Frühzeitig Sauerstoff in hohen Konzentrationen, wenn nötig hyperbare Oxygenierung in einer Druckkammer. 21.6 Herz- und Kreislaufmedikamente ! Viele Medikamente haben potenziell anti-, aber auch proarrhythmogene Wirkung (z. B. Antiarrhythmika, Antihistaminika, Antidepressiva, Antiepileptika, Antibiotika und Digitalisglycoside). Häufig ist der Einfluss auf das Aktionspotenzial am Herzen unklar oder unbekannt. Bei vielen Vergiftungen entscheidet die kardiale Beteiligung über den Verlauf. 21 Toxische Wirkung. Es kommt bei fast allen Vergiftungen mit kardiotropen Substanzen in der Frühphase nach der Einnahme zu gastrointestinalen Reizerscheinungen. Diese führen oftmals zum, in diesem Fall erwünschten, Erbrechen. Allerdings ist zu beachten, dass viele Antiarrhythmika auch ausgeprägte anticholinerge Wirkungen zeigen, die dann zu einer konsekutiven Magen-Darm-Atonie führen können. Dies begünstigt eine Nachresorption an Wirkstoffen. Bei Fortschreiten der Vergiftungen treten dann aufgrund der kardialen Wirkung vitale Komplikationen auf. Je nach Substanz zeigt sich ein unterschiedliches Bild, welches auch einer differenzierten Therapie bedarf. Antiarrhythmika vom Lidocaintyp weisen bei entsprechender Überdosierung zusätzlich eine Methämoglobinbildung auf. Aus Dörner, K.: Taschenlehrbuch Klinische Chemie und Hämatologie (ISBN 9783131287174) © Georg Thieme Verlag KG 2009 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weiter gegeben werden! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 520