46 Textanalyse und Interpretation Wichtig für das Verständnis der Komödie ist ferner die Voraussetzung, dass der Zuschauer (oder Leser) die Hauptfigur nicht gänzlich verabscheut, sondern ihre menschliche Unzulänglichkeit mit einiger Nachsicht betrachtet, da sie auf allgemein menschlichen Schwächen beruht. Diese charakterlichen Defizite der Hauptfigur sind in der Regel so ausgeprägt und überzeichnet, dass der Zuschauer nicht die Empfindung zu haben braucht, ihm werde hier der Spiegel vorgehalten. Er kann sich vielmehr mit einiger Beruhigung sagen, dass er es so weit niemals treiben würde. So entwickelt der Zuschauer auch zur der Hauptfigur der Komödie einen – wenn auch ambivalenten (zwiespältigen) – innerlichen Bezug, der wohl nicht bis zur Empfindung der Sympathie gehen wird, der ihn aber eine gewisse menschliche Solidarität mit der Situation der Figur empfinden lässt. Diese menschliche Solidarität gründet auf dem Gefühl, dass sich hier jemand in eine Lage hineinmanövriert hat, die ihn – nachdem er entlarvt und blamiert worden ist – aus der Gemeinschaft ausschließen wird. Der Gedanke, von allen verachtet und gemieden zu werden, ist jedoch für niemanden angenehm. Aus diesem unwillkürlichen Mitgefühl mit der Ungeschicklichkeit der Hauptfigur, sich durch ihr Verhalten selbst so zu isolieren, erwächst ferner die Bereitschaft des Komödienpublikums, die Hauptfigur, nachdem sie entlarvt und zurechtgewiesen worden ist, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu sehen. Auch diese gattungsgemäße Tendenz tritt im Zerbrochnen Krug klar hervor, wenn der Gerichtsrat den Schreiber Licht am Ende des vorletzten Auftritts dem flüchtigen Dorfrichter mit den Worten hinterherschickt: „Geschwind, Herr Schreiber, fort! Holt ihn zurück! / […] / Von seinem Amt zwar ist er suspendiert, / […] / Doch sind die Kassen richtig, wie ich hoffe, / Zur Desertion ihn zwingen will ich nicht. / Fort! Tut mir den Gefallen, holt ihn wieder!“ (V. 1960 –1967) Das Fehlverhalten des bauernschlauen Dorfrichters Adam wiegt schwer. Er verstellt sich bewusst und täuscht die anderen 1 „Der zerbrochne Krug“ als Komödie 47 vorsätzlich, wobei er das Leid, das er dadurch verursacht, gewissenlos in Kauf nimmt. In einer solchen Konstellation ist es klar, dass das Mitgefühl des Zuschauers zuallererst den Figuren gehört, denen unschuldig Leid zugefügt wird. In der Komödie bestätigt sich allerdings das Sprichwort: Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Wer in der Komödie Böses tut, trägt (in aller Regel) am Ende selbst den Schaden davon. Dies nicht zu überschauen, macht die Schwäche – wenn man so will: die Verwundbarkeit – des vermeintlich so gerissenen und skrupellosen Bösewichts in der Komödie aus. Aufgrund dieser seiner fehlenden Übersicht in den Mechanismus der Komödienwelt wirkt der Bösewicht der Komödie von Anfang an – auf den Zuschauer (nicht aber auf die anderen Figuren, die es auch nicht besser wissen; hier ist genau zu unterscheiden) – nicht sonderlich bedrohlich. Umso eher ist der Zuschauer geneigt, auch die bewusste Bosheit der Komödienfigur als Schwäche, als Form der Orientierungslosigkeit auszulegen und ihr mit Nachsicht zu begegnen. Georg Krause als Adam, Thomas Gerber als Walter und André Wagner als Licht in Donald Berkenhoffs Karlsruher Inszenierung des „Zerbrochnen Krugs“ (2003)